Else Ury
Lotte Naseweis und andere Schulmädelgeschichten
Else Ury

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Die beste Freundin

Tiefblauer Spätsommerhimmel, hier und da von lustigen kleinen Flatterwölkchen überzogen, stülpte sich wie eine große, kristallene Riesenglocke über das liebliche Dessetal. Die frischgrünen, samtweichen Matten, der schattige Bergwald und vor allem die reine, kräftige Gebirgsluft lockten von Jahr zu Jahr mehr Sommergäste in das versteckte, nahe der schlesisch-böhmischen Grenze gelegene Dörfchen. Schmucke, neue Landhäuser waren erstanden, unternehmungslustig kletterten sie die Wiesenhänge hinauf. Hängematten schaukelten sich zwischen dunklen Bergföhren, und helles Kinderlachen erklang, bis der rauhe Herbst wiederkam. Drunten aber im Tal, wo das langgestreckte, saubere Dorf sich beiderseits der schläfrig dahinziehenden Desse bergwärts zog, da klapperten die Sägemühlen, da prusteten und dampften die gewaltigen, kreisrunden Glasöfen, da schnurrten die Räder der weltberühmten böhmischen Glasschleifereien.

Den mit farbenprächtigen Herbstastern eingefaßten Kiesweg, der sich von der Villa des Direktors der Glasfabrik zum Flüßchen herabzog, kam dessen zwölfjähriges Töchterlein Hildegard entlanggelaufen. Sie hatte es ungemein eilig, die Hildegard, denn drüben, jenseits der neuen, steinernen Brücke, da wartete sicher schon die blonde Felicitas, seit drei Wochen ihre beste Freundin, ungeduldig auf die so lange Säumende. Ja, die hatte es gut, die Prager Felicitas oder vielmehr »Fee«, wie Hildegard sie zärtlich zu nennen pflegte. Die hatte den lieben, langen Tag hier nichts weiter zu tun, als sich in Wald und Wiesen umherzutummeln und sich rote Backen während ihres Landaufenthalts zu holen. Die brauchte nicht morgens früh erst eigenhändig in ihrem Zimmer die niedlichen weißen Korbmöbel und Nippsachen abzustauben und die Blumenstöcke vor dem Fenster zu begießen. Die hatte nicht nötig, hier ein Sprachbuch aufzumachen, während Hildegard auf Wunsch der Mutter auch in den Ferien jeden Morgen eine Stunde fleißig ihre Schulaufgaben wiederholen mußte.

So arg lang wie heute aber hatte sie die Freundin noch nie warten lassen. Das Kinderfräulein war auf vierzehn Tage heimgereist, da hatte Hildegard noch ein Stündchen der Mutter die Aufsicht über das kleine Schwesterchen abnehmen müssen. Sonst war Hilde auch stets gern dafür zu haben gewesen. Stolz war sie, wenn die Mutter ihrer »Großen« die goldhaarige Ursel, den Liebling des Hauses, anvertraute. Aber heute vermochte selbst das reizende Geplauder des dreijährigen Schwesterleins Hildegard nicht über die Zeitversäumnis zu trösten. Wenn Fee nun nicht wartete oder es vorzog, mit der Wiener Steffi, dem gezierten Ding mit den gewickelten Locken, einen Spaziergang zu machen! Hildegard mochte die Steffi, die schon wie eine Dame auf hohen Absätzen die Dorfstraße entlangtrippelte und allenthalben das rote Sonnenschirmchen aufspannte, um nur ja keine Sommersprossen zu erhalten, ganz und gar nicht.

»Hilla soll mit Ulla spielen, Hilla Tuchen backen«, wie die strahlenden Kinderaugen des Schwesterchens gebettelt hatten.

Aber Schwester Hildegard hatte heute keine Lust zum Spielen gehabt. Sie hatte die oberste Stufe des Gartenhäuschens, das auf einer kleinen Anhöhe gelegen war, erklommen und angestrengt zum andern Ufer der Desse hinübergeäugt. War das nicht Fees hellblaues Musselinkleid da zwischen den knorrigen Ulmen? Und das Rot, das dort drüben zwischen wehenden Weidenschleiern aufleuchtete, das konnte nichts anderes als Steffis Sonnenschirm sein.

Endlich war die Mutter zur Ablösung erschienen. Wie ein Pfeil schoß Hildegard den Gartenpfad herab und aus dem Tor.

Hui – nun ging's die Kastanienallee, die zur Glasschleiferei herabführte, entlang. Jetzt stand sie an dem klaren Gebirgswasser – hurra – jenseits der Brücke wehte es himmelsblau und feuerrot. Sie waren noch da, sie hatten auf sie gewartet.

»Fee – Steffi« – selig faßte Hildegard links und rechts die beiden unter, ganz vergaß sie es in ihrer Freude, daß sie die Steffi eigentlich nicht leiden mochte.

»Du hast wohl heute nicht aus den Federn gefunden, Hildchen?« neckte Fee. –

»Deinetwegen hätten wir hier bald einen Sonnenstich bekommen«, fiel Steffi vorwurfsvoll ein.

»Hast ja doch dein rotes Sonnendach bei dir«, entgegnete Hildegard und wandte sich dann an Felicitas. »Ich sollte Mutter noch ein bissel helfen und Klein-Ursel beaufsichtigen.« Und ein wenig Stolz, daß man sie zu solchem Ehrenamt ausersehen hatte, wenn's ihr auch heute ungelegen gekommen war, klang doch mit.

»Habt ihr denn kein Kindermädchen dazu?« fragte Steffi ein wenig von oben herab und rümpfte das Näschen.

»Unser Fräulein ist verreist, und die Mädchen hatten andere Arbeit. Ich tu's ja auch sehr gern«, antwortete Hildegard – war's der Schein von Steffis rotem Sonnendach, der Hildegards Gesicht plötzlich mit tieferem Rot färbte, oder war die Empfindung, soeben nicht ganz bei der Wahrheit geblieben zu sein, daran schuld?

»Das ist Geschmacksache, ich möcht' nicht Kindermädchen spielen. Meine jüngeren Brüder haben ihren Hauslehrer mit in der Sommerfrische, und für Bubi, den Kleinsten, sorgt seine Kinderfrau.« Das hübsche Kommerzienratstöchterlein aus Wien warf den dunkelblonden Kopf etwas hochmütig zurück.

»Weißt du, Steffi, du solltest dich besonders um deine Brüder kümmern, weil sie doch keine Mutter haben, die für sie sorgt«, sagte Felicitas. Ihre jungen Augen sahen dabei seltsam ernst drein.

Hildegard drückte den Arm der Freundin anerkennend zärtlich. Steffi aber machte abweisend: »Ach, was – wer kümmert sich denn um mich, seit mein Papa als Hauptmann der Reserve gegen die Italiener kämpft!«

Die drei Plappermäulchen waren verstummt. Seltsam lag das ausnahmsweise Schweigen in der von Heupferdchen durchgeigten Spätsommerluft. Hildegard, die selbst von Mutterliebe zärtlich umsorgt war, empfand es schmerzlich, daß sie bisher so wenig nett zu der mutterlosen Steffi gewesen war.

»Mein Vater ist Stabsarzt in Rußland«, unterbrach Felicitas schließlich die kurze Stille.

»Und meiner ist als Freiwilliger gegen die Engländer gezogen – aber Mutter sorgt sich, weil er schon so lange nicht geschrieben hat«, berichtete Hildegard.

Leichtfüßig stiegen die drei Mädchen nun aufwärts. Steffis Sonnenschirm leuchtete wie eine große Mohnblume zwischen den beiden. Als sie ein großes Weideland überschritten, auf dem buntscheckige Kühe dummglotzend den Kopf beim Wiederkäuen nach ihnen wandten, erwachte der Übermut in Hilde. Der Steffi, dem hochmütigen Stadtkind, wollte sie mal einen Schabernack spielen.

»Kinder – wir dürfen nicht zu nahe dort an dem Stier vorübergehen«, der Schelm wies bei diesen Worten auf eine gutmütige, brave Kuh. »Er kann manchmal wild werden, ihr habt doch nichts Rotes an euch?«

»Doch – meinen Sonnenschirm – ach, was fange ich denn bloß an?« Entsetzt versuchte Steffi den grellroten Schirm auf dem Rücken zu verbergen.

Hildegard lachte wie ein Kobold, und Felicitas, die den Scherz merkte, stimmte mit ein.

Ob der brave Vierfüßler durch das helle Mädchenlachen aus seiner beschaulichen Ruhe aufgeschreckt ward, oder ob er miteinstimmen wollte, genug, Hildes »Stier« begann plötzlich ein tief dröhnendes »Muh« auszustoßen.

Jetzt war kein Halten mehr bei der Steffi.

»Der Stier wird wild – er spießt uns auf!« laut aufkreischend jagte sie davon. Die andern beiden hielten sich die Seiten vor Lachen.

Droben am Waldsaum stand ein bescheidenes Häuslein. Das Kleinert-Haus hieß es im Dorf. Mit seinen rosenrot getünchten Mauern, den bunten Bergnelken vor den blitzblanken Fenstern schaute es gar freundlich zu Tal. Die ausreißende Steffi sah nichts von der schmucken Anmut des ärmlichen Häusleins. Die erblickte nur ein rettendes Dach vor sich – flink – flink hinein, ehe der Stier sie erreichte. Sie stürmte über die säuberlich mit weißem Sand bestreuten Backsteine des Hausflurs zu der ersten besten Tür hinein und vergaß in ihrer Angst sogar das Anklopfen.

Auf der Ofenbank am grünen Kachelofen saß in der Stube eine weißhaarige Alte. Zwischen ihren Fingern klapperte das Strickzeug. Bei dem jähen Eintritt der kleinen Fremden ließ sie den grauen Soldatenstrumpf in den Schoß sinken und richtete die Augen mit sonderbarem Blick auf den Gast. Steffi wußte nicht, warum ihr plötzlich noch beklommener zumute wurde.

»Das ist doch nicht mein Gretli – wer ist da?« fragte die Greisin freundlich. Aber es war ein seltsames Tasten in ihrer Stimme, als ob sie angestrengt dabei horchte.

»Ich bin die Steffi Windhuber aus Wien – ach, bitte, bitte, retten Sie mich vor dem wütenden Stier!« Steffi, die sonst auf alles, was ärmlich gekleidet war, stolz herabzublicken pflegte, hob flehentlich die Hände zu der alten, einfachen Frau.

»Ein Stier – hier gibt's keinen Stier, Kind«, sagte die Alte. »Am End' sind's vor einer Kuh auf und davon –« und sie lachte vor sich hin, während sie die Stricknadeln aufs neue in Bewegung setzte.

»Ei – ich werd' doch wohl noch eine Kuh kennen«, erwiderte Steffi empfindlich. Das kam dem verwöhnten Mädchen nicht oft vor, daß es ausgelacht wurde. Am liebsten hätte sie der Alten den Rücken gekehrt, aber – – ob sie sich schon wieder hinauswagen konnte? Ein scheuer Blick flog zum Fenster hin. Dabei glitt Steffis Auge über den davorstehenden Tisch aus gelblichem Kienholz. Nanu – lag da nicht ein aufgeschlagenes französisches Sprachbuch? Wie kam denn das hier in diese armselige Hütte? Lernte die alte Frau mit den sonderbaren Augen etwa Französisch?

Ehe Steffi noch hinter die Lösung des Rätsels gekommen war, erklang ausgelassenes Mädchenlachen zweistimmig vom offenen Fenster her. Zwischen roten und gelben Nelken wurden ein blonder und ein brauner Kopf sichtbar.

»Grüß Gott, Großmutter Kleinert, hat sich Fräulein Hasenfuß zu Ihnen geflüchtet – Steffi, der Stier läßt dich grüßen – hahaha.« Hildes erhitztes Gesicht lugte schelmisch herein.

»Ei, die Hilde – willkommen, Kind – hast dich ja so lang nicht bei uns sehen lassen. Was wird das Gretli für eine Freude haben! Es ist hinterm Haus beim Kartoffelhacken«, rief die alte Frau Kleinert mit einer Lebhaftigkeit, die man ihr gar nicht zugetraut hätte.

Hildes heißes Gesicht färbte sich noch röter als die Bergnelken, zwischen denen es aufgetaucht war. Sollte sie das Gretli beim Kartoffelhacken aufsuchen? Sonst war sie ein Herz und eine Seele mit dem Kleinert-Gretli gewesen, ihre allerbeste Freundin war es, bis die Sommerferien begannen. Da waren andere Kinder ins Dorf gekommen, die vornehmer ausschauten. Zu denen paßte das Töchterlein des Direktors der Glasfabrik doch entschieden besser, als zu der bescheidenen Enkelin des Werkmeisters. Hilde war sonst immer frei von jedem Dünkel gewesen. Aber über die neue Freundschaft mit Felicitas war die alte mit Gretli vernachlässigt worden.

Viele Jahre hatte Gretlis Mutter bei Hildes Großeltern, die schon Besitzer der Glasschleiferei gewesen waren, treu gedient, bis sie den Franzl Kleinert, einen braven Glasbläser aus der Fabrik, geheiratet hatte. Rosenrot hatte der Franzl sein Elternhaus zum Einzug seiner jungen Frau angepinselt, und rosenrot waren den jungen Leuten die Jahre trotz Einschränkens und Sparens dahingeflossen. Sie hatten sich lieb, die Frau wußte das bißchen Habe ordentlich zusammenzuhalten und war den alten Schwiegereltern, die mit ihnen das Haus teilten, eine brave, liebevolle Tochter. Als nun gar das Gretli die strahlenden Vergißmeinnichtaugen aufschlug und munter in die Welt hineinkrähte, kannte das bescheidene Glück des Kleinert-Hauses keine Grenze.

In einem Jahr mit Hildegard Eckart hatte Gretli das Licht der Welt erblickt. Da war es kein Wunder, daß die beiden Kinder Freundschaft miteinander schlossen. Gretlis Mutter kam noch häufig zur Aushilfe ins Direktorenhaus. Dann brachte sie ihre Kleine mit. Frau Direktor Eckart sah es gern, daß ihr Töchterchen, die lange Zeit ohne Geschwister blieb, in dem wohlerzogenen Gretli eine Spielgefährtin hatte. Und als Hilde erst auf eigenen Füßen umherlaufen konnte, da war ihr liebster Weg zum Kleinert-Haus hinauf. Gab es dort außer der munteren Altersgenossin doch immer einen rotbackigen Apfel oder eine Musschnitte für das Naschmäulchen. Bei Großmutter Kleinert schmeckte alles nochmal so gut wie daheim.

Die beiden Kleinen waren herangewachsen. Gretli ging in die Dorfschule, während Hilde zu Hause unterrichtet wurde, da ihre Eltern den Dorfschulunterricht nicht ausreichend für ihr Töchterchen fanden. Unter der Trennung von ihrer Freundin litt Hildegard sehr, und da hatte der Herr Lehrer eines Tages den Vorschlag gemacht, das Kleinert-Gretli, das immer die Erste war, an dem Unterricht teilnehmen zu lassen. Dem fleißigen, befähigten Kinde konnte dadurch eine bessere Lebenslaufbahn erschlossen werden, und der Hilde würde es sicherlich ein Ansporn sein, mit dem Gretli zu wetteifern.

So war es gekommen, daß die beiden Kinder nicht nur ihre Spiele, sondern auch ihre Arbeit miteinander teilten, daß eine innige Freundschaft mit ihnen groß wurde. So kam es auch, daß auf dem bescheidenen Kienholztisch in dem ärmlichen Kleinert-Hause ein französisches Sprachbuch lag.

Ehe Hildegard noch den schweren Kampf in sich, ob sie wohl in Gegenwart der neuen Freundinnen Gretli im Garten aufsuchen könnte, ausgefochten hatte, wurde die Stubentür geöffnet. Auf der Schwelle erschien das Gretli, einen Korb Kartoffeln in den Händen. Das saubere Kattunröckchen hatte es sorgsam aufgesteckt, um es ja nicht erdig zu machen. Unter dem rotschwarzgestreiften Unterrock wurden nackte, braungebrannte Beine sichtbar. Das frische Gesicht, vom blonden Zopfkranz gekrönt, glühte vor Arbeitsfreude.

»Großmuttel,« rief Gretli schon unter der Tür, »so gut wie heuer sind unsere Kartoffeln lang nicht geraten. Tut auch not im Kriegsjahr, wo alles so teuer und knapp ist – – –« Da brach es ab. Es hatte den fremden vornehmen Besuch in der Stube erspäht.

»Grüß Gott«, herzgewinnend ging Gretli auf die steif dastehende Steffi zu, wischte sich die Hand an der blaubedruckten Schürze ab und reichte sie der kleinen Fremden zum Gruß.

Doch Steffi rührte sich nicht. Was fiel dem Dorfmädel ein, ihr die Hand zu geben!

»Wünschst du etwas von uns?« fragte Gretli, trotzdem ihr die deutliche Abweisung weh getan hatte, noch immer freundlich.

Steffi schwieg empört. Wie konnte diese Bauerndirn sich nur erdreisten, sie mit »du« anzureden!

Vom Fenster her zwischen den bunten Nelken aber klang's herein: »Vor dem wilden Stier hat sie sich zu euch geflüchtet, die Steffi, mächtige Angst hat sie gehabt.« Da stand Hilde auch schon in der Stube und hatte beide Hände Gretlis ergriffen. Der Kampf in der jungen Brust war beendet. Steffis häßlicher Hochmut hatte ihr den richtigen Weg gewiesen.

»Grüß Gott, Gretli«, sagte Hildegard noch, und dann verstummte sie jäh. Es war ihr plötzlich zum Bewußtsein gekommen, daß sie sich drei Wochen lang gar nicht um die Freundin gekümmert hatte, ja, ihr nach Möglichkeit aus dem Wege gegangen war.

Aber Gretli war nicht nachtragend. »Das ist schön, Hilde, daß du dich wieder mal nach uns umschaust. Ich hatte allweil im Garten und auf dem Feld zu schaffen, da die Mutter doch in Vaters Abwesenheit in der Fabrik Arbeit angenommen hat. Sonst wär' ich schon mal auf einen Sprung zu dir gekommen.«

In Hilde Eckarts offenem Gesicht kam und ging das Blut. Sie sah Steffis spöttische Miene über ihre »Freundin«, die barfuß Kartoffeln hackte, und deren Mutter in der Fabrik arbeitete. Und sie erblickte in der offen gebliebenen Tür die ihr nachfolgende Felicitas mit großen, erstaunten Augen. Wenn Fee, die sie herzlich liebgewonnen hatte, ihr nun die Freundschaft kündigte, weil sie die ihre einem armen Dorfmädchen geschenkt – falsche Scham nahm aufs neue von der jungen Kinderseele Besitz. Die gute Regung, die noch eben die Oberhand gehabt, verkroch sich wieder.

»Habt – habt ihr Nachricht von deinem Vater?« stieß Hilde verlegen hervor, nur um die Peinlichkeit des Schweigens abzukürzen.

»Ja, gestern«, Gretlis sonnengebräuntes Gesicht strahlte. »Vater ist gesund trotz schwerer Kämpfe. Er hat sich beim Sturmangriff ausgezeichnet und ist zum Unteroffizier befördert worden.« Kindlicher Stolz leuchtete aus Gretlis Vergißmeinnichtaugen – das war ein anderer Stolz als der, den Steffis Wesen kennzeichnete.

Ein schneller Seitenblick huschte zur Steffi hin, wie spöttisch es um deren Mundwinkel zuckte – da brachte Hilde den Glückwunsch, der sich ihr aus warmem Herzen empordrängte, nicht über die Lippen.

Das einfache, freimütige Gretli ahnte nichts von diesen Empfindungen ihrer Freundin Hilde. Wohl hatte es sich ein wenig zurückgesetzt gefühlt, daß Hilde jetzt durch die Sommergäste keine Zeit mehr für sie zu haben schien. Aber fleißiges Schaffen in Haus und Feld ließ keine unnützen Gedanken aufkommen. So sagte es auch jetzt in der schlicht freundlichen Art, die ihm aller Herzen gewann: »Wollt ihr nicht in die Geißblattlaube kommen und ein Glas Apfelmost bei uns trinken?« Natürlicher Herzenstakt ließ Gretli ihrer Pflicht als Wirtin eingedenk sein.

Die Geißblattlaube – die schönsten Stunden hatte Hilde mit Gretli in dem lauschigen Grün verlebt. Da hatten sie gemeinsam gearbeitet und gelernt. Dort hatten sie für ihre Väter im Felde emsig gestrickt und dazu aus heller Kehle Vaterlandslieder gesungen. Aber mit der hochmütigen Steffi zusammen in Gretlis Geißblattlaube – nein, wie eine Entweihung wäre es Hilde vorgekommen.

»Es geht heute nicht – wir wollen noch einen Spaziergang machen – ein andermal, Gretli«, brachte sie stotternd hervor. Dann wandte sie sich an die still dem Gespräch folgende alte Frau: »Auf Wiedersehen, Großmutter Kleinert.«

»Na, das Wiedersehen wird wohl auf sich warten lassen, bis die Fremden fort sind, Kind«, sagte die und richtete ihre erloschenen Augen auf die puterrote Hilde. Der war es, als ob die Blinde die geheimsten Gedanken ihrer Seele gelesen hätte. »Auf Wiedersehen, Gretli!« Dem traurig fragenden Blick der Freundin vermochte Hilde nicht standzuhalten. Als ob sie Feuer unter den Füßen hätte, strebte sie aus dem Häuslein, das ihr sonst der liebste Aufenthalt gewesen war, hinaus. Felicitas nickte Gretli ein freundliches Lebewohl zu, während Steffi den Kopf kaum zum Gruß bewegte.

Lange stand Gretli, an die rosenrote Wand ihres Häusleins gelehnt, und schaute den drei zu Berg steigenden Mädchen nach. Sie stand und schaute, bis Hildes braune Zöpfe verschwanden, bis ihr die klaren Vergißmeinnichtaugen zu tränen begannen. Dann erst ging Gretli ins Stübchen zur Großmutter zurück. Die konnte es ja zum Glück nicht sehen, daß ihr immer lustiges Gretli geweint hatte.

Nein, sehen konnte es die alte Frau nicht, aber mit dem verfeinerten Empfinden der Blinden fühlte sie deutlich die Enttäuschung, die ihr Liebling niederzuringen bemüht war.

»Gräme dich nicht, mein Gretli,« sagte sie liebevoll, »die Hilde findet schon wieder den Weg zu uns zurück. Sommerfreundschaften sind wie Schmetterlinge, bunt und verlockend, aber von kurzer Dauer. Nur was Bestand hat, hat Wert.«

Da ging Gretli getröstet wieder an die Arbeit.

Der Hilde aber ward es nicht so schnell leicht ums Herz. Sie, die sonst behend wie ein Zicklein von Fels zu Fels kletterte, stieg heute langsam und schwerfällig aufwärts, als ob sie eine unsichtbare Last auf dem Rücken trüge. Das waren die Selbstvorwürfe, die keinen Frohsinn aufkommen ließen.

»Puh – war das eine Luft da drinnen.« Steffi schüttelte sich förmlich. »Und wie dreist von dem Bauernmädel, uns Apfelmost anzubieten. Wir hätten es ihr ja bezahlt, aber –«

»Gretli nimmt nichts für ihre Gastfreundschaft bezahlt! Das sind wohl Stadtmoden, bei uns ist so etwas nicht Sitte«, warf da Hilde ein. Und es war ihr, als ob das unsichtbare Päckchen auf ihren Schultern plötzlich nicht mehr so schwer drücke, weil sie die Partei der Freundin ergriffen hatte.

»Ich fand es reizend in der netten Bauernstube«, ließ sich da Felicitas vernehmen. »Das Gretli hat ein so liebes, herziges Wesen, daß man ihm gut sein muß. Warum hast du mir nie von ihr erzählt, Hilde? Kennt ihr euch schon lange?«

Ehe Hilde noch antworten konnte, daß sie von klein auf mit dem Gretli befreundet gewesen, ja, daß es eigentlich ihre beste Freundin sei, hatte ihr Steffi die Antwort vorweg genommen.

»Ihr geht wohl zusammen in die Dorfschule, hahaha?«

»Nein, aber – aber«, – – – nun hatte Hildegard doch nicht die Freimütigkeit, zu bekennen, daß Gretli mit ihr zusammen Unterricht erhielt, und daß sie ihr in manchen Fächern sogar voraus war. »Gretlis Mutter war schon im Hause meiner Großeltern. Und Gretlis Großvater ist Werkmeister in unserer Fabrik. Ihre Mutter hat sich zur Arbeit gemeldet, weil jetzt im Krieg Frauen und Mädchen eingestellt werden mußten, wenn der Betrieb nicht stillstehen sollte«, so berichtete Hilde eifrig, um das zu verschweigen, was sie eigentlich sagen wollte.

»Solche Menschen interessieren mich gar nicht, du hast merkwürdige Freundschaften«, sagte Steffi und rümpfte das feine Näschen.

»Dich habe ich ja noch nicht um die deine ersucht!« Der Ärger über sich selbst, daß sie Gretli nicht vor den andern anerkannt hatte, trug mehr Schuld an dieser scharfen Antwort, als der über Steffis Worte.

»Nicht streiten, wir wollen doch recht vergnügt miteinander sein«, mit diesen Worten legte sich die sanfte Felicitas ins Mittel.

Ja, sei mal einer recht vergnügt, wenn er das deutliche Bewußtsein mit sich herumträgt, seine einstige beste Freundin verleugnet zu haben!

Die drei standen hoch oben am Stauwerk der Desse, das die gewaltigen Wassermassen, die von den Bergen herabstürzten, dämmte und ganz allmählich zu Tal fließen ließ. Sie starrten in den bräunlichen Strudel, aus dem der weiße Wellengischt in Milliarden Tröpfchen umhersprühte.

»Ist das großartig«, sagte Felicitas und sprang hin und her unter dem im Sonnenlicht wie lauter Edelgestein blitzenden Wasserschleier. Da fand auch Hildegard ihren kindlichen Übermut und versuchte die sich etwas zurückhaltende Steffi zu bespritzen.

»Du, meine Locken gehen von der Feuchtigkeit auf,« sagte diese abwehrend, »kommt, wir wollen weiter.«

»Ach nein, hier ist es so schön an dem Wasserfall«, rief Felicitas. Selbst ihre bleichen Wangen hatten sich gerötet.

»Das ist kein Wasserfall, Fee, das ist doch der Damm«, belehrte sie Hilde. »Wenn der nicht wäre, sagt mein Vater, hätten wir jedes Jahr Hochwasser im Dorf.«

Von dem weißen Kirchlein mit dem braunroten Zwiebelturm, tief unten aus goldgelbem Laub lugend, läutete es Mittag.

»Wir müssen heim!« Die drei machten sich auf den Rückweg, über den Weideplatz ging Steffi aber um alles in der Welt nicht noch einmal. Trotzdem sie gemerkt, daß Hilde sie geneckt hatte, war doch eine heimliche Angst vor dem »Stier« zurückgeblieben. Auch Hilde war es recht, daß sie nicht noch einmal am Kleinert-Hause vorbei mußte. Auf kürzestem, steilstem Pfad ging es trabtrab talwärts.

Felicitas und Steffi wohnten in benachbarten Villen. Hilde verabschiedete sich von ihnen und ging ihrem eigenen Vaterhause zu, in der festen Vornahme: »Morgen, wenn ich mit Fee allein bin, erzähle ich ihr aber bestimmt, daß Gretli eigentlich meine beste Freundin ist. Fee ist so gut, die hat das Gretli gleich gern gehabt, dann könnten wir alle drei Freundinnen sein.« Dieser Vorsatz erleichterte Hildes bedrücktes Herz.

Es kam aber anders. Steffi wich nicht mehr von Fees Seite. Wollte Hilde mit Fee zusammen sein, mußte sie auch die Steffi mit in Kauf nehmen. Obgleich es Felicitas ebenfalls viel netter mit Hilde allein gefunden hätte, brachte das gutherzige Kind es nicht über sich, Steffi auszuschließen.

»Sie ist doch mutterlos«, sagte sie, sobald Hilde ihr zuflüsterte, mal zu zweien etwas zu unternehmen. So blieb Hildes Vorsatz unausgeführt. Steffis Spottsucht mochte sie nicht wieder zum Opfer fallen.

Die schönen Spätsommertage gingen zu Ende. Nebelschwaden stiegen von den Bergen hernieder und hüllten das ganze Tal in grauen Regendunst. Es goß von früh bis spät.

Während der Regentage hatten die Kinder der Glasfabrik einen Besuch abgestattet. Felicitas wollte gern sehen, wie das Glas hergestellt wurde. Hilde hatte heimlich gehofft, daß Steffi sich nicht daran beteiligen würde.

»Du, da sind bloß lauter Arbeiter, solche Leute interessieren dich doch nicht«, so hatte sie Steffis eigenen Ausspruch wiederholt. Aber trotzdem war diese mit dabei.

Der alte Werkmeister Kleinert führte die Kinder durch die Glasbrennerei und Schleiferei. Er war ein lustiger alter Mann und machte gern sein Späßchen. Hilde war sonst stets eine dankbare Zuhörerin dafür gewesen. Aber sie hatte jetzt Gretlis Großvater gegenüber kein reines Gewissen.

Mund und Nase sperrten die kleinen Fremden auf. Nein, war das lustig, wie die glühende feurige Glasmasse, die aus den langen Eisenpfeifen geblasen wurde, allmählich Form und Gestalt annahm. Wie hier ein Gefäß, dort eine Karaffe erstand. Noch lange hätten sie, trotz der Siedehitze, an dem kreisrunden Glasofen stehen und zuschauen mögen. Aber der alte Werkmeister Kleinert hatte mehr zu tun. Der schritt erklärend weiter von Raum zu Raum, seinen jungen Begleiterinnen voran. In dem Abkühlungssaal hatte Gretlis Mutter ihre Beschäftigung.

Freundlich erwiderte sie Hildes etwas scheuen Gruß und fragte sie: »Willst du Sonntag, wenn's schön ist, mit uns in die Preiselbeeren, Hildchen?«

»Wenn – wenn Mutter es erlaubt«, suchend und stotternd kam die Antwort. Wie Steffi wieder die Mundwinkel herabzog, alle Freude an dem Rundgang durch Vaters Fabrik war Hildegard plötzlich genommen. Und als sie am Eingang in die Glasschleiferei noch gar Gretli begegnete, hätte sie sich am liebsten in ein Mausloch verkrochen.

Aber Gretli tat ganz unbefangen. »Ich bringe dem Großvater sein Mittagessen herab«, sie wies auf den Henkelkorb an ihrem Arm. »Es ist jetzt soviel zu tun, daß er nicht mal Mittagspause machen kann.«

»O Herr Kleinert, da wollen wir Sie aber nicht länger stören.« Hilde trachtete danach, möglichst schnell von Gretli fortzukommen. So schlecht, so undankbar war sie sich noch nie erschienen, wie diesen braven Menschen gegenüber.

Gretli reichte Hilde die Hand. »Wir wollen Sonntag Preiselbeeren suchen. Wenn der Regen aufgehört hat, gibt's viele. Du bist jedes Jahr dabei gewesen, Hilde, kommst du diesmal nicht auch mit?« Die Vergißmeinnichtaugen hingen erwartungsvoll an der Freundin Gesicht.

Da sah Hilde nicht mehr die spöttische Miene Steffis, sondern nur Gretlis gute Augen. Frei und herzlich wie einst vermochte sie zu sagen: »Ich bin sehr gern dabei, Gretli, wenn ich darf.«

Gretlis offenes Gesicht verklärte sich förmlich, und auch Hilde sah froh drein. Am liebsten hätte sie in diesem Augenblick Gretli einen Kuß gegeben und es gebeten, ihr nicht böse zu sein, daß sie fremde Kinder ihm vorgezogen hatte. Aber so weit ging Hildes Selbstüberwindung vor den andern noch nicht.

»Ich würde auch gern Preiselbeeren suchen helfen, wenn ich mitgenommen werde«, ließ sich da Felicitas hören.

»Ja, natürlich – fein, Fee!« rief Hilde strahlend. Auch Gretli war erfreut. Steffi verhielt sich schweigend. Das sollte ihr einfallen. Nein, dazu war sie sich zu gut. Aber niemand war darüber böse, daß Steffi stumm verzichtete.

Im Gegenteil, selten hatte sich Hilde auf einen Tag so gefreut, wie auf den Sonntag. Mit Gretli und Fee allein zusammen beim Beerensuchen – einfach wundervoll würde es werden. Da würde sich schon die Gelegenheit ergeben, sich mit Gretli auszusprechen und auch Felicitas den wahren Sachverhalt mitzuteilen. Dann würde ihr auch wieder leicht und froh ums Herz werden. Bereits am Samstag lachte goldener Sonnenschein auf das in frischer Schöne grüßende Dessetal herab. Am nächsten Morgen würde sicher auch der Waldboden trocken sein. Nichts stand dem Sonntagsvergnügen im Wege.

So dachte wenigstens Hildegard, aber es sollte anders kommen. Der alte Dorfpostbote brachte am Nachmittag eine Feldpostkarte. Jubelnd eilte Hilde damit zur Mutter, die sich seit vielen Tagen um das Ausbleiben eines Lebenszeichens ihres Mannes Sorge machte. Nun würde auch sie morgen einen frohen Sonntag haben.

In freudiger Aufregung und kindlichem Ungestüm übersah Hilde, daß die Karte nicht die Schriftzüge des Vaters trug. Frau Eckart aber brauchte nur einen Blick darauf zu werfen, um überzeugt zu sein, daß da nicht alles in Ordnung war.

Die Nachricht rührte von einer Lazarettschwester her. Herr Eckart hatte beim Patrouillendienst eine schwere Verwundung davongetragen und war vom Feldlazarett nach einer Stadt im Rheingebiet gebracht worden. Von dort aus übermittelte die Schwester seine Grüße an Frau und Kinder.

Nachdem der erste Schreck überwunden war, gab es für Frau Eckart kein Überlegen. Es stand fest bei ihr, daß sie zu ihrem Manne reisen und sich persönlich davon überzeugen mußte, daß keine ernste Gefahr vorlag. Eher fand sie keine Ruhe.

Die einzige Schwierigkeit bestand nur darin, daß sie ihrem Kinderfräulein, die äußerst zuverlässig war, eben Urlaub erteilt hatte. Vor Mittwoch oder Donnerstag würde diese nicht zurück sein. So lange litt es aber die geängstigte Frau nicht fern von ihrem kranken Manne.

Hilde, die über diese Botschaft jetzt ebenso betrübt war, wie sie vorher erfreut gewesen, bat die Mutter, sogleich zu reisen. Sie würde schon für das Schwesterchen Sorge tragen. Die Mutter könne ihr Klein-Ursel ganz ruhig anvertrauen. Kein Gedanke an das gestörte Beerensuchen, auf das sie sich so gefreut, kam Hilde. Alle Gedanken flogen liebevoll zum Vater und nahmen an Mutters Sorge teil.

Die war wirklich so groß, daß die Unruhe um die alleinbleibenden Kinder dagegen zurückstehen mußte. Hilde war für ihre zwölf Jahre ein recht verständiges Mädchen. Sie würde sicherlich ihr Versprechen, auf Klein-Ursel gut acht zu geben, erfüllen. Auch die Dienstboten waren schon mehrere Jahre im Hause, es war Verlaß auf sie. So packte Frau Eckart eine Stunde später ihren Koffer. Ihre Kinder begleiteten sie bis zum Wagen, der sie nach der Bahnstation bringen sollte.

»Noch eins, Hildchen,« sagte die Mutter beim Abschied, »es ist mir eine Beruhigung, wenn du mit dem Kinde, bis das Fräulein zurückkommt, nur im Garten spielst. Das Wasser ist so nah, und Ursel ist ein kleiner Wildfang. Achte auch darauf, daß sie nicht etwa in die Fabrik läuft, da kann ihr so leicht etwas zustoßen.« Jetzt im Augenblick der Abreise kamen der Mutter noch tausenderlei Bedenken, aber Hildegard wußte sie alle zu zerstreuen.

»Also, meine Große, ich verlasse mich auf dich!« Die Pferde zogen an, und »tausend Grüße für den Vater und recht gute Besserung!« rief Hilde hinterdrein. Dann nahm sie das Schwesterchen an die Hand und fühlte sich ganz als »Große«. Gegen dieses stolze Gefühl kam kein Bedauern über das vereitelte Sonntagsvergnügen mit den Freundinnen auf.

Allerliebst verstand es Hilde, mit dem Schwesterchen zu spielen, und es war zweifelhaft, wer sich dabei mehr belustigte, ob die Kleine oder die Große. Sie vergaß sogar darüber, dem alten Werkmeister Kleinert, der bei Fabrikschluß allabendlich an der Villa vorüberkam, die Bestellung an Gretli auszurichten, daß nun doch nichts aus dem gemeinsamen Preiselbeerensuchen werden könnte. Erst im Bett fiel Hilde diese Unterlassungssünde ein. Vielleicht konnte sie morgen in aller Frühe, ehe Ursel noch aufgestanden war, ganz geschwind mal zum Kleinert-Hause hinaufspringen und Bescheid sagen. Auch Felicitas, die sie abholen wollte, mußte benachrichtigt werden.

Aber Hilde war eine kleine Langschläferin. Als sie spät erwachte, war Ursel längst schon munter und Fee, der Verabredung gemäß, bereits zur Stelle. Mit Herzenstakt verbarg diese ihre Enttäuschung über das vereitelte Vergnügen, da solch eine ernste Ursache dazu vorlag. »Dann spielen wir zusammen im Garten«, schlug sie freundlich vor. Keine war froher als Hilde. Eins, zwei, drei war sie aus den Federn.

Felicitas mußte beim Frühstück dabei sein, sie half Hilde in ihrem netten Zimmerchen Blumen begießen und den Staub abwischen. War es da ein Wunder, daß Hilde über das Beisammensein mit der Freundin gar nicht mehr daran dachte, Gretli Bescheid sagen zu lassen? Und daß dieses, nachdem es sich fast die Augen aus dem Kopf geschaut, ob denn noch immer nichts mit fliegenden braunen Zöpfen von der Eckart-Villa heraufgestürmt käme, gar nicht so fröhlich wie sonst der Mutter zur Beerensuche folgte? Gewiß hatte Hilde es sich wieder anders überlegt, gewiß war sie lieber mit ihren vornehmen Freundinnen zusammen. Aber daß Hilde sie nicht einmal einer Botschaft für wert hielt, das schmerzte das Gretli.

In lustigem Beieinander verging der Vormittag im Garten. Felicitas war ein gutes Kind, das auch Klein-Ursel bei allen Spielen beteiligte.

»Komm doch am Nachmittag wieder, Fee«, bat Hilde, als es Zeit zum Mittagessen war.

»Wiedertommen, Hee soll wiedertommen!« beide Ärmchen schlang die kleine Ursel um Felicitas.

»Wenn ich nicht mit Mutter spazieren gehe«, mit diesen Worten verabschiedete sich Fee.

Bei Tisch sorgte Hilde liebevoll für das Schwesterchen, und mit freudigem Stolz dachte sie: »Mutter wird mit mir zufrieden sein«. Dann standen sie beide auf der Anhöhe am Gartenhaus und schauten auf die Wiesenhänge jenseits der Desse, wer von ihnen zuerst Felicitas erblicken würde.

Da rollte ein Wagen vor das Gartentor. In diesem saßen Felicitas' Mutter und Steffi, während Fee selbst den beiden Schwestern entgegengeeilt kam.

»Mutter will mit uns eine Ausfahrt machen, du sollst auch mitkommen, Hilde«, rief sie ihr bereits von weitem zu.

»O ja – fein!« Hilde vollführte jubelnd einen Luftsprung. Da fiel ihr Blick auf das Schwesterchen, das mit großen Augen, in denen deutlich die Frage zu lesen war: »Und ich?« von einer zur andern blickte.

»Ursel kommt auch mit – nicht wahr, Mutter, für Klein-Ursel ist noch Platz im Wagen?« rief Felicitas gutherzig.

Das Gesicht des reizenden Blondkopfs strahlte, Hildes Freude aber wurde plötzlich gedämpfter. »Ich weiß nicht, ob wir dürfen«, ganz kleinlaut lösten sich die Worte von ihren Lippen. »Mutter hat gesagt, ich soll mit Ursel, bis Fräulein wieder da ist, nur im Garten spielen.«

»Aber meine Mutter ist doch Aufsicht genug, kommt nur mit«, bestürmte Fee sie.

»Oder laß doch die Kleine zu Haus beim Kindermädchen«, schlug Steffi, die es ohne kleine Geschwister netter fand, vom Wagen herunter vor.

»Nein, das geht nicht, Mutter hat sie mir anvertraut«, sagte Hilde, sie wurde zwischen ihren Wünschen und ihrer Pflicht hin und her gerissen.

»Kind, wenn du glaubst, daß es deiner Mutter nicht recht sein könnte, ist es besser, wir nehmen Abstand davon. Wir bleiben ja noch hier, ein andermal kommt ihr dann alle beide mit«, damit gab Felicitas' Mutter den Ausschlag.

So mußten Hilde und Ursel schweren Herzens den Wagen davonfahren sehen. Klein-Ursel weinte und Hilde grollte. Anstatt wieder so nett wie am gestrigen Tage mit dem Kinde zu spielen, gab Hildegard dem Schwesterchen heimlich die Schuld, daß sie hier zu Hause hocken mußte. Nicht einmal der Gedanke an den auf seinem Schmerzenslager ruhenden Vater, für den sie doch eigentlich das Opfer brachte, ließ sie zur Einsicht kommen. Erst als Anna sich Klein-Ursels annahm und mit ihr allerlei Kurzweil trieb, geruhte auch Hilde, ihre schlechte Laune beiseite zu lassen und sich zu beteiligen.

Aber am nächsten Tage empfand Hilde die Pflichten, die ihr durch die Aufsicht über das Schwesterchen erwuchsen, wieder recht drückend. So lieb die Kleine auch war, sehnsüchtig sah Hilde Steffi und Fee nach, die mit ihrem Frühstücksbrot und der Hängematte hoch hinauf in den Bergwald zogen. »Wir gehen zur Freundschaftsbuche, komm doch nach«, hatte Fee ihr in den Garten hinein zugerufen.

Ja, wer das dürfte! Wer frei wäre von dem lästigen Hausarrest! Wie eine Gefangene kam sich Hilde vor, trotzdem der Garten so ausgedehnt und sonst ihr liebster Tummelplatz war. Heute mochte sie nun schon gar nichts von Klein-Ursel und ihrem Püppchen wissen, das ihr das Kind in rührender Selbstlosigkeit mit den Worten: »da, Hilla, du darfst Mutti sein«, hinstreckte.

Ursel begann auf eigene Faust zu spielen, da mit der wortkargen großen Schwester nichts anzufangen war. Sie backte Sandkuchen und verkaufte sie gegen Brotmarken.

Hilde, anstatt ebenfalls eine Beschäftigung vorzunehmen, sah dem Schwesterchen mißgelaunt zu. Da kam ihr plötzlich der Gedanke: wie – wenn ich mal ganz schnell auf ein halbes Stündchen nach der Freundschaftsbuche hinaufliefe? Die kleine Schwester war ja so vertieft in ihr Spiel, die würde es kaum merken, wenn sie verschwand. Außerdem legte die Anna drunten in der Plättküche, vor deren Fenster Ursel spielte, die Wäsche zum Rollen zurecht. Da war die Kleine ja beaufsichtigt. Ob sie Anna von ihrem Vorhaben sagte? Ach nein, lieber nicht, sonst ließ die sie nicht fort.

Und eigentlich war doch gar nichts dabei, daß sie auch mal gern ein bißchen mit ihrer Freundin zusammen sein wollte. Sonst nahm die Steffi Fee am Ende noch ganz für sich in Anspruch. Ja – aber das Versprechen, das sie der Mutter gegeben? Hildes Herz klopfte plötzlich in den Hals hinein – sie fühlte deutlich, daß sie im Begriff war, ein großes Unrecht zu tun. Ach was, den ganzen lieben Tag, so hatte das Mutter gewiß gar nicht gemeint. Der Nachmittag war ja noch lang genug, da wollte sie das Schwesterchen dann entschädigen und ganz besonders hübsch mit ihm spielen.

Als Klein-Ursel der großen Schwester einen besonders gelungenen Sandkuchen zeigen wollte, war Hilde verschwunden. Ursel glaubte, sie sei nur ins Haus gegangen, irgend etwas zu holen und ließ sich nicht im Spiel stören. Dasselbe nahm auch Anna an. Nachdem das Mädchen ihre Wäsche fertig gelegt, ließ sie sich von der Köchin helfen den Korb zur Rolle ins Dorf hinuntertragen. Dort gab es meist einen kleinen Schwatz, daß sie sobald nicht wiederkamen. Klein-Ursel war ja ihrer Meinung nach bei der zwölfjährigen Hilde gut aufgehoben.

So blieb Direktors Nesthäkchen ganz allein in Haus und Garten.

Inzwischen war Hilde in weiten Sprüngen über die Wiesen aufwärts dem Walde zugestürmt. Ein mattrosa und violetter Blütenteppich von zarten Herbstzeitlosen, die der Regen hervorgelockt, breitete sich zu ihren Füßen. Trotz ihrer Eile sah Hilde, die ein offenes Auge für alles Schöne hatte, wie ganz besonders lieblich heute ihr Heimatstal zwischen den Bergriesen hervorlugte.

Oben auf dem lauschigen Plätzchen unter der großen tiefroten Blutbuche wurde sie von den beiden Mädchen mit Jubel empfangen. Zu dreien hockten sie in der Hängematte, und Fee las ihnen aus einem Geschichtenbuch eine besonders schöne Erzählung vor. Kein Gedanke Hildes flog zu dem Schwesterchen zurück, das sie treulos verlassen hatte. So still, so geheimnisvoll webte der Waldeszauber um die drei, nur in den Wipfeln der goldgelben und rostbraunen Herbstbäume rauschte es leise, leise.

Da – ein ohrenbetäubendes Donnern, ein Krachen und Bersten, als ob der Wald plötzlich in Stücke ginge, als ob die Berge sämtlich zerschellten – ein Rauschen, Heulen und Toben ringsum, als seien alle bösen Geister der Urzeit lebendig geworden.

»Himmel – was ist das?« Mit bleichem Gesicht stieß Hilde zitternd diese Worte hervor.

Auch die andern beiden bebten wie Espenlaub. Mit verhaltenem Atem lauschten sie dem Getöse, das nicht enden wollte. Und dazwischen immer dieses wilde Rauschen und Branden, als ob ein Meer plötzlich mit hohen Wogen gegen die Berge flute.

»Hilde – liebe Hilde, was kann das bloß sein?« Fee schob sich mit entsetzten Augen näher zur Freundin.

»Können – können die Russen bis hierher gekommen sein?« – Steffis Worte wurden von dem Ächzen und Splittern der Bäume verschlungen.

»Ursel – meine kleine Ursel!« Das war das einzige, was sich Hildes blutleeren Lippen entrang. Wie mochte das Schwesterchen sich daheim allein fürchten.

Eng umschlungen scharten sich die drei wie verängstigte Vögelchen unter einem Baum, jeden Augenblick fürchtend, daß er von der unsichtbaren Riesenfaust, die die gewaltigsten Stämme wie Reisig knickte, entwurzelt werden könne.

Wie lange sie so gestanden, ohne sich auch nur einen Schritt, der ihr Verderben sein konnte, weiter zu trauen, wußten sie nicht. Allmählich nahm der ohrenbetäubende Lärm ab, nur das unheilvolle Rauschen blieb. Aber die konnten sich doch jetzt wenigstens wieder verständigen.

»Wir müssen heim, meine Mutter wird sich sehr um mich sorgen.« Fee war die erste, die wieder das Wort ergriff.

»Ach, und Ursel – ich muß zu meiner kleinen Ursel«, da kam in Hildes vor Schreck erstarrte Glieder wieder Leben. Sie zog die beiden mit sich fort. »Hier müssen wir langgehen – nein, hier«, – – – ja, wo war denn Weg und Steg hin, sie fand sich in ihrem Heimatswald, in dem sie jeden Baum kannte, ja nicht mehr zurecht! Überall lagen Felsblöcke und Baumstämme in wildem Durcheinander.

»Wir müssen nach der Desse zu halten, da finden wir am besten zurück, in dieser Richtung muß sie unbedingt fließen.« Die drei bahnten sich einen Weg durch das zertrümmerte Waldreich.

Immer näher kam das Rauschen und Heulen, sie traten aus dem Walde und – »barmherziger Himmel – der Damm ist gebrochen!« schrie Hilde gellend auf.

Wo war das liebliche Tal, die blumenübersäten Wiesen hin, die sie noch vor kurzem geschaut? Wasser, nichts als schäumende Fluten, wälzten sich mit einer alles verheerenden Kraft durch das blühende Tal, Bäume, Felsstücke, Häuser, Menschen und Tier mitleidslos mit sich fortreißend. Das kaum zwei Meter breite harmlose Bächlein war zur verheerenden Flut geworden.

»Ursel – Ursel – – –«, schrill mischte sich Hildes Schreckensschrei mit dem Tosen des entfesselten Elementes. »Ich muß hinunter – ich muß nach dem Kinde sehen«, sie wollte geradeswegs hinein ins Verderben.

»Um Himmels willen, Hilde, du kannst doch da nicht hinunter«, Felicitas und Steffi, selbst schneebleich, hielten sie mit vereinten Kräften zurück.

»Ich muß – ich bin verantwortlich für Ursel – Mutter hat sie mir anvertraut – ach, wie habe ich ihr Vertrauen getäuscht!« Beide Hände schlug Hilde vor die Augen, und die ersten herzbefreienden Tränen kamen.

»Dein Schwesterchen wird vor dem Unglück hoffentlich bewahrt geblieben sein, und auch meine Mutter«, sagte Fee mit zitternden Lippen. »Sie wollte zur Bahnstation gehen, sich nach den Abfahrtszügen zu erkundigen – hoffentlich war sie noch nicht heimgekehrt!«

»Und meine kleinen Brüder ebenfalls nicht, sie haben mit ihrem Hauslehrer einen Ausflug gemacht. Nur Bubi ist bei seiner Kinderfrau«, zum erstenmal fühlte Steffi in dieser Stunde, wie lieb sie die kleinen Geschwister, um die sie sich nie sonderlich gekümmert, im Grunde ihres Herzens hatte.

»Wenn man nur wüßte, ob unser Haus noch steht, aber man sieht ja nichts in der Tiefe als Wasser«, jammerte Hilde.

»Die Mädchen werden sich mit dem Kinde noch zur Zeit gerettet haben – sieh, Hilde, dort oben am Wald, gar nicht weit von hier, ist es schwarz von Menschen. Das sind sicherlich Dorfbewohner, die sich dorthin geflüchtet haben. Schnell, komm – vielleicht sind unsere Lieben dabei.« Felicitas wies zur Rechten, wo die Wiesenhänge in weitem Bogen von der Desse fort zur Höhe strebten.

Ja, dort waren Menschen. Die Hoffnung gab den versagenden Füßen der drei Mädchen neue Kräfte, sie eilten am Waldsaum entlang.

Verstörte Menschen mit entsetzten Augen, die das Furchtbare nicht zu fassen vermochten, kamen ihnen entgegen. Händeringende Frauen, die ihre Kinder suchten, Männer, die um Haus und Vieh jammerten. Wie sie gingen und standen, waren sie davongestürzt, als die haushohen Mauern von Wasser, Holz und Stein plötzlich zu Tal donnerten, nichts hatten sie gerettet als das nackte Leben.

»Steht – steht die Glasfabrik noch?« Hilde vermochte die Frage kaum über die Lippen zu bringen.

Man kannte das freundliche Kind im Dorfe gut. »Ach, Fräulein, die Fabrik wird wohl zu allererst haben dran glauben müssen. Sie steht ja so nah am Ufer. Selbst die neue Steinbrücke ist mit fortgerissen. Nur gut, daß gerade Mittagszeit war und die Arbeiter alle zu Hause«, sagte einer der Männer.

Die Fabrik – das hieß auch gleichzeitig die Villa! Die Menschen und Dinge begannen sich vor Hildes Augen zu drehen, Felicitas mußte sie stützen.

»Wir sind es ja nicht allein, die sorgen, sieh, die vielen armen Menschen hier«, redete sie der Freundin zu.

»Ich aber habe schuld, wenn dem Kinde etwas geschehen ist – ich bin ungehorsam gewesen«, stöhnte Hilde gequält. Vergeblich forschte sie unter all den Geflüchteten nach Ursels blondem Lockenköpfchen.

»Das Kleinert-Haus ist unversehrt, es steht am höchsten, wir wollen ins Kleinert-Haus, vielleicht kann der alte Werkmeister mir Auskunft über Ursel geben«, meinte Hilde schließlich, da all ihr Forschen und Suchen nichts fruchten wollte, ganz verzweifelt.

Das Kleinert-Haus – rosenrot leuchtete es den drei Mädchen aus all dem Grau der Vernichtung entgegen, bald hatten sie es erreicht. Auf den roten Backsteinen des Hausflurs drängten sich erregte Dorfbewohner. Hilde bahnte sich einen Weg durch die Leute und öffnete die Tür zur Stube. Auf dem Bett in der Ecke lag Gretli, bleich mit geschlossenen Augen. Die blinde Großmutter saß neben dem Bett und legte mit zitternder Hand kalte Umschläge auf die Stirn der bewußtlosen Enkelin.

Kaum wagten sich Hilde und ihre Gefährtinnen näher.

»Ist – ist – hat das Gretli Schaden genommen?« stieß sie schließlich herzklopfend heraus. Da blickten sie die glanzlosen Augen der alten Frau jammervoll an. »Sie haben sie mir blutend ins Haus getragen, mein Liebstes, das Letzte, was mir noch bleibt – denn mein Mann und Gretlis Mutter sind nicht wieder heimgekehrt.«

Hilde war die Brust wie zugeschnürt. Grenzenloses Mitleid mit dem armen Gretli, gegen das sie in den letzten Wochen so schlecht gehandelt, mischte sich mit der furchtbaren Sorge um das Schwesterchen. Keinen Ton brachte sie heraus.

In die Stille des Krankenzimmers tönte das dumpfe Stimmengemurmel der Draußenstehenden, die das Gretli wohl heraufgeschafft hatten, und jetzt ein Stimmchen aus der nebenliegenden Küche: »Tomm, Miesechen, tomm« – ein Kinderlachen, alles Blut jagte es Hilde zum Herzen.

Mit einem Sprung war sie an der angelehnten Küchentür und stieß sie auf. Da kauerte am Herd neben dem schwarzen Kater ein blondes Lockenköpfchen – »Ursel!« – Hilde schrie es, jubelte es in die Stille hinein.

Dann hielt sie das Schwesterchen fest in den Armen, ganz fest, und küßte und streichelte es unter Tränen.

»Urselchen – mein Urselchen, daß ich dich nur wieder habe!«

Felicitas, die der Jubelruf in die Küche gelockt, sah feuchten Auges Hildes Wiedersehensglück.

Die kleine Ursel dagegen in beneidenswerter kindlicher Unbefangenheit blickte ganz erstaunt auf die erregte Schwester.

»Warum biste denn fottelaufen?« fragte sie. »Und Anna und Hike sind auch fottelaufen, und Ulla war danz allein und mich hat so deweint. Und denn tam so'n doller Hadau und mit einmal war Detli da, das dute Detli, und hat Ulla auf den Arm denommen. Und denn is de hindefallen – plumps – –« Das Kleinchen lachte hellauf, nicht ahnend, daß Gretli bei ihrer heldenmütigen Rettungstat eine schwere Verletzung davongetragen hatte.

Hilde aber griff sich ans Herz. Das schmerzte, trotz des Glückes. All das Leid, das sie der Freundin in den letzten Wochen durch ihre Zurücksetzung zugefügt, empfand sie jetzt, da diese ihr das Schwesterchen mit Einsetzung des eigenen Lebens errettet hatte, doppelt und dreifach! Und wie vorhin die alte blinde Frau, so bat jetzt die junge Hilde aus tiefstem Herzen, daß ein gütiges Schicksal Gretli am Leben erhalten möge, damit sie an ihr alles gut machen könne.

Aber es dauerte eine ganze Zeit, bis das Gretli wieder zum Bewußtsein erwachte, bis es entschieden war, daß das junge Leben den Sieg über die Krankheit davontragen sollte.

Doch Hilde wartete nicht so lange mit dem Gutmachen ihres Fehlers. Sie löste die Großmutter am Krankenlager ab und pflegte Gretli getreulich. Sie tat im Haushalt die Arbeit, die sonst Gretli verrichtet, wenn auch nicht mit demselben Geschick, so doch mit dem allerbesten Willen. Und sie erzählte vor allem Felicitas und Steffi, was sie solange verschwiegen, daß Gretli ihre beste Freundin sei.

Bis sich die Wasser verlaufen hatten, fanden die obdachlosen Mädchen im Kleinert-Hause gastliche Aufnahme. Steffi, die einst auf das armselige Häuslein so geringschätzig herabgeblickt hatte, war jetzt froh, darin Unterkunft zu finden. Diese ernsten Tage, in denen sie immer noch um das Leben ihrer Brüder in Ungewißheit blieb, waren eine gute Schule für das oberflächliche Mädchen. Es lernte einsehen, daß nicht das Kleid den Menschen macht, sondern daß es auf das Herz ankommt, das unter dem Kleide schlägt. Es lernte verstehen, wie wenig Hab und Gut bedeutete, das im Augenblick zerstört werden kann, und es lernte den Segen fleißiger Arbeit kennen.

O weh, wie schaute das idyllische Dessetal aus, als die Wasser abgeflossen waren! Einer schlammigen, graubraunen Wüste glich es. In haushohen Haufen lagen Stämme, Balken, Bretter und Dächer durcheinandergeschleudert. Häuser klafften, zur Hälfte mit fortgerissen, wie aufgeschnittene Puppenstuben. Hier hing eine Bettdecke am Bahndamm, dort schwammen Haus- und Küchengeräte auf der jetzt wieder als harmloses Bächlein das aufgebrochene Flußbett sich schlängelnden Desse.

Von der Glasfabrik, von der Villa waren nur noch Trümmer übrig geblieben. Aber trotzdem ihr Elternhaus vernichtet war, fühlte Hilde dankbar und glücklich, wieviel mehr ihr noch geblieben war, als den meisten der Ärmsten. Denn fast in jeder Familie hatte man Verluste an Menschenleben zu beklagen. Auch Gretlis Großvater, dem diese an jenem Unglückstage gerade das Essen heruntergebracht hatte, war ein Opfer der Verheerung geworden. In treuester Pflichterfüllung hatte der brave alte Mann bis zuletzt auf seinem Posten ausgeharrt. Gretlis Mutter dagegen war zum Glück auf der jenseitigen Flußseite in Sicherheit.

Auch Felicitas und Steffi fanden ihre Lieben dort unversehrt wieder. Die Sorge um Fee hatte das Haar ihrer Mutter in den wenigen Tagen gebleicht. Glückselig schloß sie ihr Töchterchen, das der Himmel ihr behütet, in die Arme. Aber auch Steffi zog innig die kleinen Brüder ans Herz. Von nun an wollte sie getreulich wie ein Mütterchen für sie sorgen.

An dem Tage, da Gretli zum erstenmal außer Gefahr war, kehrte Frau Direktor Eckart heim. Die Nachricht von dem furchtbaren Unglück in dem stillen Waldwinkel war in die weite Welt hinausgeflattert. Sie war bis zu Frau Eckart gedrungen. Die Mutter wußte nicht, wie sie heimgekommen. Alle ihre Gedanken drehten sich mit den ratternden Eisenbahnrädern um die Wette nur um den einen Punkt: werde ich meine Kinder lebend wiederfinden?

Was fragte die Mutter danach, daß ihr Haus vom Erdboden verschwunden, daß die Fabrik ein Raub der Wasser geworden war! In ihren Armen hielt sie ihre Kinder unversehrt und blühend, sie wußte ihren Gatten im Lazarett jetzt außer Gefahr – was wog dagegen alles andere!

Den braunzöpfigen Kopf ganz fest an Mutters Schulter geschmiegt, so berichtete Hilde ihren Ungehorsam, und wie furchtbar sie durch die Sorge um Ursel dafür gestraft worden war. Und daß sie es nur Gretli zu verdanken hätte, daß sie der Mutter überhaupt je wieder in die Augen sehen könnte. Frau Eckart küßte verzeihend ihr Töchterchen, sie fühlte, wie schwer das Kind für sein Vergehen gelitten hatte.

Gretli, die immer noch bleich in ihren Kissen ruhte, wollte von keinem Dank wissen.

»Ich hörte Ursel weinen, als ich an eurem Garten vorübereilte«, sagte sie einfach. »Das Wasser stürzte schon zu Tal. Da war es doch ganz selbstverständlich, daß ich sie mit mir nahm.«

»Gretli – liebes Gretli, kannst du mir vergeben, daß ich in den letzten Wochen solche schlechte Freundin gewesen bin? Kannst du mich überhaupt noch lieb haben?« flüsterte Hilde feuchten Auges.

»Mehr als je«, gab Gretli zärtlich zurück, und ihre Augen, die der Tod des Großvaters getrübt, leuchteten zum erstenmal wieder auf.

Die Sommergäste hatten das verheerte Dessetal verlassen. Fee und Steffi waren in ihre Heimat zurückgekehrt. – Aber dankbare Briefe flogen von dort ins Kleinert-Haus.

Hier hatte die Familie Eckart liebevolle Aufnahme gefunden, bis das neue Haus fertiggestellt war. Es herrschte rege Tätigkeit in dem stillen Waldtal. Allenthalben wurde gebaut und ausgebessert. Mit ungebrochenem Mut und starken Armen ging ein jeder der Geschädigten wieder daran, sein Lebenswerk von vorn zu gestalten. Gute Menschen halfen mit reichen Gaben. Die Begüterten, deren Hab und Gut versichert war, sorgten für die Unbemittelten. Denn gemeinsames Unglück schließt fester aneinander als Freudenstunden.

Auch Hilde und Gretli haben jene schweren Tage aufs innigste verkettet. Wie Schwestern wachsen sie miteinander auf und teilen Freud' und Leid in herzlicher Gemeinschaft. Hilde weiß es jetzt, wer ihre allerbeste Freundin fürs ganze Leben ist.



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