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Blitzblank sah es in dem kleinen Milchkeller aus, in dem das Lenchen wohnte. Die Blechkannen blinkten und funkelten in der Sonne wie eitel Silber, der Ladentisch, auf dem die Rahmkäse gar säuberlich auf grünen Blättern gebettet lagen, wetteiferte an Weiße mit den selbstgehäkelten Gardinen, die zierlich das kleine Fensterchen, an dem stets blühende Blumen in Töpfen standen, umrahmten.
So nett und appetitlich wie jedes Gerät in der kleinen Kellerwohnung war auch das Lenchen selber. Die Blondzöpfe so glatt, die Blauaugen so blank und das Gesicht so frisch und fröhlich, daß es eine Freude war, sie anzuschauen.
Wenn sie morgens in aller Herrgottsfrüh, noch vor Schulanfang, treppauf, treppab mit ihren Milchkannen lief, dann wurde es auch der brummigsten, verschlafensten Dienstmagd froher zumute, bot ihr das Milchlenchen mit heller Stimme einen guten Morgen. Wo aber die Hausfrau schon selbst in der Wirtschaft schaffte, wanderte manch rotbäckiger Apfel, manch Stück Rosinenstolle in die kleine, saubere Kinderhand.
Im Sommer, da war das Milchaustragen ein gar lustiges Geschäft. Da säuselte ihr der Morgenwind jeden Tag aufs neue seinen Willkommengruß zu, da lachte die liebe Sonne von einem Ohr zum anderen über die kleine Frühaufsteherin. Die Spatzen, die in den Straßen zwischen den hohen Häusern wohnten, ließen sich mit lautem Schirpen und Piepsen auf das Pflaster nieder, um von ihrer kleinen Freundin die vom Frühbrot aufgesparten Bröselein in Empfang zu nehmen. Und die Blumen in dem Vorgärtchen drüben an dem schönen Hause nickten so lange mit ihren blauen, roten und gelben Köpfchen, bis das Lenchen ihnen wieder zunickte. Ja, da war's gar lustig im Sommer!
Aber im Winter – hu –, wenn die Eisblumen das kleine Kellerfenster bis oben hin überzogen, wenn der eisige Nordost an dem Tuch, das die Kleine um Kopf und Schultern geschlungen hatte, riß und zerrte, wenn er ihr eine Wolke wirbelnde Schneeflocken ins Gesicht trieb, daß sie die Augen nicht zu öffnen vermochte, freilich dann war das Milchaustragen weniger angenehm.
Doch das Lenchen war trotzdem fröhlich und guter Dinge. Ob ihr Näschen sich auch rosenrot färbte und ihre Hände blau, sie lief nur um so lustiger mit dem garstigen Winde um die Wette. Und wenn die Eisschloßen sie einmal gar zu sehr stachen und piekten, dann dachte sie geschwind an ihr molliges Stübchen daheim, wo die gute Mutter ihrem fleißigen Kinde, das im Sturm und Wetter umherlief, während andere Kinder noch tief, tief in den Federn lagen, heiße Milch in Bereitschaft hielt. Wenn sie an ihr Mutterchen dachte, wurde es dem kleinen Mädchen gleich warm, wenn es noch so kalt draußen war.
Einen Vater hatte das Lenchen nicht mehr. Der war vor vielen Jahren, als sie noch kaum auf ihren Beinchen einhertrappeln konnte, gestorben. Seitdem hatte die Mutter den Milchkeller übernommen, um sich und ihr Kind rechtschaffen durchs Leben zu schlagen. Lenchen war ihr ein und alles. Und diese vergalt die Liebe und Sorge der Mutter, indem sie ihr nur Freude machte.
Bloß eines stimmte Lenchen manchmal traurig, daß sie keine Geschwister hatte. Wenn Mutter die Kunden bediente, war das kleine Mädchen sich viel selbst überlassen. Spielgefährten zwar hatte sie genug, die ganze Straße mochte das Milchlenchen gern. Da wurde im Winkel neben der Kellerwohnung eine Puppenwohnung gebaut, da ging es – heidi – durch die Höfe und Treppenhäuser im fröhlichen Versteckspiel. Aber wenn die Freundinnen dabei auf das Brüderchen acht geben mußten, und wohl gar auf den kleinen Schreihals schimpften, dann dachte Lenchen oft sehnsüchtig: »Ach, hätte ich doch auch solch ein kleines Wesen, das ich hätscheln und für das ich sorgen könnte!«
Ihr liebreiches Herz zog sie besonders zu einem armen, kleinen Knaben, der in dem Grünzeugkeller nebenan wohnte. Der arme Junge konnte nicht mit den anderen Kindern umherspringen, denn er war blind. Meist hockte der blasse, kleine Kerl allein zwischen aufgestapelten Weißkohlköpfen und Spinatkörben auf den ausgetretenen Kellerstufen. Die anderen Kinder kümmerten sich nicht viel um ihn, denen war es zu langweilig, still bei dem blinden Knaben zu sitzen.
Nur das Lenchen verbrachte manche Stunde neben dem armen Richard, der nicht sehen konnte, wie lustig die Wolken am blauen Himmel einhersegelten und wie golden die Sonne schien. Sie las ihm aus ihrem Märchenbuch Geschichten vor, sie erzählte ihm allerlei Lustiges von ihren Morgenwanderungen und aus der Schule, und sie streichelte seine abgezehrte Hand so lange, bis ein Lächeln über das bleiche Kindergesicht huschte. Manch Apfel, den sie selbst geschenkt bekommen, manch Pflaumenmusbrot teilte sie getreulich mit ihm. Wenn die Spielkameraden auch noch so laut nach dem Lenchen riefen, sie hielt tapfer neben ihrem kleinen Freunde aus.
Es war eine Sommerfreundschaft. Im Winter sahen sich die beiden nur selten. Richard kam während der kalten Jahreszeit kaum aus seinem Keller heraus, von morgens bis abends mußte er Stühle flechten. »Daß der unnütze Brotesser doch zu etwas gut ist«, wie die Grünkramfrau, die das elternlose Kind in Kost genommen, oft sagte.
Lenchen hätte ihren kleinen Freund gern besucht und ihn ein wenig bei seiner einförmigen Arbeit aufgeheitert, aber sie, die überall gern gesehen war, in dem Grünzeugkeller fühlte sie sich stets überflüssig.
»Halte mir den Faulpelz nicht etwa von der Arbeit ab«, schalt die Frau, oder sie brummte: »Was treibst du dich denn schon wieder hier bei uns herum, Mädel, es ist gerade eng genug!« Dann schlich sich Lenchen schüchtern wieder davon.
Der Aufenthalt in dem engen, dunstigen Keller, in dem es nach Grünzeug, saurem Hering, Käse und Petroleum roch, wo es immer Streit und Lärm gab, war auch nicht gerade verlockend für das kleine Mädchen. Viel lieber holte sie den Richard zu sich herüber in das freundliche, blitzblanke Kellerstübchen, wo Mutter die fetteste Sahne für den jämmerlich blassen Jungen abschöpfte und das Lenchen sogar nach Kuchenschnecken zum Bäcker schickte. Wenn der blinde Knabe es auch nicht sehen konnte, wie traulich und anheimelnd das Zuhause der Freundin war, er empfand doch die liebevolle Atmosphäre, in der es keine Scheltreden, sondern nur freundliche Worte gab, wohltuend. Aber bloß selten, allenfalls mal am Sonntagnachmittag, durfte der arme, kleine Wicht mit hinüber in den Milchkeller.
An einem eisig kalten Februartage war's. Grau und dunkel dämmerte der Morgen. Die Straßenlaternen brannten noch, als Lenchen, die Milchkanne in den kleinen Händen – trab – trab von Haus zu Haus lief. Die Mutter hatte ihr eine warme, rote Kapuze gestrickt, daß die Ohren nicht frieren konnten. Aber die nadelscharfe Morgenluft machte trotzdem die Kleine ganz erstarren. Während sie der Köchin oben bei Majors die Milch in die Töpfe goß, zitterten ihre Hände; fast wäre die schöne Milch danebengegangen.
Der Major, der früh zum Dienst mußte und zufällig durch die Küche kam, sah das frierende Kind. Unwillkürlich dachte er dabei an seine kleine Elli, die noch, bis über das Näschen zugedeckt, in tiefem Kinderschlaf lag. Und das kleine Milchmädchen war kaum älter als sein Töchterchen.
»Geben Sie dem armen, erfrorenen Ding eine Tasse heißen Kaffee und eine Buttersemmel«, gebot er und klopfte freundlich die von der Kälte brennenden Wangen des höflich knicksenden Lenchens.
Dankbar nahm die Kleine den heißen Trank an, und neu gestärkt eilte sie weiter ihrer Pflicht nach.
Als sie gegen sieben Uhr mit ihrem Rundgange fertig war und fröhlich mit den leeren Kannen die Treppe zu ihrem Milchkeller hinabspringen wollte, machte sie erschreckt halt.
Hatte es da nicht eben ganz leise neben ihr gepiepst?
Oder hatte die Kellerstufe geknarrt?
Lenchen lauschte noch einmal.
Alles still, nur das Rattern der Wagen tönte von fern herüber.
Aber damit gab sich Lenchens hilfsbedürftige kleine Seele noch nicht zufrieden, trotzdem es sie drängte, ins warme Stübchen zu kommen.
Sie stieg wieder hinauf und begann zu suchen. Zu deutlich hatte sie den leisen Klageton vernommen. Vielleicht ein frierendes Kätzchen oder gar ein halberfrorener kleiner Spatz?
Da – in der Ecke, neben der Regengosse, die am Keller entlang leitete, schimmerte es goldgelb. War das eine fortgeworfene Apfelsinenschale?
Nein – es bewegte sich – kaum merklich – schon streckte Lenchen die Hand nach dem goldenen Etwas aus.
Ein Vögelchen – ein Kanarienvogel – aber vollständig erstarrt von der Winterkälte, es zuckte nur noch ganz schwach mit den zierlichen Beinchen. Soviel Lenchen es auch mit ihrem warmen, jungen Atem anhauchte, es öffnete seine festgeschlossenen Äuglein nicht. Es war wohl schon im Verscheiden.
Da tat das mitleidige kleine Mädchen das letzte, was es tun konnte. Es nahm das sterbende Vögelchen mit hinunter in den Milchkeller, knöpfte die Bluse auf und bettete das verklammte Tierchen an ihr warmes Herz.
Ja, selbst als es in die Schule ging, behielt Lenchen ihren kleinen Findling in der Bluse, fühlte sie doch nach und nach wieder ein ganz leises Zucken des erfrorenen Vögleins.
Da war es wohl kein Wunder, wenn Lenchen, eine sonst stets aufmerksame Schülerin, heute nicht so ganz bei der Sache war. Immer wieder tastete sie nach ihrer Bluse, in der sie allmählich ein deutliches Krabbeln fühlte. Und als es mitten in der Rechenstunde plötzlich wieder ganz leise unsichtbar zu piepsen begann, hätte Lenchen auf ein Haar einen Jubellaut ausgestoßen.
Sie eilte nach Schluß des Unterrichts, ohne auf die Kameradinnen zu warten, heim, um zu sehen, ob das erwärmte Vögelchen sich erholt habe.
Mit klopfendem Herzen zog sie es hervor.
»Mutter, es lebt, komm nur, Mutter, und sieh, es hat beide Augen aufgemacht. Ach, bin ich froh!« jauchzte das Lenchen auf.
Die Mutter eilte von ihren Milchbütten herbei und freute sich mit ihrem Kinde über das dem Leben zurückgegebene Vöglein.
Es war ein wunderschöner Kanarienvogel. Wie eitel Gold gleißte sein Federkleid, und aus munteren, schwarzen Äuglein schaute er das kleine Mädchen zutraulich an.
Wo mochte er bloß hergekommen sein? Sicher hatte er sich verflogen und war von der eisigen Kälte erstarrt zur Erde gesunken.
»Darf ich ihn behalten, Mütterchen, ja, ist er mein?« fragte Lenchen mit heißen Wangen.
Die Mutter war eine rechtliche Frau. Trotzdem sie ihrem Kinde gern jede Freude machte, schüttelte sie den Kopf.
»Wir müssen erst hören, ob wir den Besitzer des Vogels nicht ausfindig machen können«, sagte sie.
»Aber ich habe ihn doch gefunden und vom Tode errettet!« Zum erstenmal war Lenchen mit ihrer Mutter nicht ganz einverstanden.
»Du warst nur das Werkzeug in Gottes Hand, Kind,« meinte die Mutter, »nun setz' dein Vöglein in ein Kästchen mit Watte, nahe bei dem Ofen, daß es sich vollends erholt. Du aber springe in die Nachbarhäuser, wo du ja bekannt bist, und frage nach, ob irgendwo ein Vöglein vermißt wird.«
Lenchen gehorchte. Sie küßte ihr Vögelchen auf das seidenweiche Köpfchen, setzte es in das Kästchen, das die gute Mutter warm mit Watte ausgepolstert hatte, stellte ihm ein Puppennäpfchen voll frischen Wassers hinein, dazu einige Semmelkrumen, und machte sich auf den Weg.
Das Herz klopfte ihr bis in den Hals hinein vor Aufregung. Leise betete sie: »Lieber Gott, mach doch, daß mein Vögelchen keinen Besitzer hat, ich möchte es ja so schrecklich gern behalten!«
Es war, als ob der liebe Gott die Bitte des kleinen Mädchens erhört hatte. Wo sie auch anklopfte, nirgends war ein Kanarienvogel abhanden gekommen. In einem Hause fragte man sie, ob es auch kein weißer Seidenspitz sei, denn der sei entlaufen.
Da aber lachte das Lenchen hell auf. Sie konnte doch einen Kanarienvogel von einem Seidenspitz unterscheiden!
Am nächsten Tage lief sie in allen Nebenstraßen nachfragend umher. Doch der rechtmäßige Besitzer kam nicht zum Vorschein.
Lenchen jubelte. Aber vorläufig noch zu früh. Denn die brave Mutter ging auch noch auf die Polizei, um zu hören, ob sich dort jemand gemeldet hätte. Doch als sie auch hier ohne Erfolg geforscht hatte, gab sich ihr ehrliches Herz endlich zufrieden.
Das Vögelchen gehörte Lenchen.
Die war jetzt der glücklichste Mensch auf Gottes weiter Erde. Nun hatte sie endlich etwas, das sie lieben, hegen und versorgen durfte, wie sie es schon lange gewünscht. Lenchens erster und letzter Weg morgens und abends ging zu ihrem Goldhänschen, so hatte sie das reizende Vöglein seines goldenen Gefieders wegen genannt.
Goldhänschen gedieh prächtig unter Lenchens liebevoller Pflege. Sein Federkleid, das damals arg vom Sturm zerzaust war, wurde wieder glatt und weich wie Samt. Es hüpfte so munter auf Tisch und Stühlen umher, flatterte so lustig dem Lenchen, wenn es aus der Schule heimkehrte, entgegen, daß Goldhänschen dem kleinen Mädchen von Tag zu Tag mehr ans Herz wuchs.
Ganz zahm war das Vögelchen. Rief Lenchen: »Goldhänschen – komm, Goldhänschen!« so flog es seiner kleinen Pflegerin auf die Schulter und pickte ihr die Körner aus der Hand.
Eines Tages aber lohnte Goldhänschen die Liebe des kleinen Mädchens noch anders. Es begann plötzlich erst leise und dann lauter, immer heller ein Lied zu schmettern, aus voller Kehle jubilierte und trillerte der gefiederte kleine Sänger. Nie hatte Lenchen einen Vogel so schön singen hören. Sie streichelte und liebkoste ihr Vögelchen zum Dank, und dieses begann seinen Sang wieder von neuem.
Bald wurden auch die Kunden, die im Milchkeller ihre Einkäufe machten, auf den schönen Kanarienvogel, der frei umherflog und so herrlich sang, aufmerksam. Goldhänschen war in kurzer Zeit der Liebling aller.
Aber die besten Freunde blieben doch Lenchen und ihr Goldhänschen. Es saß mittags vor ihr auf dem Tisch und pickte mit von ihrem Teller, und es kuschelte sich des Abends in das Kopfkissen des kleinen Mädchens und schlief mit ihr in einem Bett.
Jedoch über die neue Freundschaft vergaß das gute Lenchen nicht ihre alte.
Gleich am ersten Sonntag, als das gesunde Vöglein schon wieder munter umherhüpfte, holte Lenchen den kleinen Richard zu sich herüber, daß er Goldhänschen kennen lernen und bewundern sollte.
Letzteres tat dieser auch aus neidlosem Herzen. Der blinde Knabe wurde nicht müde, die flaumenweichen Federn zu streicheln, vorsichtig tastete er an dem zierlichen Vöglein entlang, und dann sagte er mit tiefem Atemzug: »Ach, ist es schön!«
Und als Goldhänschen später nun noch gar zu singen begann, da saß Richard ganz still mit gefalteten Händen da und lauschte den süßen Tönen. Er teilte jetzt seine Liebe zwischen Lenchen und Goldhänschen.
Auch das Vögelchen fühlte sich zu dem blinden Knaben, als ob es seine Sympathie verstände, hingezogen. Eines Tages flog es ihm gerade so zutraulich auf die Schulter wie dem Lenchen. Das war ein glücklicher Augenblick in dem dunklen Leben des kleinen Blinden.
Aus Draht flochten Richards geschickte Hände heimlich einen Bauer für Goldhänschen, und als Lenchens Geburtstag herankam, brachte er ihr sein Geschenk. Lenchen freute sich sehr, Goldhänschen weniger. Das wollte durchaus nicht in dem engen Bauer bleiben, es ließ sich seine köstliche Freiheit nicht nehmen.
Aber als der Sommer ins Land gezogen kam, und selbst die spärlichen Bäume in der engen Straße ein frischgrünes Maienkleid zeigten, als auf dem Stufensims des Grünzeugkellers wieder die Schnittlauchtöpfe standen und rote Geranien in dem blanken Milchkellerfenster blühten, zog auch Goldhänschen mit seinem Bauer hinaus in die blaue Frühlingsluft.
Da saßen die drei Freunde zusammen auf den Kellerstufen, Richard flocht Körbe, Lenchen lernte ihre Schulaufgaben und Goldhänschen sang und flötete so laut, daß man sein eigenes Wort nicht verstand.
Das war der schönste Sommer, den der blinde Knabe bisher erlebt. Nur manchmal seufzte er leise: »Dürfte ich doch auch soviel lernen wie du, Lenchen, und eine Blindenschule besuchen, aber meine Tante sagt, dazu wäre kein Geld da.«
Richard war ein begabter Junge. Da er nicht sehen konnte, führte er ein um so tieferes Innenleben. Es schmerzte ihn, daß er dumm und unwissend bleiben mußte.
Soweit Lenchen es vermochte, lehrte sie den kleinen Freund, was sie selbst am Vormittag in der Schule gelernt hatte. Aber das Wenige ließ den Wunsch nach mehr immer stärker in dem Herzen des Knaben erstehen.
Oft blieben die Vorübergehenden vor Goldhänschen stehen und lauschten seinen holden Weisen. Besonders die Kinder waren nicht von dem Bauer fortzubekommen.
Auch Majors Elli, die drüben in dem schönen Hause mit den nickenden Blümchen im Vorgarten wohnte, machte oft vor Goldhänschen halt, wenn sie mit ihrem Fräulein spazieren ging. Aber für Lenchen und Richard hatte sie keinen Blick, an denen sah sie hochmütig vorbei – pfui, das waren ja Kellerkinder!
Lenchen kränkte Ellis häßliches Verhalten sehr. Sie bewunderte das schön gekleidete Kind heimlich, dessen Vater oft des Morgens ein freundliches Wort für das fleißige Milchlenchen hatte. Sie wäre so gern gut Freund mit ihr gewesen wie mit allen übrigen Menschen.
Eines Mittags, als Lenchen aus der Schule kam, rief sie wie stets: »Goldhänschen – komm, Goldhänschen!«
Aber kein Goldhänschen kam.
Das jubelnde Gezwitscher, mit dem ihr Vögelchen ihr sonst auf die Schulter flog, blieb aus.
Lenchen erschrak bis ins innerste Herz.
War Goldhänschen krank?
Nein – die Mutter schüttelte auf die ängstliche Frage der Kleinen beruhigend den Kopf. Noch vor kurzem hatte sie den Vogel drüben auf dem Fensterbrett zwischen den Blumentöpfen herumhüpfen sehen. Dort pflegte er stets seinen Vormittagsspaziergang zu machen.
Lieber Gott – jäh durchfuhr es Lenchen – Goldhänschen würde doch nicht davongeflogen sein? So plötzlich wieder verschwunden, wie es einst gekommen?
Die Tränen stürzten bei diesem Gedanken aus den sonst immer fröhlichen Kinderaugen.
Sie rief, sie lockte, sie suchte – alles vergebens. Auch Mutter ließ ihre Arbeit im Stich und half ihrem armen Lenchen nach dem verlorenen Goldhänschen forschen. Kein Stück blieb an demselben Ort. In dem sauberen Milchkeller sah es bald aus, als ob Räuber dort gehaust. Der Verkaufstisch von seinem Platz gerückt, der Kleiderschrank ausgeräumt – aber kein Goldhänschen kam zum Vorschein, so sehnsüchtig auch Lenchen ihren Liebling rief.
Es gab bloß eine Lösung: Goldhänschen, das sonst stets brav sich mit dem Umherfliegen im Keller begnügt hatte, mußte plötzlich Freiheitsgelüste bekommen und durch das jetzt im Sommer offene Fenster das Weite gesucht haben.
Lenchen war unglücklich.
Mit verweinten Augen saß sie vor ihrem Teller, aus dem das Vögelchen immer ein wenig gepickt hatte, und rührte das Essen nicht an.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke.
Am Ende war Goldhänschen in den Grünkramkeller nebenan zu Richard geflogen, es liebte doch den Knaben fast wie sie selbst.
Sie eilte hinüber. Das Schimpfen der Tante, das durch den dumpfigen Keller schallte und sie sonst stets zurückscheuchte, hielt sie heute nicht ab.
»Ist Goldhänschen hier?« fragte sie in ihrer Aufregung die scheltende Frau.
»Goldhänschen – du hast wohl selbst 'n Piepmatz in deinem Kopp?« war die grobe Antwort.
Richard war ebenso außer sich über das Verschwinden des Vögelchens wie Lenchen selbst. Er erbot sich gleich, mit ihr hinüber in den Milchkeller zu kommen und ihr noch einmal suchen zu helfen.
Das kleine Mädchen lächelte schmerzlich. Was Mutter und sie nicht gesehen, würde der blinde Richard doch wohl erst recht nicht finden.
Lenchen wollte gleich wieder mit Abrücken und Auskramen beginnen, aber Richard bat sie, nur einen Augenblick sich mucksstill zu verhalten. Er stand da und lauschte mit den verfeinerten Gehörnerven, wie nur Blinde sie haben.
»Es ist hier im Keller!« sagte er dann mit einem tiefen Atemzuge.
»Junge, du bist nicht gescheit, wir haben doch alles durchsucht«, meinte die Freundin eifrig.
Auch die Mutter gab Lenchen recht.
Aber der blinde Knabe schüttelte stumm den Kopf. Wieder horchte er angestrengt, und dann ging er auf eine Ecke zu und sagte in überzeugendem Ton: »Hier muß es sein!«
»Unter meinen Milchgefäßen – Kind, die habe ich alle selbst vom Sims genommen, kein Stück ist obengeblieben.« Die Mutter strich dem Knaben über den kurzgeschorenen Blondkopf.
»Aber es ist doch bestimmt hier«, beharrte Richard; »Lenchen – horch – hörst du denn nicht ein ganz leises Picken mit dem Schnabel?«
Die Kleine schüttelte betrübt den Kopf. Sie glaubte sicher, daß der Freund sich irrte, und Goldhänschen davongeflogen sei.
»Aber jetzt – hast du das Rascheln nicht gehört?« Richard zitterte vor Erregung.
Ja, das hatten sie soeben auch vernommen, die beiden anderen, es war fast, als ob eine Maus knisterte, sollte das wirklich Goldhänschen gewesen sein?
Ein leises, ängstliches Piepen – kein Zweifel mehr, das Vögelchen befand sich irgendwo in Not!
Über das aufgeregte lärmende Suchen vorhin hatte man sicherlich sein schwaches Gepiepse überhört.
Wieder begann das Nachgestöber. Wieder wurde jedes Milchgefäß vom Platz genommen.
»Hier ist es – mein armes Goldhänschen!« Lenchen brach plötzlich in einen Schrei, halb Jubel – halb Jammerlaut aus.
In einer der hohen, schmalen Milchkannen, die zum Glück nur noch ein Viertel gefüllt gewesen, war der bedauernswerte kleine Wicht geraten. Nur mit Anstrengung vermochte er sich über dem weißen Milchsee, der unter ihm gähnte, zu halten. Einmal mußte er schon hineingeplumpst sein und sich wieder mühsam herausgearbeitet haben, denn sein Goldgefieder war weiß. Daher klang seine Stimme auch wohl so schwach. Angstvoll flatterte es in dem für das kleine Vögelchen turmhohen Gefäß, das nach oben zu enger wurde, umher, es fand den Ausweg nicht.
Lenchen griff mit ihrer kleinen Hand hinein und befreite ihren Liebling aus seiner gefährlichen Lage. Goldhänschen wurde gebadet, geküßt und geherzt, und bald saß es wieder auf der Schulter seines Pflegemütterchens und jubilierte ihr sein Danklied ins Ohr.
Nun waren die drei Freunde wieder glücklich beisammen.
Der Sommer verging, und der Herbststurm jagte tote Blätter durch die Straßen und Gassen. Die Regentage des Novembermonats schlugen ihre naßgrauen Schleier über die Stadt, ganz durchweicht kam Lenchen jeden Morgen vom Milchaustragen heim. Selten bekam sie jetzt Richard zu sehen.
Aber eines Tages, als sie ihn mit Goldhänschen besuchen und ihm erzählen wollte, daß schon die ersten Weihnachtsbuden auf dem Platz aufgeschlagen seien, lag der arme Junge mit glühendroten Wangen und vor Kälte zitternden Gliedern im Bett.
Richard war krank.
Da begann Goldhänschen mit zarter Stimme, als ob es wüßte, daß der kleine Junge geschont werden müßte, leise zu zwitschern.
Richard hob den Kopf, und ein glückliches Lächeln huschte über sein elendes Gesichtchen. Er streckte seine fieberheiße Hand aus und streichelte Goldhänschen.
»Was sagt denn der Doktor zu des Richards Krankheit?« fragte Lenchen eifrig seine Tante.
»Doktor – wir sind keine reichen Leute, wir können uns nicht gleich 'n Doktor kommen lassen, wenn ein Faulpelz mal nicht arbeiten will und sich ins Bett legt!« fuhr die sie an.
Schweren Herzens ging Lenchen.
Der arme Richard!
Sie dachte, wie zärtlich ihr eigenes Mütterchen für sie sorgte, wenn sie nicht wohl war! Sie bat die Mutter, ob sie nicht selbst den Arzt zu Richard bitten könnten, aber die meinte, darüber würde die Tante ärgerlich werden.
So oft sie konnte, besuchte Lenchen den kranken Freund, aber es wollte gar nicht besser werden. Nur wenn Goldhänschen sang, erwachte er aus seinen wirren Fieberträumen und wurde ruhiger.
So kam der Weihnachtsabend heran.
Am Nachmittag, während Mutter das Bäumchen putzte, huschte Lenchen auf ein Weilchen zu Richard hinüber.
Der aber lag mit festgeschlossenen Augen und erkannte seine kleine Freundin nicht. In dem häßlichen Grünkramkeller war es ganz und gar nicht weihnachtlich. Die Tante lärmte und schalt wie an jedem anderen Tage. Kein Lichtbäumchen wurde geschmückt.
»Zu so was haben wir kein Geld«, sagte die Frau mürrisch.
Lenchen hätte dem kranken Freunde so gern eine Weihnachtsfreude gemacht. Aber es wollte ihr gar nichts einfallen, was den kleinen Kranken erfreuen könnte.
Plötzlich begann Goldhänschen zu singen, so schön, wie es noch nie gesungen hatte.
»Nein – nein –« Lenchen hielt sich die Ohren zu. Der Gedanke, der dem kleinen Mädchen eben beim Sange ihres Goldhänschens gekommen war, schien ihr zu schrecklich, unausführbar!
Aber so sehr das Lenchen sich auch dagegen wehrte, der Gedanke kam immer wieder zu ihr.
»Du hast so vieles, was dir Freude macht, ein gutes Mütterchen, ein warmes Stübchen und ein schönes Weihnachtsbäumchen, und der arme, blinde Junge hat nichts – gar nichts!« So sprach es in ihr.
Lange kämpfte Lenchen mit ihrem schweren Entschluß. Aber als das mit Äpfeln und goldenen Nüssen behängte Bäumchen angesteckt war, als sie die schönen, nützlichen Dinge, die Mutterliebe ihrem Kinde beschert, dankbar in Empfang genommen hatte, als das Weihnachtslied, in das Goldhänschen seine jubilierende Stimme gemischt, verhallt war, da hatte sie sich selbst bezwungen.
Sie nahm ihren kleinen Liebling von der Schulter, küßte ihn unter Tränen, setzte ihn in das Bauer und deckte ihn sorgfältig mit einem Tuch gegen die Kälte zu. Dann trug sie ihn hinüber in den dunklen Grünkramkeller, an das Bett des kranken Knaben.
Die Mutter sah ihrem selbstlosen Kinde, welches das Liebste, was es sein Eigen nannte, fortschenkte, feuchten Blickes nach.
Es war, als ob Goldhänschen den kleinen Richard mit seinem Singen wieder gesund machte. Das Fieber sank, und als der blinde Knabe erfuhr, daß das Vöglein ihm gehören sollte, daß Lenchen es ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, kannte sein Glück keine Grenzen.
Das war der schönste Lohn für das gute Lenchen, denn es war ihr doch recht bange nach ihrem Vögelchen.
Aber ach – als Lenchen am Silvesterabend wieder zwischen Kartoffeln, Zwiebeln und Heringsfässern zu dem kleinen Hinterraum, in dem Richards Bett stand, hindurchgeschlüpft war, wälzte sich Richard aufs neue im starken Fieber. Goldhänschen aber war nicht zu sehen. Nicht einmal sein Bauer, das stets am Bett des kranken Jungen gestanden hatte!
»Was ist mit Richard passiert, und wo ist mein Goldhänschen?« fragte sie die Tante mit stockender Stimme.
»Dein Goldhänschen – der Piepmatz gehört uns jetzt, du hast ihn dem Richard geschenkt, und daß du's nur gleich weißt, ich hab' ihn verkauft an Majors Kleine drüben, hat ein ganz schönes Stück Geld eingebracht, der Piepmatz!« lachte sie.
Verkauft – ihr liebes, gutes Goldhänschen verkauft, in fremden Händen, und noch dazu an jenes hochmütige, kleine Mädchen, das stets auf sie herabgeblickt – Lenchen war wie betäubt von der Kunde. Richard war natürlich vor Aufregung und Gram darüber wieder kränker geworden. Bitterlich weinend eilte Lenchen zur Mutter zurück, die ihr Töchterchen mit liebevollen Worten zu trösten suchte.
Das war ein trauriger Jahresabschluß.
Am Neujahrstage, als Lenchen vor die Tür trat, um zu hören, wie es Richard ginge, vernahm sie plötzlich ein helles, bekanntes Zwitschern.
Da kam es auch schon goldgelb durch die Luft geflogen. Ihr Goldhänschen, ihr liebes! Es war seiner neuen, kleinen Herrin durch ein offenes Fenster entwischt und hatte den Weg zum Milchkeller zurückgefunden. Es sah gar nicht so munter und wohlgepflegt aus wie früher, sicher hatte es in seiner neuen Heimat nicht die richtige Abwartung, oder es hatte sich nach Lenchen und Richard gebangt.
Jetzt kuschelte es das gelbe Köpfchen zärtlich an den Hals des kleinen Mädchens und sah es aus flehentlichen Augen an, als wollte es sagen: »Bring' mich nicht wieder zurück zu dem fremden Kinde, das keine Liebe für mich hat, das vergißt, mir Futter und Wasser hinzustellen. Laß mich wieder bei dir bleiben, Lenchen!«
Ach, wie gern hätte Lenchen das getan!
Aber sie wußte, daß man fremdes Eigentum nicht behalten darf. So schwer es ihr auch wurde, sie mußte Goldhänschen seiner jetzigen Besitzerin zurückbringen.
Das gab einen trostlosen Abschied zwischen den beiden.
Auch als Lenchen oben bei Majors klingelte und Elli zu sprechen verlangte, rannen ihr noch immer die Tränen über die rosigen Bäckchen.
Elli saß in ihrem großen, schönen Kinderzimmer und spielte mit ihrer Puppenstube.
»Was willst denn du hier?« fragte sie das bescheiden nähertretende Lenchen mit hochmütigem Erstaunen und maß das sauber, aber einfach gekleidete Kind vom Kopf bis zu den Füßen.
Dieses errötete. Dann öffnete Lenchen ihr Jäckchen und zog behutsam das Vöglein, das sich zärtlich an ihre Brust schmiegte, hervor. Mit einer rührenden Gebärde streckte sie Elli ihren Liebling hin.
»Hier hast du es wieder,« sagte sie mit tränenverschleierter Stimme, »Goldhänschen ist zu mir zurückgeflogen, du mußt vorläufig sein Bauer verschlossen halten, bis es sich an dich gewöhnt hat«, setzte sie noch mit Überwindung hinzu.
»Was – ist es ausgekniffen, das Mätzchen –« Elli kümmerte sich so wenig um den neuen Vogel, daß sie es noch gar nicht bemerkt hatte, daß er davongeflogen war. »Na warte, Mätzchen, das werde ich dir anstreichenI« Sie machte Miene, ihn zu schlagen.
»Nicht hauen – nicht mein Goldhänschen hauen!« jammerte Lenchen und deckte schützend die Hand über den verängstigt flatternden Vogel.
»Es ist mein Mätzchen, was ich mit meinem Vogel tue, geht dich gar nichts an!« rief Elli aufgebracht.
»Ich habe ihn doch aber so lieb!« Ganz leise sagte es Lenchen.
»Dann hättest du ihn nicht verkaufen sollen – –«
»Ich habe ihn nicht verkauft, niemals hätte ich ihn hergegeben, wenn – –«
»Wenn du nicht auch gern das Geld dafür gehabt hättest!« unterbrach Elli sie höhnisch.
»Nein, wenn ich nicht dem armen, blinden Richard, der krank daniederliegt, eine Weihnachtsfreude mit meinem Goldhänschen hätte machen wollen«, antwortete Lenchen mit zuckenden Lippen.
Ein Geräusch ließ die beiden Kinder sich umwenden. In der Tür stand der Major und blickte mit mißbilligenden Blicken auf seine Tochter.
»Nun, Elli, weißt du immer noch nicht, was du zu tun hast?« fragte er ernst.
Die schürzte trotzig die Lippen und schwieg.
Da wandte sich der Major an das Milchlenchen, das ihr Vögelchen liebkosend in den Händen hielt.
»Sag', Kind, wie kommst du zu dem Kanarienvogel?«
»Ich habe ihn vom Tode errettet, als er am Erfrieren war, und seitdem ist er mein Liebstes!« war die leise Antwort.
»Und trotzdem hast du ihn weggeschenkt – was Elli, an dem Milchlenchen kann sich so manches Kind ein Beispiel nehmen!« sprach der Vater mahnend.
Da siegte das Gute in Elli. Sie bezwang ihren Hochmut und reichte dem fremden Kinde die Hand.
»Behalte dein Vögelchen,« sagte sie beschämt, »ich will es dir nicht fortnehmen!«
In atemloser Spannung blickte Lenchen auf Ellis Vater.
Der nickte befriedigt seinem Töchterchen zu.
»Brav, Kind, du hast das Rechte gefunden. Nun aber wollen wir dein Lenchen, das so selbstlos andern eine Freude gemacht, auch eine Freude bereiten. Wünsche dir etwas, Lenchen, eine Puppe, ein Märchenbuch – na, was soll's sein?« In gewinnender Freundlichkeit neigte sich der Major zu dem kleinen Mädchen herab.
Das wurde rot, wurde blaß, und dann wieder rot. Aber es schwieg.
»Na, was hast du denn auf dem Herzen – ist es ein so großer Wunsch, daß du ihn gar nicht auszusprechen wagst?« scherzte der Major.
Lenchen schüttelte den Kopf.
»Ich habe ja heute schon die allergrößte Freude durch mein Goldhänschen,« brachte sie endlich ein wenig stotternd heraus, »aber Richard, der arme Junge, liegt nun schon seit Wochen im Fieber, und seine Tante läßt keinen Arzt holen – wenn – wenn der Richard vielleicht einen Doktor bekommen könnte!« Sie sah schüchtern zu dem Herrn Major auf, ob sie auch nicht gar zu unbescheiden gewesen.
»Du bist ein gutes Kind,« sagte Ellis Vater, ihr gerührt das Blondhaar streichelnd, »ich werde gleich dafür Sorge tragen, verlaß dich darauf.«
Mit innigen Dankesworten nahm Lenchen, ihr Goldhänschen wieder fest an das Herz gepreßt, Abschied.
Ellis Vater hielt Wort. Noch an demselben Tage erschien ein Arzt am Bett des kranken Richard und ließ ihn aus dem dumpfen Kellerraum in ein luftiges Krankenhaus bringen. Dort wurde der Kleine bald wieder ganz gesund.
Aber auch nach seiner Genesung kehrte der blinde Richard nicht in den häßlichen, dumpfigen Grünkramkeller zurück.
Der Major hatte Erkundigungen nach ihm eingezogen und dabei in Erfahrung gebracht, wie schlecht es der arme Kleine bei seiner Tante hatte.
Lenchens Mutter erbot sich, ihn in Pflege zu nehmen; so siedelte Richard in den Milchkeller über, der ihm schon immer als Paradies auf Erden erschienen.
Der menschenfreundliche Major trug für seine Ausbildung Sorge und ließ ihn eine Blindenschule besuchen.
Lenchen teilte ihre Liebe zwischen der Mutter, Richard und Goldhänschen.
Das aber jubilierte jetzt noch einmal so hell, aus Freude, daß sie nun alle für immer beisammen waren.