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Der schrille Ton der Glocke, die sie schon vom Abend her kannte, holte Dornröschen Punkt halb sieben Uhr aus Nedderdorf zurück, gerade als sie Lütt Susing ein großes Musbrot schneiden wollte. Verwundert blickte sie um sich. Dann aber sprang sie mit einem Satz aus dem Bett, denn mit offenen Augen zu dösen, das war nichts für die rasche, tatkräftige Leni.
Mieting stand bereits am Waschtisch und nickte ihrem Dornröschen mit blanken Augen einen guten Morgen zu.
»Ich konnt' nicht mehr schlafen,« flüsterte sie, »der Briefträger wird woll bald kommen.«
»Menschenskind, ihr habt euch doch gestern erst gesehen! So 'ne Braut ist doch halbverdreht!« Leni tippte nicht mißzuverstehen gegen ihre Stirn.
Mieting nahm so was weiter nicht übel. Sie wies auf den sanft atmenden Clown im dritten Bett.
»Die schläft noch wie 'ne Ratte! Ob man sie nicht weckt?«
Dornröschen zupfte ein wenig am Ärmel des feindlichen Spitzennachthemds.
»Fräulein Silvia« – Baroneß sagte sie nicht, das fiel ihr nicht ein – »es hat schon längst zum Aufstehen geläutet; Sie werden nicht mehr fertig.«
Unverständliches Gebrumm war die Antwort. Baroneß Silvia rührte sich nicht.
Da machte Dornröschen, die als »halbe Lehrerin« die Verantwortung für ihre Stubengenossin fühlte, es kurz entschlossen so, als ob sie zu Hause Hänschen oder Fränzchen vor sich hätte. Sie drückte einfach einen ganz nassen Schwamm über das schön einbalsamierte Gesicht der jungen Schläferin aus.
»Hilfe – Hilfe!« Mit entsetzten Augen schreckte Baroneß Silvia empor.
»Guten Morgen! Na, ausgeschlafen?« Dornröschen lachte gemütlich, während Mieting unter Herzklopfen den Vorgang beobachtete.
Die junge Dame wischte aufgeregt an ihrem Gesicht herum.
»Was soll denn das heißen? Das verbitte ich mir,« fuhr sie Dornröschen an.
»Es soll sicherlich nicht wieder vorkommen,« versprach Leni mit scheinbarem Ernst, »wenn Sie künftig beim Läuten vielleicht von selber aufstehen wollen.«
Die Baroneß murmelte noch etwas wie »Dreistigkeit« und bequemte sich dann dazu, ihr Lager zu verlassen.
Zwanzig Minuten – Mieting hatte nach der Uhr gesehen – brachte die junge Dame damit zu, ihre schönen, spitzgeschnittenen Nägel zu bearbeiten; die beiden Freundinnen wechselten einen sprechenden Blick. Unwillkürlich mußte Dornröschen einen Vergleich mit ihren eigenen verarbeiteten, ungepflegten Händen ziehen, die sie mit einer scharfen Bürste zu »maniküren« pflegte. Sauber waren sie – das war aber auch alles – sonst sahen sie krebsrot, ja sogar etwas aufgesprungen aus. Was hatte sich Dornröschen daheim um derlei gekümmert! Mietings Hand dagegen war zierlich und gepflegt, trotzdem die Freundin doch zu Hause ebenfalls überall zugegriffen hatte.
»Das eitle Ding und ich, wir zwei sind richtige Gegensätze; aber alle beide haben wir unrecht. Die eine tut zu viel, die andere zu wenig. Mein Mieting hält die goldene Mittelstraße ein, und so will ich es künftig auch machen,« überlegte Dornröschen, während sie ihre Flechten aufsteckte.
Als die Glocke zum zweitenmal ertönte und zur Andacht rief, die im Sommer um sechs, im Winter um sieben Uhr stattfand, machte sich Baroneß Silvia eben daran, ihr rotblondes Haar kunstgerecht zu »ondulieren«; die Freundinnen mußten sie ihrem Schicksal überlassen.
Man war mit dem Frühstück fast zu Ende, als die junge Dame endlich erschien, noch immer recht verschlafen dreinschauend. Fräulein Doktor blickte sie mißbilligend an und wandte sich dann an Leni.
»Fräulein Sürsen, meine Hausordnung muß eingehalten werden; Sie haben künftig dafür zu sorgen, daß unser Fräulein Langschläfer pünktlich des Morgens zur Stelle ist.« Selbst wenn Fräulein Doktor tadelte, verlor sie nichts von ihrer persönlichen Liebenswürdigkeit.
»Schön,« dachte Leni bereitwillig, »auf einen nassen Schwamm mehr oder weniger soll es mir nicht ankommen!«
Nachdem sie das Forträumen der Tassen sorgsam überwacht hatte, folgte sie Mieting in das Sprechzimmer der Vorsteherin, um die Studienfächer festzulegen.
Sie wurden beide für einen landwirtschaftlichen Halbjahrsunterricht eingetragen. Ihr Stundenplan wechselte an den verschiedenen Wochentagen. Montag: Schweineaufzucht, ‑fütterung und ‑mast, Kälberaufzucht, Fütterung der Kühe, Melken. Dienstag: Molkerei, Buttern, Käsebereitung. Mittwoch: Nutzgeflügelzucht, künstliche und natürliche Brut, Aufzucht der Kücken, Mast, Schlachten, Rupfen, Versand von Eiern. Donnerstag: Gärtnerei, Gemüsebau, Obstbau und Obstverwertung, Blumenpflege. Freitag und Sonnabend beteiligte sich Mieting als zukünftige Gutsfrau an dem hauswirtschaftlichen Kurs; sie wollte Backen und Feinplätten lernen und einen Garnierkursus durchmachen, während Leni als künftiger »Strom« landwirtschaftliche Buchführung, Betätigung in der Außenwirtschaft, theoretische Stunden über Saatzeit und Bodenverhältnisse belegte.
Ein arbeitsreiches Halbjahr lag vor den beiden Freundinnen. Aber sie gingen alle beide mit frischem Mut und bestem Willen daran.
Jeden Montag und Donnerstag verwandelte sich die eifrig lernende Leni in eine würdevolle Lehrerin. Bei der Jungviehzucht und im Gemüsebau wußte sie gut Bescheid; da brauchte sie keine Angst zu haben, vor ihren Schülerinnen – es war fast ein Dutzend – Schiffbruch zu erleiden. Und doch, auch hier gab es für das ehemalige Fräulein Inspektor allerlei Neues! Leni mußte einsehen lernen, daß auf Nedderdorf unter ihrer Leitung doch nicht alles mustergültig gehandhabt worden war.
Fräulein Doktor war von jedem unterrichtet, was auf ihrem ausgedehnten Betrieb vorging, trotzdem sie überall Fachleute angestellt hatte. Als Leni, die mit der Bergung der Wintergemüse betraut war, ihre Hilfstruppen zum ersten Male dazu anleitete, Kohlkopf dicht neben Kohlkopf in die Erde zu graben, ging das Fräulein Doktor in kurzem Rock und Stulpenstiefeln gerade prüfend an ihnen vorüber.
»Halt – Fräulein Sürsen, das ist Kohl im wahren Sinne des Wortes,« sagte sie und lachte. »Mindestens fünf bis zehn Zentimeter Zwischenraum, sonst fault uns all das Gemüse.«
Leni war diese, wenn auch in nettester Art gegebene Zurechtweisung vor ihren Schülerinnen höchst peinlich. Aber sie nahm die Lehre im stillen doch dankbar entgegen. Darum also war der Wirsingkohl im letzten Winter auf Nedderdorf so wenig ausgiebig gewesen! Und sie hatte gedacht, er habe Frost bekommen!
Wenn nur Baroneß Silvia bei derlei kleinen Mißgeschicken – sie wiederholten sich öfters in der ersten Zeit, ehe Leni wußte, wie alles in ihrem neuen Wirkungskreis gehandhabt wurde – nicht stets so höhnisch gelächelt hätte! Leni fühlte sich manchmal versucht, dem langen rotblonden Mädel dafür tüchtig die Meinung zu sagen. Überhaupt hatte sie allenthalben ihren Ärger mit der unliebenswürdigen jungen Dame.
Des Morgens beim Aufstehen hatte sie das Schwammausdrücken nur noch einmal zu wiederholen. Am dritten Morgen sprang Fräulein Silvia beim ersten Dröhnen der Weckglocke bereits mit beiden Beinen zugleich aus dem Bett. Dornröschen frohlockte, aber etwas verfrüht, denn das Anziehen der jungen Dame mit all den Einzelheiten nahm stets länger als die vorgeschriebene Zeit in Anspruch. Leni, die halbe Lehrerin, hatte Fräulein Doktor gegenüber immer ein beschämendes Gefühl, wenn ihre Schutzbefohlene erst beim Abräumen der Tassen auf der Bildfläche erschien.
»Nimm ihr die Onduliermaschine und ihren Manikürkasten doch einfach fort, Dornröschen,« riet Mieting, die den Ärger mit Leni getreulich teilte.
»Nee, Mieting, an fremdem Eigentum vergreife ich mich nicht; aber ich werd' mir das Frölen mal langen. Vielleicht ist es für ein verständiges Wort zugänglich.«
Es war am nächsten Tage, nach dem Frühstück. Durch das weitgeöffnete Fenster hüpften und sprangen übermütig die Strahlen einer goldenen Oktobersonne, als wollte sie die junge Schar, die da auf Klugenhof gar fleißig die Hände regte, darüber hinwegtäuschen, daß der Winter, der mürrische Griesgram, bereits seinen Schlitten für die Weltreise gepackt hatte.
Leni lehnte am Fenster und überschaute frohen Auges ihre neue Heimat. Es konnte einem auf Klugenhof schon gefallen. An den ausgedehnten Garten schloß sich der Park mit dem ziemlich großen Karpfenteich, auf dem man im Winter Schlittschuh lief, wie ihr die Mädchen bereits sportfreudig mitgeteilt hatten. Daran reihten sich die Äcker und das Wiesenland, das sich in blauen Kieferwaldungen verlor. Die Wirtschaftsgebäude und Stallungen, die nach der anderen Seite lagen, waren von einer Sauberkeit und Zweckmäßigkeit, daß Leni unwillkürlich hatte denken müssen: »Wenn doch der olle Jürgens das sehen könnte! Dann würde er nicht mehr auf alles Neumodische schimpfen!« Und rot werdend dachte sie daran, daß sie selbst es ja auch nicht viel besser gemacht hatte.
Heute aber hatte Dornröschen ganz andere Gedanken. Während sie die Hand ausstreckte, um die Sonnenstäubchen zu fangen, wie sie es als Kind zu tun liebte, wirbelte und sprang es in ihrem braunen Kopf noch übermütiger durcheinander als die Sonnenfunken.
»Lizzie ist in Berlin, min leiw olle Dirn; übermorgen werde ich sie sehen!« Zum soundsovieltenmal las sie die kurze Karte ihres Karling wieder durch, die folgenden Inhalt hatte: »Respekt, min Schwesting – bin seit gestern richtiggehender Student! Bude fein, Berlin dito. Bobby und Lizzie kommen morgen. Sonnabend Treffpunkt: nachmittags um fünf im Teeraum des K. d. W., auf deutsch Kaufhaus des Westens. Ich hole euch vom Potsdamer Bahnhof um halb fünf Uhr ab. Gruß! Karl Heinz.«
»Wenn es nur erst Sonnabend wäre!« Leni konnte die Zeit nicht erwarten. In ihrer Vorfreude hatte sie ihr Amt, die Zimmerreinigung der Baroneß zu überwachen, völlig vergessen. Jetzt fuhr sie plötzlich empor.
Was war das, war Silvia übergeschnappt? Die Waschkanne, die sie ausseifen sollte, im Arm, so tanzte die junge Baroneß zwischen all den Porzellanschüsseln einher, einen neuen Tanz übend, hold lächelnd und mit ihrem Spiegelbild liebäugelnd. Sie schien Lenis Anwesenheit völlig vergessen zu haben.
»Fräulein Silvia!«
Da geschah es. Der schwarze Seidenstrumpf mit dem feinen Lackschuh, den die eitle Baroneß am liebsten auch zur Gartenarbeit getragen hätte, fuhr entsetzt zurück und gerade in den Toiletteneimer hinein. Eine Sintflut ergoß sich, und aus diesem unfreiwilligen Bade hüpfte nun Fräulein Silvia, wie eine Krähe auf dem einen trockenen Bein, jammernd und beschämt in der Stube herum. Dornröschen aber war in einen Stuhl gesunken und lachte, was sie nur konnte; sie vermochte sich gar nicht zu beruhigen.
»Lachen Sie doch nicht – helfen Sie mir lieber!« rief erbost die junge Dame, die sich vergeblich vor den sich ausbreitenden Fluten zu retten suchte.
Leni bemühte sich vergebens, ihr Gesicht in ernste Falten zu legen, da sie sich plötzlich ihrer Stellung als halbe Lehrerin wieder bewußt wurde. Es gelang ihr nicht.
»Sie wollen wohl mit den Beinen das Waschgeschirr ausseifen?« fragte sie, immer noch lachend.
Keine Antwort. Baroneß Silvia hatte sich auf ihr Bett gerettet, um trockene Fußbekleidung anzulegen. Nach Beendigung dieses Vorganges blieb sie untätig auf ihrem sicheren Eiland sitzen.
Die Sache begann Dornröschen allmählich weniger spaßhaft vorzukommen.
»Wollen Sie die Überschwemmung nicht beseitigen?« fragte sie ernst werdend.
»Nein!« Das junge Mädchen vertiefte sich in das Studium seiner schlanken weißen Hände.
»Warum nicht?« Dornröschen wunderte sich selbst, wie ruhig sie diesem Mädel gegenüber blieb; zu Hause hätte es sicher schon bei ihr übergekocht.
»Weil das eine Arbeit für eine Dienstmagd und nicht für die Tochter des Freiherrn von Heinzenfeld-Wehlow ist,« rief die Baroneß und warf den rotblonden Kopf in den Nacken.
»Der Freiherr von Heinzenfeld-Wehlow hat seine Tochter nach Klugenhof gegeben, daß sie die Hände rühren lernt, wahrscheinlich auch, daß man ihr hier die Nücken austreibt,« entfuhr es der jetzt doch aufgebrachten Leni.
Mit flammenden Augen maßen sich die beiden Mädchen.
»Sie werden Ordnung schaffen!« Dornröschen schlug ihren bestimmtesten Ton an.
»Fällt mir nicht im Traume ein!« Die Baroneß zuckte die Achsel.
»Dann haben wir beide nichts mehr miteinander zu tun!« Leni raffte ihren Rock zusammen und schritt der Türe zu.
»Sie wollen mich wohl bei Fräulein Doktor verklatschen?« tönte es höhnisch hinter ihr her.
»Ich klatsche nicht!« Lenis blitzende Kornblumenaugen sprachen die Wahrheit, das fühlte Baroneß Silvia.
»Herrje, ihr ertrinkt ja hier! Was ist denn geschehen?« Lachend steckte Mieting, die ein vergessenes Buch holen wollte, den Blondkopf zur Tür herein.
Feindselig sah Silvia auf Leni. Jetzt würde es Fräulein Sürsen der Freundin gleich zum besten geben, wie kindisch und eitel sie sich benommen hatte, und am Abend wußten es sicher alle Mädchen, daß Baroneß Silvia beim Waschgeschirrseifen in den Eimer hineingetanzt war.
Dornröschen tat die ängstlich zu ihr hinblinzelnde Baroneß leid, so wenig sie es auch verdiente.
»Der Eimer ist umgekippt,« sagte sie daher bloß und machte Miene, der bereits wieder davonstürmenden Mieting zu folgen.
»Fräulein Sürsen,« klang es da plötzlich gepreßt hinter ihr von der Bettinsel.
Leni hemmte den Schritt. Hochmut, Beschämung und Dankbarkeit kämpften in dem Gesicht Silvias. Aber schließlich behielt die Dankbarkeit die Oberhand.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mich nicht der Lächerlichkeit preisgegeben haben,« stieß die Baroneß hervor.
»Wenn Sie mir Ihre Dankbarkeit beweisen wollen, so erschweren Sie mir mein Amt nicht so sehr; ich bin im Begriff es niederzulegen,« sagte Leni ernst.
»Nein – ums Himmels willen nicht! Fräulein Doktor hat gedroht, mich bei einer älteren Lehrerin einzuquartieren, wenn wir nicht miteinander fertig werden,« rief das junge Mädchen bittend und ließ seine künstliche Zurückhaltung vollständig außer acht.
»So sehen Sie zu, daß wir miteinander fertig werden, vor allem jetzt hier beim Reinmachen,« versetzte Leni heimlich erfreut.
Baroneß Silvia vergaß die Freiherrlichkeit ihres Vaters und sprang vom Bett, um Ordnung in den Wirrwarr zu bringen. Was sie aber nicht vergaß, war, sich über ihre »aristokratischen Pfoten«, wie Dornröschen kopfschüttelnd feststellte, schnell noch Handschuhe zu ziehen. Dann erst ergriff sie mit spitzen Fingern den äußersten Zipfel des Scheuertuchs.
Von diesem Tage an war Baroneß Silvia weniger widerspenstig gegen die ihr vorgesetzte Stubengenossin. Mißtrauisch forschte sie noch einige Zeit in den Mienen der übrigen, ob auch wirklich nichts von ihrem Tanzvergnügen verlautet war; aber selbst gegen die Freundin schien Leni Stillschweigen bewahrt zu haben. Der Gutenachtgruß der jungen Dame klang daher jetzt nicht mehr so abweisend wie zuerst, und des Morgens nahm sie sogar von der Brennschere Abstand, um nicht Leni durch ihr langes Ausbleiben Unannehmlichkeiten zu verursachen.
»Dirn, du kannst hexen,« fragte Mieting voll Verwunderung. »Wie hast du das bloß angefangen?«
Aber Dornröschen lächelte nur geheimnisvoll . . .
Der Sonnabend, den Leni kaum erwarten konnte, war da. Dem Vortrag über den Nutzen des Bepflügens von Ackerland im Spätherbst brachte sie nur geteilte Aufmerksamkeit entgegen. Sie ertappte sich dabei auf dem Gedanken, wie bedauerlich es sei, daß sie sich noch kein neues Kleid gekauft hatte. Am Ende würde Bobby sich wieder der wenig »ladyliken« Base schämen! Aber was waren das für Gedanken – hatte die eitle Baroneß etwa abgefärbt? Sie, die Leni aus Nedderdorf, war ja auf dem besten Wege, es ihr nachzutun! Mit Gewalt zwang sie sich, auf den Vortrag des Lehrers zu achten.
Nein, waren die Mädchen heute langweilig beim Abdecken der Mittagstafeln! Die junge Aufseherin stand wahre Qualen aus.
Endlich schlüpften Mieting und Dornröschen – denn Mieting mußte natürlich mit – aus den ihnen von der Anstaltsschneiderin gelieferten Maikäferkleidern.
»Wieder ein richtiger Mensch,« sagte Leni und betrachtete sich in dem dunkelroten Sonntagskleid, das sie soeben anlegte. »Mieting, findest du mich sehr häßlich? Meinst du, daß Bobby und Lizzie sich meiner schämen werden?«
»Bißchen Landpomeränzchen« – Mieting drehte die Freundin prüfend herum – »was wirst du denn so rot, Dirn? Bist du etwa bös deswegen?«
»Snak – warum sollt' ich wohl böse sein!« Leni drehte sich schnell um, denn sie fühlte, daß sie immer röter wurde. Wie kindisch war es doch von ihr gewesen, einem anderen einst dasselbe Wort so übel zu nehmen!
»Hast du weiter keinen Hut mit als nur das olle Katzenfell?« Mieting hielt Lenis Pelzbarett, das schon ziemlich mitgenommen aussah, mißbilligend gegen das Licht.
»Nee, aber ich werde mich in Berlin heute ausstaffieren!« Dornröschen steckte das Geld zu sich, das sie zu diesem Zweck erhalten hatte.
Schön sah sie nicht aus, so viel stand fest. Die schwarze, schlecht sitzende Jacke machte über dem roten Kleid einen geradezu gewöhnlichen Eindruck, und nur baumwollene Handschuhe besaß sie.
»Wie eine Köchin, die ihren Sonntagnachmittagsausgehtag hat,« mußte sie in einer Anwandlung von Selbstverspottung zu sich selber sagen, warf aber einen vergleichenden Blick zu Mieting hin. Die sah in dem dunkelgrauen Jackenkleid mit dem weichen gleichfarbigen Filzhut auf dem blonden Scheitel schlicht und doch vornehm aus. Da fühlte Leni ihre große Freude auf das Wiedersehen mit Lizzie schwinden; sie wäre am liebsten zu Hause geblieben.
Mit einem Male stand Baroneß Silvia, auf deren Anwesenheit man nicht weiter geachtet hatte, vor ihr. In der Hand hielt sie einen schwarzen Samthut mit Federn.
»Fräulein Sürsen,« stieß sie schnell hervor, als ob ihr das, was sie sagen wollte, am guten Ende wieder leid werden könnte, »bitte, setzen Sie meinen Hut auf! Ich leihe ihn gern. Sie werden reizend damit aussehen.«
Ehe Leni wußte, wie ihr geschah, hatte Silvia ihr statt des Pelzbaretts den Hut auf die Flechten gedrückt.
»Nee – nee,« wehrte Dornröschen sich, schielte aber doch in den Spiegel.
Eine elegante junge Dame blickte ihr plötzlich daraus entgegen; selbst über Kleid und Jacke warf der Federhut seinen vornehmen Abglanz.
»Sie sehen entzückend aus; Sie müssen unbedingt so gehen!« Die rotblonde Baroneß war völlig aus dem Häuschen.
»Wetter auch, Lening, so 'n Federbibi macht aus 'nem Landpomeränzchen gleich 'ne Modedame!« Mieting blickte die Freundin ebenfalls bewundernd an.
Alle weibliche Eitelkeit, deren Leni überhaupt fähig war, stieg in ihr auf. Bildhübsch sah sie mit dem Hut aus. Wirklich, sie mußte es sich selbst zugestehen, Lizzie und Bobby würden Augen machen, und nun erst Karl Heinz!
»Nee – geborgt nehm' ich nichts; ich schmücke mich nicht mit fremden Federn!«
Fast heftig riß sie sich den Federhut vom Kopf; der Gedanke an ihren ehrlichen, geraden Karling hatte den schweren Kampf entschieden.
»Na, denn nicht!« Fräulein Silvia zog sich gekränkt mit ihrem Hut zurück.
»Seien Sie nicht böse! Sie haben es gut gemeint, aber ich kann nicht anders,« bat Leni, ehe sie mit ihrem Katzenbarett aus der Tür ging.
Silvia hatte ihr den Rücken gekehrt und antwortete nicht mehr. Sie schien geärgert, daß man ihre Freundlichkeit so wenig würdigte.
Acht Tage waren vergangen, seitdem die jungen Mädchen ihren Einzug auf Klugenhof gehalten hatten. Sie sahen zu der Kadettenanstalt hinüber und lächelten sich schelmisch an. Dann fuhren sie erwartungsvoll und klopfenden Herzens aus ihrem stillen Vorort der brausenden Weltstadt zu.