Else Ury
Dornröschen
Else Ury

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Johannistag

Ein heißer Juniabend. Schwer und schwül hing er über Nedderdorf. Er nistete in dem Gebälk des alten Gutshauses, daß dieses den sengenden Hauch des Tages förmlich auszuatmen schien. Er schritt durch die lechzenden Felder und Wiesen; aber sein Krug, den er sonst mit erquickendem Abendtau gefüllt trug, war diesmal leer. Er schwebte als dicker weißlicher Dunst von Baum zu Baum und entlockte den sich schüchtern öffnenden Lindenblütchen, den leuchtenden Jasminglocken schwülsüßen Duft. Schwer und wuchtig legte er seine Hand auf Mensch und Tier.

Ein Sommerabend, von zartem, perlmutterfarbenem Lichtschein durchströmt, wie man ihn nur im Norden kennt! Solch ein Abend, an dem es überhaupt nicht Nacht zu werden scheint!

In der Jasminlaube hockten die Kinder eng um die alte Dörthe herum. Betäubende Duftwellen umfluteten sie, und die Dämmerung spann sie mit ihren Silberfäden ein.

Dörthe erzählte. Mit geheimnisvoll eintöniger Stimme sprach die Alte, während ihre braunknochigen Finger die Köpfe von Wucherblumen an einen langen Faden reihten. Dazwischen wand sie blutroten Mohn und tiefblaue Kornblumen. Dörthe flocht den Johanniskranz. Denn morgen war Johannistag.

Dörthe erzählte mit geheimnisvoll eintöniger Stimme.

Niemand im ganzen Dorfe wußte von diesem Tage so wundersame Mär wie die Alte. Ihre Großmutter selig hatte sie ihr einst zugeraunt, und die abergläubische Dörthe hatte alles gar getreu im Gedächtnis bewahrt.

»Jawoll, wo der Johanniskranz überm Hustor (Haustor) hängt, da kann dat Unglück nich übern Süll (Schwelle) in dat Hus rinner; dat is so gewiß wie dat Amen in der Kirch'.« Die Alte nickte mit dem grauen Kopf und faltete die Hände über dem halbfertigen Kranz.

»Weiter – erzähl doch weiter, Dörthe,« drängten die wilden Zwillinge, die Wangen heiß vor Erregung. Nie waren sie in den Schulstunden beim Herrn Kantor so aufmerksam. Lütt-Susing riß ihre großen Augen angstvoll auf und kroch der Dörthe fast auf den Schoß. Aber auch sie bettelte: »Weiter, liebe Dörthe!«

Und die Alte erzählte . . .

 . . . Irgendwo im Walde, auf feuchtem Moorboden, wo die Riedgeister wohnen, da wächst die Johanniswurzel. Die Menschen gehen achtlos daran vorüber, denn sie ist braun und unscheinbar wie jedes gewöhnliche Kraut. In der Johannisnacht aber, da reift daran der goldene Farnsame; das blitzt und blinkt nur so. Und wer die Zauberwurzel findet und pflückt, dem erschließt sie alle Schätze der Erde; der ist reich bis an sein Lebensende. Aber man durfte sie nicht aus der Hand gleiten lassen – ja nicht! Einmal zur Erde gefallen, verschwindet die Johanniswurzel auf Nimmerwiedersehen. Kein Mensch vermag sie mehr aufzufinden. Die Erdgnomen tragen sie in ihr unterirdisches Reich und geben sie nie mehr heraus, das winkende Glück ist entflohen . . .

Dörthe hielt gedankenvoll eine brennendrote Mohnblume so fest zwischen den Fingern, als ob es die Johanniswurzel selbst wäre, die sie beileibe nicht hergeben dürfte.

»Nu mal 'n bischen was von den Riedgeistern – los, Dörthe!« Hänschen graulte sich für sein Leben gern.

»Je, Kinnings, de Riedgeister! De sünd ja in de Johannisnacht ganz un gor losgelaten. Da stahn sei Kopp un danzen de Menschen uff de Näs herümmer. Weh dem, der sich in de Johannisnacht von ehn erwischen läßt! Den locken sei mit Irrlichtern und leuchtenden Johanniswürmken in de Bisternis. Un denn ärgern un foppen sei ehn, pieken ehn als Brennettel, legen sich ehm as en Stein in 'n Weg, dat er dorüwer stolpern sull, un taugauderletzt (zuguterletzt), da hauen sei ehm noch mit Johannisruten den Buckel vull. Äwerst« – Dörthes Stimme wurde noch leiser und geheimnisvoller – »männigmal, do sünd sei ok schon bis in dat Dorp 'ringekummen – jo, bis in de Hüser rinner! Da hewen sei denn dat Unnerst tau owerst (Unterste zu oberste) gekehrt; gruglich (greulich) geheult hewen sei dorbi (dabei), und keen Mensch nich wüßt am nächsten Dag, wer dat nu gewesen is, Jo, jo, de Riedgeister!«

Dörthe machte schon wieder eine Pause und sah sich scheu um. Die beiden Rangen von Nedderdorf hielten es daher doch für geratener, sich bei den Händen zu fassen. Suschen verbarg das Gesicht mit Herzklopfen an Dörthes grauem Kleid.

Aber in dem blühenden Garten, in dem Phlox, Nachtschatten und Reseda schon still träumten, die Sonnenblumen ihre goldenen Kronen verschlafen senkten und die Blutstropfen der Johannisbeeren am dunkelgrünen Gesträuch müde niedersickerten, war nichts Schreckhaftes wahrzunehmen.

Nur Dornröschen schritt einsam durch den schmalen, von Buchsbaum eingesäumten Steig, hin und her, auf und ab; den Kopf tief geneigt, in ernsthaftem, sorgenvollem Nachdenken. Ihr helles, leichtes Kleid verschwamm mit der lichtgrauen Abenddämmerung. Ob auch sie wohl über die geheimnisvollen Wunder des Johannistages grübelte?

O nein, Leni hatte an diesem blütenschweren Sommerabend etwas anderes zu denken. Die weiße Stirn legte sich in tiefe Falten.

Wie hatte sie auf den Ertrag der Heuernte gerechnet, um die hohen Löhne zur kommenden Kornernte zu erschwingen! Und nun war das Heu herein, naß und faulig!

Ob der starke Regen im Mai schuld daran war? Leni strich sich mit der heißen Hand eine weiche Strähne Haar aus dem Gesicht. Sie wußte es nicht.

Ob am Ende der Düngungszustand nicht kräftig genug war, oder ob sie früher hätte schneiden lassen müssen? Hilflos blickte Leni um sich in die schlummernden Bäume und bewegungslosen Sträucher.

Ach, sie wußte es nicht, woran es lag! Keine Ahnung hatte sie, wo der Fehler zu suchen war. Da ist es schwer, besser machen! Sollte sie Herrn Dürenfurt fragen? Damit der wieder sah, wie wenig sie von der Landwirtschaft verstand? Nein!

Freilich, in der Nachbarschaft, auf Staveneck und all den Gütern ringsum, war das Heu bereits in der Blüte gemäht worden. Aber als sie damals Jürgens darauf aufmerksam machte, hatte er gesagte »Uns' gnä' Herr hat ok ümmer irst so spät sniden laten, wil dat denn vel utgewiger (ausgiebiger) sin dät!« Mit dieser Versicherung beruhigte er seine junge Herrin stets. Denn was ihr liebes Vating getan hatte, das mußte gut sein!

Erstickend heiß war es jetzt in der neunten Stunde noch. Geradezu beklemmend legte sich der Druck Dornröschen auf Kopf und Brust. Dabei war das Herz ihr ohnedies schon beschwert genug.

Wenn sie nur mehr Erfahrung in landwirtschaftlichen Dingen hätte! Damals, vor anderthalb Jahren, als sie so siegesbewußt vor die gebrochene Mutter und den Vormund getreten war, als sie in der Vollkraft ihrer Jugend so tapfer die Worte gesprochen hatte: »Ich halte das Gut für Karl Heinz; ich selbst werde es bewirtschaften,« da hatte sie in ihrer Unverständigkeit geglaubt, das Notwendige dazu würde sie schon in der Praxis lernen. Ja, die Praxis! Leni verzog bitter lächelnd den Mund. Jede Erfahrung mußte sie teuer bezahlen, und zum Schluß war sie noch gerade so klug oder vielmehr so dumm wie zuvor.

Immer schwüler und drückender schien es zu werden. Kein Blättchen rührte sich; kein Grashalm erschauerte im leisen Abendwind. Bewegungslos hing ein bleicher Himmel über der bewegungslosen Welt.

Drüben aber am Fenster des Jagdzimmers bewegte es sich jetzt. Die Frau, die so still im Fensterrahmen lehnte, fuhr sich mit der blauäderigen Hand über die Augen. Sie dachte wohl so manchen Sommerabends, da sie an der Seite ihres Mannes durch das Blühen und Duften des Gartens geschritten war.

Leni blickte zur Mutter hinüber. Heißes Mitleid wallte in ihr empor. Wenn sie doch Muttings liebe Augen wieder hell machen könnte! Wenn sie doch nur einmal wieder ihr altes Lachen hören würde!

Aber dazu mußte sie selbst froh und zuversichtlich sein. Sie hatte sich daran gewöhnt, nach dem Abendbrot mit der Mutter die Tagesereignisse auf dem Hof durchzusprechen. So hoffte sie, der Lebensmüden wieder Interesse und Freude an ihrem Besitz beizubringen. Oft hatte auch Mutting ihr schon einen wertvollen Rat gegeben; nicht umsonst war sie früher als umsichtige Landwirtin bekannt.

Nur diese ewigen Vorstellungen und Klagen wegen eines Verwalters! Immer wieder kam Mutting auf des Vormunds Vorschlag zurück, Leni hatte den Klang ihrer Worte von vorhin noch in den Ohren.

»Kind,« hatte Frau Lisabeth gesagt, als sie das niederschmetternde Ergebnis der Heuernte vernahm, »du kommst nicht allein durch die Kornernte! Was besinnst du dich noch? Ein zweites Mal wird es uns nicht wieder so geboten. Überleg es dir noch mal, aber gründlich, Kind! Gott gebe, daß du deinen Eigensinn überwindest und auf das Richtige kommst.« Und jetzt überlegte Leni – gründlich.

War es wirklich nur Eigensinn? Eigentlich ja, wenn sie ehrlich sein wollte, denn einen stichhaltigen Grund hatte sie doch in der Tat nicht für ihre Weigerung. Höchstens, daß sie das, was sie auf sich genommen, nun auch durchführen wollte. Aber war das nicht kindisch, wenn das Gut darunter litt? Leni starrte mit brennenden Augen zu den goldenen Büscheln der Lindenblüten über ihrem Haupte empor

Längst war der Johanniskranz fertig, und immer noch erzählte Dörthe mit eintöniger Stimme ihre schaurigschönen Geschichten.

»Dat wißt ihr doch – dat is gewiß wohr! Min Großmoder selig hett sei sülwst seihn (selbst gesehen). In de Johannisnacht, da danzen de Laubmännchen un Buschweibchen im Eichwald bein Mondschin. Un wer sei dorbi äwerraschen daut, dem helpen sei bei Korn-, Heu- und Flachsernt'. Uns' Frölen Lening sullt sei man bitten,« setzte die Alte nachdenklich hinzu, mit einem Blick auf die ruhelos auf und nieder wandernde Leni.

»Riefst du mich, Dörthe?« Das junge Mädchen trat aus dem dämmerigen Garten zu der jetzt fast dunklen Laube.

»Nee, nee, lat man, Frölen Lening – lat man sining, min Döchting! Ick vertell (erzähle) de Gören blot 'n büschen wat von de Johannisnacht.«

»Geh wieder – ja, Dornröschen, geh doch wieder,« bestürmten sie die Jungen, die in ihrer gruseligen Stimmung nicht gestört sein wollten.

»Regst du mir mein Kleines auch nicht mit deinen Märchen auf, Dörthe?« fragte Leni, zärtlich Suschens abgeschorenen Blondkopf streichelnd, der schon ein wenig verschlafen an der Alten Schulter ruhte.

»Ih, woher denn – un Märchen sünd dat ganz un gor nich, Frölen Lening!« Dörthe fühlte sich in ihrer Ehre gekränkt. »Min Großmoder selig – – –«

»Ja, ja, Dörthe, ich weiß schon,« unterbrach Leni sie lächelnd.

»Nix weißt du, gor nix nich, Frölen Lening! Denn wenn du wat wissen dätst, denn würdst du hüt bein Leuchten der Johanniswürmken Kräuter suchen un sei unner din Koppkissen daun. Äwerst keen Wort möt man dorbi spreken – rein still sweigen! So hew ick dat dann, as ick noch 'n junges Mäten gewesen bün. Wat man denn in de Johannisnacht dräumen dauht, dat is dat Richtige; dat is gewiß un wahrhaftig wohr. Such man, min Döchting, such man! Ick gah jetzt sülwst neunerlei Kräuter pflücken. Wenn ick de hüt abend in de Kohlenglut smeiten dau (werfe), denn geiht all Unglück in uns' Hus in Rauch up. Daut ok not – daut ok not!«

Dörthe, die Getreue, humpelte schwerfällig davon. Aber am Resedabeet wandte sie noch einmal den grausträhnigen Kopf.

»Uns' Fru sullt man hüt 'n Johannisbad im Teich nehmen; dat helpt better as all de gelehrte Medizin!« Damit verschwand die Alte hinter den Büschen.

»Verdrehtes altes Haus,« murmelte Leni freundschaftlich und schlang den Arm um das müde Suschen, um es zur Ruhe zu bringen. »Geht auch schlafen, Jungen! Es ist schon spät!«

Aber die jungen Herren von Nedderdorf hatten Wichtigeres zu tun, als ins Bett zu gehen. Schlafen konnte man auch in jeder ganz gewöhnlichen Nacht, und heute war Johannisnacht! Im geheimnisvollen Flüstern neigten sich die beiden Jungenköpfe zueinander. Von den Riedgeistern tuschelten sie und von der Johanniswurzel, die alle Schätze der Erde erschließt, und die sie beide ganz sicher finden würden, wenn – – – nun wurde das Tuscheln noch viel leiser und geheimnisvoller.

»Wir wollen wenigstens warten, bis der Mond heraus ist,« flüsterte Fränzchen, der bei all seinen Streichen doch ein klein wenig Hasenfuß war.

»Na, meinetwegen! Dann können wir die Johannisgeister auch besser tanzen sehen,« erklärte sein Bruder.

Über dem Buchenwald, der die Saatfelder wie ein schwarzer Gürtel umfing, ganz hinten im Osten, tauchte langsam die große, glührote Scheibe des Mondes auf.

»Das bedeutet Hitze; da ist auf Abkühlung nicht zu hoffen,« dachte Leni, langsam die Ahornallee entlang schlendernd, die zum Wäldchen führte.

Sie mochte noch nicht an Schlafen denken. Der Kopf war ihr so wüst. Der Johannisspuk der Alten wirbelte darin mit den eigenen schweren Gedanken wild durcheinander.

In der Dunkelheit des Wiesengesträuchs leuchtete es plötzlich grüngolden auf – jetzt hier, jetzt dort; das waren die Johanniswürmchen, die ihrer Königin einen Fackelzug brachten.

In Gedanken bückte Leni sich und pflückte bald hier ein Kräutlein beim Glimmerschein der Johanniskäfer, bald dort ein Pflänzchen, das am Wegrain versteckt wuchs. Dabei lauschte sie dem Wispern, Surren und Zirpen der unsichtbaren Wiesenbewohner.

»Nur zum Spaß,« entschuldigte sie sich vor sich selber. Aber dann trug Dornröschen, die noch eben den Aberglauben der alten Dörthe belächelt hatte, ihre Kräuter gar sorgsam in das Turmgemach.

Als sie noch einmal an das runde Fensterchen trat, sah sie zwei dunkle Schatten durch den jetzt mondhellen Garten huschen.

Ihr Herzschlag setzte für die Dauer einer halben Sekunde aus. Dann aber rief sie mit gepreßter Stimme: »Hallo – wer ist da?«

Ein langgezogenes »Miau« antwortete ihr.

Da beruhigte sich Leni, daß es wohl nur Katzen gewesen seien. Sie löschte das Licht, und beim Strahl des Vollmondes legte das Dornröschen im grauen Turm die Wunderkräuter unter ihr Kopfkissen. Sie schämte sich vor sich selbst. Aber die Gewalt des Aberglaubens war stärker als sie.

Wenn der Johannisspuk sogar die große Leni in seinem Bann hatte, war es da wohl ein Wunder, wenn die kleinen Brüder ihm ebenfalls erlagen?

Es waren keine Katzen gewesen, die in geduckter Stellung durch den Garten schlichen. Das beruhigende »Miau« hatte Hänschens Mund gemauzt. Die Rangen von Nedderdorf waren es, die auszogen, die Johanniswurzel zu suchen.

Dort im Wäldchen am morastigen Ried, da wuchs allerlei seltsames Wurzelzeug; da tanzten über dem Moor die Riedgeister und Irrlichter. Das schien der richtige Platz zu sein.

Unternehmungslustig zog Hänschen seinen heimlich widerstrebenden Zwillingsbruder mit sich.

»Hu – ist das duster!« Fränzchen blieb bei den ersten Bäumen des Wäldchens stehen,

»Du Hasenfuß – der Mond scheint doch!« Hänschen versetzte ihm einen aufmunternden Stoß in die Rippen.

Das ließ sich natürlich wieder Fränzchen nicht gefallen. Er gab den Stoß kräftig zurück, und nun entspann sich unter den schlafenden Waldbäumen, beim geheimnisvollen Glühen der Johanniswürmchen, eine erbitterte Prügelei.

Nachdem der eine Schlingel eine blutende Nase und der andere eine Beule am Kopf weghatte, machten sie sich beide wieder einträchtig auf den Weitermarsch.

Schwarz lag das Ried vor ihnen. Franz griff angstvoll schutzsuchend nach der Hand seines Bruders, die ihm noch eben beinahe die Nase zertrümmert hatte.

»Pst – da!« – Hans wies erregt auf das gähnende Moor, aus dem feuchte Nachtnebel aufstiegen, sich im silbermaschigen Lichtnetz des Vollmondes gespenstisch zusammenballten und wild wieder auseinanderflatterten. »Kiek – da tanzen se!«

»Die Riedgeister – hu – ich graule mich tot!« Fränzchen wagte es kaum zu flüstern und zupfte das keck vordringende Hänschen am Jackenärmel zurück.

»Feigling! Wenn die Johannisgeister sehen, was du für ein schlapper Jung' bist, werden sie dir grade ihre Zauberwurzel geben.«

Franz hatte nicht übel Lust, die verächtlichen Worte des Bruders mit einer erneuten Balgerei zu beantworten, aber in Gegenwart der Geister da drüben wagte er es denn doch nicht.

»Ob sie das woll ist?« Hänschen zerrte mit aller Kraft an einem knorrigen Wurzelgeäst.

Leuchtete es da im dunklen Blattgrün nicht schon von Smaragden und Edelgestein? Ach nee, es waren nur die Johanniswürmchen.

Weiter suchten die zwei mit heißen Wangen, mit scheuen Augen und klopfenden Herzen nach der Wunderwurzel, bis Hänschen plötzlich aufschrie: »Au – Brennnessel – au, ich hab' mich doll verbrannt!«

»Schscht – blök nicht so! Das sind ja verwandelte Riedgeister! Dörthe hat es gesagt,« wisperte Franz erblassend und – bautz – da lag er auf allen vieren. Er war über eine weitverzweigte Eichenwurzel gestolpert.

Eine Eichenwurzel? Pah, Fränzchen wußte das besser! Einer der Riedgeister war es, der ihm den Schabernack spielte! Am Ende lockten sie ihn noch gar in das finstere Moor, oder sie hauten ihm zum wenigsten den Buckel voll!

Jetzt gab es kein Halten mehr. Fränzchen sprang auf die Beine und in wilden Sätzen quer durch das Wäldchen. Auch dem mutigen Hänschen wurde es allein in der Geistergesellschaft nicht recht geheuer. Er überließ die Johanniswurzel und alle die Schätze der Ober- und Unterwelt großmütig einem anderen Glücklichen und jagte wie gehetzt seinem davonrasenden Bruder nach. Hinter den zwei Helden erscholl im leisen Blättergeraschel das Lachen der Laubmännchen und Buschweibchen.

Auf der sich wohlig im milchigen Mondenglanz badenden Landstraße blieben die zwei stehen und sahen scheu zurück. Aber das weißbeschienene Straßenband entlang geisterten nur die schlanken Silberpappeln mit ihren schwarzen Schatten. Kein Johanniskobold ließ sich blicken. Da wuchs der Mut der jungen Herren wieder ins Ungeheure.

»Warum biste denn bloß ausgerückt, du Feigling?« reizte Hänschen den Bruder.

»Weil ich mir mein Bein verstaucht hab'« – Franz war sich wohl im Augenblick der entgegengesetzten Wirkung einer Verstauchung nicht ganz bewußt – »aber du, du büst ja noch viel döller gelaufen! Ha, 'n großes Mul hast, und nix nich dahinter, du Großmogul du!«

Wieder hielten sich die Rangen von Nedderdorf aufs innigste umschlungen. Wie die Ringkämpfer maßen sie im Boxen ihre jungen Muskeln gegeneinander. So prügelten sie sich in das schlafende Dorf hinein.

Aber als sie den Nachtwächter, zur Rechten den langen Spieß, zur Linken sein Horn, sanft schnarchend gegen die große Dorflinde gelehnt entdeckten, waren sie mit einem Male wieder ein Herz und eine Seele. Beide durchzuckte es in schöner Übereinstimmung: »Halt, hier gibt's einen Rangenstreich zu vollführen!«

»Soll ich ihn munter tuten?« schlug Franz, der musikalischere, vor und bemächtigte sich bereits des Instruments.

»Man ja nich, du Döskopp! Daß er uns verklatscht? Nee, wir wollen ihm sein Horn verstecken; denn kann er nich mehr tuten, und die Lüd verschlafen all morgen früh.«

Fränzchen war so begeistert von Hänschens Vorschlag, daß er sogar den »Döskopp« ohne Gegenliebkosung einsteckte.

Schon schwang sich Hans behende wie ein Eichhörnchen in die blühende Linde.

»Lang her – hier oben find' er's nich!« Das Horn wurde sanft in das Blütenlager hineingebettet. »So – nu den Spieß!« Auch das wichtigste Zeichen der Nachtwächterwürde verschwand im dichten Gezweig.

»Da haste seine Mütze! Ich hab' sie ihm wegstibitzt. Der rührt sich nich – hat woll seine Näs' zu tief in 'n Johannistrunk gesteckt!«

Hänschen turnte von der Dorflinde herab und quiekte vor Vergnügen.

»Du, der wird sich ja hellschen verfieren, wenn er aufwacht! Der denkt doch sicher, die Riedgeister sind heut nacht im Dorf gewesen und haben ihn genarrt – du, Menschenskind, Franz, Jung – woll'n wa noch 'n büschen weiter als Riedgeister rümmer spuken?«

Hans schien von seinem eigenen Gedanken so entzückt, daß er einen wilden Luftsprung vollführte und dabei dem schnarchenden Nachtwächter fast auf die Hühneraugen trat.

»Wenn aber nu die richtigen wirklich kommen und wild werden?« gab Franz noch etwas kleinlaut zu bedenken.

Aber Hänschen hatte stets das Übergewicht über seinen Zwillingsbruder.

»Geh doch schlafen, du Bangbüchs! Denn geistere ich eben allein.«

Damit war Franzens Ehrgeiz geweckt. Ein seltsames Rumoren und heimliches Hantieren begann jetzt in der Johannisnacht in dem schlafenden Dorf. Hörte denn niemand, wie die beiden Rangen von Nedderdorf mit vereinten Kräften an dem neuen Schild des Schlächters rissen, daß es krachte und die Hausmauer förmlich erzitterte?

Jawohl, drinnen in dem geblümten Kattunbett hob die behäbige Schlächtersfrau ihr rotes Gesicht entsetzt aus den Kissen. Sie zitterte mit der Hauswand um die Wette.

»Die Riedgeister – da waren sie!« Trotz der Gluthitze verkroch sich die verängstigte Frau ganz und gar unter dem dicken Federbett. Sie wagte es nicht einmal, ihren Mann zu wecken. Denn wer weiß, ob die Johannisgeister nicht bereits in der Stube waren!

Auch Schuster Hannemann vernahm ein seltsames Geräusch an seiner niedrigen Werkstatt. Er war ein beherzter Mann, der sich nicht »vor Dod und Düwel« fürchtete. So sprang er mutig aus dem Bett und stieß die Fensterladen auf. Da sah er noch gerade zwei kleine Gnomen im Schatten der Stallgebäude davonhuschen. Nun schwur auch der Schuster Stein und Bein, daß er in der Johannisnacht die Riedgeister gesehen habe.

Nolte, der Bäcker, hörte trotz der lauten Schnarchtöne seiner lieben Ehehälfte ein geisterhaftes Pochen an dem kleinen Fenster, aus dem er die Semmeln verkaufte. Die Klopfgeister machten ihm ihren Besuch – das war sicher – doch der kugelrunde Bäcker war zu faul, aufzustehen.

Büdner Swart aber lauschte erstaunt auf das erregte Grunzen seiner Schweine, die Wand an Wand mit ihm schliefen. Da war es nicht geheuer! Was hatte man auch heute abend im Dorfkrug beim Johannistrunk alles für Spukgeschichten zum besten gegeben!

Selbst das Haus des Herrn Kantor verschonten die Riedgeister nicht. Aber der aufgeklärte Mann war weit davon entfernt, an die Geister zu denken, die ihr Wesen in der Johannisnacht treiben. Der wunderte sich wohl einen Augenblick über das lebhafte »Mä–äh«, das aus seinem Schafstall zu ihm herüberdrang, legte sich aber dann gähnend wieder auf die andere Seite.

Alle hörten sie das Umgehen der Riedgeister; nur der Hüter der öffentlichen Ordnung, der Nachtwächter, vernahm nichts davon. Der schnarchte unentwegt weiter.

Als die Dorfkirchenuhr aber um Mitternacht zu dem Glockenschlag Zwölf ausholte, war der Johannisspuk verschwunden. Denn da die Geisterstunde begann, bekamen es die beiden nichtsnutzigen Riedgeister selbst mit der Angst.

Am nächsten Morgen, als das Dorf spät erwachte – fast alle hatten sie ohne das gewohnte Tuten die Zeit verschlafen – da ging es wie ein Raunen von Haus zu Haus, von Hütte zu Hütte: »Die Riedgeister sind heut nacht umgegangen!« Jedermann hatte sie gehört und jene, die am festesten geschlafen, hatten sie am allerdeutlichsten gesehen.

Auch Dornröschen im grauen Turm war spät erwacht. Traumlos hatte sie geschlafen, trotz der Johanniskräuter.

Am Vormittag wurde ihr der Herr Kantor gemeldet. Es mußte etwas Wichtiges sein, wenn sich der greise Herr während der Schulstunden zum Gute heraus bemühte, noch dazu bei der sengenden Sonnenglut auf der Landstraße.

Leni ließ schleunigst ihre Saatrechnungen im Stich und führte den alten Lehrer auf die schattige Fichtenbank hinten im Garten. Dann schleppte sie trotz seines Widerspruchs Fruchtwasser und Erdbeeren zur Erquickung herbei, denn der alte Herr war ziemlich außer Atem – Leni wußte nicht, ob von der Sonne oder vor innerer Erregung.

»Es ist eine ernste, unangenehme Angelegenheit, mein Kind, die mich heute wieder einmal zu dir hinausführt,« begann er, da Lenis Augen angstvoll an ihm hingen. »Die Leute behaupten, die Johannisgeister seien heute nacht im Dorfe gewesen. Allerlei Unfug ist verübt worden.« Der alte Herr stärkte sich durch eine kleine Prise, indem er vorher mit dem Mittelfinger dreimal auf seine silberne Schnupftabaksdose klopfte.

Leni blickte ihren Lehrer erstaunt an. Er hatte doch sonst gegen jeden Aberglauben geeifert . . .

»Ja – hm – also das neue Schild des Schlächters, auf dem ›Aufschnitt‹ prangt, das lehnte heute morgen an Schuster Hannemanns Werkstattür, zur Freude der Dorfbewohner, denn jedermann im Dorf weiß doch, daß der alte brave Schuster den Mund gern etwas voll nimmt und aufschneidet, besonders wenn es sich um den Feldzug von 1870 handelt. Sein Lederschild aber hat über dem Bäckerladen gehangen, wahrscheinlich weil die Semmeln letzthin recht zäh waren. Du siehst mich verwundert an, Kind, warum ich dir dies alles erzähle? Wart nur, es kommt gleich; leider bin ich mit meinem Bericht noch nicht am Ende.«

»Jawohl, wenn es sich um Geisterspuk handelt, da sind allemal menschliche Bösewichter schuld.«

Wieder nahm der alte Herr umständlich ein Prischen. Leni saß wie auf Kohlen.

»Hm – also Büdner Swart seiner Kathrin – du kennst sie wohl – der ist heute morgen, als sie mit dem Melkkübel aus der Tür trat, ein Strohmann in die Arme gefallen. Das ärgste aber ist« – die Stimme des Greises schwoll zu ihrer früheren Kraft an – »daß diese Buben nicht einmal mein Haus verschonten. Den Schafstall haben sie geöffnet und sämtliche Lämmer in die Schulstube gelassen, wo sie eine arge Wüstenei anrichteten. Die Landkarte von Afrika haben die Tiere mitten in der Wüste Sahara zerrissen und dann die Beine in die Tintenfässer getaucht. Dies Gesindel!«

»Wer, die Lämmer?« fragte Leni den aufgebrachten, sonst so ruhigen Mann.

»Nein, die sogenannten Johannisgeister! Ich kenne sie wohl, denn ich bin ein klardenkender Mann; ich weiß, was ich von solchem heidnischen Spuk zu halten habe.«

Leni wurde bis unter die Haarwurzeln rot, in Erinnerung an ihren eigenen Aberglauben am Abend zuvor.

»Jawohl, wenn es sich um Geisterspuk handelt, da sind allemal menschliche Bösewichter schuld. Ich habe sie auch gleich herausbekommen; da braucht man leider ja nicht weit zu suchen, wenn solch recht durchtriebene Rangenstreiche in Frage kommen.«

Das Wort »Rangenstreiche« gab der nichts ahnenden Leni plötzlich einen Stich durchs Herz. Wo wollte der Herr Kantor hinaus?

Die dritte Prise wanderte in die Nase.

»Ja, Kind, ich hab' gleich gewußt, wer allein die Missetäter sein könnten, und da hab' ich sie mir denn vorgenommen.«

Leni wurde es trotz des hellen Mittagslichtes schwarz vor den Augen; sie wußte es plötzlich, wen der Herr Kantor meinte.

»Erst leugneten sie natürlich noch obendrein, die Schlingel, aber dann haben sie doch nach vielem Geheul endlich alles eingestanden, Franz zuerst und Hans so langsam hinterher. Die Jungen verdienen natürlich eine exemplarische Strafe. Aber deshalb allein komme ich nicht, Kind. Es geht nicht so weiter; ich habe es dir schon einmal gesagt, du selbst hast die Brüder auf dem Gewissen, wenn du sie hier zu Tagedieben ausarten läßt. Sie müssen fort von Haus. Ich will selbst mit eurem Vormund darüber reden.«

So sprach der Herr Kantor zu seiner ehemaligen Schülerin. Leni liefen die Tränen über die geröteten Wangen.

»Herr Kantor, auch das würde nichts nützen; es geht nun einmal nicht,« stieß sie hervor. »Jetzt vor der Ernte schon gar nicht! Da kann man nicht an solche unvorhergesehene Ausgaben denken. Auf Micheli vielleicht, wenn es sich irgendwie erschwingen läßt. Auch Herr Dürenfurt kann Ihnen sicher nichts anderes sagen.«

»Es tut mir leid, Kind, daß ich dir solchen Kummer verursachen mußte, aber es war meine Pflicht als väterlicher Freund. Ein junger Baum biegt sich noch; altes Holz zersplittert.«

Damit schritt der greise Mann von dannen und ließ Leni mit ihrem Herzen voll Aufruhr allein.

Auf Micheli! Ja, da mußte eine Änderung eintreten; die Rangen entwuchsen ihrer Hand.

Wenn der liebe Herrgott nur eine gute Ernte gäbe!

Aber sie mußte auch ihr möglichstes dazu tun. Sie mußte endlich ihren Starrkopf betreffs des Verwalters aufgeben.

Mutter war glücklich, daß Leni zur Vernunft gekommen war.

Nedderdorf hatte am Johannistag wieder einen Verwalter bekommen.

Zwei auf dem Hofe aber verwünschten den Tag, den der Volksglaube mit geheimnisvollen Sagen umsponnen hat. Das waren die beiden Rangen von Nedderdorf. Als sie, die Arme voll Reisig, heimkehrten, um am Abend die Johannisfeuer zu entzünden, da tanzten ihnen die Johannisruten so heftig auf dem Rücken herum, daß ihnen das Geistern für lange Zeit verging. Sie wußten nicht mehr, war es das Dornröschen, das die Ruten durch die Luft pfeifen ließ, oder die Riedgeister selber. Das brannte so toll wie das schönste Johannisfeuer.


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