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16. Kapitel. »Fliejenstöcker«

Auf dem Fensterbrett in der Küche stehen drei Blumentöpfe. In einem wächst Schnittlauch. Den zweiten hat die Minna mit Petersilie bepflanzt. Und in dem dritten wachsen ganz merkwürdige kleine Stöcke, die mit Honig bestrichen zu sein scheinen. Daran kleben viele kleine, schwarze Fliegen. Und immer neue kommen noch, die den schönen, süßen Honig ebenfalls probieren wollen. Aber wenn sie erst einmal angefangen haben, daran zu lecken, kommen sie nicht wieder von dem Honigstock los.

Bubi schaut ihnen angelegentlich zu. Nein, wie ängstlich die armen, festgeklebten Fliegen mit ihren Beinchen und Flügeln hin- und herzappeln. Sie tun Bubis gutem Herzen ganz schrecklich leid. Mit seinen Fingerchen beginnt er deshalb alle festgeklebten Fliegen, zappelnde und tote, von den Honigstöcken wieder loszumachen. Ein niedlicher schwarzer Fliegenberg liegt bereits auf dem Fensterbrett.

Minna, die ärgerlich daran geht, neue Klöße zu machen, kommt es verdächtig vor, daß Bubi sich gar so still und artig verhält. Sie dreht den Kopf von ihren Klößen fort, zu ihm hin.

»Aber Bubi, was machst du denn da schon wieder?« Minna blickt entsetzt auf Bubis Tätigkeit. »Ich bin froh, daß wir die Fliegen los werden, und du reißt sie mir wieder von den Stöcken herunter. Du hast doch heute schon gerade genug angestellt«, sagt sie aufgebracht.

»Na, wenn die armen Fliegen noch so klein sind, daß sie nicht von allein wieder runtergelaufen kommen können, denn muß Bubi ihnen doch'n bißen helfen, weil er ßon so groß is«, verteidigt sich der Kleine.

Minna sagt bloß: »Na, du bist mir schon ein netter Kerl!« Dann rollt sie ihre Klöße weiter.

Bubi überlegt inzwischen, was man nun noch tun könne. Die Fliegenstöcke sehen sehr verlockend aus. Gewiß ist der Honig schön süß. Er möchte recht gern eine kleine Fliege sein und ihn einmal probieren.

Aber wozu muß er denn dazu eigentlich erst eine Fliege sein? Als Bubi kann er ja ganz genau so gut mal an dem schönen Honig lecken. Minna sieht gar nicht hin. Die guckt bloß auf ihre Klöße. Und die Fliegen werden es ja wohl nicht übelnehmen, wenn er auch mal ein bißchen mitleckt.

Wupp – da kommt eine kleine rote Zunge zum Vorschein – schwupp – da hängt sie an einem Fliegenstock fest und kann nicht wieder los.

Ekelhaft schmeckt der Honig! Gar nicht ein bißchen süß. Bubi beginnt laut zu schreien. Denn rufen kann er nicht. Er hat ja den alten, gräßlichen Fliegenstock im Mund.

»Bubi, was haste denn bloß nu schon wieder anjestellt?« Die Minna stemmt die roten Arme in die Seiten und lacht – lacht – –. Sie denkt gar nicht daran, dem schreienden Bubi zu helfen.

Und alle Fliegen, wenigstens die, welche noch lebendig sind, lachen mit. Und das ist gar nicht hübsch von ihnen; denn Bubi hat ihnen doch auch geholfen.

Aber jetzt kommt eine, die hilft ihrem schreienden kleinen Bubi. Frau Annchen stürzt herbei, um zu sehen, was denn los wäre. Dahinter die Mutti mit erschreckten Augen. Aber als sie den brüllenden Bubi, der mit seiner Zunge an dem Fliegenstock klebt, sehen, da müssen auch sie lachen, ob sie wollen oder nicht. Er sieht zu komisch aus.

Frau Annchen befreit Bubi von dem bösen Fliegenstock. Sie wäscht ihm die Hände und den Mund von dem gräßlichen, klebrigen Zeug wieder sauber.

»Der olle Honig hat abßeuliß gesmeckt!« sagt Bubi, als er wieder reden kann und schüttelt sich vor Widerwillen.

»Das ist doch kein Honig, Bubi. Das ist doch Fliegenleim«, belehrt ihn Frau Annchen.

Mutti jedoch droht mit dem Finger: »Siehst du, Bubi, das kommt bloß vom Naschen!« Aber sie macht gar keine bösen Muttiaugen dabei. Nein, ganz freundliche. Denn sie muß immer noch lachen.

Bubis Gesicht heitert sich erst wieder auf, als der Onkel »geheime Wolf« kommt. Das ist sein guter Freund, der stets seinen Spaß mit ihm macht. Er findet Bubi noch immer etwas blaß.

»Das Kerlchen könnte heute bei dem schönen Wetter schon ein bißchen in den warmen Sonnenschein hinunter, damit er wieder rote Backen bekommt«, sagt er.

Bubi ist durchaus damit einverstanden. Mutti weniger. Frau Annchen hat noch viel zu plätten. Minna muß neue Klöße machen. Und Mutti selbst kann nicht von der kranken Mädi und der kranken Puppe Lilli fort.

So wird Bubi in das Hofgärtchen hinuntergeschickt. Und die liebe Sonne gibt sich die größte Mühe, seine blassen Bäckchen wieder rot zu machen.

Er hat sein kleines Auto mit hinunter genommen, um es den Hühnern zu zeigen. Die stehen starr und vergessen vor lauter Staunen »ga – ga – gack« zu sagen. Nur der Hahn äußert sich mit einem beifälligen Kikeriki.

Bubi hat schließlich genug von dem Autofahren. Was soll er denn jetzt bloß tun? Eigentlich weiß er nur, was er nicht tun soll.

Er soll nicht an die große Pumpe gehen, die so schön quietscht. Er soll die Hühner nicht jagen und nicht mit Steinchen nach ihnen werfen. Denn der Wetterhahn oben auf dem Dache, der alles sehen kann, paßt ganz genau auf und erzählt es dem Herrn Verwalter.

Bubi fängt an, sich zu langweilen. Das ist keine angenehme Tätigkeit. Er gähnt und er denkt: »Ach, wäre doch meine kleine Mädi erst gesund, daß wir wieder zusammen spielen können!«

Da steht plötzlich ein fremder Junge in dem Hofgärtchen. Er ist etwas größer als Bubi. Eine Jacke hat er nicht. Bloß ein Hemd und eine zerlöcherte Hose. Er läuft barfuß. Unter dem Arm trägt er ein graues Paket.

Bubi betrachtet ihn mit einer Bewunderung, wie man im Zoologischen Garten ein seltsames Tier anschaut.

»Junge, darfst du ohne Szuhe rumlaufen?« Bubi findet das herrlich.

Der Junge gibt ihm gar keine Antwort. Er macht den Mund auf und schreit bloß: »Fliejenstöcker – Fliejenstöcker – kaufen Se Fliejenstöcker!«

Minna erscheint oben am Küchenfenster, Mathilde unten. Minna schüttelt den Kopf, weil sie noch genug Fliegenstöcke hat. Bubi hat sie ja alle schön sauber gemacht. Mathilde aber winkt dem Jungen.

Der Junge wickelt die graue Pappe, die er unter dem Arm trägt, auseinander. Lauter schöne, neue Fliegenstöcke sind darin. Und gar keine Fliegen. Bubi schaut ihm mit Andacht zu.

»Was machste denn mit den vielen ßönen Fliegenstöcken, Junge? Leckste dran?« erkundigt sich Bubi. Er hat noch genug daran.

»Nee«, lacht der Junge und zeigt seine weißen Zähne. »Die verkauf' ick doch.«

»Haste auch niedliße kleine Fliegsen zu verkaufen, Junge?« forscht Bubi weiter.

»Nee, man bloß die Fliejenstöcker.« Der Junge nimmt sechs Stück von den Klebestöcken heraus und trägt sie der Mathilde hinauf. Dafür bekommt er Geld.

Bubi möchte für sein Leben gern auch einige von den schönen neuen Fliegenstöcken haben. Als der Junge wieder herunterkommt, fragt er ihn zutraulich: »Du, Junge, ßenk' mir doch ein paar von deinen ßönen Fliegenstöcken. Du hast ja noch so doll viel.«

»Nee«, sagt der Junge. Dann öffnet er wieder den Mund ganz weit und schreit aufs neue: »Fliejenstöcker – Fliejenstöcker – kauft Fliejenstöcker!« Trotzdem im Hause gar keiner weiter wohnt als Winters und Lehmanns.

»Du mußt nicht so doll ßreien, Junge«, sagt Bubi belehrend. »Frau Lehmann und ihr Papagei sind srecklich navös. Die lassen bestimmt um Ruhe bitten.«

Der Junge wickelt seine Fliegenstöcke zusammen. Bubi schaut betrübt zu.

»Wenn du mir ßöne Fliegenstöcke ßenkst, denn ßenk' ich dir auch was, Junge.« Bubi läuft neben dem Jungen her, als dieser sich jetzt anschickt, ein Haus weiter zu gehen.

»Was denn, du Knirps?« meint der Junge verächtlich.

Der »Knirps« ist nicht beleidigt. Stolz holt er sein kleines Auto herbei. »Mein niedlißes Auto ßenk' ich dir. Dann muß Minnaßen am Sonntag eben mit der Puffbahn spazierenfahren«, überlegt er.

»Is det Ding denn ieberhaupt noch janz?« erkundigt sich der Junge vorsichtig.

»Behaupt doll ganz«, versichert Bubi und zieht das Auto auf. Wirklich, es fährt tadellos. Der Fliegenstockjunge ist mit dem Tausch einverstanden.

»Na, denn komm man mit ins Nebenhaus. Da pack' ick die Fliejenstöcker wieder auseinander. Da sollste welche für haben«, sagt er und läßt Bubis kleines Auto in der Hosentasche verschwinden.

Bubi sieht es mit geteilten Gefühlen. Er möchte die schönen Fliegenstöcke haben, aber er möchte auch sein hübsches Auto behalten. Auch weiß er ganz genau, daß es streng verboten ist, aus dem Hofgärtchen hinaus auf die Straße zu laufen.

Was soll er nur tun?

Der fremde Junge geht mit seinen Fliegenstöcken und dem niedlichen Auto in seiner Hosentasche los. Bubi hinterdrein. Er denkt nicht mehr daran, daß es verboten ist. Dabei schreit der Hahn, so laut er nur kann, warnend: »Kikeriki – bleib' hie – bleib' hie!«

Aber Bubi hört nicht.

Der ist bereits mit dem fremden Jungen auf dem Hof des Nebenhauses.

»Fliejenstöcker – kaufen Se Fliejenstöcker!« schreit der Junge. Und Bubi schreit mit ihm um die Wette. Denn hier ist ja keine Lehmfrau, die nervös ist. Das Fliegenstöcker-Schreien macht großen Spaß. Der Junge gibt ihm für sein Auto drei Fliegenstöcke. Die kleben ekelhaft an den Fingern. Aber Bubi hält sie stolz in die Höhe und schreit dazu: »Fliegenstöcker, kauft Fliegenstöcker« – genau wie der fremde Junge.

Er denkt gar nicht dran, wieder heimzugehen. Von Haus zu Haus, die ganze Straße entlang, läuft er hinter dem fremden Jungen her und hilft ihm beim Ausrufen.

Auch während der Junge die Fliegenstöcke in die Wohnungen hinaufträgt, schreit Bubi munter allein weiter: »Fliegenstöcker – kaufen Se Fliegenstöcker.«

Aus einem Fenster schaut eine Dame in den Hof hinunter auf den ausrufenden Bubi.

»Himmel, solch kleiner Dreikäsehoch muß auch schon Geld verdienen helfen. Das dürfte die Polizei gar nicht zulassen«, sagt sie.

Aber als sie den kleinen Fliegenstockverkäufer genauer ansieht, fällt es ihr auf, daß er Wadenstrümpfchen trägt und einen gestickten roten Kittel. Er sieht nicht aus wie armer Leute Kind, der Kleine.

»Auguste.« Sie ruft ihr Kindermädchen herbei. »Sagen Sie, Auguste, ist der Fliegenstockjunge da unten nicht der Kleine von Professor Winter? Sie sind doch immer auf dem Spielplatz mit den Kindern zusammen.«

»Aber nu freilich, nu natürlich, gnädige Frau. Das ist ja einer von den Winterschen kleinen Zwillingen. Die Mädi oder der Bubi ist's«, bestätigt Auguste.

Als Bubi aufs neue schreit: »Fliegenstöcker – kaufen Se Fliegenstöcker!« steht mit einem Male eine fremde Dame in dem fremden Hof vor ihm.

»Bist du nicht der Kleine von Professor Winter?« fragt sie ihn.

»Ja.« Bubi freut sich sehr, daß man ihn hier kennt.

»Und wie kommst du zu den Fliegenstöcken, Kleiner?«

»Die hat mir der gute Junge verßenkt«, erzählt Bubi treuherzig. »Aber nu hab' ich keine Zeit mehr.« Und er beginnt wieder mit dem Fliegenstöcker-Schreien.

»Ja, mein Jungchen, weiß das denn deine Mutter, daß du hier in die fremden Häuser hineinläufst?« fragt die Dame weiter.

Bubi wird rot und schüttelt das braune Köpfchen.

»Nee, das weiß sie behaupt nich, weil ich im Gärtchen gespielt habe.«

»Da wird sie sich doch große Sorgen machen, wo du geblieben bist, Kleiner«, sagt die Dame sehr ernst, so daß Bubi noch röter wird. »Komm, ich bringe dich selbst heim, mein Junge. Ich kenne deine Mutti.«

»Erst muß ich bestimmt dem Fliegenjungen noch adsöh sagen«, meint Bubi.

Aber die Dame findet das durchaus nicht nötig.

Sie nimmt Bubis Händchen, das klebt abscheulich von den Fliegenstöcken.

»Wie kannst du deiner Mutti nur solche Sorge machen und davonlaufen!« sagt sie vorwurfsvoll.

»Mutti weiß es doch behaupt gar nich. Die pflegt doch mein seine Mädi, die der olle Wind so doll gepockt hat, wieder gesund«, verteidigt sich Bubi.

Doch – Mutti weiß es, daß Bubi verschwunden ist. Muttis wissen immer gleich alles. Der Hahn im Hof hat so lange laut gekräht, bis die Minna ihren Kopf aus dem Küchenfenster herausgesteckt hat.

Nanu – wo ist denn der Bubi hin?

So laut der Hahn auch Kikeriki ruft, die Minna versteht seine Sprache nicht.

»Er wird bei Lehmanns sein«, denkt sie und läuft zu der Mathilde hinunter. Aber die hat Bubi nicht gesehen. Bei dem kleinen Steinzwerg vorn im Gärtchen ist er auch nicht. Es hilft nichts, Minna muß es der Mutti sagen: »Gnädige Frau – unser Bubi is weg!«

Nein, was bekommt die arme Mutti da für einen Schreck! Wie sie geht und steht, läuft sie auf die Straße, ihren kleinen Jungen zu suchen. Frau Annchen, die treue Seele, nicht weniger besorgt, hinterdrein. Mädi aber sitzt oben in ihrem Bettchen und weint, weil ihr Bubi weg ist. Und alle Puppen, selbst Nauke mit der Pauke, weinen mit.

Noch keine drei Häuser weit ist Frau Professor Winter, da hört sie schon von weitem: »Mutti-Muttißen!« rufen. Ein kleiner roter Punkt reißt sich von der Hand einer Dame los, stürmt auf die verängstigte Mutter zu und jubelt: »Muttißen – da bin ich wieder!«

Ganz fest hält die Mutter ihren kleinen verlorenen Jungen in den Armen, so fest, daß sie gar nicht wieder von ihm loskommt. Denn die Fliegenstöcke kleben.

»Bubi, Wo hast du denn bloß gesteckt?« fragt Mutti aufgeregt.

»Ich hab' doch dem Fliegenjungen helfen müssen und ßöne Fliegenstöcker verkaufen«, berichtet Bubi stolz.

»Du bist ja ein ganz ungezogenes Kind, daß du von Hause fortläufst!«

O weh, Mutti macht sehr böse Muttiaugen.

Inzwischen ist auch die Dame herangekommen und erzählt, wo und wie sie den Bubi gefunden. Ach, wie muß Bubi sich da vor der fremden Dame schämen!

Die Mutti bedankt sich bei ihr und führt Bubi wieder nach Haus.

Die Fliegenstöcke bekommt die Minna. Bubi aber bekommt was vom Vater mit einem anderen Stöckchen.

Der läuft in seinem Leben nicht wieder davon.


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