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§ 1. Ist es recht, wegen mannmännlicher Liebe jemanden in den Kerker zu werfen oder seiner Ehre zu berauben?
Um hierüber sich ein richtiges Urtheil zu bilden, ist es unerläßlich, zuvor zu fragen:
Von welcher Beschaffenheit ist denn die den männerliebenden Männern angeborne geschlechtliche Natur?
Ohne eine Beantwortung dieser Frage wird jedes Urtheil darüber gleichen Werth haben mit dem Urtheil des blindgebornen über die Farbe.
Die jenen Männern angeborne Geschlechtsanlage ist nämlich eine von Grund aus selbstständige. Von dem, was allgemein bekannt ist, ist sie in dem Grade abweichend, daß dieselben in Wahrheit gar nicht einmal Männer genannt werden können und wir gezwungen sind, einen andern Namen für sie zu suchen. Allem, was sonst von der Natur der geschlechtlichen Liebe bekannt ist, ist diese Geschlechtsanlage so vollkommen fremd, daß man glauben sollte, vor einem Meteor zu stehen, das von einem fremden Planeten durch ein Wunder auf unsere Erde herabgefallen sei.
Eine Prüfung derselben wird übrigens keineswegs schreckenerregend sein. Im Gegentheil: man wird überrascht sein, dort, wo man verachtungswürdige Entartung wähnte, dem Finger der großen Schöpferin Natur zu begegnen und auch auf diesem räthselhaften Gebiete ganz bestimmte und regelmäßige Naturgesetze zu entdecken.
Wollen wir also zu dieser Prüfung schreiten.
»Divisum genus est marium. Anmerk. d. Herausgebers: Divisum genus est marium (geteilt ist das Geschlecht der Männer): Martial, Epigramm 11, 22, 10; der Vers ist in III. Vindicta S. 13 im ›Original‹ zitiert: Divisit natura marem ... Pars una puellis, »Una viris genita est.« Nicht von Martial.
§ 2. »So wenig der Mann Verfolgung verdient dafür, »daß er Brustwarzen an sich trägt, so wenig »verdient sie der Urning dafür, daß er nicht Weiber, »sondern Männer liebt.«
Aber wie kann man nur so gänzlich verschiedene Dinge auf eine Linie stellen? Worin könnten sie einander gleichen? Wie ist es doch, sie mit einander zu vergleichen, sinnlos!
Doch nicht so ganz. Ihr fragt:
»Wie kann ein Mensch mit den Kennzeichen des männlichen Geschlechts, wie ein Weib, Männer lieben?«
Ich gebe die Frage zurück und frage:
Wie kann ein Mensch mit den Kennzeichen des männlichen Geschlechts, wie ein Weib, Brustwarzen an sich tragen?
Da betreffen wir uns also plötzlich beiderseitig in einem Natur-Räthsel.
Auf beiden Seiten werde ich versuchen es zu lösen. Ich werde nämlich zeigen, daß beide Erscheinungen in ganz gleicher Weise vom Urzwitter herrühren und darum beide in ganz gleicher Weise nicht etwa Naturwidrigkeiten, sondern Erscheinungen wahrer reiner Natur sind.
Was Urzwitter ist, werden wir sogleich sehn.
§ 3. Jeder Mensch ohne Ausnahme ist während der ersten 3–4 Monate seines Daseins im Mutterleibe weder Knabe noch Mädchen, sondern ein zwitterhaftes Mittelgeschöpf mit halb-männlichen, halb-weiblichen Geschlechtstheilen. Er ist embryonischer Urzwitter. Zu ersehen – wenn auch ohne die hier gewählten Ausdrücke »Urzwitter« etc. etc. – aus jedem Handbuch der Physiologie, der Anatomie oder der Geburtshülfe, z. B. aus Hyrtl's Handbuch der Anatomie des Menschen; 1859.
Erst durch das Hinzutreten einer gleichsam fremden Hand, einer zweiten Schöpferin, einer umformenden Natur, wird aus dem Urzwitter entweder Knabe oder Mädchen gebildet, und zwar erst dadurch, daß diese in des jungen Körpers Entwicklung geradezu hemmend, fast zerstörend, eingreift.
Ich sagte entweder Knabe oder Mädchen und nicht irgend ein sonstiges Geschöpf: wenn nämlich die zweite Natur bei ihrem Eingreifen, was sie keineswegs in allen Fällen zu thun liebt, regelrecht verfährt. Im unregelmäßigen Verfahren schafft sie nämlich allerdings andersgeartete Menschen.
A. Regelrechtes Verfahren der umformenden Natur. Umformung des Urzwitters zum Knaben und zum Mädchen.
§ 4. Im Urzwitter schlummern 4 geschlechtliche Keime, 3 körperliche, 1 unkörperlicher.
a) von Grund aus männliche Bestandtheile der Genitalien; das männliche Membrum;
b) von Grund aus weibliche; Höhlenbildung mit der Gebärmutter, dem Uterus, dann der Säugungsapparat, Milchdrüsen und Brustwarzen;
c) ein Bestandtheil, der von Grund aus weder männlich noch weiblich, sondern geschlechtslos ist, von der umformenden Natur aber entweder männliche oder weibliche Entwicklung empfängt; in den Handbüchern genannt »Wolf'sche Körper«; ich würde vorziehen »Ur-Testikel«;
d) der unkörperliche Keim des Liebestriebes, von Grund aus ebenfalls geschlechtslos.
Von der hinzutretenden zweiten Natur wird nun unter den beiden Keimen, welche von Grund aus ein Geschlecht zeigen, a. u. b., stets der eine weiterentwickelt, der andere geradezu unterdrückt, d. i. in seiner Entwicklung gehemmt.
Den beiden von Grund aus geschlechtslosen Keimen dagegen, c. u. d., d. i. dem 3ten unter den 3 körperlichen und dem unkörperlichen, wird eine einseitige Entwicklung gegeben, entweder männliche oder weibliche.
§ 5. Im ordentlichen Verfahren verfährt die 2. Natur also entweder so:
1) sie unterdrückt die von Grund aus weiblischen Bestandteile, wobei sie insonderheit auch die Höhlenbildung verschließt;
2) die von Grund aus männlichen Bestandtheile, das Membrum, entwickelt sie;
3) dem von Grund aus geschlechtslosen Bestandtheile aber giebt sie männliche Entwicklung, d. h. entwickelt die Urtestikel zu männlichen Hoden;
4) dem unkörperlichen, von Grund aus ebenfalls geschlechtslosen, Keime des Liebestriebes endlich giebt sie ebenfalls männliche Entwicklung, d. i. die Richtung auf das weibl. Geschlecht, oder, strenger ausgedrückt: die Anlage, später gerade in dieser Richtung zu erwachen: nämlich in der Periode der sich entwickelnden Mannbarkeit, und zwar schon in deren ersten Vorläufern.
In diesem Falle wird der Urzwitter umgeformt zum Knaben.
Oder die 2. Natur verfährt in allen 4 Stücken umgekehrt, indem sie insonderheit die geschlechtslosen Urtestikel zu weiblichen Eierstöcken entwickelt. Dann formt sie aus dem Urzwitter ein Mädchen.
§ 6. Bemerkung 1. Der Keim des Liebestriebes ruht natürlich noch in tiefster Umhüllung. In seinen Uranfängen aber ist er nothwendig bereits im Embryo gelegt. Denn sonst müßte er später ja von außen her hineingetragen werden. (Andre Gründe dafür s. Formatrix § 89.)
Bemerkung 2. Dagegen erfolgt die Entscheidung der 2. Natur: ob sie den Keim des Liebestriebes männlich oder weiblich entwickeln werde? wie es scheint allerdings erst in irgend einer spätern Periode, als die Entscheidung über das Schicksal der 3 körperlichen Geschlechtskeime des Urzwitters, und mit einer gewissen Unabhängigkeit von dieser Entscheidung. Die Entscheidungen über das Schicksal dieser 3 körperlichen Theile unter einander scheinen dagegen stets ein unzertrennbares Ganze zu bilden.
§ 7. Von seiner einstigen Zwittergestalt bleiben aber jedem Knaben, jedem Manne, lebenslang sichtbare und greifbare Spuren zurück – zur Erinnerung, daß er einst zur Hälfte Mädchen war, und gleichsam zur Warnung, über noch zwitterhaftere Naturen sich nicht zu überheben:
a) äußerlich jenes zu Anfang erwähnte entschiedene Stück eines Weibes, die Brustwarzen, deren Naturzweck ja lediglich ein weiblicher ist, nämlich das Säugen neugeborner Kinder, und welche bei ihm nur unentwickelt geblieben sind;
b) äußerlich ferner die Naphe, d. i. jener narbenartige Strich, welcher die untere Seite der männlichen Genitalien in der Mittellinie, fast wie eine Hemden-Nath, aus 2 Stücken von rechts und links her gleichsam zusammensäumt. Sie ist der nach außen hin sichtbar bleibende Verschluß der einstigen weiblichen Höhlenbildung, deren beide Seiten die 2te Natur gleichsam zusammengenäht oder zusammengeklebt hat;
c) innerlich ein ebenso entschiedenes Stück eines Weibes: eine wirkliche, nur unentwickelt gebliebene, Gebärmutter [Gebärmütterchen, utriculus masculinus oder vesicula prostatica, auch sinus pocularis genannt] Budge's Lehrbuch der Physiologie. – Meyer's Anatomie. – Hyrtl's Anatomie.
Umgekehrt bleibt jedem Mädchen, jedem Weibe, die Spur einstiger halber Männlichkeit zurück in dem Kitzler (der Clitoris), welcher nämlich nichts anderes ist, als des Urzwitters männliches Membrum, welches, in Folge seiner Unterdrückung durch die umformende Hand der 2ten Natur, in seiner Entwicklung zurückgeblieben ist.
B. Außerordentliches Verfahren der umformenden Natur. Umformung zum Urning und zur Urningin.
§ 8. Die 2te Natur beobachtet mitunter ein unregelmäßiges Verfahren; welches eben in jener Unabhängigkeit beruht, mit welcher sie entscheidet über das fernere Schicksal der 3 körperlichen Geschlechtskeime des Urzwitters und andererseits über das des unkörperlichen.
Im außerordentlichen Verfahren verfährt die 2te Natur daher entweder so:
a) mit den 3 körperlichen Geschlechtskeimen des Urzwitters verfährt sie ganz so, wie bei dessen Umformung zum Knaben, entwickelt also namentlich dessen geschlechtslose Urtestikel zu männl. Hoden;
b) mit dem unkörperlichen, mit dem von Grund aus geschlechtslosen Keime des Liebestriebes, verfährt sie dagegen wie bei der Umformung zum Mädchen, d. i. giebt ihm weibliche Entwicklung, die Anlage, seiner Zeit in der Richtung auf das männliche Geschlecht zu erwachen.
In diesem Falle wird der Urzwitter umgeformt zum Urning. Es entsteht ein mit weiblichem Liebestrieb begabter uneigentlicher Mann, d er sich also, obgleich testiculatus, durch den inneren Drang der Liebe dennoch nicht zu Weibern, sondern nur zu (jungen) Männern hingezogen fühlt; Urning; männlicher Urning.
Oder die 2. Natur verfährt auf beiden Seiten ebenso, aber umgekehrt. Dann formt sie aus dem Urzwitter die Urningin , d. i. ein mit männlichem Liebestrieb begabtes uneigentliches Frauenzimmer, welches sich geschlechtlich also nur zu (jungen) Weibern hingezogen fühlt. Weiblicher Urning; des männlichen Urnings Gegenstück.
Bemerkung. Etwas krankhaftes oder verkrüppeltes, geistig oder körperlich, wird man beim männlichen, wie beim weiblichen Urning vergeblich suchen. Beide sind die Frucht eines wenn schon unregelmäßigen, so doch durchaus gesunden Entwicklungsganges der Natur.
C. Mißlungenes Verfahren der umformenden Natur. Entwicklung des Embryos zum Zwitter.
§ 9. Die 2te Natur ergreift also stets den Plan, entweder die von Grund aus männlichen oder aber die von Grund aus weiblichen Bestandtheile der Genitalien des Urzwitters zu unterdrücken, also entweder Membrum, oder aber Höhlenbildung mit Uterus etc. etc. zu unterdrücken. Allein hin und wieder sehen wir diesen Plan der Natur sei es vollständig mißlingen oder doch nur unvollständig gelingen, so daß im Embryo also diese beiden einander entgegengesetzten Theile, Membrum und Höhlenbildung mit Uterus, mehr oder weniger ungestört fortwachsen, ohne wesentliche Eingriffe in ihre ursprüngliche Beschaffenheit zu erfahren. Dann wird aus dem Embryo ein sogenannter Zwitter.
Des Embryos geschlechtslose Testikel dagegen werden, ganz nach der Regel, entwickelt, entweder zu männlichen Hoden oder zu weiblichen Eierstöcken. Daher kann man allerdings männliche Zwitter und weibliche Zwitter unterscheiden, je nachdem Hoden oder Eierstöcke vorhanden sind: allein doch nur dann, wenn die 2te Natur nicht gerade im außerordentlichen Verfahren verfuhr, d. i. nur dann, wenn sie den Liebestrieb in gleicher Richtung mit den Testikeln entwickelte. Nicht dagegen, wenn in umgekehrter Richtung. Entwickelte sie z. B. die Testikel zu männlichen Hoden, während sie dem Liebestriebe weibliche Richtung gab, so entsteht natürlich nicht ein rein männlicher, sondern ein urnischer Zwitter.
Danach zerfallen also die Zwitter in 4 Classen:
1) Zwittermänner, 2) Zwitterweiber, 3) Zwitterurninge, 4) Zwitterurninginnen.
Die Zwitterhaftigkeit liegt in allen Fällen also nur in den von Grund aus männlichen und den von Grund aus weiblichen Theilen.
Bemerkung. Die Zwitter haben meist körperlich etwas krankhaftes oder verkrüppeltes, aber nur örtlich, d.i. an den Genitalien. Jedoch findet sich dasselbe auch an den Testikeln, obgleich diese von dem Mißlingen der Unterdrückung ja gar nicht betroffen wurden. Im Zwittermann und im Zwitterurning pflegen die Hoden z.B. auffallend klein zu bleiben. So z.B. in dem Formatrix erwähnten Münster'schen Zwitterurning.
§ 10. Bleiben wir stehn bei den Urningen. Bei den Urningen steht also dem männlichen Geschlecht des Körpers ein entgegengesetztes Geschlecht der Seele gegenüber, und zwar gewissermassen feindlich gegenüber, jedenfalls harmonielos.
Wie steht es bei ihnen nun aber mit den hinzutretenden Merkmalen der Geschlechtlichkeit? Sind diese, die geschlechtlichen Nebenpunkte und Einzelheiten, bei ihnen männlich oder weiblich? Folgen sie dem Geschlecht des Körpers oder dem der Seele?
Der Beobachter antwortet: Oft ist der Habitus, der Ausdruck, des übrigen Körpers, namentlich der Ausdruck des Gesichts, weiblich, dem Geschlecht des Körpers widersprechend und dem der Seele folgend. Ebenso sind umgekehrt Stücke der Seele, der Habitus des Gemüths, ja die Art der Liebessehnsucht selbst, und namentlich die Art des geschlechtlichen Begehrens, beim Urning oft durchaus männlich, dem weiblichen Geschlecht seiner Seele durchaus widersprechend, harmonirend mit dem Geschlecht des Körpers.
§ 11. Es ist, als sei bei den Urningen in ihrer Entwicklungsperiode (im Mutterleibe wie noch nach der Geburt) stets sowohl das Körper-Geschlecht, als selbstständige Lebenskraft, bestrebt, hinüberzugreifen in die Sphäre der Seele, als auch das Geschlecht der Seele, als gleich selbstständige Kraft, hinüberzugreifen in die des Körpers. Es ist, als gerathe dabei Kraft mit Kraft in einen Kampf, durch den die eine Kraft, sei es nun die des körperlichen oder die des Seelen-Geschlechts, von ihrer siegreichen Gegnerin in ihrem Eroberungstriebe unter Umständen gänzlich gelähmt und unterdrückt und gänzlich auf ihren innersten Kernpunct zurückgetrieben werde. In anderen Fällen ist das Ergebniß dieses Conflicts der beiden einander gegenüberstehenden Geschlechtskräfte nur ein gegenseitiges sich-durchdringen, meist zwar mit merkbarem Ueberwiegen der einen.
§ 12. Als regelmäßigen Ausgang des Conflicts wäre man vielleicht geneigt, eine Scheidung der beiden Gegenkräfte anzunehmen nach der reinen Gränzlinie ihrer Sphären. Also Körperhabitus, d. i. Gesichtsausdruck und körperliche Bewegungen, Gebärden und Manieren, rein männlich, Art der Liebessehnsucht etc. etc. rein weiblich. Allein eben dies scheint gerade nie vorzukommen. Von jener Gränzlinie scheint der Conflict nicht die mindeste Notiz zu nehmen. Die große Innigkeit, mit der Körper und Seele überhaupt unter einander verbunden sind, scheint der Grund zu sein, weßhalb eine Scheidung nach Sphären, anstatt begünstigt zu sein, vielleicht gar gehindert ist. Die Gränzlinie finden wir bei den Urningen daher stets übersprungen, die beiden Sphären demnach mehr oder weniger unter einander übereinstimmend. In wem die Seelen-Sphäre z. B. weiblich ist, in dem wird es auch die körperliche sein. Der eigentliche bloße Körperbau eines Urnings, Construction und Form, zeigt wohl nie etwas weibliches: das weibliche werden nur Bewegungen, Gebärden und Manieren verrathen. Mancher Urning erscheint darum auf der Photographie oder im Schlaf als durchaus männlich, den man im persönlichen Verkehr im höchsten Grade weiblich finden würde. In wem jene ein sich-durchdringen oder ein neben-einander-vorkommen von männlich und weiblich ist, in dem wird diese dasselbe sein.
§ 13. Bei der Entwicklung von Mann und Weib kann ein solcher Kampf, der Natur der Sache nach, nicht eintreten, weil körperliche und seelische Geschlechtskraft hier zwar ebenfalls getrennt vorhanden sind, nicht aber feindlich einander gegenüberstehn, indem hier beide vielmehr entweder männlich oder beide weiblich sind, also stets Hand in Hand wirken, um das als Ueberbleibsel vom Urzwitter herrührende noch gegenüberstehende Element auszurotten. Und dennoch gelingt selbst den vereinten Kräften diese Ausrottung oft nur sehr unvollkommen. Deßhalb giebt es eigentliche Männer, also männlichen Geschlechts an Seele und Leib, dennoch aber von weiblichem Körperhabitus (weiblichen Manieren etc.), weiblicher Sanftmuth, und, in ihrer Jugend, von mädchenhaftem Aeußeren: umgekehrt Weiber mit dem Habitus, der Gemüthsart und dem männlichen Muthe eines Mannes. In extremen Graden finden sich diese weiblichen Männer und männlichen Weiber freilich nur äußerst selten. Nach Henke (Gericht!. Medrein, 1829, § 154, Note) giebt es mannähnliche Frauenzimmer, viragines, mit schmalem Becken, wie beim Manne, platter Brust und (nämlich schon vor der Periode der Ueberreife) Barthaaren. Es ist indeß nicht ersichtlich, ob seine Individuen hieher gehören und nicht vielmehr zu den Urninginnen. – Bei Zwitterweibern kommt dergl. oft vor, so bei dem Prager Zwitter Maria Czermak, erwähnt Ara spei § 50.
§ 14. Hieraus ergeben sich nun 2 Hauptclassen der Urninge, zwischen denen es dann eine ganz regelmäßige Reihenfolge von Zwischenstufen giebt.
a) Mannlinge: Körperhabitus, d. h. der Gesammtausdruck der Bewegungen, Gebärden und Manieren, Gemüthsart, Art der Liebessehnsucht und des geschlechtlichen Begehrens: sämmtlich männlich; weiblich also mir das nackte Geschlecht der Seele, weiblich nur der Liebessehnsucht Richtung; d. i. gerichtet auf das männliche Geschlecht.
b) Weiblinge: die genannten Stücke sämmtlich weiblich; männlich also nur das alleinige Geschlecht des Körpers.
§ 15. Bei Weiblingen sind Bewegungen, Gebärden, Manieren, Haltung, Gang ganz unverkennbar durchaus weiblich, ganz wie an wirklichen Weibern. Die griechischen und römischen Gegner der Weiblinge nannten diesen entschieden weiblichen Habitus eine Krankheit; νουσος δηλεια, »die weibliche Krankheit.« So sagt Juvenal (sat. II.): Anmerk. d. Herausgebers: Juvenal 2. 16 f.: ... bei ihm ist, finde ich, das Schicksal schuld, wenn er seine krankhafte Veranlagung in Gesicht und Gang erkennen läßt.
»Hunc ego fatis
»Imputo, qui morbum vultu incessuque fatetur.«
Anmerk. d. Herausgebers: (Übersetzung H. C. Schnur).
(Diesen rechne ich dem Schicksal zu [d. i. nicht eigner Schuld], der diese Krankheit gesteht durch Miene und Gang.«) Weiblich sind ihre Lieblingsbeschäftigungen, z. B. stricken, nähen, sticken, Kränze winden, sogar kochen; ferner die Wahl der Tracht und des Namens. Kleiden würden sie sich am liebsten ganz und gar und stets wie ein Frauenzimmer. Da ihnen dies nicht möglich, so nehmen sie dazu nun einzelne Gelegenheiten wahr, z. B. Maskenbälle und heimliche Zusammenkünfte »entre nous.« Der extreme Weibling Blank in Dessau, Israelit, dessen Selbstmord Vindicta § 10 erzählt ist, ging oft in der Abenddämmerung ganz als Dame gekleidet auf den Wallpromenaden von Torgau spazieren. Eines Abends ward er dort in dieser Tracht sogar verhaftet. Ein Wiener Weibling sandte mir seine Photographie: ich erblickte den jungen Mann in Weibertracht. Unter einander nennen sie sich nie anders als mit weiblichen Vornamen, z. B. Antoinette, Mariechen, Hermine, Natalie, Kathi. Kaiser Antoninus Heliogabalus, ebenfalls extremer Weibling, ließ sich im vertrauten Kreise nennen »Bassiana« und »domina.« Jener Blank war so kühn, bei der Obrigkeit förmlich um die Erlaubniß einzukommen, sich weiblich nennen und kleiden zu dürfen. Die Bitte ward abgeschlagen. (Inclusa § 18.) Ich kenne eine duchesse und eine princesse, und allein 2 Comtessen, von denen nur der eine, die princesse, überhaupt nur adlig ist. Seinen Vorrang mußte er doch auch in der Sprache der Gänschen behaupten! Mit einer bloßen baronne würde sich keiner von allen begnügt haben. Die eine Comtesse nahm es mir förmlich übel, daß ich sie ohne diesen ihr gebührenden Glanz mir aufzeichnete. Ein echter Weibling erscheint auf der Promenade und im Salon nie ungeschminkt. Im Coquettiren thut er es dem eroberungssüchtigsten Frauenzimmer gleich. In Paris und London giebt es Schaaren junger hübscher Weiblinge, die sich coquettirend auf Boulevards und Promenaden umhertreiben. Dies ist dem dortigen Publicum auch wohlbekannt. In London nennt sie der Volksmund »Mary-Anns« (Marie-Annen oder Anna-Marien). Aus London sendet man mir eine Zeitung, enthaltend eine dortige Gerichtsverhandlung gegen 2 Weiblinge, worin der Zeuge Sergeant Shillingford von ihnen sagt: »being then painted and powdered, and difficult to tell, whether they were males or females.« Anmerk. d. Herausgebers: being then painted: sie waren geschminkt und gepudert, so daß kaum zu entscheiden war, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Ihm zufolge ward der eine, Henry Maltravers, genannt »Kate Smith.« Eine Reihe von Weiblings-Zügen und Scenen ist geschildert Inclusa und Formatrix. Unter den Alten schildern namentlich Lampridius, Cassius Dio und Herodian bis in's einzelne herab in den frappantesten Zügen jenen Antoninus Heliogabalus. Ebenso Juvenal einen Weibling, welcher, einer römischen Dame gleich graciös auf ein Polster hingegossen, zu seinem Geburtstag Gäste empfängt und sich von diesen unter andrem ein Sonnenschirmchen, umbella, schenken läßt.
§ 16. Der Weibling und die ihm nahestehenden Zwischenstufen: in Folge der weiblichen Art ihrer Liebessehnsucht fühlen sie – ganz wie das Weib – sich hingezogen zu Männern von ausgeprägt männlicher Erscheinung, zu bärtigen, von kräftigem Gliederbau (und – ich darf dies nicht übergehen – von starker örtlich-männlicher Entwicklung.) Beispiele s. in Formatrix § 15 und Note 12. Nicht zarte, sanfte »Jünglinge« üben Anziehung auf sie: sie reizt nur, um süddeutsch zu reden, »ein fester Kerl.« Welch einen schlagenderen Beweis für die Weiblichkeit ihrer Natur will man verlangen? Für den »festen Kerl«, der Weiblingsurninge fesselt, hatten Gallier und Römer das eigene Wort »draucus.«
§ 17. Der
Mannling dagegen und die ihm nahestehenden Stufen lieben, in Folge ihrer männlichen Art zu fühlen, umgekehrt nur zarte, sanfte Männergestalten, nur bartlose
Tibull sagt, indem er damit seinen Geliebten meint, den
Marathus, den er sonst nennt »puer« oder »meus puer,« (I. 8):
Carior est auro juvenis, cui
laevia fulgent
Ora, nec amplexus aspera
barba terit. und glatte
Die Haarlosigkeit an Brust und Schenkeln, welche natürliche Gabe der Jugend ist, suchte in Rom mancher schon reifere junge Mann – um Urningen desto länger liebenswerth zu bleiben – durch Kunst zu ersehen. (Verschiedene künstliche Mittel werden genannt, z. B. Abschaben der Haare durch Bimstein.) Hiegegen aber sträubt sich z. B.
Martial (14. 205)), zum Theil geradezu
mädchenhafte Erscheinungen:
Anmerk. d. Herausgebers: Juvenal: ausführlich zitiert in Teil 2, 8. XXIII f.
Anmerk. d. Herausgebers:
Tibull, Elegie 1, 8, 31 f.:
Köstlicher als Gold ist ein junger Mann, wenn sein Gesicht noch glatt ist und schimmert und kein stachliger Bart die Umarmung stört.
(Übersetzung G. Luck)
Martial, Epigramm 14, 205:
Werd mir ein Knabe zu teil, der von Jugend glatt, nicht vom Bimsstein, schön, um der Anlaß zu sein, daß mir kein Mädchen gefällt.
(Übersetzung R. Helm)
Worte, die jeder heutige Mannling ihm nachfühlen wird. Inwiefern Tibull zu den Urningen zu zählen, darüber unten § 28. – Auch die
türkischen Mannlinge
verabschieden ihre Geliebten »meist dann, wenn der Schnurrbart sich zu zeigen beginnt.« Ara spei S. VIII.]
Sit nobis
actate puer, non pumice
laevis,
Propter quem placeat nulla puella mihi.
nicht feste Kerle, nicht drauci, nur Jünglinge, nur pueri.
Puer ist nicht (oder dach nur int poetischen Verstande) zu übersetzen »Knabe«, sondern »Jüngling.« Bei Tibull und Martial hat der geliebte puer oft selber schon eine Geliebte. Bei Martial kommt ein 20jahriger puer vor, ebenso pueri, welche im Ehebruch betroffen werden. Diese kann man doch unmöglich »Knaben« nennen. Die römischen Mannlinge liebten namentlich Jünglinge mit langem weichem Lockenhaar, pueri comati.
Beispiele für puer und comatus bei fast allen römischen Classikern, für draucus erst in der mittleren Latinität, namentlich bei Martial. »Lycidae crinitus Jolas ignis erat.« (Calpurnius XI. 3.)
Draucus ist ein besonders männlich entwickelter Mann in jugendlich kräftigem Alter. Martial (XI. 73): »Natta (Name eines Urnings) drauci sui....« Wenn im Scheller'schen Lexicon die Bedeutung von draucus für zweifelhaft erklärt wird, so beweist das nur, daß alles natürliche Verständniß fehlte. Für urnische Schriften bringt dasselbe selbstverständlich auch nur der Urn. mit.
In
Constantinopel tragen noch heute die von Mannlingen geliebten Jünglinge Lockenhaar. Ein junger Mensch, der dort Lockenhaar trägt, gilt sogar ohne weiteres als eines Urnings Geliebter. Einen Jüngling, wie er ihn zum Geliebten sich wünschen möchte, zeichnet schön und sprechend Martial (4. 42):
Sit nive candidior;
Lumina sideribus certent, mollesque flagellent
Colla comae;
Paestanis rubeant aemula labra rosis.
Anmerk. d. Herausgebers:
Martial, Epigramm 4, 42, 5 ff.:
Weißer als Schnee muß er sein ... ... Augen hab er wie Sterne an Glanz! Weich fallen die Locken über den Nacken ... Rosen von Paestum gleich, leuchte die Lippe ihm rot.
(Übersetzung R. Helm)
Calpurnius Siculus (1. Jh.), Ekloge 11, 4 f.: der lockige Jolas war für Lykidas entbrannt.
Ein neuerer sagt:
»Hier sieh den Pfühl. Hier will ich sitzen
Mit meinem blonden Liebesknaben.
Hier sieh den Wein in Goldpokalen blinken,
Aus diesen Bechern will ich mit ihm trinken,
An seinen Lippen will ich mich erlaben!«
§ 18. »Siehe da!« möchte man mir hinwerfen; »mädchenhafte Jünglinge liebt ihr! Ihr seid also dennoch Männer, nur entartete. Der ganze Uranismus ist nur Entartung. Was du da phantasirst von weiblichem Geschlecht der Seele, ist Schwärmerei. Dasselbe widerlegt sich ja klar durch dieses dein eigenes Geständniß. Ist das Geschlecht dessen, der mädchenhafte Jünglinge liebt, nicht ganz männlich?«
Meinerseits die Gegenfrage: »Auch der mädchenhafteste Jünglingskörper, was ist er, Weib oder Mann? Das Geschlecht dessen aber, der einen Mann liebt, ist es männlich oder weiblich?«
Und wer ist unter euch wahren Männern, der einen Jüngling würde lieben können, und wäre dieser noch so mädchenhaft? Nein! des Urnings Liebe hat hier nur eine männliche Färbung (sie ist männlich angehaucht): ist aber nichtsdestoweniger auch hier eine weibliche. Mannlingsliebe ist also: weibliche Liebe mit männlicher Färbung. Es giebt (s. oben § 13), wennschon nur sehr vereinzelt, auch Weiber mit männlich gefärbter weiblicher Liebe, welche sich ebenfalls durch mädchenhafte, wenigstens sanfte, Jünglinge angezogen fühlen: und deren Liebe bleibt ja doch stets eine weibliche. Daß es Mannlinge giebt und daß diese mädchenhafte Jünglinge lieben, ist hienach durchaus kein Grund, meine Theorie anzugreifen. Es ist Irrthum zu sagen: »Die Theorie von der weiblichen Seele im männlichen Körper, wäre sie richtig, so konnte es nur Weiblinge geben, so könnte kein Urning mädchenhafte Männer-Erscheinungen lieben.« Auch der männlichste Mannling zeigt weibliche Seele im männlichen Körper: weil er nicht Mädchen liebt, sondern Jünglingskörper. In der Kette der geschlechtlichen Varietäten bildet vielmehr der Mannling, ganz wie sein Gegensatz, der Weibling, gerade ein nothwendiges Glied.
§ 19. In Anacreon's und Tibull's urnischen Liebesgedichten heißt es:
Ω παί, παρδένιον!
und:
Virgineus teneras stat pudor ante genas. Beides ist demnach streng wörtlich zu übersetzen: »jungfräulich« oder »mädchenhaft«. Zu »unschuldsvoll« seine Zuflucht zu nehmen, wie früher ich selbst gethan (Ara spei, Antinous III.), ist durchaus unstatthaft. Ich muß mich entschieden selber corrigiren.
Vom schönen Amphion, der ihn anzog, sagt Martial geradezu:
Amphion potuit puella nasci. Anmerk. d. Herausgebers: Anacreon: siehe V. Ara spei S. 91, Tibull: übersetzt S. 16. Martial, Epigramm 12, 75, 5: Mädchen hätte Amphion werden können. (Übersetzung R. Helm). Siehe auch S. 25.
Ein urnischer Freund von mir in Böhmen (s. unten § 30) drückt sich über einen Mitschüler, der ihn fesselte, brieflich wiederholt ganz ähnlich aus:
»Er war von mädchenhafter Schönheit; .... sein Gang war jungfräulich; sein Wuchs zart; ....«
§ 20. Hienach ist es auch begreiflich, daß den Weibling nur die kräftigere Blüthezeit des Mannes fesselt; nur das zartere Jünglingsalter den Mannling. Darum ist des Mannlings Jüngling jünger als der »feste Kerl« des Weiblings, der draucus älter als der puer.
Ein Wechsel des kräftigeren und des zarteren Gegenstandes der Neigung mit dem wechselnden Lebensalter des liebenden ist dagegen weniger bemerkbar. Er wird noch zu beobachten sein.
§ 21. Die Zwischenurninge – an der Kette, deren Endpuncte Mannling und Weibling heißen, die Mittelglieder – lieben junge Männer, die ich » Bursch« zu nennen liebe. Zwischen Jüngling und »festem Kerl«, Man verzeihe die Wiederholung dieses unschönen, aber sehr bezeichnenden Ausdrucks. zwischen puer und draucus, steht der Bursch auf der Zwischenlinie. Er ist 18 - 23 Jahre alt, zugleich von kräftigem und blühendem Wuchs und zugleich von Antlitz, Wangen, Lippen und Augen schön.
»Blonder Bursch mit dem Veilchenblick
Aus den dunkelblauen Augen;
Meine Ruhe hast du mir geraubt:
Gieb mir wieder meinen Frieden!«
Anmerk. d. Herausgebers: Blonder Bursch mit dem Veilchenblick: aus Ulrichs’ Gedicht Zum Stamm der alten Buche, siehe Teil 2, S. XXXVI.
Die Zwischenurninge pflegt glatte Bartlosigkeit kalt zu lassen, voller Bart sogar abzustoßen, ein »Bärtchen« dagegen sehr stark anzuziehen, sei's blond, sei's schwarz, ein jungaufsprießendes Bärtchen.
»Und aus Kinn und voller Lippe blüht hervor ein schwarzer Flaum,
Enggezogen um des Mundes purpurroth gefärbten Saum.«
Aehnliche Beispiele in Platen's herrlichen urnischen Liebesgedichten.
Doch begegnen wir hier den verschiedenartigsten Mischungen charakteristischer Mannlings- und Weiblingszüge.
§ 22. Was Urninge anzieht, ist also etwas sehr verschiedenartiges. Die strengste naturwissenschaftliche Wahrheit trifft, in seiner fast nur scherzenden 4. Elegie, Tibull, wenn er von dem Eindruck, den die jungen Männer auf Urninge ausüben, sagt, unbewußter Weisheit voll:
Hic placet, angustis quod equum compescit habenis;
Hic placidam niveo pectore pellit aquam;
Hic, quia fortis adest audacia, cepit; at illi
irgineus teneras stat pudor ante genas.
(Dieser gefällt, weil er das Roß bändigt mit enggefaßtem Zügel; jener, indem er (schwimmend) mit schneeweißer Brust das ruhige Wasser zertheilt; dieser fesselt, weil ihm kühner Muth innewohnt; jener, weil vor seinen zarten Wangen jungfräuliche Schamhaftigkeit steht.«)
Wahrlich, nicht schöner, aber zugleich auch nicht wissenschaftlich- richtiger, könnte dies je gesagt werden. Diese äußerst liebliche und nicht entfernt lascive Elegie nennt (1835) ein Nichturning, Dissenius, Tibull's gelehrter Herausgeber, eine ars amandi oder praecepta amoris. Sie verdient in der That genannt zu werden »urnische ars amandi.«
§ 23. Des Gegensatzes in der Art des geschlechtlichen Begehrens des Mannlings und des Weiblings ist, im allgemeinen, sehen gedacht worden. Die Zwischenstufen zeigen auch hier die verschiedenartigsten Mischungen, z. B. eine Doppel-Erscheinung, welche dem redlichen Forscher Casper wie das Räthsel der Räthsel vorkommt (Clinische Novellen S. 35), sich aber ganz einfach erklärt aus der Natur der Zwischenstufen und aus dem erwähnten sich-durchdringen der entgegengesetzten Geschlechtskräfte.
§ 24. Mannling und Weibling stehen einander überhaupt als Extreme gegenüber. Sie sind ähnlich von einander verschieden und einander gegenüberstehend, wie Mann und Weib selbst. Ganz wie zwischen Mann und Weib, so besteht auch zwischen dem mannhaften Mannling und dem mädchenhaften Weibling in dem betreffenden beiderseitigen Lebensalter vollkommene gegenseitige geschlechtliche Anziehung. Wie entschieden sie dagegen sonst zu einander im Gegensatz stehen, wird unten (Note 20) aus Martial's Benehmen gegen die Weiblinge erhellen. Auch heute ist das Verhältnis kein erheblich besseres. – Nur ein kurzsichtiges Auge übrigens würde hier geschlechtliche Anziehung gleicher Pole erblicken. Die Pole sind, wie bei jeder geschlechtlichen Anziehung, so auch hier ungleiche. Denn auch hier wird eine weibliche Seele angezogen von einem männlichen Körper, nicht Seele von Seele oder Körper von Körper. Vgl. Formatr. § 114.
§ 25. Diesen ganzen Kreis eines geheimnißvollen Wirkens der Natur, welcher dem denkenden doch sicher Interesse abgewinnen wird, hat bisher die Theorie kurzweg abgethan mit der Benennung »Naturwidrigkeiten« und die Praxis mit Criminalstrafen! Das ist die verschleierte Natur vor unsrem Gesetz! Seit der Blüthezeit der Hexenverfolgungen sind zwei volle Jahrhunderte verflossen des sogen. Fortschritts. Wird das unsrige nicht erröthen über seine Verfolgungen der Natur? Zwar beruhen die heutigen Verfolgungen der Natur sämmtlich nur auf irriger Anwendung des Gesetzes, dessen Absicht nämlich nie etwas anderes gewesen ist, als: diejenigen, welche vermeintlich von der Natur abgewichen sind, zur Natur zurückzuführen. Dem von der Verfolgung thatsächlich betroffenen kann dieser Entschuldigungsgrund aber natürlich höchst gleichgültig sein.
Freilich wer wollte dem Gesetz einen Vorwurf daraus machen, so lange die Männer der »Wissenschaft« für urnische Liebe nichts anderes haben, als Worte, wie sie z. B. Roßhirt ausspricht (Criminalrecht 1821, § 219):
»Es ist unbelohnend und schauderhaft, die entarteten Triebe der menschlichen Natur kennen zu lernen.«
Sehr belohnend aber, denke ich, wird es sein, in der vermeintlichen Entartung wahre reine Natur zu erkennen und wahrzunehmen, wie der Finger der Natur auch hier waltete und welche ganz bestimmten und regelmäßigen Naturgesetze und Regeln er gab.
§ 26. All diese Variationen eines Gemisches von männlich und weiblich, all diese Mischnaturen, sind lediglich aus dem einen Grunde vorhanden, weil die Natur alle geschlechtlichen Abstufungen:
Mann, Weib, Urning, Urningin und Zwitter, mit all ihren Unterarten und Stufen, aus ein und demselben embryonischen Urzwitter hervorbildet, der, in Keimen aller Art, männlich und weiblich zugleich in sich trägt.
Dieselben würden sicher nicht vorhanden sein, verführe die Natur bei Schaffung der Menschen so, wie die Männer von der Farbe jenes Herrn Roßhirt ihr ohne Zweifel vorschreiben möchten, d. h. bildete sie den Mann vom ersten Pulsschlag seines embryonischen Daseins an als Mann, das Weib als Weib. Dann allerdings trüget ihr Männer keine weiblichen Brustwarzen, keine an einstige weibliche Höhlenbildung erinnernde Raphe und ebenfalls nicht die fatale Gebärmutter: dann lebte in keinem männlichen Körper weibliche Richtung der Liebessehnsucht. Dieser Menschenbildungsplan, wäre er bei Erschaffung des Menschengeschlechts als »Verbesserungsvorschlag« zeitig gestellt worden im Rathe der Schöpfung: wer weiß, ob er nicht Aussicht gehabt hätte auf Annahme! Jetzt kommt er jedenfalls zu spät.
§ 27. Weil die Natur alle geschlechtlichen Varietäten aus ein und demselben Urzwitter hervorbringt, in diesem aber wirklich in Keimen aller Art männlich und weiblich zugleich vorhanden ist, so ist es ferner denkbar, daß sie aus dem Urzwitter auch Uranodioninge schaffe, d. i. körperlich männliche Individuen, begabt zugleich mit Liebe zu jungen Männern und zugleich mit Liebe zu Weibern. (Formatrix § 95 fgde.)
Und zwar lassen sich 2 Arten derselben denken, conjunctive und disjunctive.
§ 28. Conjunctive Uranodioninge. Dieselben müßten sowohl die zart-schwärmerische, als auch die sinnliche Liebe in doppelter Richtung fühlen (oder wenn man will in unentschiedner), d. i. männlichen und weiblichen Individuen gegenüber. Ueber deren Natur habe ich indeß bislang irgend welche Sicherheit noch nicht geschöpft. Sie scheinen stets Mannlinge zu sein. So sagt z. B. Horaz:
Mollibus in pueris
Aut in puellis urere.
Anmerk. d. Herausgebers: Horaz, Epoden 11, 4: ... bald für zarte Knaben und bald für Mädchen zu erglühen.
Hieher scheinen wirklich zu gehören: Catull, Horaz, Tibull, Nero, Nero's Natur freilich, über die wir sehr genaue Nachrichten haben, scheint abzuweichen. Seine Natur ist mir die räthselhafteste von allen, die ich bislang geprüft. In seiner solennen Ehe mit Sporus ist er Mannling, in der desgl. mit Doryphorus Weibling. Hienach wäre er zwar nur Zwischenstufe von der Art jener, welche Caspers Staunen erregten. (Oben § 23). Allein neben dem allen fühlt er, mit höchster Wahrscheinlichkeit, auch wieder wie ein wirklicher Mann Weibern gegenüber. (Form. § 113, 5; Aurelius Victor.) Und bei alledem tritt dann wieder eine Nachricht Cassius Dio's auf, eine britannische Königin habe ihn in verschiedenen Variationen als »verächtliches Weib« geschmäht. Allein diese Schmähung mag sich lediglich auf seine Ehe mit Doryphorus beziehen. Und Aurelius Victors sehr späte Nachricht von dem Beschauen nackter junger Männer und junger Mädchen mag unzuverlässig sein. Dann aber wurde er unter die Virilisirten gehören (unten § 35 fgde.), nicht hieher. Hafis, Lord Byron. In einem tirolischen Dorfe bei Kufstein sang, Juli 1865, in fröhlicher Wirthshausgesellschaft ein dortiger Bauernbursch folgendes »Schnadahüpfl« auf einen mitzechenden jungen Metzgerburschen:
»Und der Metzger, der hat halt zwoiralei Schneid:
Die oa auf die Manner, die ander auf die Weibersleut!«
8 29. Disjunctive Uranodioninge. Für junge Männer empfinden diese nur die schwärmerisch-zarte Liebe. Vor dem Gedanken, dieselben auch geschlechtlich zu berühren, werden sie, ganz dem Nichturning gleich, durch einen entschiedenen inneren Horror zurückgescheucht. Den sinnlichen Trieb dagegen empfinden sie zu Weibern, aber auch nur diesen, nie zarte Liebe. Auch diese scheinen nur sehr junge, zarte, kaum erst erwachsene Jünglinge zu lieben, pueri molles (mit Horaz), und daher stets Mannlinge entweder zu sein oder doch ihnen sehr nahe zu stehen. – Hieher gehört vielleicht Shakespeare.
§ 30. Zwei Naturen dieser sehr merkwürdigen Varietät haben sich mir zu erkennen gegeben, beide im Lebensalter zwischen 20 und 30 Jahren, der eine ein deutscher Schweizer, der andre czechischen Bluts (s. oben § 19). Bezeichnend ist, daß beide sich dagegen sträuben, zu den Urningen gezählt zu werden. Sie sind auch in der That nicht reine Urninge, zumal wenigstens dem einen der Nächtlichkeitstraum (Formatrix Note 14) nur weibliche Gestalten zeigt. (Von dem andren bin ich hierüber ohne Nachricht.) In dem zarten Gefühl glühender Liebessehnsucht stehn beide jedoch dem reinen Urning unterschiedslos gleich.
§ 31. Auch die »knabenliebenden Gegen« in Albanien scheinen hieher zu gehören, deren keusche Liebe zu schönen »Knaben« Hahn's »albanesische Studien« (1854, S. 166 fgde.) in wahrhaft anziehenden Mittheilungen schildern. Hahn's Angaben sind von Wichtigkeit, weil sie auf eignen Beobachtungen beruhen, die er als österreich. Consul an Ort und Stelle anstellte. Dort scheint nämlich diese Varietät besonders häufig vorzukommen. Auch der Gege liebt nur sehr junge pueri, etwa vom 12ten bis zum 17ten Lebensjahre. Zu berücksichtigen ist dabei die früh entwickelte Mannbarkeit der Südländer. – Vgl. die ganz gleichalterigen, von den Türken aber sinnlich geliebten, Bürschlein: Ara spei S. VIII. Jeder Gedanke an sinnliche Lust aber liegt ihm fern. Er liebt sie, wenn er seinerseits etwa 16–23 Jahre alt ist. (Dies ist nichts besondres. In jedem unvermischten Urning, auch bei uns in Deutschland, steht gerade in diesem Lebensalter die Liebe in zartester Blüthe. Auch an Gluth der Empfindung werden unsere reinen Urninge von der nachstehenden Schilderung keinesweges übertroffen. Dieselbe ist vielmehr auch für rein urnische Liebe vollkommen zutreffend; wie die von mir in besondrem Heft mitzutheilenden Proben urnischer Poesie ergeben werden. Namentlich stimmt sie mit Plato's herrlicher Schilderung im »Phädrus« durchaus überein.) Etwa mit dem 24. Jahre pflegt der Gege dann ein Weib zu nehmen; womit die Periode der Knabenliebe in der Regel, nicht immer, abschließt.
§ 32. Folgendes sind nach Hahn eines Gegen eigene Worte:
»Des Gegen Gefühl für seinen Knaben ist rein wie das Sonnenlicht. Es stellt den Geliebten einem Heiligen gleich. Es ist daß höchste und erhabenste, was das menschliche Herz überhaupt zu fassen vermag. .... Der Anblick eines schönen Jünglings erzeugt in ihm Bewunderung und öffnet die Thüren seines Herzens dem Genusse, welchen die Betrachtung dieser Schönheit gewährt. Die Liebe bemächtigt sich seiner in dem Grade, daß sein ganzes Denken und Fühlen in ihr aufgeht. Ist er in des Geliebten Nähe, so versenkt er sich in dessen Anblick. Ist er fern, so denkt er nur an ihn. Erscheint der Geliebte unverhofft, so geräth er in Verwirrung. Er wechselt die Farbe, wird bald blaß, bald roth. Das Herz schlägt ihm hoch und benimmt ihm den Athem. Auge und Ohr hat er nur für den Geliebten. .... Er vermeidet es, ihn mit der Hand zu berühren. Er küßt ihm nur die Stirn. ..... Ihn besingt er, ein weibliches Wesen nie.«
Hier von dieser Poesie eine übersetzte Probe:
»Die Sonne, welche am Morgen aufgeht,
Ist wie du, o Knabe, wenn du um mich bist.
Wenn das schwarze Auge sich mir zuwendet,
Treibt es mir aus dem Kopfe den Verstand.«
(Vgl., was Ara spei, Vorbericht S. X aus andrer direkter Quelle von der urnischen Liebe der Albanier gesagt ist).
§ 33. Vollkommen gewiß bin ich meiner Classificirung dieser Gegen übrigens nicht, da die Angabe fehlt: aus welchem Grunde »jeder Gedanke an sinnliche Lust« ihnen »fern« liege. Wäre dieser Grund Horror, dann wären sie offenbar, was ich sagte: wäre er nur Selbstzügelung, virilisirte Mannlinge (s. § 35 fgde.). Für das wahrscheinlichere halte ich indeß ersteres, weil nämlich Selbstzügelung schwerlich so allgemein verbreitet sein würde, wie jene Keuschheit der Knabenliebe, Hahn zufolge, dort verkommt. Auch würde sonst wenigstens im späteren Lebensalter sinnliche Knabenliebe dort häufig sein, was aber nach Hahn ebenfalls nicht der Fall zu sein scheint.
§ 34. Hienach ergeben sich überhaupt folgende geschlechtliche Varietäten innerhalb der menschlichen Natur:
I. Männer | II. Weiber | III. Urninge | IV. Urninginnen | V. Uranodioninge | VI. Uranodioninginnen (?) | VII. Zwitter |
1. Mannlinge
2. Zwischenstufen 3. Weiblinge |
1. conjunctive
2. disjunctive |
Eigentlich räthselhaft sind mir von diesen nur die conjunctiven Uranodioninge, weil ihre Erscheinung in der Lehre vom Urzwitter nur im allgemeinen ihre Erklärung findet. Die disjunctiven sind es mir gar nicht, weil die anordnende Natur sehr wohl zwischen sinnlicher und schwärmerischer Liebe geschieden haben kann. Wäre das Vorkommen disjunctiver Uranodioninge vollkommen constatirt, so wäre damit übrigens die bemerkenswerthe Erscheinung erforscht:
daß im Embryo nicht, wie ich oben annahm, ein unkörperlicher Geschlechts-Keim, der des Liebestriebes im allgemeinen, schlummernd vorhanden sei, sondern zwei, und zwar in völliger Unabhängigkeit von einander, nämlich der Keim des sinnlichen Triebes und der der sehnsüchtigen Liebe, und daß die Natur ihnen in der Regel zwar untereinander gleiche Geschlechtsrichtung, nicht aber stets, ertheile.
Für dieses Zerfallen des Liebestriebes in zwei völlig getrennte Einzeltriebe scheint auch der Umstand zu sprechen, daß auch beim einfachen Urning sinnliche und schwärmerische Liebe, verschiednen Gegenständen der Neigung gegenüber, völlig getrennt vorkommt, daß namentlich in früheren Jahren, etwa vor dem 20. Lebensjahre, äußerst häufig eine durchaus keusche, glühende Liebe sich entfaltet, welche von irgend welcher Sinnlichkeit nichts weiß, ja vor dem Gedanken daran zurückschaudern würde. Dasselbe ist ja auch bei Mann und Weib der Fall. Ferner pflegt der sinnliche Trieb ja auch erst später zu erwachen, als die schwärmerische Liebe, oft erst mehrere Jahre später. (Schon in Formatrix § 24–26 habe ich einiges angegeben, was für das Getrenntsein spricht.) Doch sind, beim Mangel einer genügenden Anzahl von Beobachtungen, über diese Frage die Acten noch nicht geschlossen.
§ 35. Bei der Classificirung einzelner unter die Varietät der conjunctiven Uranodioninge ist übrigens Vorsicht geboten. Von denen, die es zu sein schienen, hat sich bei näherer Prüfung weitaus die Mehrzahl in etwas ganz anderes aufgelöst: nämlich in virilisirte Mannlingsurninge, künstlich virilisirt durch Selbstzwang und Gewöhnung. Zu dieser Virilisirung ist freilich nicht jeder Urning seiner Natur nach befähigt. Der Weibling dürfte nie dazu befähigt sein. Aber auch nicht jeder Mannling ist es. Und unter den befähigten ist es wiederum der eine mehr als der andre, je nachdem nämlich der dem Urning natürliche Horror vor geschlechtlicher Berührung eines weiblichen Körpers schwächer, also überwindbarer, in ihm ist, als in einem andren.
Bemerkung. Einen weiblichen Körper seinerseits und mit eigner Initiative geschlechtlich zu berühren, davor fühlt der Urning einen hier zwar stärkeren, dort schwächeren und überwindbareren, stets aber entschiedenen, Horror. Von einem weiblichen Körper dagegen geschlechtlich berührten werden, von demselben sich berühren, sich liebkosen zu lassen: davor ist in ihm der Horror theils erheblich geringer, und darum leicht überwindbar, theils gar nicht vorhanden.
§ 36. In südlichen Klimaten scheint jene Ueberwindbarkeit des Horrors auch vor der activen Berührung erheblich häufiger vorzukommen, als in nördlichen. Ja, dort scheint selbst dieser Horror oft gar nicht vorhanden zu sein. Darum denn dort weit häufigere Virilisirungen, als hier: und der Uranismus in nördlichen Gegenden entschieden unverfälschter und reiner, als in südlichen. Sollte damit etwa die Erscheinung im Zusammenhang stehn, daß dort auch die natürliche Schamhaftigkeit – die ich für einen diesem horror naturalis parallel laufenden Instinct halte – eine schwächere ist? Wahrhaft massenhaft scheinen im Orient, was nur hieraus zu erklären, virilisirte Urninge vorzukommen: bei Türken, Persern, Arabern, Indern, Chinesen und Japanesen. Doch kommen unter ihnen auch reine vor.
§ 37. Zu diesen virilisirten Mannlingen, und keinesweges zu den Uranodioningen, gehört auch die interessante Persönlichkeit Martials. An seinen Epigrammen haben wir für seine eigene wie für andrer Urninge Natur einen wahren naturwissenschaftlichen Schatz, den er uns, dessen ganz unbewußt, hinterlassen hat, der freilich bislang noch von niemandem gewürdigt worden ist. Natürlich! Bisher galt es ja, nach Roßhirts überaus naivem Geständniß, als »unbelohnend und schauderhaft«, die sog. »entarteten Triebe der menschlichen Natur«, d. i. den Uranismus, kennen zu lernen!
Weibern gegenüber finden wir bei ihm die lascivsten Ueppigkeiten, reine und zarte Liebe nie und nirgend; obwohl er allerdings in dem Maße virilisirt ist, daß ihm nicht jedes Weib einerlei ist (wie solches bei dem reinen Urning allerdings mehr oder minder der Fall sein würde), er vielmehr, dem Manne gleich, das junge und schöne dem häßlichen, und verwelkten bei weitem vorzieht. (Vgl. z. B. Epigramm 6. 23.)
Trotz all seines geschlechtlichen Umgangs mit Weibern sehen wir aber seine wirkliche Liebe immer und immer wieder zu Jünglingen hervorbrechen, und zwar in ihren beiden Richtungen, in der sinnlichen wie in der schwärmerisch-zarten Interessant ist es, wie er daneben die Weiblinge, denen er wie der Nord- dem Südpol gegenübersteht, mit seines Spottes heiß gepfefferter Lauge übergießt! Vgl. z. B. das zwar boshafte, aber noch sehr gelinde Epigramm an den Weibling Carmenion (10. 65.), der ihn eines Tages seinen Bruder genannt hatte. Es schließt mit den Worten: Quare desine, me vocare fratrem: Ne te, Carmenion , vocem sororem Anmerk. d. Herausgebers: Martial, Epigramm 10, 65. Seine Gedichte an dieselben zählen zu den entzückendsten Blüthen der Liebespoesie aller Zeiten. Ich wenigstens kann mir nichts süßeres denken, als z. B. folgende wenigen Worte (14. 206. 207) an den Cestos, einen Jüngling, an dem er an einer andren Stelle (8. 46.) neben seiner Schönheit auch seine Keuschheit preist:
Collo necte, puer, meros amores,
Ceston, de Veneris sinu ealentem;
Sume Cytherinco medicatum nectare ceston!
Cestos hieß nämlich zugleich auch ein Zaubergürtel der Liebes-Göttin, der Venus. Wer von einem andren mit diesem Gürtel umschlungen ward, mußte in Liebe erglühen zu dem umschlingenden. Venus ward nämlich auch von Urningen verehrt, als Göttin auch ihrer Liebe. Zu dem Jüngling Cestos spricht also Martial:
»Meinem Halse umschlinge, o Knabe, lautere Liebe, den Cestos,
den an der Liebesgöttin Busen erwärmten; nimm den mit
eytherischem Nektar zauberkräftig gemachten Cestos!«
§ 38. Ehe zwischen Urning und Weib. Zu diesen virilisirten Mannlingen gehört in unsrem Jahrhundert mancher unglückliche Urning, der, in der Vereinzelung lebend, zur Eingehung einer Ehe mit einem Weibe durch Zureden und durch die sog. »Verhältnisse« gedrängt ward, Solche Ehen gibt es in Deutschland zu Hunderten! ehe er sich seiner selbst noch bewußt geworden – Dank dem bei uns üblichen unglückseligen Verfahren, die Kenntniß von urnischer Liebe gleichsam in einen Sack zu stecken, ein Verfahren, das nur schiefe Vorstellungen von ihr aufkommen läßt und das schon so namenloses Unheil gestiftet hat! Diese eingesperrte Kenntniß von urnischer Liebe brachte schon ärgeres Unheil, als alles, was einst in der Büchse der Pandora eingeschlossen gehalten ward.
Wird der »Gatte« zeitlebens in seiner Unklarheit forterhalten, so kann diese »Ehe ehe« für das Weib zwar eine leidlich glückliche sein
Vgl. die beiden Briefe eines solchen »Gatten« an mich, die ich mitgetheilt habe. Formatrix Vorbericht S. VII. u. Ara spei Vorber. S. XXI., während
er von unerklärlichen Liebesqualen auf das Folterbrett gespannt wird, Qualen, die er, glaubt er an ein böses Wesen, unfehlbar dem Teufel zuschreibt. Wolle aber Gott die Gattin trösten, wenn dem verhängnißvollen »ehe« das Bewußtwerden nachfolgt, wenn nach der Hochzeit, früher oder später, ihm plötzlich ein Licht aufgeht über sich selbst. Die Erbarmungswürdigkeit einer solchen Ehe beschreibt keine Feder. Sabina, die Gattin des kaiserlichen Urnings Hadrian, ist nicht die einzige, die ihrem Leben und ihrem so entstandenen Jammer durch den Strick ein Ende machte
Auch Martial nimmt solche Ehe vielfach zum Stoff von Epigrammen, die uns den Blick eröffnen in einen wahren Abgrund. Er selber lebte in unglücklicher Ehe. Einst hatte er gesagt (12. 76):
Invitus puerum fatetur Hypnus,
Mollis Dindymus est, sed esse non vult,
Amphion potuit puella nasci.
Horum delicias superbiasque
Et fastus querulos, Avite, malo,
Quam
dotis mihi quinquies ducena!
Also: »lieber, als ein Weib mit 100,000 Thalern Mitgift!« Und dennoch hatte er schließlich Mitgift und Weib angenommen. Wie mancher Urning macht es heute ihm nach!
Anmerk. d. Herausgebers: Martial, Epigramm 12, 76 (75):
Polytimus gesellt sich gern den Mädchen,
Anmerk. d. Herausgebers: als ein Knabe bekennt sich Hypnus ungern,
gut gefüttert sind des Secundus Backen,
weich ist Dindymus, mag er’s auch nicht wollen,
Mädchen hätte Amphion werden können.
Deren heitere Spiele, deren Launen
und ihr schmollendes Sprödetun, Avitus,
sind mir lieber als die Millionenmitgift.
(Übersetzung R. Helm). In unsrem Jahrhundert ward ein solcher »Gatte«, der bekannte Herzog von Praslin in Paris, an seiner Gattin zum Mörder. So räche sich die Versündigung an der Natur!
Nur dann, wenn beide Theile über des Gatten Uranismus völlig im klaren sind und dennoch, zum Zweck der Nachkommenschafts-Erzeugung, die kalte Vernunftehe eingehen wollen, wäre die Knüpfung eines Bandes, dem kein Amor die Fackel schwingt, nothdürftig gerechtfertigt. Ara spei Note 44.
§ 39. Doch sind, wie gesagt, keineswegs
alle Mannlinge zur Virilisirung von Natur befähigt. Auch im Süden nicht. So schildert wiederum Martial den Angstschweiß, (XI. 79.) unter dem der ihm befreundete Mannling
Victor bei seiner bevorstehenden Vermählung mit einem Weibe werde virilisirt werden. »Heu quantos aestus, quantos patiere labores!«
Anmerk. d. Herausgebers: Martial, Epigramm 11, 78, 9:
O wie gerätst du in Glut und welch eine Müh wirst du haben ...
(Übersetzung R. Helm)
ruft er ihm
zu. (Daß Victor wirklich Mannling war, geht theils daraus hervor, daß er bisher pueri geliebt hatte, denen nunmehr »die neue Gattin die Locken abschneiden werde«, theils aus andrem, was der Leser selber nachlesen möge.)
Und, gleich als wäre Martial sich des oben erwähnten Unterschiedes ausdrücklich bewußt gewesen, nach welchem der Urning vor dem berührt-werden von einem Weibe nur erheblich geringeren Horror empfindet, als vor dem activen Berühren desselben, so empfiehlt er dem Victor – nämlich bitteren Ernstes –, sich zuvor einer puella Suburana als Lehrmeisterin anzuvertrauen und sich von dieser zum Manne machen zu lassen. »Illa virum faciat.« Die bejammernswerthe Braut! unter welchen Auspicien begann sie doch die Ehe!
Vgl. den gänzlich mißlungenen ganz gleichen Versuch aus der Neuzeit, den der Brief des Anonymus in Vindicta § 36 schildert.
Vgl. auch das Zeugniß eines anderen Anonymus, dessen Brief Casper in seinen clinischen Novellen mittheilt. In diesem Briefe heißt es von der urnischen Liebe:
»eine Neigung, gegen die alle Moral, alle Religion, Weiberumgang nichts hilft.«
§ 40. Dem virilisirten Urning steht als Gegenstück gegenüber der uranisirte Mann, der Uraniaster. Die Uranisirung geschieht namentlich aus Weibermangel und aus Gewöhnung, denkbarer Weise auch aus Selbstzwang ohne Weibermangel. (S. Inclusa, Formatrix und Ara spei.) So namentlich in Gefängnissen (ein solches Beispiel beschreibt Canler in seinen aus Polizeiacten geschöpften mémoires), in Casernen, Lagern und Festungswerken, namentlich in einsam gelegenen, u. s. w. Man schreibt mir aus Wien (Oct. 1867): »Beim österreich. Militär ist der Uranismus (Uranisirung) so eingerissen, daß den Cadeten und Gemeinen darüber bereits Strafpredigten gehalten wurden, und zwar öffentlich in den Casernen.« Besonders stark verbreitet ist Uranisirung unter den Soldaten der französischen Fremdenlegion in Africa in den verschanzten Lagern der Wüste. Hier zeigte sich etwas dem ganz entsprechendes, was ich oben bei Martial erwähnte: die uranisirten zogen, ganz dem gebornen Mannlings-Urning gleichend, zur Liebe die jungen Cameraden den älteren bei weitem vor. Um neu eintretende Recruten, wenn sie noch recht jung und schön, pflegte fast ein Kampf zu entstehn. So hat mir 1862 ein Augenzeuge, ein Deutscher, zuverlässig erzählt, der selber nicht nur Soldat der Legion, sondern auch Geliebter eines Unterofficiers gewesen ist.
Man sieht, wie jedoch auch nicht anders denkbar, daß der Uraniaster dem Mannling, nicht dem Weibling, einigermaßen gleicht. – Eine Phase der Uranisirung aus Weibermangel findet sich auch im Thierreich. Es wird genügen, gewisse Obscönitäten anzudeuten, denen auf offener Straße täglich gewehrt werden muß, und denen sich unsre treuesten Hausthiere hingeben. – In dem durch Weibermangel uranisirten nimmt, sobald dieser Mangel aufhört, sogleich auch die Uranisirung ein Ende. – In südlichen Zonen werden, wie die Virilisirungen, so auch die Uranisirungen leichter sein, als bei uns. Auch des Mannes Horror vor männlichen Berührungen wird dort schwächer, beziehungsweise gar nicht vorhanden sein. Bei den obengedachten Völkern wird es daher auch ohne allen Weibermangel Uraniaster geben.
Bemerkung. Der conjunctive Uranodioning, der disjunctive Uranodioning, der virilisirte Urning und der uranisirte Mann: sie alle 4 haben also nur mit dem Mannling Berührungspuncte, nicht auch mit dem Weibling.
§ 41. Weil nun aber die Natur verfährt, wie sie verfährt, d. i. weil sie nicht den Mann aus einem männlichen Embryo, aus einem weiblichen das Weib bildet, sondern alle Menschen aus ein und demselben Zwitterembryo: so tragen all die beschriebenen Varietäten und Mischnaturen, mit all ihren angeborenen Trieben und all ihrer Sehnsucht, auf ihrer Stirn den Stempel eines Rechts von Gottes Gnaden oder, gleichbedeutend, eines angebornen Menschenrechts; so weit sie nämlich ihre angborne Natur rein bewahrt haben: und darum ist, sie zu verfolgen, ein Frevel an den Werken der Natur. Nichts, gar nichts an ihnen ist in sich selbst sündhaft oder auch nur verächtlich.
§ 42. So wenig ein zartfühlender Mann Verfolgung verdient für die seinem Gemüth angeborne weibliche Sanftmuth oder ein Frauenzimmer für die ihrem Kinn entsprießenden Barthaare oder ein Zwitter dafür, daß er es ist; ja, so wenig der Mann Verfolgung verdient für das Stück des Säugungsapparates an seiner Brust oder für das Gebärmütterchen, das er von seiner Embryozeit her noch im Leibe trägt: ebensowenig verdient sie der Urning, wenn er, neben männlichem Körperbau und obgleich testiculatus, dennoch zwitterhaft begabt ist mit weiblichem Liebestrieb. Auch dies rührt vom Urzwitter her: und darum ist auch dies berechtigte Natur. Wahrhaft paradox aber ist es doch – ich weiß nicht, ob ihr dies nicht selber fühlen werdet! – wenn gerade ihr, ihr Männer, die Urninge verfolgt wegen ihrer Zwitternatur, die ihr selber alles mögliche Zwittermaterial an und in euch umhertragt. Zwitter verhängen Criminaluntersuchung über einen Zwitter wegen Zwitterthums! Seltsam! Der Untersuchungsrichter, die verhaftenden Gensdarmen, der öffentliche Ankläger, Präsident, Richter und Gcschworne: sie alle – selber Zwitter: und dennoch sprechen sie einen Zwitter schuldig und werfen ihn in den Kerker dafür, daß er bei männlichem Körper zwitterhaft weiblicher Liebessehnsucht folgte. Wäre es mir leicht, ein Spottepigramm zu schreiben, so wäre es mir wahrlich schwer, hier ein Spottepigramm nicht zu schreiben.
§ 43. Warum fühlt ein Urnings-Zwitter, obwohl, dem Manne gleich, testiculatus, dennoch, nach Art der Weiber, von jungen Männern sich angezogen? Der Münster'sche Zwitter war Jahre lang an einen Mann als Gattin verheirathet. Er, der Zwitter Marie Göttlich und der Berliner Zwitter (Inclusa § 5): warum liebten sie alle drei, obwohl testiculati, dennoch nur Männer? Weil sie sich gegen die Natur auflehnten? O Ammenmährchen! Nein, weil die Natur männlich und weiblich in ihnen genau so gemischt hatte, daß sie, obgleich testiculati, dennoch nur zu Männern sich hingezogen fühlen konnten! Und warum liebt der Urning Männer, obgleich testiculatus? Nun, genau aus demselben Grunde! Weil auch in ihm die Natur männlich und weiblich so gemischt hat, daß ihn, obgleich er testiculatus, dennoch, nach Art der Weiber, nur Männer anziehen können!
§ 44. Aus dem vorgetragenen folgt: Die Natur hat keinesweges ausschließlich Mann für Weib und Weib für Mann bestimmt. Dies wäre nur dann der Fall, wenn sie nur Männer und Weiber bildete, etwa aus männlichem und aus weiblichem Ur-Embryo. Sie hat vielmehr die einzelnen Menschen geschlechtlich so für einander bestimmt, wie sie dieselben nun einmal geschaffen hat, und wie, gemäß den von ihr vertheilten Gaben und den von ihr vertheilten Trieben der geschlechtlichen Liebe, einer auf den andren geschlechtliche Anziehung ausübt.
§ 45. Aber wird man es nicht rügen wollen, daß ich mit solcher Bestimmtheit diese meine so schneidend neue Theorie verkünde, die doch so vereinzelt dastehe? Wird man nicht Beweisgründe oder doch wenigstens Auctoritäten fordern?
Beweisgründe sind niedergelegt in den Schriftchen Inclusa und Formatrix. Aussprüche von Auctoritäten aber lasse ich hier folgen. Dem Leser lege ich die Frage vor: ob diese Aussprüche nicht sämmtlich einzeln an einer gewissen Unvollständigkeit leiden, dieser nach dieser, jener nach jener Richtung hin, und ob nicht er selber finden wird, daß sie theils untereinander, theils gerade in jener Theorie, ihre befriedigende Ergänzung und gleichsam ihren Schlüssel finden? Ich appellire von obigem Vorhalt an seine eigene Antwort auf diese Frage. Die sämmtlichen 5 Schriftchen aber, von Vindex bis Ara spei, sind verfaßt, ehe ich von diesen Aussprüchen die mindeste Kenntniß hatte Nur Schopenhauer ward mir während des Drucks von Heft II. bekannt; Casper (1852) und Virchow zwischen II. u. III..
I. v. Ramdohr, »Venus Urania; über die Natur der Liebe« (Theil II. S. 104):
»Die Verschiedenheit der Geschlechter hängt nicht von den Merkmalen ab, wonach wir dieselben im gemeinen Leben bestimmen. .... Die Geschlechtssympathie beruht auf dem Wohlverhältniß der Zartheit zur Stärke. Fühlen wir dies Wohlverhältniß, so erwacht Lüsternheit und Trieb. Und diese Wirkung kann der Mann auf den Mann ausüben. Hierüber habe ich unzählige Bemerkungen gemacht, in früheren und späteren Jahren, unter heißeren und kälteren Himmelsstrichen, in Ländern von verderbteren und von reineren Sitten. Ueberall die nämliche Erscheinung. Besonders aber stützt sich meine Ueberzeugung auf einen Vorfall, für dessen Wahrheit ich bürge mit der Ueberzeugung eigner Erfahrung. Zwei junge Männer u. s. w.«
II. Literaturblatt v. W. Menzel Anmerk. d. Herausgebers: Menzel: Ulrichs wurde auf den Artikel von W. Menzel wohl durch Hössli, dessen Eros er 1866 las, aufmerksam. v. 4. Juni 1834:
»Die rabbinische Seelenlehre ... erklärt die Widersprüche im Charakter der Geschlechter und die oft seltsamen Sympathieen aus der Seelenwanderung, dergestalt, daß weibliche Seelen in männlichen Körpern mit Weibern sich abstoßen als gleichnamige Pole, umgekehrt aber sich anziehn trotz des gleichen körperlichen Geschlechts.«
III. Auch schon bei Henke (gerichtl. Medicin; 1829; § 154; Note) finden wir Individuen ganz richtig aufgefaßt und bezeichnet, welche nichts andres sind, als eben Urninge. Bei der betreffenden Classificirung – sie finden sich nämlich unter die Zwitter classificirt – wird freilich alles bunt durcheinander geworfen. Er sagt:
»Meckel (im Archiv für etc. etc.) nimmt für Zwitterbildung 3 Grade an: Erster Grad. Individuen, deren Genitalien regelmäßig entwickelt sind, deren übriger Körperhabitus aber und deren Triebe damit« (also mit ihren Genitalien) » in Widerspruch stehen. Z B. Viragines« (mannähnliche Frauenzimmer) »mit schmalem Becken« (d. i. wie beim Manne), »plattem Busen, Barthaaren, und gegenüber männliche Subjecte mit hervorstechender Weiblichkeit.«
Und aus dieser wichtigen Natureigenthümlichkeit weiß Henke so gar keine Consequenz zu ziehen über das, was nun dieser sog. Classe von Zwittern selbstverständlich naturgemäß sein müsse. Hundert Seiten später betreffen wir ihn nämlich noch ganz festgefahren in der alten bequemen und tiefgefahrnen Wagenspur, von der aus man nur Naturwidrigkeit und Entartung kennt und mit den ererbten Schmähungen übergießt. Jene Naturwahrheit zuvor selber angeführt zu haben, ist ihm ganz entschlüpft. Daß das angebliche »naturwidrig« eine befriedigende, volle und ganze Lösung des Räthsels finde gerade in jener von ihm angeführten Naturerscheinung, und daß es durch sie sich einfach auflöse in » naturgemäß«, davon beschleicht ihn nicht einmal eine Ahnung.
IV. Arthur Schopenhauer (»Die Welt als Wille und Vorstellung«; 3. Aufl. 1859; Bd. II. S. 643):
»Die gänzliche Allgemeinheit und beharrliche Unausrottbarkeit der Sache beweist, daß sie »(die mannmännliche Liebe)« irgendwie aus der menschlichen Natur selbst hervorgeht. Dieser Folgerung können wir uns schlechterdings nicht entziehen, wenn wir redlich verfahren wollen. Ueber diesen Thatbestand hinwegzugehen und es beim Schelten bewenden zu lassen, wäre freilich leicht. Mein angeborner Beruf ist jedoch, überall der Wahrheit nachzuforschen und den Dingen auf den Grund zu kommen.« (Seine specielle Hypothese u. meine Bemerkungen dazu: Incl. § 76. fgde.)
V. Canler (in seinen mémoires, oben § 40 erwähnt) erklärt sich überzeugt: jenen Männern gegenüber, von denen er ein Beispiel anführt (Uranisirung im Gefängniß), sei in andren Individuen diese Neigung inne.
VI. Casper, die bekannte gerichtsärztliche Auctorität, (in Casper's Vierteljahrsschrift, Band I.; 1852, S. 62):
»Die geschlechtliche Hinneigung von Mann zu Mann ist bei vielen dieser Unglücklichen angeboren.«
VII. Mit einem Mediciner in Darmstadt, der nicht genannt zu sein wünscht, hat im Oct. 1867 ein Freund von mir auf meine Veranlassung über meine Theorie, wie sie in den 5 Heften niedergelegt ist, eine Unterredung gepflogen. Auf dessen Worte:
»Sie erklären sich also als Arzt für das Angeborensein des Uranismus?« hat jener erwiedert:
»Gewiß! dies Angeborensein ist eine Thatsache, die sich gar nicht bestreiten läßt.«
VIII. Louis Büchner, der bekannte Physiolog (»Physiologische Bilder«), hat sich über diese Theorie geäußert:
»Sie bedarf reiflicher Prüfung und vielfacher Aenderung, ist jedoch nicht geradezu verwerflich.«
IX. Dr. med. Langheinz in Darmstadt hat sich mit derselben geradezu einverstanden erklärt.
X. Virchow zu Berlin, Professor der Medicin, schrieb mir nach Lesung von Inclusa (19. Aug. 1864):
»Gegen Ihre Auseinandersetzungen von dem weiblichen Gemüth in einem männlichen Körper habe ich nichts einzuwenden. Dem Manne Ihrer Wahl, Ihrem Geliebten, fühlen Sie sich als Weib gegenüber. Im Gegentheil, das ist ein überaus wichtiger Gegenstand, und Ihre Ausführungen haben ihn in der That nicht ohne Erfolg dargelegt.«
XI. Das allergewichtigste Zeugniß für das Angeborensein ist aber dasjenige, welches Camper in seiner letzten Schrift, kurz vor seinem Tode, niedergelegt hat. »Clinische Novellen zur gerichtlichen Medicin«; 1863, S. 34:
»Nach allen Erfahrungen kann es als feststehend betrachtet werden, daß der« ... (männerliebende Mann) ...« in vielen, vielleicht in den meisten Fällen durch einen wunderbaren, dunklen und unerklärlichen eingebornen Drang sich ausschließlich zu Männern hingezogen fühlt und mit demselben Ekel sich von Weibern Siehe oben abwendet, wie der nicht so unglücklich geborne Mann von Männern Siehe unten. Daß dem so ist, weiß jeder wirkliche Fachkenner und finde ich in meinen amtlichen Beobachtungen fortwährend bestätigt. ..... Auch für die Tribadie Weiblicher Uranismus; s. oben § 8. gilt ganz dasselbe. .... Viele fühlen sich zu dem Gegenstande ihrer Sehnsucht hingezogen mit einer Gluth, heißer, als die in den verschiedenen Geschlechtern« Richtig ist nur: ebenso heiß.
Wie sehr nahe steht hier Casper doch meiner Theorie! Und in wie hohem Grade gewährt namentlich der Umstand ihr eine Stütze, daß er zu dieser seiner Ueberzeugung gelangte, ohne für diese Erscheinung den Faden gefunden zu haben, ohne den sie ihm daher nun als ein Labyrinth erscheint: ich meine das weibliche Geschlecht der Seele, die Weiblichkeit des Liebestriebes.
Nachdem meine Theorie aber, neben ihren inneren Gründen, auch von außen her durch solche Auctoritäten gestützt ist, glaube ich sie in der That, ihrem Kern und Wesen nach, für nicht mehr erschütterlich halten zu dürfen.
§ 46. Wie unendlich schwer es hält, sich zu emancipiren von einer mit der Muttermilch eingesogenen Verfolgungssucht, beweist der erwähnte Professor Virchow: indem er, obgleich den Uranismus als angeboren anerkennend, dennoch für das beste Mittel ihm zu begegnen Criminalstrafen erklärt! In trübem Gegensatz zu dem gerechter denkenden Casper, welcher in dem Angeborensein doch wenigstens einen Entschuldigungsgrund erblickt und gegen eine gänzliche Abschaffung der Bestrafung gar nichts einzuwenden hat. Clin. Nov. S. 33. Anmerk. d. Herausgebers: Anm. 33: Hirschfeld ergänzt in der Neuausgabe von 1898 (S. 64): »Auch Virchow verwarf später die Bestrafung.«
In jenem Briefe »Berlin, 19. Aug. 1864« sagt er nämlich ferner: »Ahnen Sie nicht, daß Sie die Würde des Mannes angreifen, wenn Sie ihn zu einem Geschäft gebrauchen, für welches er seiner Natur nach nicht bestimmt ist?«
§ 47. In einer Rechtsausführung an das Obertribunal zu Berlin vom April 1863 sagt in ganz ähnlicher Weise die königl. preuß. Generalstaatsanwaltschaft: zu den Gründen, aus denen in Preußen urnischer Liebesgenuß bestraft werde, gehöre auch die » Herabwürdigung des Menschen«, welche darin liege, daß der Urning (sie sagt freilich »daß ein Mann«) zur Befriedigung der Geschlechtsliebe sich eines Mannes bedient.
§ 48. Zunächst handelt es sich überall nicht um Angriffe auf einen jungen Mann, sondern lediglich um freies Gewähren der Liebesgunst, um das χαριξεσδαι, wie die Griechen sagen, das dare bei den Römern, und zwar von Seite eines erwachsenen jungen Mannes. Einen männlichen Körper seinerseits und mit eigner Initiative geschlechtlich zu berühren, davor fühlt nämlich jeder Mann einen, in diesem zwar stärkeren, in jenem schwächeren und überwindbaren, stets aber entschiednen Horror. Von einem männlichen Körper dagegen geschlechtlich berührt zu werden, von demselben sich berühren, sich liebkosen zu lassen: davor ist in ihm der Horror theils erheblich geringer, und darum leicht überwindbar, theils gar nicht vorhanden. Hieraus ist die freiwillige Liebesgewährung erklärlich. – Es entspricht dies ganz den obenerwähnten beiden Modalitäten des Horrors des Urnings vor activer und passiver Berührung mit weiblichem Körper. (Oben § 35.) Darum können wir aus Virchow's Worten uns nur mit der Idee befassen: daß die Gewährung von Liebesgunst von Seite eines jungen Mannes an einen Urning seiner Manneswürde widerstreite.
Doch welche Logik! Nach virchow'scher Gesetzgebungstheorie soll der Urning strafbar dafür sein, daß der junge Mann, der ihm freiwillig Gunst gewährte, andre Begriffe hatte von Manneswürde, als der Professor Virchow!
§ 49. Doch unterziehen wir unsrerseits die angebliche Herabwürdigung des Menschen und Verletzung der Manneswürde einer Prüfung. Wir müssen es aber durchaus bestreiten, irgend etwas von beidem liege darin, daß der Urning urnisch liebt und urnisch begehrt und um Liebe wirbt, und daß der junge Mann – wahrhaft geliebt zu werden überzeugt – ihm freie Liebe gewährt Wir reden hier nur von dem Falle, wenn der gewährende Geliebte nicht etwa seinerseits selber Urning ist, – denn dann steht die Sache einfach genug –, sondern wenn er eigentlicher Mann ist..
Denn es giebt eine unsichtbare Kraft, die den jungen Mann befähigte, dem Urning zuvörderst wahre Liebe einzuflößen, ihn zu erfüllen mit der ganzen Gluth dieser starken Leidenschaft, und sodann diese Sehnsucht durch χαριξεσδαι auch zu stillen: und diese wunderbare Kraft ist ja wiederum keine andre, als die Natur. Eben dadurch aber, daß sie ihm diese Befähigung gab, giebt sie auf's neue zu erkennen:
daß sie keinesweges ausschließlich Mann für Weib und Weib für Mann geschaffen hat, sondern daß sie, ganz allgemein, die einzelnen Menschen, welche ja sämmtlich dem Urzwitter entstammen, so für einander geschaffen hat, wie sie, der eine auf den andren, naturgemäß geschlechtliche Anziehung ausüben. (S. oben § 44). Dies nenne ich die allgemeine geschlechtliche Naturbestimmung des Menschen: im Gegensatz zu der besondren. (Letztere besteht nämlich allerdings darin, daß Mann für Weib und Weib für Mann speciell bestimmt sind).
Scheidewände aufzurichten und diese oder jene Varietät gleichsam in abgesonderte Zellen eines pennsylvanischen Zellensystems einzusperren, ist naturwidrig.
Wenn aber der junge Mann dieser seiner allgemeinen geschlechtlichen Naturbestimmung folgt, so handelt er – eben weil es eine Naturbestimmung ist, der er folgt – nicht gegen seine Menschenwürde.
Ich gebe zu, daß er im urnischen Liebesbündniß dem liebenden Urning gegenüber nie als » Mann« dastehn kann. Dies kann er freilich nur gegenüber einem Weibe. Allein er steht ihm gegenüber ganz allgemein als Mensch, als Mensch, der geliebt wird: und es muß genügen, daß er eben seine Menschenwürde nicht verletzt.
§ 50. Ist nun aber die Naturbestimmung constatirt, so muß – ich lege Gewicht auf diesen Satz – die Modalität zu untergeordneter Bedeutung herabsinken, zu der einer bloßen Dienerin der Natur. Die Modalität muß eben gefunden werden. Hier findet aber seine Anwendung das didaktische Wort:
»Utaris totidem, finxit Natura quot artus,
Ad quod sint habiles. Amat auxiliaria saepe
Munera. Namque etiam variis accommodat illos
Partibus aut operi vario, quorum indiget ipsa.
Saepe in opem vocat ipsa sibi famularia membra,
Membra novos usus mirantia. Namque docentur
Et discunt supplere locos, parentque Magistrae
Magnae, quae docet atque jubet.«
Anmerk. d. Herausgebers: das didactische Wort: Ulrichs eigene Verse; Vorbilder ließen sich nicht nachweisen.
»So viel Gliedmaßen die Natur gebildet hat, so vieler bediene du dich, wozu sie tauglich sind. Oft liebt sie hülfleistende Verrichtungen. Denn sie macht die Gliedmaßen auch fähig zu verschiedner Funktion und zu verschiednem Geschäft Sie befähigt die verschiednen Körpertheile zu einem subsidiären Vicariiren des einen zu den Zwecken eines untauglichen oder fehlenden andren. Vicariiren der Körpertheile auch zu geschlechtlichen Zwecken. Auf geschlechtl. Gebiet befördert sie dies Vicariiren durch das in ihr tiefbegründete Vicariiren der geschlechtlichen Sinne: Formatrix § 11, Note 10, § 21., dessen sie bedarf. Oft ruft sie dienstleistende Gliedmassen sich zu Hülfe, welche (gleichsam) staunen über den neuen Gebrauch. Denn sie werden belehrt und lernen, Stellen auszufüllen (b. i. von Gliedmassen, welche nicht vorhanden sind, deren die Natur gleichwohl bedarf); und sie gehorchen der großen Lehrmeisterin, welche belehrt und befiehlt.«
§ 51. Oder ist's etwa den seltsamen tropischen Schlingpflanzen eine Naturwidrigkeit, daß sie sich ihrer Wurzeln zu einem ganz anderen Zwecke bedienen, als wozu die Wurzel an sich von der Natur geschaffen ist? nämlich dazu, in gänzlicher Nacktheit von außen her sich um Baumstämme zu schlingen und an denselben sich wie mit Fingern oder Krallen festzuhalten, ja, in gewissem Grade an der Baumrinde sogar wie mit Füßen hinaufzuklettern! Oder ist's dem Vogel Pinguin ein Verbrechen, daß er sich seiner wenig ausgebildeten, aber befiederten, Flügel ebenfalls zu einem gar fremden Zwecke bedient: nicht, wie andere Vogel, zum Fliegen, sondern, wie seiner Flossen der Fisch, zum Rudern beim Schwimmen? Ist das vielleicht gegen die Pinguins-Würde?
§ 52. Die Gliedmassen dürfen zu subsidiairen Zwecken aushülfsweise benutzt werden, sobald die Natur dessen bedarf. Dieser Satz findet seine Rechtfertigung in sich selbst. Die angeführten Beispiele aus der Naturgeschichte, denen sich noch Hunderte an die Seite stellen lassen, bestätigen ihn. Sonst müßte es auch dem ohne Hände und Arme gebornen Menschen eine verwerfliche Naturwidrigkeit sein, mit den Füßen zu schreiben, zu zeichnen und mit ihnen Messer, Gabel, Nadel, Faden und Scheere zu handhaben.
Dürfen sie es aber überhaupt, so muß es ohne Unterschied sein: a) ob der Zweck ein geschlechtlicher oder ein nichtgeschlechtlicher ist, und ferner b) ob die Modalität dieser Aushülfe durch reinen Instinct, wie beim Pinguin etc., gefunden werde, oder, wie beim vernunftbegabten Menschen, durch ein Gemisch von Instinkt und Erfindung.
Gerade weil die Natur durch Instincte etc. das Vorbild und die Lehre der Aushülfe selber darbietet, so muß auch dem mit Bewußtsein handelnden Menschen, dieser Belehrung einer höheren Lehrmeisterin zu folgen, nicht nur erlaubt sein, sondern dasselbe kann ihm auch weder naturwidrig, noch auch seiner Menschenwürde zuwider sein.
Auch der geliebte Theil seinerseits handelt nicht naturwidrig durch das Gewähren, weil er dabei doch wenigstens seiner allgemeinen Naturbestimmung (oben § 49) folgt, ohne die besondere (oben § 49) irgend zu verletzen, und zugleich dieser von der Natur selber gegebenen Lehre gemäß handelt und ihr dient.
§ 53. Dem vernunftbegabten Menschen ist ja noch weit mehr erlaubt, als selbstbewußte bloße Benutzung von Gliedmaßen zu subsidiairen Zwecken, nämlich selbst directe Naturwidrigkeiten, Gliedmassen-Verletzungen und Verstümmelungen, und zwar:
§ 54. Obgleich daher die hauptsächlich in Frage befangene Modalität der sog. griechischen Liebe, des Eindringens, Ueber die Verbreitung dieser Modalität herrscht jedoch ein arger Irrthum. In Deutschland wenigstens kommt dieselbe nur in den weitaus wenigsten Fällen vor (vgl. Formatrix § 12): nur bei besonders heftiger individueller Naturanlage oder besondrem temporairen Naturdrange. Dies wird von Casper schon 1852 in seiner Vierteljahrsschrift, auf Grund ausgedehnter Erfahrung, zugegeben (Bd. I. S. 76) und 1863 in seinen »klinischen Novellen« (S. 34. 35) auf das allerbestimmteste bestätigt. Die übrigen Modalitäten bestehen lediglich in Umarmungen Brust an Brust mit äußerlichen Berührungen, ohne Eindringen. Den meisten gewähren diese vollkommenes Genüge. in mir persönlich Mißfallen erregt, so werde ich doch durch die aufgeführten Gründe gezwungen, sie für nicht naturwidrig, sie vor dem Sittengesetz für allerdings gerechtfertigt, gegen Natur, Sittengesetz und Menschenwürde nicht verstoßend, dann zu erklären, wenn die Natur ihrer, und gerade ihrer, bedarf.
Ob dieses Bedürfen im einzelnen Falle vorliege oder nicht? wird aber ein Nichturning kaum je selbstständig und urnischer Ansicht entgegen zu entscheiden im Stande sein.
Obgleich die Urninge ebensogut rechte Kinder der Natur sind, wie Mann und Weib, so hat die Mutter für deren Liebe dennoch nur stiefmütterlich gesorgt. Den Urning und seinen Geliebten hat sie gegenseitig körperlich gar mangelhaft ausgestattet. Dies ist einmal geschehn; und mit Verbesserungsvorschlägen würden wir im Rathe der Schöpfung ebenso zu spät kommen, wie ihr mit der Idee eines rein männlichen Mannes (oben Note 17). Wer kann es ändern?
§ 55. Eine urnische Liebe, welche sich beschränkt auf den geschilderten albanesischen Augengenuß und den gegischen Kuß (oben § 32), kann dort nicht gefordert werden, wo der Liebestrieb, der doch ebenfalls in der Natur wurzelt, gegen die ihm angesonnene gänzliche Unterdrückung sich mit Heftigkeit empört, dort, wo die Natur pochend ihren Tribut verlangt. Dort liegt sie vollkommen außerhalb des Planes des Schöpfers. Ich möchte sagen: Dort hatte nicht einmal Gott selbst das Recht, die Unterdrückung zu fordern. Sie wäre directe Naturwidrigkeit, Kampf wider die Natur, geistige Castration. Der Trieb ist ein nothwendiger Bestandtheil jeder geschlechtlichen Liebe. Auch der Gege fühlt ihn; und er gewahrt ihm auch Befriedigung. Er heirathet ein Weib. Kein Horror scheucht ihn davon zurück. Dem reinen Urning aber, den dieser Horror beherrscht, ist, ein Weib zu heirathen, gleich sehr Naturwidrigkeit, wie eine gewaltsame Triebes-Unterdrückung es sein würde. Zu heirathen werdet, nach dem obigen (§ 38), doch ihr selber uns nicht mehr als Auskunfts- (oder gar »Heilmittel«!) Vorschlägen wollen! Unsere Natur aber in die eurige umzuwandeln, ist absolute Unmöglichkeit. Sie ist unwandelbar, wie sie unausrottbar ist.
§ 56. So gut ihr demnach in eurer Liebe jenen Kampf wider die Natur mit Recht verwerft, so gut es in der eurigen sittlich gerechtfertigt ist, auch dem Triebe anstatt absoluter Unterdrückung vielmehr ein Genüge zu gewähren (innerhalb der Gränzen sittlicher Zügelung):
ebenso ist ein solches Genügegewähren auch in der urnischen Liebe sittlich gerechtfertigt. Zu Sünde, Laster und Verbrechen wird urnische Liebe nur unter denselben Voraussetzungen, unter welchen auch die eurige dazu wird. Sie ist ihrer ganzen Natur nach gleich rein und sittlich gerechtfertigt, wie die eurige.
§ 57. Den Winken der geschlechtlichen Natur zu folgen, ist euch selbst, unbestritten und unbestreitbar, angebornes Menschenrecht und Naturzweck. Was aber euch selber Menschenrecht ist:
uns wollt ihr es »im Namen der Sittlichkeit« lebenslänglich zu Sünde und Laster stempeln? Aber das ist ein Messen mit
zweierlei Maß! Diese Lehre ist ein
Pseudosittengesetz,
der Spruch der Ungerechtigkeit und Anmaßung
Im Namen der »Sittlichkeit«?
»O der Reinheit, die mit zwei Gewichten
Mild sich selber, grausam andren wiegt;
O der Tugend, die mit kaltem Hochmuth
Menschen um ihr Erdenglück betrügt!«. Jenes Folgen ist auch uns angebornes Menschenrecht und wirklicher wahrer
Naturzweck: wennschon eurer Liebe gegenüber, welche der Fortpflanzung dient, ein modificirter (s. Inclusa § 100).
Die sittliche Rechtfertigung des Genügegewährens in der urnischen Liebe ist, kurz gesagt, diese:
Die Natur fordert das Genügegewähren auch in der urnischen Liebe: also ist es sittlich gerechtfertigt.
§ 58. Begegnung etwaiger Einwände.
a) Für dieses Genügegewähren, für dieses Folgen, findet ein jeder unter euch eine sanctionirende äußere
Form vor, die
Ehe. Daß für unsre Liebe eine sanctionirende Form noch nicht gefunden ist:
haben wir es verschuldet? Unser eignes Herz wahrlich vermißt sie schmerzlich genug! Den Rechten unserer Natur aber kann diese Lücke keinen Abbruch thun
In
Rom hatte schon seit dem Beginn der Kaiserzeit das urnische Liebesverhältniß ganz überwiegend, wie auch in Griechenland, auf Seite des Geliebten die bestimmte Form des Amtes eines
Mundschenken für den Liebenden, eines Ehrenamtes, angenommen, seltner, nur ausnahmsweise, und nur in Rom, die wahre Form einer
Ehe; obgleich auch von dieser eine Reihe von Beispielen vorkommen. (S. Ara spei § 43 fgde. Hinzuzufügen sind noch 2 Beispiele aus Juvenal.) Auch bei den
Persern, z. B. bei Hafis, wird der Geliebte zwar meist »Schenk« genannt. Es ist aber wohl kaum ein häusliches Zusammenleben dabei verstanden. Dies tritt dagegen wieder hervor bei den heutigen
Türken, obgleich diese phlegmatische Nation dem Geliebten – characteristisch – das prosaischere Amt eines
Pfeifenstopfers giebt.) Unter der Form des Mundschenkenamtes war das Liebesverhältniß vor der Welt bekannt, z. B. vor Tafelgästen, stillschweigend anerkannt und legitimirt. So sagt z. B. Martial (XI, 56):
Dormiat et tecum, modo qui, dum Caecuba miscet,
Convivas roseo torserat ore puer.
Unter dieser äußeren Form war das Verhältniß fast gleichsam
Ehe zur linken Hand. Uns steht leider nicht einmal diese offen.
Anmerk. d. Herausgebers: Martial, Epigramm 11, 56, 11 f.:
... schlafe bei dir auch der Knabe, der eben mit rosigem Antlitz,
Caecuber mischend, den Kopf all deinen Gästen verdreht.
(Übersetzung R. Helm)
Uns steht leider nicht einmal diese offen: Diesen Satz hat Hirschfeld in der Neuausgabe von 1898 weggelassen. Die Ehe für Urninge war für Hirschfeld kein Thema.
b) Urnische Liebe dient allerdings nicht der Fortpflanzung. Allein dafür ist die Natur verantwortlich, nicht der Urning. Nicht er hat sich diese Liebe gewählt: gegeben ist sie ihm, einem willenlosen. Und ferner: Liebe ist auch Selbstzweck, auch selbsteigner Naturzweck (s. vorstehend § 57).
c) Das Christenthum verbietet im Römerbriefe, den man uns so gern vorhält, nur das Verlassen der Natur. Wir haben die Natur nicht verlassen. (Ara spei § 28–40.)
Nach alle dem handelt, wer angeborne urnische Liebe verfolgt, meines Bedünkens gerade so sinnreich, wie jener kluge Mann handelte, welcher eine Henne »wegen Naturwidrigkeit« dafür bestrafte, daß sie Eier legte, während er ihr nur gestatten zu dürfen glaubte, lebendige Junge zu gebären!