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Männer, welche in Folge angeborner Natur durch den Zug geschlechtlicher Liebe ausschließlich zu Personen männlichen Geschlechts sich hingezogen fühlen, nennt diese Schrift, nach dem Vorgange der früheren, Urninge. Es sind uneigentliche Männer, da ihr Liebestrieb der der Weiber ist. Ueber diese räthselhafte Naturerscheinung gewähren Aufklärung die fünf kleinen naturwissenschaftlichen Schriften von Numa Numantius, 1864 und 1865 bei H. Matthes zu Leipzig erschienen, über die dieserhalb verbreiteten Irrthümer insonderheit die vierte dieser Schriften im Abschnitt IV. Erwachsene Urninge leben:
Anmerk. d. Herausgebers: Erwachsene Urninge leben ... durchschnittlich 50: fehlt in der Neuausgabe von 1898.
in Deutschland (Gesammtdeutschland) | etwa 25000 |
in Oesterreich-Ungarn | etwa 25000–30000 |
in Preußen | etwa 10000–12000 |
in Berlin | etwa 500–1000 |
In Deutschland lebt unter etwa 2000 Seelen der Bevölkerung überhaupt oder unter 500 erwachsenen Männern durchschnittlich 1 erwachsener Urning.
Anmerk. d. Herausgebers: Die Vorbemerkung fehlt in der Neuausgabe von 1898. Ulrichs’ Schätzung, daß »unter 500 erwachsenen Männern durchschnittlich 1 erwachsener Urning« lebe, schien seinen Zeitgenossen übertrieben hoch, Hirschfeld hielt die Schätzung für zu niedrig. Ulrichs selbst hat seine Schätzung später revidiert.
vor dem Forum
des
deutschen Juristentags
Bis an meinen Tod werde ich es mir zum Ruhme anrechnen, daß ich am 29. August 1867 zu München in mir den Muth fand, Aug' in Auge entgegenzutreten einer tausendjährigen, vieltausendköpfigen, wuthblickenden Hydra, welche mich und meine Naturgenossen wahrlich nur zu lange schon mit Gift und Geifer bespritzt hat, viele zum Selbstmord trieb, ihr Lebensglück allen vergiftete. Ja, ich bin stolz, daß ich die Kraft fand, der Hydra der öffentlichen Verachtung einen ersten Lanzenstoß in die Weichen zu versetzen.
Was mich noch im letzten Augenblick stärkte, die Rednerbühne des deutschen Juristentages wirklich zu betreten, das war das Bewußtsein, daß in diesem Augenblick aus weiten Fernen meine Naturgenossen auf mich blickten. Ihr Vertrauen auf mich, sollte ich's denn erwiedern mit Feigheit? Das war ferner der Gedanke an einen Selbstmord, den frischesten, den fast noch rauchenden, den das herrschende System verschuldet hat, an den zu Bremen von Sept. 1866. Das war ein Brief, den ich noch auf dem Wege zu unsrer Sitzung empfangen hatte, welcher mir mittheilte, ein Genosse habe über mich geäußert: »Numa fürchtet sich vor der That!«
Und trotz alle dem wollten schwache Secunden mich beschleichen und eine üble Stimme raunte mir in's Ohr:
»Noch ist's Zeit, Numa! zu schweigen. Auf das bereits erbetene Wort brauchst du nur ganz kurz zu verzichten. Dann hat all' dein Herzklopfen ein Ende!«
Dann aber war mir's, als ob eine andere Stimme ihr Flüstern begänne. Das war die Mahnung, mit der vor 30 Jahren mein Vorgänger im Kampfe, Heinrich Hösli in Glarus, sich selber gemahnt hatte, nicht zu schweigen, » Eros; über die Männerliebe.« Von Heinrich Hösli. 2 Bände: Glarus 1836; St. Gallen 1838 bei E. P. Scheitlin. (Bd. 11. S, XXX. XXXI. Bd. I. Widmung.) und welche in diesem Augenblick, anklingend und laut wiedertönend, mit all' ihrer Kraft mir vor die Seele trat:
»Zwei Wege habe ich vor mir: dies Buch schreiben und der Verfolgung mich aussetzen, oder: es nicht schreiben, dann aber mit dieser Schuld beladen hinabsteigen in das Grab. Ja, ja! ich bin schon in böser Versuchung gestanden, diese Schrift aufzugeben. Dann aber stunden wieder vor mir Plato und die griechischen Sänger und Helden, die der Natur des Eros angehörten, und die in ihr geworden sind, was sie der Menschheit werden konnten. Und daneben sah ich vor mir, was wir aus solchen Menschen gemacht haben. Vor meinen Augen erschienen die Gestalten der verfolgten und die schon verfluchten, die noch nicht geboren sind, und die unseligen Mütter an den Wiegen der schuldlos verdammten! Dann sähe ich unsre Richter mit ihren verbundnen Augen. Zuletzt sähe ich den Todtengräber den Deckel des Sarges mir über mein erkaltetes Gesicht schieben. Da faßte mich der Drang, ehe ich ihm verfallen bin, einzutreten für die unterdrückte Wahrheit, faßte mich siegend mit seiner ganzen Gewalt. Und ich schrieb weiter, meine Augen vorsätzlich abwendend von denen, die dafür an meinem Verderben arbeiten. Eine Wahl zwischen reden und schweigen habe ich nicht. Ich sage zu mir:
»Rede oder sei gerichtet!«
Ich aber wollte Hösli's würdig sein. Auch ich wollte nicht unter die Hand des Todtengräbers kommen, ohne zuvor freimüthig Zeugniß abgelegt zu haben für das unterdrückte Recht angeborner Natur, ohne zuvor, wenn auch mit minderem Ruhm, als einst ein größerer Name, der Freiheit eine Gasse gebrochen zu haben.
Das waren die Gedanken, mit denen ich am 29. August 1867 zu München, im großen Saal des Odeons, vor mehr als 500 deutschen Juristen, darunter deutsche Abgeordnete und ein bayrischer Prinz, mit hoch klopfendem Busen die Stufen der Rednerbühne hinanstieg.
Ich verlas jetzt mit Nachdruck folgende Urkunde:
» Meine Herren!
»Von zwei Mitgliedern des Juristentags, dem Professor der Jurisprudenz Dr. Tewes zu Graz und mir, ist bereits vor zwei Jahren ein Antrag ordnungsmäßig gestellt worden; und ich mochte mich darüber beklagen unter Rechtsverwahrung, daß er von unsrer Deputation unterdrückt, nämlich als »zu einer Berathung seitens des Juristentages nicht füglich geeignet« von der Tagesordnung ausgeschlossen worden ist. Diese meine Rechtsverwahrung begründe ich materiell und formell.
» I. Materiell.
»Gerichtet ist dieser Antrag auf eine Revision des bestehenden materiellen Strafrechts, insonderheit auf die endliche Aufhebung einer speciellen, aus älteren Jahrhunderten auf uns gekommenen, ungerechten Strafbestimmung, auf die Abschaffung der in dieser Strafbestimmung liegenden Verfolgung einer schuldlosen Menschenclasse.
»Es handelt sich dabei zugleich auch um Herstellung der in diesem Puncte nicht vorhandnen Rechtseinheit Deutschlands, indem Bayern und Oesterreich, welche beide jene Verfolgung gegenwärtig verwerfen, dem übrigen Deutschland mit diametral entgegengesetzter Gesetzgebung gegenüberstehn.
»Endlich handelt es sich dabei, in zweiter Linie, auch noch darum, eine bisher reichlich geflossene Quelle von Selbstmorden zu verschließen, und zwar von Selbstmorden der erschrecklichsten Art. Siehe unten; Anhang V.
»Ich glaube, dies sind doch sehr würdige, ernste und wichtige Gesetzgebungsfragen, mit denen sich zu beschäftigen der deutsche Juristentag recht eigentlich berufen wäre.
»Es handelt sich, meine Herren, um eine auch in Deutschland nach tausenden zählende Menschenclasse, um eine Menschenclasse, welcher viele der größten und edelsten Geister unsrer so wie fremder Nationen angehört haben«, (Zeichen des Staunens und des Spottes; einzelne Rufe: »Schluß!«)
»welche Menschenclasse aus keinem andren Grunde einer strafrechtlichen Verfolgung, einer unverdienten, ausgesetzt ist«, (stürmische Rufe: » Schluß! Schluß!« Der Präsident, Geheimer Rath von Wächter, Leipzig, will über den laut verlangten Schluß abstimmen lassen. Ich: »Unter diesen Umständen verzichte ich auf's Wort und lege meine Rechtsverwahrung auf dem Tisch des Hauses nieder.« Von andrer Seite des Saales nun eben so laute Rufe: »Nein, nein! fortfahren! fortfahren!« Ich, demnach noch einmal fortfahrend, die folgenden Worte aber mit erhöhtem Nachdruck aussprechend:) »welche Menschenclasse aus keinem andren Grunde einer strafrechtlichen Verfolgung, einer unverdienten, ausgesetzt ist, als weil die räthselhaft waltende schaffende Natur ihr eine Geschlechtsnatur eingepflanzt hat, welche der allgemeinen gewöhnlichen entgegengesetzt ist«, (tobender Lärm und heftige Unterbrechung. Ungemeine Aufregung in der Versammlung auf der Seite der bisherigen Schlußrufe. Präsident: »Ich ersuche den Herrn Redner, das weitere lateinisch vorzutragen!« Jetzt legte ich die Scriptur auf dem Tisch des Präsidiums nieder und verließ die Rednerbühne. Im Fortgange lautet die Scriptur wie folgt:)
»– ein Naturräthsel, welches neuerdings namentlich« eine Schrift von Numa Numantius wissenschaftlich aufzuklären gesucht hat, – und weil man, befangen zwar in einem entschuldbaren Irrthum, jedoch nur dem oberflächlichen Schein folgend, diese wirkliche, wahre, wenn auch räthselhafte, Natur für Nichtnatur hielt, für ein Auflehnen gegen die Natur, Daß diese Geschlechtsrichtung wirklich Natur sei, ist allerdings erst zu beweisen, und zwar auf naturwissenschaftlichem Wege. Allein es ist bereits bewiesen. Auf eben diesem Wege ist es bewiesen. Man überzeuge sich durch Hösli's und Numantius' Schriften. und man nun nichts besseres zu thun wußte, als gegen das Naturräthsel das Schwert der Gerechtigkeit zu ziehn, und, argen Mißbrauch treibend, mit diesem Schwert den gordischen Knoten zu zerhauen:
»ein Mißbrauch, wie er sich ähnlich auch noch einer andren falsch verstandnen räthselhaften Erscheinung gegenüber wiederholt findet in den Hexen-Verfolgungen früherer Jahrhunderte.
»Den hier fraglichen Mißbrauch hat Bayern bereits durch sein bestehendes Strafgesetzbuch pure abgeschafft, wie schon früher der code Napoléon, während Oesterreich eben jetzt im Strafgesetzentwurf, der dem Reichsrath vorliegt, die gleiche Abschaffung vornimmt, und zwar, wie der österreichische Justizminister am 26. Juni d. J. in der Reichsrathssitzung ausdrücklich erklärt hat: »um den Resultaten der wissenschaftlichen Forschung practische Geltung zu verschaffen.«
»Würde es denn nicht, meine Herren, wären heute die Hexenverfolgungen noch nicht abgeschafft, wahrlich der sehr ernste und würdige Beruf des Juristentags sein, gegen dieselben in die Schranken zu treten? und zwar selbst dann, wenn es kein Bayern und Oesterreich gäbe, welches mit der Abschaffung bereits vorangeschritten wäre?
»Und welch ein Zweck, frage ich, bleibt dem Juristentag, wenn gerade die ernstesten Gegenstände ihm entzogen sein sollen?
»II. Formell
scheint mir nun aber unsre Deputation gar nicht befugt zu sein, ohne Beschluß der Versammlung, aus eigner Machtvollkommenheit, einen Antrag zu unterdrücken, der wirklich in das Gebiet des Juristentags fällt.
»Weßhalb ich, in eignem wie in meines Mitantragstellers Namen, gegen die dennoch geschehene Unterdrückung des Antrags hiemit Rechtsverwahrung einlege.«
Diese Rechtsverwahrung, deren Verlesung, wie geschildert, ebenfalls unterdrückt ward, spreche ich hiemit nunmehr vor der Oeffentlichkeit aus, und protestire zugleich auch gegen diese von der Versammlung selbst ausgegangene Unterdrückung der Verlesung.
– Während meines ganzen Vortrages unterschied ich unter meinen Zuhörern zwei Gruppen:
1) die unbefangenen, auf den Inhalt meines Vortrages nicht vorbereiteten (von mir aus gesehen auf der rechten Seite des Saals), aus deren Mitte die Aufforderung erfolgte fortzufahren;
2) die Schlußrufer, unter denen mehrere den Wortlaut des Tewes-Ulrichs'schen Antrags zuvor bereits kannten. (Vor mir und zur linken Seite.) Zu ihnen zählen mit Sicherheit Mitglieder der abgetretenen Deputation, darunter Oberappellationsgerichtsrath v. Groß von Jena und Generalstaatsanwalt Schwarze von Dresden.
Bereits am 27. und 28. waren fachliche Vorträge von mir von vereinzelten Schlußrufen belästigt worden, welche vermuthlich nicht der Sache galten. Die Bedeutung dieses Verhaltens gegen mich und der Schlußrufe, welche meinen Vortrag vom 29. schließlich erdrückten, wird von mir vollkommen gewürdigt. Diese Rufe waren nicht Schlußrufe im gewöhnlichen Sinne des Worts, sondern die von den Lauten »Schluß, Schluß« nur mühsam umhüllten Rufe:
»Kreuzige, kreuzige!«
Anmerk. d. Herausgebers: Kreuzige ihn: vgl. z. B. Markus-Evangelium 15, 13.
Bei und vor Beginn meines Vortrags vom 29. bildete die Partei der Schlußrufer offenbar nur die Minderheit. Ich hatte vom Präsidium schriftlich mir das Wort erbeten, um »eine Rechtsverwahrung – wegen Ausschließung eines Antrags von der Tagesordnung vor der Plenarversammlung zu verlesen und auf dem Tische des Präsidiums niederzulegen.« Unmittelbar nachdem der Präsident seinem Wunsche Ausdruck gegeben hatte: »der König von Bayern möge recht bald des Glückes der Ehe theilhaftig werden, da sie das höchste Glück des Mannes sei«, ließ er ab stimmen: »ob zu diesem Zweck Herrn Ulrichs das Wort ertheilt werden solle?« Schon hiebei riefen einzelne Stimmen: »Nein, nein!« Eine starke Majorität indes; rief
Die große Versammlung hat mich indes; wenigstens mit voller Aufmerksamkeit angehört, ja mit einer ganz außergewöhnlichen. Einer gleichen hatte sich in beiden Plenarversammlungen, am 27. wie am 29., von allen Rednern keiner zu erfreuen.
Als ich die Rednerbühne verließ, herrschte im Saal eine unbeschreibliche Aufregung. Hinzu trat die augenscheinliche Verwirrung, was nach Lage der Sache nun zu geschehen habe, was zu sagen sei, wer zu sprechen habe, was zu beschließen sei? Nach einer ziemlichen Pause nahm der Präsident meine Scriptur zur Hand und sagte: »Ich will einmal weiterlesen um den Gegenstand zu constatiren.« Abermals Pause. Dann Präsident mit unsicherer Stimme: »Der Antrag bezielt die delicta carnis.« (Sagt davon die Scriptur eine Silbe?) Dann zu wir gewendet: »Ich fordre den Herrn Redner auf, den Antrag seinem Wortlaut nach zu verlesen.« Ich: »Er ist ordnungsmäßig bei der Deputation eingereicht. Er muß daher in den Händen des Präsidiums sein. Ich besitze ihn nicht. Die Abschrift, die ich besaß, ist im April d. J. bei meiner Abführung nach Festung Minden confiscirt worden.«
Ich schalte ihn hier ein. Er lautet:
»Der Juristentag wolle es für eine dringende Forderung der gesetzgeberischen Gerechtigkeit erklären, daß die bestehende deutsche Strafgesetzgebung über die sogenannten Fleischesvergehen unverzüglich einer Revision unterworfen werde, und zwar in der zwiefachen Richtung:
»I. daß angeborne Liebe zu Personen männlichen Geschlechts nur unter denselben Voraussetzungen zu strafen sei, unter welchen Liebe zu Personen des weiblichen gestraft wird; daß sie also straflos bleibe, solange:
»weder Rechte verletzt werden (durch Anwendung oder Androhung von Zwang, durch Mißbrauch unmannbarer [unerwachsener] Personen, bewußtloser etc.)
»noch öffentliches Aergerniß erregt wird;
»II. daß aber auch die bestehenden, oft durchaus unklaren, Strafbestimmungen über »Erregung öffentlichen Aergernisses durch geschlechtliche Handlungen« durch solche zu ersetzen seien, welche Rechtssicherheit gewähren.« Satz II. ist nur zu dem Zweck hinzugefügt, damit die Verfolgung, im Princip etwa abgeschafft, nicht unter dem weit ausdehnbaren Gummimantel angeblich erregten Aergernisses wieder eingeführt werden könne. Näheres hierüber unten; Anhang 111.
Hierauf erbat genannter Schwarze, Dresden, das Wort und erklärte:
» Ich vertrete den Beschluß der Deputation. Der Antrag ist, wenn man will, unterdrückt; ja. Aber wir haben ihn beseitigen zu sollen geglaubt: einmal weil er mit den bestehenden Gesetzen im Widerspruch steht. Allerdings! Er fordert ja gerade deren Abschaffung. »Mit den bestehenden Gesetzen in Widerspruch« befanden sich einst auch Spee und Beccaria, als jener die Abschaffung der Hexenverfolgungen forderte, dieser die der Tortur. Und dann, weil er die Schamhaftigkeit verletzt. Er würde, wenn nur verlesen, die Indignation der Versammlung erregt haben! Die Schamröthe würde uns in's Gesicht gestiegen sein! Welche Worte mögen doch das corpus delicti bilden, das Redner mit der »Schamröthe« in Verbindung bringt? Vermuthlich die Worte: »angeborne Liebe zu Personen männlichen Geschlechts«. Ihr Aussprechen hat allerdings etwas ungewohntes. Daß sie aber die Schamhastigkeit verletzen in einer Versammlung wissenschaftlich berathender Männer, bestreite ich. Werden doch ganz andre, völlig nackte, Ausdrücke von Juristen unbedenklich in den Mund genommen, wie »Ehebruch«, »Blutschande« etc.: während obige Ausdrucksweise, gerade aus Deferenz gegen das Sittlichkeitsgefühl, absichtlich in decenter Umhüllung auftritt. Und da wir ja lateinisch reden sollen, so will ich denn sagen, daß er sexueller Natur ist.«
Anmerk. d. Herausgebers: Spee: siehe zu III. Vindicta S. 19. Beccaria: siehe zu II. Inclusa S. 25.
Als diese schroffen Worte von den Gruppen links mit kräftigen Bravorufen aufgenommen wurden, erwartete ich nichts geringeres, als persönliche Insulte. Jede Secunde war ich darauf gefaßt. Nochmals das Wort zu ergreifen, um Herrn Schwarze zu antworten, daran war für mich, bei solcher Stimmung eines sehr großen Theils der Versammlung, nicht mehr zu denken. Ich verhielt mich nur noch passiv. Fest aber stand es bei mir, bei der geringsten Insultation unter lautem Protest mein Ausscheiden zu erklären und den Saal zu verlassen.
Nach Schwarze sprach ein älterer Herr, mir unbekannt, um »im Namen der Versammlung Woher hatte er denn deren Mandat? der Deputation zu danken, daß sie im Interesse der Sittlichkeit den Antrag unterdrückt habe!« (Sehr lauter Zuruf, in den man jedoch mindestens nicht allseitig eingestimmt hat. S. unten.)
Ist das Sittlichkeit, frage ich: einem Vertheidiger der unterdrückten, der gehört zu werden verlangt, das Wort abzuschneiden?
Diese Schroffheiten, bei all' ihrer Schärfe galten sie übrigens doch nur der Sache. Meine Person hat niemand verletzt. Daher ich denn auf meinem Platze ausharrte.
Hiemit war denn der Gegenstand beseitigt und der Präsident ging über zu rascher Erledigung anderer Gegenstände; worauf er bald die Sitzung schloß.
Die Aufregung war noch nicht beseitigt. Verschiedentlich hörte ich wie einer den andern fragte: um was es sich eigentlich gehandelt habe? Aus den Antworten (welche übrigens in ruhiger Rede ertheilt wurden) konnte ich meist entnehmen, daß man das richtige getroffen.
Doch gab es auch Ausnahmen. So meinten einige: alle delicta carnis, Blutschande, Nothzucht, Ehebruch und wie sie alle heißen, wolle ich freigegeben sehen!
Diese wurden indeß weit übertroffen durch zwei Mitglieder, welche noch im Saale auf mich zutraten mit der Anrede: »Ach, Sie sind ja der Herr Redner von vorhin. Aber sagen Sie uns doch gefälligst: was ist denn das für ein Volksstamm, der solchen Verfolgungen ausgesetzt ist?« Ich verwies die Herren behuf Auskunft auf ihre Frage auf die Schriften von Numa Numantius.
Hernach traten mehrere zu mir, von denen einer, der Oberjustizrath
Feuerbach
Anmerk. d. Herausgebers: Paul Johann Anselm Feuerbach (1775-1833) war u. a. für das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 verantwortlich. Sein 1801 zum erstenmal erschienenes »Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts« wurde später von Karl Joseph Anton Mittermaier (1787-1867) betreut. M. Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes (1914, Nachdruck 1984) S. 968 weist darauf hin, daß Mittermaier Großvater von R. von Krafft-Ebing war.
Sueton (etwa 75–150), Verfasser von Biographien der römischen Herrscher von Caesar bis Domitian. Das Kapitel 49 der Caesar-Vita enthält den gesamten Klatsch über Caesar. Von Galba, einem der Kaiser des ›Vierkaiserjahres‹ 69, heißt es: »in der Liebe neigte er mehr zu Männern«, bei Titus (79–81) wird die »große Zahl von Buhlknaben und Verschnittenen (spadones)« erwähnt.
von Stuttgart, mir mit Entschiedenheit erklärte:
»Die Versammlung hat durchaus incompetent geurtheilt. Sie hat geurtheilt, ohne zu wissen, um was es sich handle. Ich habe nicht mitgestimmt. Es war nur gefehlt, daß Sie den Antrag selbst uns nicht mittheilten.«
Der Rechtsanwalt Makower von Berlin hat, wie mir sehr bald mitgetheilt ward, sich dahin ausgesprochen:
»Die Deputation hat uns gar nicht zu bevormunden. Jedenfalls war es Unrecht, daß man den Redner nicht bis zu Ende angehört hat. Man brauchte darum ja noch nicht »Ja« zu sagen; man konnte ja gegen ihn stimmen. Und warum sollten wir denn das nicht anhören, was er sagte? Wir sind ja doch nicht junge Damen. Wir berathen ja auch gar nicht öffentlich. Das, was der Redner will, ist eine discutirbare Frage. Die Liebe, die er bezeichnet, war nicht zu allen Zeiten verboten, nicht in Griechenland, nicht in Rom. Es ist eine discutirbare Gesetzgebungsfrage.«
Dies bestätigt mir Herr Makower, an den ich mich dieserhalb wandte, durch Schreiben vom 29. October 1867, worin er sagt:
»Ich sprach allerdings die Meinung aus: diese Frage« (ob mannmännliche Liebesübung zu bestrafen sei oder nicht?) » sei discutirbar, zumal einzelne Gesetzgebungen hier Strafe nicht drohen: und dieselbe habe vom Juristentage in der betreffenden Abtheilung sehr wohl besprochen werden können.« (Selbstverständlich hatte ich die Berathung des Antrags nur für die III. Abtheilung gefordert.) »Niemand wird bezweifeln, eine Criminalfrage, welche von verschiednen Gesetzgebungen verschieden beantwortet wird, könne auch unter Juristen behandelt werden.«
Genanntem Herrn Feuerbach hatte ich die §§. 1–72. meiner ferneren Schrift Anmerk. d. Herausgebers: meiner ferneren Schrift: VII. Memnon, Teil 1. (Schrift VII.) zugesandt, worauf er mir, Stuttgart 29. März 1868, schreibt:
»Ihr Schriftchen las ich mit großem Interesse. Die darin entwickelten Ansichten theile ich zwar nicht vollständig« (ist bei der Neuheit und wissenschaftlichen Schwierigkeit des Gegenstandes sehr begreiflich): » jedenfalls aber in dem practischen Theile, in der Gesetzgebungsfrage.« (Also ganz wie die beiden Juristen Weinhagen und Rose; s. Vindicta S. XIII., Formatrix S. IX.)
Ein andres Mitglied hat, wie mir ebenfalls mitgetheilt ward, gesagt:
»Aber, mein Gott! der Antragsteller setzt sich ja dem größesten Verdacht aus, selber so zu sein!« Mein Herr! Bei seiner Geburt vom Schöpfer aller Wesen eine andere Natur empfangen zu haben, als vielleicht Sie: dessen hat sich niemand zu schämen! An dieser Stelle spreche ich dem Professor Tewes zu Graz meine Anerkennung aus, daß er, obgleich der urnischen Natur nicht angehörend, dennoch, aus Gerechtigkeitssinn, den Antrag mitunterzeichnete. Von anfänglichen Zweifeln durch Prüfung zur Ueberzeugung hindurchgedrungen zu sein (vgl. über ihn Vindicta S. XIV.) und dann die gewonnene Ueberzeugung furchtlos zu vertreten, ist gewiß wahrer Hochachtung werth.
Bald mußte ich die unvermuthete Entdeckung machen, daß unter den Mitgliedern, die mir zugehört hatten, sich wirklich ein Urning befunden hatte. Er ist königlich bayerischer Gerichtsbeamter. Unter den Staatsdienern aller Zweige in Oesterreich, Preußen etc. giebt es zahlreiche Urninge; wie ja auch nur natürlich ist Als ich ihn kennen lernte, gab er mir zu erkennen, wie gar heftig mein Vortrag ihn überrascht, ja förmlich erschüttert habe. Unter den beiderseitigen Rufen habe er sich indeß an keinem betheiligt.
Beim Festmahl im Glaspallast am Nachmittag des 29. Augusts und bei der gemeinsamen Fahrt zum Würmsee am 30. schienen einzelne vor mir zurückzuweichen, der ich ja Grundsätze ausgesprochen, daß auch ein Urning ein Recht habe auf Erdenglück, und zugleich vor einem Wesen, dem vielleicht gar selber jene Natur innewohne, welche –, nun welche einst einem Socrates und einem Plato innegewohnt hat, einem Brutus, Virgil, dem Kaiser Titus, dem König Friedrich I. von Würtemberg, Vgl. z. B. den ausführlichen Bericht im Feuilleton der »Neuen Würzburger Zeitung« vom 6. März 1868, ferner Hösli a. a. O. I. S. 296. In Süddeutschland übrigens hinreichend bekannt. und unsrem lorbeergekrönten Dichter Platen! Einfaches Lesen der platenschen Liebesgedichte wird überzeugen. Dem gegenüber ward mir indeß die Genugthuung, daß andere frei und loyal mit mir das Gespräch anknüpften.
Die deutschen Zeitungen haben den ganzen Vorgang, so weit ich erfahren, sämmtlich mit Stillschweigen übergangen: vermuthlich ebenfalls »im Interesse der Sittlichkeit.« Anmerk. d. Herausgebers: Die deutschen Zeitungen haben den ganzen Vorgang ... mit Stillschweigen übergangen: Ohne den Bericht Ulrichs’ wüßten wir nichts von diesem bedeutsamen Ereignis aus der ›Vorgeschichte‹ der schwulen Emanzipationsbewegung.
Welch' einen Eindruck dagegen machte er auf meine Genossen? Nachdem ein kurzer Bericht von mir circulirt hatte, erhielt ich eine ganze Reihe von Zuschriften, wie die folgende.
» Potsdam, 2. October 1867. Ihr Bericht aus München vom 31. August und 3. September ist vorgestern Abend durch .... von Coblenz an mich gelangt.
»Dank, tausend herzlichsten Dank, für Ihren ritterlichen Kampf. Alle Schicksalsgenossen bis zu den spätesten Geschlechtern werden Ihnen dankbar dafür sein müssen, den Gegenstand gewaltsam zur öffentlichen Discussion gebracht zu haben. Es wird gute Früchte tragen!
»Wie aber muß Ihnen um’s Herz gewesen sein! Das Durchlesen Ihres Berichts hat mich so ergriffen, daß ich stundenlang keinen andren Gedanken fassen konnte. Noch jetzt klopft mir das Herz.«
Mit einem wahrhaft wohlthuenden Eifer beeilten sie sich sodann, die Bedarfsumme zu decken für die Herausgabe dieser Schrift und einer ferneren. (Gleichwie zuvor schon sogar jene für meine Reise nach München; indem nämlich zu dem einen wie dem andren mir selber die Mittel fehlten.) Nachtrag vom März 1868. Sie steuerten bei aus Preußen, Bayern, Bremen, Holstein, Wien, Schweiz, Ungarn, Paris, London. Besondern Eifer bewies Berlin und London. Selbst unbemittelte trugen ihr Scherflein bei, um mitzuwirken im Kampf für die gemeinsame Sache. In trübem Contrast zu dieser Opferwilligkeit steht die Handklemme, der ich begegnete bei einem Genossen an den bayr. Ufern des Mains. Dieser Capitalist, welcher Goldstücke auf Goldstücke zurücklegt zu Reisen nach Italien, hatte für unsre große Sache auch nicht eines übrig. Wozu scharrst du zusammen, du kinderloser Urning? Für dein Alter? Was nützen dir im Alter Schätze, und welche Erquickung wird deinem Gemüth gewähren das schöne Land jenseit der Alpen, wenn du einst als Greis, wenn du jetzt im Lorbeerhain, wenn du stets und überall – dir sagen mußt, daß du sie einbüßtest, die Achtung der Kampfgenossen, ja vielleicht doch selbst die unsrer Gegner! Sprich, verdienst du sie? Und kannst du es dir selber denn versagen, mit uns vereint zu Hülfe zu eilen den armen Genossen auch deiner Natur, um sie zu erretten, die man jahraus jahrein in Kerkern und Schande schmachten läßt? Sollen sie denn dir nicht mit erglänzen, die Freudenthränen der erlösten? O du erbarmungsloser!
Ich werde jetzt meinerseits mich äußern über den Münchener Vorgang.
Wer hat denn nun am 29. August einen Triumph gefeiert? Sie, meine Herren, ganz gewiß nicht. Wessen könnten Sie Sich rühmen? Doch nur, mein Wort erdrückt, meine Stimme todtgerufen und – das audiatur et altera pars mir gewaltsam entrissen zu haben! Das sind Ihre Lorbeern!
Ich dagegen darf mich eines ganz andren rühmen: gegen tausendjähriges Unrecht habe ich offen und frei Protest erhoben. Die unbefangene, mündliche, öffentliche Discussion über mannmännliche Liebe war bei uns bisher hinter Schloß und Riegel gelegt. Des Hasses Wort allein war frei. Er allein hatte Discussionsfreiheit. Diese Schranken: zerbrochen habe ich sie, gewaltsam; zerbrochen, ohne dabei die Pflichten gegen das öffentliche Schamgefühl zu verletzen. Ich gab damit den Anstoß, auch der andern Seite die Freiheit der wissenschaftlichen, öffentlichen Discussion zurückzugeben: eine Freiheit, der sie in Griechenland und Rom einst genoß, wie sich ergibt aus den Erörterungen Plato's, Aristoteles', Xenophon's, Plutarch's, Lucian's, Athenäus' und Plinius'. Und – gerade das wichtigste aus meinem Protest ist doch ausgesprochen! Es ist damit endlich einmal, offen und laut, Zeugniß abgelegt worden für der urnischen Liebe zertretenes Recht, abgelegt vor Männern des Rechts, vor einer angesehenen Versammlung, gleichsam einer Vertretung ganz Deutschland's. Denselben ist mindestens Stoff zum Nachdenken gegeben. Und dieses Nachdenken: es wird, es muß, mindestens bei einer Anzahl, fruchtbringend wirken. Obgleich schließlich gewaltsam unterdrückt, war mein Protest dennoch ein gegen das System zum ersten Mal geführter Stoß. Dieser Stoß hat eine Bresche gebrochen: und diese Bresche soll und muß diesseits benutzt werden um nachzudringen. Ein Schweizer, Dr. med., schreibt mir, Bern, 12. October 1867: »Daß Ihr Thema in München keinen Anklang fand, ließ sich voraussehen. Die Hauptsache ist indeß, daß das Thema einmal öffentlich zur Sprache gekommen und dadurch der ganzen Sache ein Anstoß gegeben ist.« Und später: »Sie dürfen sich trösten mit Berryer in Paris. Lasen Sie seine feurige Rede vom 14. Februar 1868 im corps législatif über die abhängige Stellung der französischen Richter? Auch diese glänzende Rede ward ja von der Majorität erstickt. Der Hieb freilich ist geführt, und solch ein Hieb kann nicht ohne Wirkung bleiben.«
Und dann noch eins. Die bisherige Kampfstellung ist doch eine gar andre geworden. Bisher waren wir eine zerstreute Schaar wehrloser Schwächlinge, verfolgt und zerfleischt, um im Bilde zu reden, von drei grimmigen Drachen, dem wuthgeschwollenen Haß, dem schwarzen Verrath und der giftspeienden Schande, vor ihnen ihr Heil suchend in jämmerlicher Flucht und in Schlupfwinkeln.
Man sagt, daß die Drachen nur jene Opfer zerfleischen, an denen sie nichts kennen, als das Zittern der Furcht und die Flucht. Wer ihnen steht, vor dem sollen sie die Krallen einziehn. Sie seien gebannt, wenn man ihnen fest und muthig in's Auge sieht. Unsre Angst nährte ihre Grausamkeit, ihren Giftzahn unsre Feigheit.
Wir haben uns ermannt! Von nun an werden wir unsren Verfolgern Aug' in Auge gegenüberstehn. Wir halten ihnen Stand. Wir wollen nicht länger verfolgt sein! Wir wollen uns nicht mehr verfolgen lassen! Wir wollen nicht!
Heraus, ihr Verfolger, zum ehrlichen Kampfe! d. i. zum Kampfe mit Rechtsgründen. Wir wollen euch zeigen, daß wir ein gutes echtes Schwert haben, nämlich unser angebornes Menschenrecht, unser Recht von Gottes Gnaden, und daß wir unsre Klinge auch zu führen verstehn. Laßt sehn, welche von beiden, die unsre oder die eure, an dem Hieb der andren zerspringen wird!
– Welch ein Princip aber, meine Herren, das Ihnen Ihre Schlußrufe eingab! Der Gesetzgebung soll es also wohl gestattet sein, fortzuwüthen gegen Menschen mit eigner angeborner Natur und mit eignem Recht Mensch zu sein – fort und fort sie zu verfolgen ungeprüft und ungehört? Meine Herren, die Halle, in der ich redete, war dem Recht geweiht!
Wenn jene Menschen aufschreien um Gerechtigkeit, so erstickt ihr ihnen das Wort im Munde? Und ihr nennt euch noch Männer des Rechts? Ich aber meine fast, des Rechts sich so zu nennen habe jeder, der einstimmte in jene Schlußrufe, sich unwürdig gemacht!
Gegen die Art, wie man mir, der ich durchaus nichts anstößiges gesagt hatte, das Wort entzog, indem man meine Stimme todt rief, erhebe ich daher hiedurch vor der ganzen Oeffentlichkeit Protest.
Meinem Anträge wirft man also vor, und auch wohl meinem Vortrage, daß er die Sittlichkeit verletze. Wollen wir prüfen.
Die Urninge stehn unter einer schweren Anklage, die der Gesetzgeber selber gegen sie erhebt. Gegen diese wollte ich eine Vertheidigung führen. Ich meine nämlich: so lange die Anklage fortbesteht, ohne die Sittlichkeit zu verletzen, so lange kann diese auch nicht verletzt werden durch die Vertheidigung gegen diese Anklage. Welch' eine Lage wäre auch in der That dem vom Gesetzgeber angeklagten zugedacht, wenn, während dieser mächtige Ankläger sich nicht hemmen läßt durch Rücksichten auf »Sittlichkeit«, dem schwachen Angeklagten dagegen im angeblichen Interesse der Sittlichkeit die Vertheidigung gegen das Gesetz gänzlich abgeschnitten sein soll! Wenn das ein Gebot der Sittlichkeit ist, das erste Gebot der Gerechtigkeit mit Füßen zu treten, so muß ich gegen eine solche »Sittlichkeit« mich doch verwahren! Was die Schamhaftigkeit hier von der Vertheidigung zu fordern hat, ist eine Ausdrucksweise, welche alle Nacktheiten verschleiert. Dem Vertheidiger das Wort dagegen gänzlich abzuschneiden, auch mit einer gebührend umhüllten Vertheidigung ihn nicht anhören zu wollen: wäre eine geradezu unsittliche Schamhaftigkeit!
Mannmännliche Liebe mag allerdings, als eine res personalissima, an sich nicht vor das Forum der Oeffentlichkeit gehören. (Abgesehn natürlich von ihrer Behandlung in der Naturwissenschaft.) Solange sie aber in den Strafgesetzbüchern öffentlich an den Pfahl gestellt wird, solange Staatsanwalt und Gericht sehr stark Notiz von ihr nehmen: solange darf sie auch ihrerseits den Weg der Oeffentlichkeit betreten, um nämlich vor diesem Forum ihren Protest auszusprechen und hier ihre petition of rights zu begründen.
Gegen absolut jede Anklage des Gesetzgebers, gegen jede Bedrohung einer Handlung mit Strafe, muß den angeklagten, den bedrohten, gestattet sein sich zu vertheidigen, d.i. auszuführen, daß die Bedrohung mit Strafe ungerechtfertigt sei. Und solange der Juristentag es sich zu seiner hohen Aufgabe stellt, Gesetzgebungsfragen auch des Strafrechts vorzubereiten und zu discutiren: solange muß auch er diese Vertheidigung zulassen.
Ich meine, es wird sich eine allseitigzusagende Form finden lassen, um den Inhalt meines Antrags auszusprechen ohne anstößig zu sein. Mit jeder Verbesserung seiner Redaction bin ich einverstanden. Ich fordre meine Vereinsgenossen auf, nachdem sie sich über meines Antrages Gegenstand werden unterrichtet haben, selber nach einer Form für ihn mit mir zu suchen. Wer sich dieserhalb an mich zu wenden wünscht, den ersuche ich, dazu die Vermittlung der auf dem Titel genannten Buchhandlung zu wählen.
Anmerk. d. Herausgebers: Anm. 15: fehlt in der Neuausgabe von 1898 (ebenso die Zeile »Geschrieben zu ...«).
Ich fordre also den deutschen Juristentag auf: meinen Antrag, nachdem er in der zu findenden Form erneuert sein wird, beim nächsten Zusammentritt nunmehr zur Discussion und zur normalen Erledigung gelangen zu lassen.
Ich appellire an den besser unterrichteten Juristentag und an sein Gerechtigkeitsgefühl.
Geschrieben zu München und Würzburg im September und October 1867.
Seid ihr über unsre Liebe zu richten überhaupt befähigt und competent?
Und mit welchem Recht wagt ihr es eigentlich, ihr Nichturninge, über angeborne urnische Liebe euch zu Gericht zu setzen? mit welchem Recht, eure Natur zur alleinberechtigten zu erheben, die unsre aber infam zu erklären und sie auszustoßen aus der menschlichen Gesellschaft?
Wird unsre Liebe euch denn nicht ewig eine fremde bleiben? so fremd, als müßte sie einem andren Planetensystem angehören? Werdet ihr je vermögen, sie zu fassen, ihre Wonnen nachzuempfinden? je, in dieses Liebesleben, in dieses Frühlingswehen euer Herz hineinzuversenken auch nur auf einen einzigen Augenblick? Ihr werdet euch selber sagen müssen, daß ihr dazu absolut unfähig seid, gerade eurer eignen Natur wegen. Sind nicht, umgekehrt, wir gleich unfähig gegenüber der euren? Mit eurem Verstande nur werdet ihr unsre Liebesnatur erfassen als eine besondre Natur.
Werdet ihr euch daher nicht selber sagen müssen, daß ihr über sie abzuurtheilen unfähig und incompetent seid?
Mit euren blinden Augen aber, als incompetente Richter, über unsre Liebe dennoch das Verdammungsurtheil auszusprechen: welche Anmaßung! Fühlt ihr es denn nicht selber? Was ihr gegen uns in Händen habt, ist nicht das Recht – denn das steht uns zur Seite! – es ist nur die Macht, nur die in eurer numerischen Ueberzahl liegende Macht. Dennoch verfolgtet ihr unsre Liebe: welchen Mißbrauch triebt ihr mit eurer Macht!
– Fühlt ihr ferner nicht die schneidende Ungerechtigkeit, welche in jedem einzelnen Anklagefalle darin liegt, wenn Richter aus eurer Zahl, mit blindem Haß und blinder Verfolgungssucht gegen urnische Liebe schon fast gesäugt und zugleich ohne wissenschaftliche Kenntniß von der Natur dieser Liebe, sich competent erachten, über einen urnischer Liebe angeklagten zu Gericht zu sitzen und ihn einer
Naturwidrigkeit schuldig zu sprechen?
Das sind die Richter, von denen mein Vorgänger im Kampfe, Heinrich Hösli (in der eingangs wiedergegebenen Stelle) spricht, wenn er sagt:
»unsre Richter mit ihren verbundnen Augen.«
Es gab schon früher eine Zeit des Hasses und blinder Verfolgungssucht, als Juden nicht nur angeklagt, sondern auch schuldig gesprochen wurden, geweihte Hostien entwendet oder, als der »schwarze Tod« Deutschland's Städte durchwüthete, der Christen Brunnen vergiftet zu haben. War es gerecht, frage ich, wenn über einen solchen Angeklagten das Gericht nur von Christen besetzt war? d. i. aus der Zahl der hassenden und der verfolgungssüchtigen selbst? Hätte der Spruch wohl verurtheilt, wenn es zur Hälfte von Juden besetzt war? Bei der Urtheilsfindung konnten diese der Wahrheit gemäß ja laut zeugen: niemals habe ein Jude auch nur davon geträumt, Christenbrunnen zu vergiften. Und ebenso würden unsre Gerichte schwerlich noch einen Urning naturwidriger Liebe schuldig befinden, wären sie hinfort zur Hälfte mit Urningen besetzt. Denn ebenso laut würden diese der Wahrheit gemäß zeugen: noch nie habe ein Urning der Natur zuwider geliebt. Seine Liebe sei – genau ebenso wie jedes andren Liebe – lediglich ein Folgeleisten gegen den Zug der Natur.
Ist dies Verlangen ungerecht? In England kann doch jeder Fremde eine zur Hälfte aus Fremden gebildete Jury fordern. Der deutsche Soldat, vor ein Civilgericht gestellt, lehnt das ganze Gericht ab, und begehrt abgeurtheilt zu werden von einem Gericht, welches nicht etwa nur zur Hälfte, sondern ganz von Genossen besetzt ist. Die Kluft zwischen weiberliebendem Mann und Urning in Sachen der Geschlechtsliebe ist aber, fürwahr! eine hundertmal tiefere, als sie zwischen Civilist und Soldat nur je bestehen kann.
Ihr sagt: »Aber unausführbar.« – Wohlan, so revidirt eure Gesetze! Eines seid ihr uns und der Gerechtigkeit schuldig.
Zur Rechtfertigung der Bestrafung geltend gemachte Gründe. Gesetzgebung Preußen' s. Feuerbach. Mittermaier.
I. Preußens Gesetzgebung. Ein preußisches Gericht II. Instanz faßt diese Gründe zusammen in der »naturwidrigen Neigung.« Die urnische Neigung ist von der Natur selbst eingepflanzt und darum natur gemäß, nicht natur widrig. Daß die Aburtheilung eines Urnings durch Richter aus eurer Zahl so gefährlich ist, liegt eben darin, daß diese Grundwahrheit ihnen fremd ist.
Die preußische General staatsanwaltschaft hat diese Gründe des Gesetzgebers etwas anders angegeben (in einer Ausführung vom April 1863, gerichtet au das Obertribunal zu Berlin):
»1) der hohe Grad der sittlichen Verirrung und die Entartung, welche darin liegen, daß ein Mann zur Befriedigung des Geschlechtstriebes sich eines Mannes bedient;
»2) das verderbliche eines Lasters, welches die gesunde Kraft des Volks zerstört, die Familie und die bürgerliche Gesellschaft gefährdet.« (Noch ein fernerer Grund wird aufgezählt, welchen ich in Schrift VII. §. 47 ff. eingehend naturwissenschaftlich erörtere.)
Wollen wir das Gewicht dieser schreckenerregenden Anschuldigungen abwägen. Sehen wir dabei zunächst ab von der naheliegenden Frage: »Ist es denn aber gerechtfertigt, gegen Erscheinungen dieser Art durch Strafen einzuschreiten?«
a) Unter diesen Gründen ist auch nicht ein einziger vorhanden, welcher dem gebornen Urning als Verschulden zugerechnet werden könnte. Treffen würden sie sämmtlich nur den eigentlichen Mann, wenn dieser nämlich es über sich gewinnen könnte, urnisch zu lieben. (Obige Worte lauten ja auch: »darin liegen, daß ein Mann.«) Wenn der Urning urnisch liebt, so ist das weder sittliche Verirrung noch Entartung. – Zum Laster wird urnische Liebe nur unter den Voraussetzungen, unter welchen auch Weiberliebe dazu wird.
b) » Zerstörung der Volkskraft« durch urnische Liebe. Wer kennt nicht die naturwissenschaftlichen Wahrheiten: daß der Salamander im Feuer lebt, der Waldvogel Ziegenmelker (caprimulgus Europaeus) Kühen und Ziegen die Milch aussaugt, der Storch die Säuglinge bringt, daß an der Leiche eines ermordeten die Wunden frisch zu bluten beginnen, wenn der Mörder ihr naht, und daß ein Comet der Welt Untergang nach sich zieht? Zu der Sorte dieser Wahrheiten gehört auch die, daß urnische Liebe eines Volkes gesunde Kraft zerstöre. Dieser Grund für ihre Bestrafung hat so viel Gewicht, als jener, durch welchen einst Justinian sich leiten ließ, als er sie mit Strafe bedrohte:
»propter talia enim delicta fiunt et fames et terrae motus et pestilentiae.« (Novella 77. – Inclusa §. 62.) Anmerk. d. Herausgebers: Novella 77: siehe zu II. Inclusa S. 40.
Dies wird heute aber auch schon von Gegnern zugegeben. So z. B. von dem redlichen Casper, der bekannten gerichtlich-medizinischen Autorität, und zwar nicht nur in den »Clinischen Novellen«, sondern schon in seinen früheren Schriften, in denen er an sich so heftig gegen urnische Liebe zu Felde zieht. Die angeblichen schrecklichen Folgen derselben, die Henke (gerichtl. Medicin, 1829), Close (in Ersch's und Gruber's Encyclopädie, 1837), Tardieu (»Les délits contre les moeurs«, Paris 1856) und andre auftischen – Abzehrung, Schwindsucht, Wassersucht, Rückenmarksdarre, Epilepsie etc. – erklärt Casper, auf langjährige Erfahrung sich stützend, sammt und sonders, ehrlich für Ammenmährchen.
Anmerk. d. Herausgebers: Anm. 34: Hirschfeld ergänzt (nicht als Anmerkung des Herausgebers gekennzeichnet) in der Neuausgabe von 1898 (S. 50): »Neuerdings erregte ein derartiger Fall in Berlin grosses Aufsehen, in welchem zwei Unteroffiziere eines Gardekavallerieregiments einen Grafen auszuplündern suchten.«
In Griechenland und Rom blühte urnische Liebe freilich auch zur Zeit des Verfalls. Und deßhalb möchten große Eiferer diesen Verfall gar zu gern – sit venia verbo – ihr in die Schuhe schieben. Wohl nur zum abschreckenden Beispiel! Weiter hat es wohl keinen Zweck. Allein sie blühte dort von den Urzeiten her, blühte auch während und vor der Volkskraft höchster Entfaltung.
Bei den ältesten rohen kriegerischen Galliern war sie schon ebenso verbreitet, wie bei den heutigen Franzosen. Und doch haben die Gallier, z. B. während der langen Dauer der Römerkriege, eine sehr gesunde Volkskraft bewiesen. Diodorus Siculus schildert ausführlich ihre Raubsucht und Wildheit und fährt dann fort: »Mit ihren geliebten jungen Männern liegen sie auf Thierfellen. Diese halten es nicht für Schande, ......« u. s. w. Die Stelle ist ganz wiedergegeben bei Hösli a. a. O. II. S. 234. Auch Strabo bezeugt der Gallier Kampflust und Uranismus. (Hösli S.235.) Athenäus, 13.79: »Mancher Kelte liegt auf dem Thierfell sogar mit zwei geliebten Jünglingen zugleich.« – Bei unsrer Art, die Classiker und die alte Geschichte zu lehren, werden dahingehörige Stellen bekanntlich stets absichtlich verschwiegen.
Anmerk. d. Herausgebers: Diodorus Siculus (1. Jh. v. Ohr.), griech. Historiker. Strabo: siehe zu V. Ara spei S. 22. Athenäus: siehe zu I. Vindex S. 7. Ersch und Gruber: der oft zitierte Artikel von M. H. E. Meier (siehe zu I. Vindex S. XI). v. Malzahn: siehe zu IV. Formatrix S. 15. – Von den Wilden Peru's schreibt im 16. Jahrhundert Pedro Cieca de Leon: »Was bei uns Sünde wider die Natur ist, ist bei ihnen frei und nicht einmal Geheimniß.« Hösli S.235; Ersch und Gruber Band »Pac.« S.150. Aehnlich schreiben neuere Reisende von den Wilden im Innern Nordasien's, Nordamerika's, von den Beduinen Arabien's v. Malzahn, Pilgerfahrt nach Mekka. etc. – Bekannt wegen ihrer nervigen Volkskraft und ihres Heroismus sind die Tscherkessen im Kaukasus. Weniger bekannt ist es, daß bei ihnen der Uranismus verbreiteter ist, als irgendwo in Europa.
c) » Gefährdung der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft.« Klar dagegen ist, daß der Uranismus weder Familien zu begründen vermag, noch den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu vermehren. Doch darum wollte man die Urninge strafen? Familien begründen ist Sache der eigentlichen Männer. Uebrigens werden Urninge doch nur in verhältnißmäßig sehr geringer Zahl geboren; und darum wird der Bestand der Gesellschaft durch ihre Existenz nicht gefährdet.
d) Aber selbst wenn man sie eine Gefahr nennen wollte für diesen Bestand:
gegen wen
wäre aus diesem Grunde ein Einschreiten gerechtfertigt? gegen die Urninge oder gegen die, welche die Urninge schuf, die Natur? und ferner ein Einschreiten mit welchen Mitteln? Auf diese Frage lege ich Gewicht. Dieser Grund würde es etwa rechtfertigen, auf Mittel zu sinnen, vielleicht medicinische, um eine Einwirkung auf die menschliche Natur dahin zu versuchen, daß künftig Urninge nicht mehr geboren würden: nimmer aber es rechtfertigen, das, was jene verschuldete – wenn es ein Verschulden wäre – an den einmal gebornen zu strafen!
II. Nach Feuerbach (Lehrbuch des peinlichen Rechts §. 467.) sind die Gründe der Strafbarerklärung diese 3:
1) »Der hohe Grad der Verworfenheit, welchen dies Laster voraussetzt.« In der That ein hoher Grad von Unwissenheit, welchen diese Aeußerung voraussetzt! Seiner Natur folgen – »Verworfenheit« ?
2) »Die körperliche und geistige Entnervung, welche einen so entarteten für die Zwecke des Staats unfähig macht.« (Ueber »entartet« oben.) Entnervt also war Epaminondas, der tapfre Held, welcher neben Caphisodorus, seinem Geliebten, kämpfend fiel, entnervt der Thebaner heilige Schaar, die aus lauter Urningen bestand, entnervt die Tyrannentödter Harmodius und Aristogiton? Entnervt war Cäsar's Mörder Brutus, Brutus' urnische Liebe melden Plinius und Martial. Plin. hist. unt. 34. 8: »Fecit Apollodorus ( der Bildhauer) puerum, quem amando Brutus Philippensis cognomine suo illustravit.« Mart. 14. 171: »Gloria tam parvi non est obscuta sigilli; »lstius pueri Brutus amator erat.«
Anmerk. d. Herausgebers: Plinius d. Ä. (23–79), Naturgeschichte 3, 8 (19) nennt nicht Apollodor, sondern Strongylion:
(Er machte) ferner einen Knaben, den der davon ganz hingerissene Brutus von Philippi durch seinen Beinamen berühmt gemacht hat.
(Übersetzung G. C. Wittstein). Martial, Epigramm 14, 171:
Ist das Standbild auch klein, doch ist sein Ruhm nicht verborgen; war es doch Brutus einmal, der diesen Knaben geliebt.
(Übersetzung R. Helm)
und Cäsar selbst und Kaiser Galba und Titus, der Eroberer Jerusalem's, und Trajan, der Dacier und Parther bezwang,
und Hadrian, der energische Charakter, der Löwenjäger?
Ueber Cäsar s. Sueton. 49. 76; über Galba Suet. 22: »Libidinis in mares pronior« etc.; über Titus Suet. 7: »exoletorum greges«; über Trajan und Hadrian s. Spartian in Hadriano u. s. w. Entnervt waren sie und unfähig für die Zwecke des Staats? Wie schade, daß Herr Feuerbach nicht die Angaben der Classiker, die doch ein wenig anders lauten, aus unsren Ausgaben ausgemerzt hat! Und so etwas wird noch immer sorglos weiter gedruckt von Geschlecht zu Geschlecht! Ja, bei Gott, es giebt Finsterlinge, die das Volk in ererbter Unwissenheit erhalten! Freilich in Kreisen, die gar nicht in diesem Ruf stehn! Selbst Mittermaier, Feuerbach's Herausgeber (1847), hat, indem er dies ganz gelassen abdruckt, kein Wort der Widerlegung. Er erklärt alles dies nur zur Rechtfertigung der Bestrafung für ungenügend.
3) »Die aus demselben entspringende Verachtung der Ehe, welche zur Folge haben müßte Entvölkerung, Schwächung, zuletzt Auflösung des Staats.« Ja, wenn plötzlich nur Urninge, keine Männer mehr, geboren würden! Wie schlimm wäre es aber ebenso bestellt um den Staat, wenn plötzlich einmal keine Weiber mehr geboren würden? oder wenn morgen der Himmel einstürzte? Das ist die alte Erzählung von dem klugen Manne, der das wenn und das aber erdacht!
Wir empfinden übrigens vor der Ehe nicht Verachtung, sondern Horror; vor einer heuchlerischen Verleugnung unsrer Natur (etwa im Hinblick auf eine dos) freilich auch Verachtung. Die Ehe ist uns naturwidrig. Des Mannes Liebe zum Weibe aber, wann haben wir je sie mißachtet? wann je deren Berechtigung verkannt, wann je seine Ehe verachtet, der wir ja selber das Dasein verdanken!
Doch es belohnt nicht die Mühe, zu antworten auf all' die zusammengelogenen ungereimten Lästerungen, mit denen eure Gelehrten versucht haben, unsre Liebe zu beflecken, nur um dadurch die von den Vätern ererbte Verfolgung um jeden Preis vor dem öffentlichen Gewissen zu rechtfertigen.
III. Ein einziger trifft den Nagel auf den Kopf. Dies ist Mittermaier. Freilich legt er dabei zugleich ein überaus naives Geständniß ab. Er sagt (1847, zu Feuerbach's Lehrbuch, §.467.):
»Die im Lehrbuch angegebenen Gründe« (d. i. die drei obengenannten) »möchten die Bestrafung schwerlich rechtfertigen. Der wahre Grund könnte nur in der entschiednen Volksansicht liegen, welche hier ein sehr schändliches Verbrechen sieht. Da die Volksansicht die Handlung wirklich als eine so schändliche betrachtet, daß sie Bestrafung fordert, so kann der Staat nicht gleichgültig sein.«
Damit wären wir denn aber plötzlich auf einen ganz neuen Standpunkt versetzt. Es ist sehr lehrreich, daß Mittermaier den ganzen Apparat von Gründen – mit so großem Aufwand von Mühe und Scharfsinn ihn Feuerbach auch zusammengesucht hatte – wie alte Trödelwaare unbarmherzig in die Rumpelkammer wirft!
Andre Rechtfertigungsgründe, als die Meinung, also giebt es nicht. Mit diesem Satz eben trifft er den Nagel auf den Kopf: d. h. ich acceptire ihn, um, wenn auch dieser angebliche Grund sich etwa als wurmstichig erweisen sollte, dann zu constatiren, daß Gründe sich überall nicht haben auffinden lassen.
Also des Volkes Ansicht und des Volkes Forderung sollen entscheiden!! Was soll also entscheiden? Etwa eine wirklich vorhandene Schuld, wie doch die einfachsten Elemente legislativer Gerechtigkeit es fordern? Weit gefehlt! Entscheiden sollen des Volkes subjective Vorstellung von einer Schuld und der gegen diese eingebildete Schuld vom Volke genährte Abscheu. Weitläufig und mühsam erst zu prüfen: »ob die Vorstellung begründet sei, ob urnische Liebe eine Schuld wirklich involvire, wirklich schändlich sei, mithin Abscheu verdiene?« ist danach gänzlich überflüssig! Es entscheide statt des Kerns die Hülle, die Phantasie statt der Wirklichkeit, statt der Schuld der Haß. Es genügt, daß des Pöbels Weisheit urnische Liebe nun einmal für etwas schändliches hält, vor ihr Abscheu hegt, eine Schuld annimmt und ruft:
»Kreuzige, kreuzige!«
Nun, wenn das etwa Demokratie sein soll, ist sie es doch sicher in knabenhafter Verirrung! Pfui! über solche Strafgesetzgebung des reinen Hasses! Pfui über den, der der Gerechtigkeit den gladius ultor entwindet und den gladius furens ihr in die Hand drückt!
Danach wären ja auch jene früheren Bestrafungen eingebildeter Verbrechen gerechtfertigt, Hexen-, Ketzer- und Juden-Verfolgungen. Entsprachen sie doch ebenfalls des »Volkes« subjectiven Vorstellungen und seinem gegen jene unglücklichen gehegten, auf Unwissenheit gegründeten Abscheu!
Solchen Grundsätzen gegenüber lob' ich mir die alten Herren aus der pedantischen Perrückenzeit, welchen doch noch nicht vor lauter modernem Princip das Gerechtigkeitgefühl abhanden gekommen war. Unter den Wortführern unsrer Tage könnte man in diesem Punkt manchen kühn zu ihnen in die Schule schicken. So sagt im 16. Jahrh. Ulrich Zasius Anmerk. d. Herausgebers: Zasius: Landläufigen Meinungen zu folgen, wenn die Vernunft ihnen widerspricht, ist der sichere Untergang der Wahrheit. – und es scheint mir sehr rühmlich von Grolmann, daß er, 1798, dies Wort seinem Lehrbuch voranstellt –:
»Communibus uti opinionibus, si ratio repugnet, hoc nos dicimus certam veritatis pestem!«
IV. Auch eine Gefährlichkeit des Urnings für junge Männer und deren Schutzbedürftigkeit hat man zur Rechtfertigung des Strafens geltend gemacht.
Wer aber ist gefährlich? wer schutzbedürftig? Dem Mädchenherzen gefährlich ist der junge Mann. Jugendlich männliche Gestalt, Wuchs, männliche Jugendschönheit erwecken im weiblichen Herzen Verlangen. Wer aber schützt der Mädchenherzen wirklich gefährdete Tugend, wenn die Jungfrau sie nicht selber schützt? 24 Vindicta §. 39. Note 13. 14.
Wem jene verführerischen Zaubergaben fehlen, der ist auch nicht gefährlich. Ist ein welker Greis einem Mädchen gefährlich? Gleiches gilt, wenn dieselben, obwohl vielleicht vorhanden, unfähig sind zu wirken. Der Urning, sei er auch blühend und schön, hat für junger Männer Herz etwas verführerisches nie und darum auch nie etwas gefährliches.
Niemandem wird in dem Grade aus freiem Entschluß gewährt, wie dem liebenden Urning, niemandem so leidenschaftslos und mit so ungetrübtem und unbestochenem Bewußtsein. Bei einem
erwachsenen jungen Manne, der nicht selber Urning ist,
kann von Verführung gar nicht die Rede sein.
Wer
unerwachsene verführt, ist gefährlich. Ebenso, wer bewußtlose mißbraucht oder wer Gewaltthat übt. Diese zu strafen ist gerecht. Der Knabe und der bewußtlose sind Schutzes bedürftig. Der Gewalt gegenüber ist es ein jeder. – Hiemit stimmt, dem praktischen Resultat nach, völlig überein der Dr. med.
Stedler zu Bremen, unter den dortigen Aerzten einer der anerkanntesten. In Anlaß der neuesten bremischen Criminaluntersuchung (wider Feldtmann, s. Schrift VII. §. 69.) hatte er sich mit meiner Theorie eingehend beschäftigt. Er erklärt (Jan. 1868):
»Mannmännliche Liebesübung halte ich für weniger schlimm, als Spielsucht, Trunksucht etc. Da diese Laster (»Laster«: vgl. oben unter 1.a.) nicht bestraft werden, so halte ich jene Hebung um so weniger für strafbar, eine Bestrafung derselben vielmehr für höchst ungerecht. Umgang mit
Knaben freilich wäre scharf zu strafen. Unter
Erwachsenen steht die Sache ganz anders. Hier sind die betheiligten freie Willensmenschen.« (Wohl kann im Herzen des jungen Mannes dagegen von ganz
andren Beweggründen die Rede sein, als von einem Verführtsein!) Ist seines Herzens Keuschheit vor der Urningsliebe Schutzes bedürftig? Wer ja sagt, wolle nicht gerade in dem Augenblick in einen Spiegel schaun. Es würde ihm sonst vielleicht ergehn, wie einem römischen Augur, wenn er einem andren begegnet.
Präcisirung und Begründung von Satz II. meines Antrags, betreffend den Fall des erregten öffentlichen Aergernisses.
Ich beantrage also:
» II. Der Juristentag wolle es aber auch für eine Forderung der legislativen Gerechtigkeit erklären, die bestehenden, oft durchaus unklaren Strafbestimmungen über »Erregung öffentlichen Aergernisses durch geschlechtliche Handlungen (jeder Art)« durch solche zu ersetzen, welche Rechtssicherheit gewähren.«
Zweck dieses Satzes ist, wie schon angegeben, die Beseitigung der Gefahr: daß die im Princip etwa abgeschaffte Verfolgung urnischer Liebe thatsächlich wieder eingeführt werde unter dem Mantel eines so gummiartig ausdehnbaren Begriffs, wie das, was man unter »Aergernißerregung« vag und fast schrankenlos bisher verstand.
Ich begehre insonderheit folgendes:
I. Daß zur Bestrafung keinesweges genügen dürfe die Thatsache, daß durch eine geschlechtliche Handlung das öffentliche Schamgefühl verletzt worden ist ( objectiver Thatbestand),
daß dazu vielmehr auch noch das erforderlich sei, daß diese Thatsache nicht etwa durch den Zufall herbeigeführt worden ist, sondern durch der zu bestrafenden Personen Verschulden. ( Subjectiver Thatbestand.)[Daß die Thatsache der Aergernißerregung denselben als ein Verschulden zugerechnet werden muß.] Nämlich:
a) entweder durch deren bösen Vorsatz (Verletzung des öffentlichen Schamgefühls aus frecher Absicht), Wird in Deutschland kaum in 50 Jahren einmal verübt werden!
b) oder durch deren Fahrlässigkeit (Verletzung desselben wider Willen, absichtslose, aus bloßer Unachtsamkeit).
Gründe. Ohne Verschulden darf niemand bestraft werden.. Soll also nicht eine geschlechtliche Handlung selber strafbar sein, sondern nur das Erregen von Aergerniß durch sie, so muß auch bei diesem Erregen für die Strafbarkeit nothwendig präjudiciell sein die Frage nach dem Verschulden.
II. Daß hinfort nun aber durchaus unterschieden werde zwischen dem criminellen Vergehen der »vorsätzlichen Erregung öffentlichen Aergernisses durch geschlechtliche Handlungen« und der hinfort nur noch als Polizeiübertretung zu strafenden » fahrlässigen«.
Gründe. a) Wo nämlich wirklich nun auch, wider Willen der handelnden Personen, etwas öffentlich erblickt worden ist, was den Blicken entzogen sein muß: wie unsicher ist da einzelnen Falls die Entscheidung der Frage: »Trifft dieselben die Schuld einer Fahrlässigkeit? Mußten sie befürchten, das thatsächlich eingetretene Aergerniß werde eintreten? Oder durften sie den Umständen nach annehmen, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge werde hier Aergerniß nicht eintreten?« Z. B. etwa im Gebüsch einer öffentlichen Promenade Nachts. Ein dennoch eingetretenes Aergerniß wäre nur dem Zufall zuzurechnen, mithin straflos. In so liegenden Fällen haben die bayerischen Gerichte, insonderheit zu München, wiederholt freigesprochen. Wie leicht ist es denkbar, daß das Verschulden nach Auffassung von zehn Personen zu verneinen, nach jener gerade des Richters aber zu bejahen ist. Aergerniß pflegt einzutreten durch ein unglückliches Zusammentreffen unvorhergesehener Umstände; und da wird eben einer annehmen: diese Umstände waren, ein andrer dagegen: sie waren nicht vorauszusehn.
Und wie unsicher ist einzelnen Falls meistens die Entscheidung der ferneren Frage: »War das eingetretene Aergerniß ein öffentliches?« (Man erwäge die schwankenden Begriffe: »öffentlicher« Ort, dem Publikum »zugänglicher«, »leicht« zugänglicher Ort und die Streitfrage: ist auch ein beschränkt-öffentlicher Ort ein öffentlicher? z. B. ein nur gewissen Classen, wohl gar nur wenig Personen, oder nur zu gewissen Zwecken zugänglicher.)
Und an zwei so dünnen Hasard-Fäden soll die Entscheidung hängen, ob jemand, der um keinen Preis das öffentliche Schamgefühl verletzen wollte, einer Criminaluntersuchung verfalle und entehrendem Gefängniß?
b) Ferner ist nicht zu übersehen, und unsre neueren Gesetzgeber scheinen es bisher nur allzusehr übersehen zu haben, daß fast alle Geschlechtsacte nicht bei kalter Ueberlegung erfolgen, sondern in Seelenzuständen der Aufregung, in Augenblicken mehr oder minder heftiger Leidenschaft, welche die Zurechnungsfähigkeit wenn nicht aufheben, so doch mindern. Fast allen Fleischesvergehen steht darum zur Seite der Strafminderungsgrund des Affekts, Von der früheren Praxis stets anerkannt. Feuerbach §.470, Note: »Die älteren Criminalisten betrachten bei den delicta canix geschlechtliche Leidenschaft stets als Milderungsgrund. – Hervorgehoben auch schon in einem berühmten Strafurtheil des Alterthums, gesprochen vom Kaiser Tiberius, wegen eines im Tempel der Isis begangenen Frevels. Flavius Josephus unter Liberius. Anmerk. d. Herausgebers: Flavius Josephus, jüdischer Historiker (37/38–um 100). insonderheit auch dem der fahrlässigen Aergernißerregung. Hier erscheint es deßhalb in milderem Licht, wenn, trotz erkannter größerer oder geringerer Gefahr von dritten Personen dabei erblickt zu werden, die Handlung dennoch vollzogen ward. Und außerdem wird auch, eben wegen des vorhandenen Affekts, diese Gefahr weniger leicht überhaupt erkannt werden, als in ruhigen Augenblicken. Das Verschulden, die Fahrlässigkeit, ist also in Folge des Affects zwiefach in erheblich geringerem Grade zuzurechnen.
c) Von einer gemilderten Bestrafung der fahrlässigen Aergernißerregung mochte man Gefahr für die Sittlichkeit befürchten? Doch den Sinn für Sittlichkeit schützt zum allergeringsten Theil der Strafcodex. Der wahre Schutz besteht in dem im Volke selbst wurzelnden Schamgefühl und in der öffentlichen Verachtung, die ebendeßhalb jedem Verletzer auf der Stelle zu Theil wird, auch dem bloß fahrlässigen. Diese ganze Bestrafung war unbekannt in Griechenland und Rom, ebenso in Deutschland noch geraume Zeit nach der Carolina. Unter dem Schutz der öffentlichen Verachtung allein war damals für die öffentliche Sittlichkeit vielleicht ebenso gut gesorgt, als heute unter Verachtung und Codex. Ob sie des letzteren heute völlig entbehren könne, ist müßig. Entbehren kann sie aber jedenfalls draconischer Härte.
Aus diesen drei Gründen, meine ich, sollte » fahrlässige Erregung öffentlichen Aergernisses durch geschlechtliche Handlungen« nie criminell und entehrend gestraft werden, sondern nur polizeirichterlich und nur mit Geldbuße, in geringfügigeren Fällen sogar mit bloßem Verweis. In Preußen (Strafgesetzbuch §. 150.) wird sie gestraft, ohne Unterscheidung von der vorsätzlichen, mit criminellem Gefängniß von mindestens drei Monaten; horrend!
III. Rückfall.
Da ferner die geschlechtliche Leidenschaft einem Naturgesetz zufolge eine in gleicher Kraft periodisch und regelmäßig wiederkehrende ist, auch durch erlittene Bestrafungen ihrer Natur nach nicht abgeschwächt werden kann: so würde bei dieser Polizeiübertretung m. Erm., will man nicht den Vorwurf der Grausamkeit auf sich laden, der Rückfall nie Strafschärfungsgrund sein dürfen.
IV. Daß endlich jenes Aergerniß nie zur Bestrafung führen dürfe, welches dritte Personen an nur erzählten Handlungen nahmen, an nicht selber wahrgenommenen, scandalum indirectum et subsequens, daß dazu vielmehr erforderlich sei scandalum praesens et directum. In Bayern ist dies bereits geltendes Recht nach der Wortfassung des Strafgesetzbuchs vom 10. Nov. 1861, Art. 223: »Wer an öffentlichen Orten durch unzüchtige Handlungen Aergerniß giebt, verwirkt Gefängnis« von 1 Tag »bis zu 6 Monaten.« Stenglein's Commentar (1862) zu diesem Ort: »Das Aergerniß muß unmittelbar bewirkt werden, nicht etwa durch wiedererzählen.« – In Würtemberg, nach der Praxis, desgleichen. Mittermaier zu Feuerbach peinl. Recht §. 467. 1847. – In den meisten Ländern ist, weil das Gesetz keinen Anhalt bietet, die Praxis schwankend.
Gründe. Nur so wird dem einzelnen Rechtssicherheit gewährt, dem Manne wie dem Urning und dem Weibe. Vor dem unmittelbaren kann jeder sich hüten: vor dem mittelbaren niemand. Das mittelbare hast du nicht in deiner Hand. Für dasselbe kann deßhalb nur die Ungerechtigkeit dich verantwortlich erklären. Du hast z. B. nicht in deiner Hand des andren Theils Verschwiegenheit. Du bist also verschwiegen, mithin bis dahin überall nicht strafbar. Plötzlich erregt des andren Theils Geschwätzigkeit ein Stadtgespräch über dich, d. i. ein scandalum subsequens. Erst diese nachträgliche Geschwätzigkeit, die du ja gar nicht zügeln konntest, würde für dich also eine Strafbarkeit erzeugen. Da hätten wir demnach das Monstrum einer Strafbarkeit ex post!
(Vgl. die in diesem Sinne formulirten Entwürfe zu Gesetzesparagraphen in Vindicta §§ 51–55. und Ara spei S. XIV–XVIII.)
– Außerdem sollten Lehrer, Beamte, Geistliche, Aerzte etc. von Criminalstrafe befreit werden (im Gegensatz zur Disciplinarbestrafung), welche ihre erwachsenen Schüler, Beichtkinder etc. urnisch lieben. Preußen bedroht dieselben (Strafgesetzbuch §. 142.) mit Zuchthaus von ... bis zu fünf Jahren. Einige moralische Schuld mag hier zwar vorliegen. Doch nicht einmal immer; z. B. nicht bei jenem Urning, welcher seinem Geliebten auch dadurch seine Liebe bezeigt, daß er – nach Plato's schöner Vorschrift – ihn in den Wissenschaften unterrichtet. Im Sinne des Gesetzes wird er dadurch »Lehrer«: und seine werkthätige Dankbarkeit trägt ihm – wie seltsam! – heute Zuchthaus ein bis zu 5 Jahren, während ohne diesen Dank nur Gefängniß von ½ bis 4 Jahren seiner harrt!
Allein wenn ohne dies besondere Verhältnis; freigewährte urnische Liebe einfach straflos sein wird, so sehe ich nicht ein, wie dessen Hinzutreten allein Criminalstrafe rechtfertigen solle. Jener preußische §. 142. bedroht auch Weiberliebe. Auf Grund desselben ist z. B. ein Postillon durch die höchste Instanz als »Beamter« mit Zuchthaus bestraft worden, welcher in einem Postwagen mit einem erwachsenen Frauenzimmer (ohne alle Gewalt, Drohung u. dgl.) einfache »unzüchtige Handlungen« vorgenommen hatte. Der Wagen war seiner alleinigen Führung anvertraut und sie fuhr in demselben allein.
Endlich sollten Gewaltthat, Mißbrauch bewußtloser und unerwachsener überall nur auf Antrag des verletzten bestraft werden. In Preußen (§.144.) von Amtswegen mit Zuchthaus bis zu 20 Jahren! Wäre zugleich Aergerniß erregt, so sollte, ohne Antrag, nur diese Erregung der Cognition unterliegen.
Nachtheil des herrschenden Systems für die öffentliche Schamhaftigkeit.
Jede Einmischung von Polizei und Gericht pflegt einen urnischen Fall zu einem öffentlichen Scandal erst zu machen, und zwar zu einem Scandal ärgerlichster Natur. Dies ist längst anerkannt.
Selbst Mittermaier (a. a. O.) sagt:
»Der Gesetzgeber muß aber auch manche Nachtheile berücksichtigen, welche entstehen durch die scandalösen Untersuchungen.«
Roßhirt (Criminalrecht, 1821, §. 219.):
»Es ist zweifelhaft, ob der Gesetzgeber hier mit Criminalstrafen etwas gewinnt.« (Läßt sich zwar auch auf die Unausrottbarkeit des Uranismus beziehen.)
Grolmann (Criminalrechtswissenschaft, 1798, §. 557.) sagt von der damaligen Praxis geradezu:
»Heutzutage hütet man sich sehr, sobald Aergerniß nicht vorliegt, durch übel angewandten Eifer gegen dergleichen verborgene (er beliebt zu sagen »Sünden«), durch gerichtliche Untersuchungen und Bestrafungen, selber das Uebel zu stiften.« (Dies Princip involvirt indeß für den Uranismus noch keineswegs Gleichheit vor dem Gesetz mit der Weiberliebe.)
Alle diese Worte sind indeß in den Wind gesprochen. (Nur in Hannover, Würtemberg und Braunschweig kam das mildere Grolmann'sche Princip gesetzlich zur Geltung: um leider in Hannover nach der preußischen Occupation von 1866 am 1. November 1867 durch das der starren unbedingten Bestrafung wieder verdrängt zu werden – das Werk des Justizministers Graf zur Lippe.) In Frankreich dagegen war dieser Punkt für den Gesetzgeber derart entscheidend, daß der code pénal von 1810 dem Uranismus gerade aus diesem Grunde die völlige Gleichheit vor dem Gesetz gewährte. Bayern's Motive für die Gleichstellung s. Schrift VII. §. 63. Die österreichischen sind »die Forschungen der Wissenschaft«. Schrift VII. S.70. Nähere Angabe fehlt Vermeiden wollte er (s. Schrift VII. §. 62. 64.):
»die schmutzigen und scandalösen Untersuchungen, welche so häufig das Familienleben durchwühlen und erst recht Aergerniß geben.«
Wie wahr dies ist, hat sich so recht wieder gezeigt bei der neuesten Schreckensuntersuchung in Bremen. Es ist, als wäre das der Zweck des Staats, in seinen eignen Eingeweiden zu wühlen und Schimpf und Schande über ganze Familien auszuspritzen.
Was kümmert man sich um die Einzelheiten einer Liebe, der man ewig fremd gegenüberstehn wird? Was dringt man gewaltsam ein in die verhüllten Geschlechtsgeheimnisse einer andern Natur?
Criminaluntersuchung und Selbstmord.
Dem System sind eine ganze Reihe von Selbstmorden auf Rechnung zu schreiben, welche in Deutschland alljährlich vorkommen in schreckenerregender Regelmäßigkeit. Und wer sind die Opfer? Nun, es sind Richter, Geistliche, Abgeordnete, Advocaten, Aerzte, Forscher, Officiere, Soldaten, Kaufleute etc., Menschen, welche dem Staat und ihren Mitbürgern nützlich geworden, waren und noch ferner es hätten werden können, und welchen ebenso viel Anrecht auf Erdendasein und Erdenglück innewohnte, als den Verfolgern! Einem Dasein, befleckt durch die vernichtende Beschimpfung einer criminellen Scandal-Untersuchung, haben sie den Tod vorgezogen.
Fünf Fälle aus neuerer Zeit siehe in den numantius'schen Schriften: ein Geistlicher, ein Hofmarschall, ein Abgeordneter, ein Schriftsteller, ein Handwerker. Der neueste mir bekannt gewordene eclatante Fall ist eingangs erwähnt. (Kaufmann Mühlberg zu Bremen; s. Schrift VII. §. 68. – Schrift VII. wird noch fernere Fälle nennen.) Wie viel Fälle mögen sich außerdem ereignen, von denen dem einzelnen nichts bekannt wird.
Sollten nicht wahrlich schon diese Selbstmorde allein ernstlich mahnen, endlich einmal – aber unter Anhörung der Betheiligten – zu prüfen: ob die Verfolgung denn wirklich gerechtfertigt sei?
Das im Schatten des Systems großgezogene Verbrechen: Raub und Erpressung, verübt unter angedrohter Denunciation. Die Gaunerbande der »Chanteurs.«
Nur Abschaffung der Verfolgung wird einer zahlreichen Bande das Handwerk legen, welche den Urningen bekannt ist unter dem Namen »les chanteurs“ oder »die Rupfer«; während in andren Kreisen kaum die Polizei von ihrer Existenz Kunde hat. Dieselben verüben Erpressung und Plünderung, ja directen Raub, unter steter Bedrohung ihrer Opfer mit Denunciation. Nicht nur in Paris und London schleicht diese Bande umher, obgleich sie hier allerdings organisirter ist und noch raffinirter zu Werke geht: nein auch in allen größeren Städten Deutschland's. Namentlich in Wien und Berlin (auch in München, Hamburg, Hannover etc.) betreibt sie ihren äußerst einträglichen Erwerbszweig.
Oft spielt ein hübschgewachsener Bursch den Rupfer ohne alle Beihülfe. Häufiger indeß, und offenbar auch weit praktischer, ist die Procedur zu zweit. Dann ist die Stellung des Begleiters aber eine verschiedene. Theils ist dieser nur Nebenperson. Dann ist er irgend ein Camerad des Burschen. Theils aber ist gerade er die Hauptperson, der Principal des Geschäfts. Für einen älteren, geriebenen Gentleman spielt ein hübscher Bursch dann nur die Rolle des Lockvogels. In Paris heißt der Principal »le rupin«, der Lockvogel – seltsam frivol! – »le Jésus.« Des Rupins geübter Blick weiß auf der Straße das schmachtende Auge der Urninge rasch zu unterscheiden. Auch erkennt er auf der Stelle Individuen von Werth und Gewicht und arme Teufel. Der Jesus, durch Blicke des Rupins verständigt, führt nun einen angelockten Urning, einen von der gewichtigen Sorte, in der Abenddämmerung hinaus in irgend eine Promenade etc.: während der andre, in discreter Entfernung, sich auf die Lauer legt, nur im geeigneten Augenblick hervorzutreten: für den Urning eine Erscheinung aus der Hölle. Im Ton sittlicher Entrüstung fordert er diesen auf, ihm auf die Polizei zu folgen, indem er ihm zu erkennen giebt, er habe sich als arretirt zu betrachten. Dies ruft natürlich Erörterungen hervor. Diese aber werden nun – und darin besteht eben die Kunst – mit diplomatischer Gewandtheit so gelenkt, daß nach einigen Minuten das gefolterte Opfer selber endlich auf den glücklichen Gedanken kommt, ein Lösegeld zu bieten. Die Offerte wird mit gesteigerter Entrüstung zurückgewiesen: d. h. anfangs, und nur um eine gesteigerte Summe zu erzielen. Schließlich wird sie dann, aus »Menschlichkeit«, als eine Art von Gnade, angenommen, d. h. zu Händen des Rupin, welcher davon sodann seinem Söldling einen Lumpenlohn abgiebt.
Manchmal werden indeß, ohne alle Comödie, dem erschreckten und betäubten Urning auch direct die Taschen ausgeplündert. – Der geängstigte wird natürlich noch widerstandsloser, wenn aus dem Gebüsch vielleicht plötzlich noch ein zweiter oder gar dritter hervorspringt. – Auch Soldaten sind hie und da mit dem Handwerk vertraut und treiben es mitunter als Compagniegeschäft. Tardieu erzählt einen andersliegenden Fall, in welchem ein Soldat, Pariser Lancier, seinen Liebhaber sogar ermordete. Er erdrosselte ihn Nachts im Bett. – Es ist übrigens erstaunlich, in wie zartem Alter schon junge Bursche –- kaum mehr als Knaben – mitunter bereits zum raffinirtesten Chanteur werden können.
Unter dem Schirm der Bestrafung des Uranismus ist das Gesindel thatsächlich gedeckt. Wer wird, wer kann, um Uhr und Börse zu retten, der angedrohten Denunciation die Stirn bieten angesichts des bestehenden Gesetzes? Dies weiß der Chanteur. Erst das Gesetz hat dies Gesindel gezeugt, gesäugt und groß gezogen! Das Gesetz aber, das solch' ein Monstrum gebiert: muß es nicht selber ein Monstrum sein?
Ich sagte, die Bande bestehe auch in Paris und München, obgleich dort der Uranismus ja gesetzlich freigegeben, die Drohung daher nichts andres ist als eine taube Nuß. Allein zunächst ist die Freigabe keinesweges jedem bekannt, namentlich vielleicht fremden nicht. Ferner gehört doch immerhin ein energischer Charakter dazu, selbst bei dieser Sachlage sich bereit zu erklären, »auf die Polizei zu folgen.« Sodann bestehn auch in Paris und München, unter Umständen wenigstens, doch immer noch polizeiliche Maßregelungen, Ausweisungen etc. Endlich aber muß der Urning auch noch befürchten, von seinem Rupfer im Polizeibureau denunciirt zu werden (wenn schon fälschlich) wegen Erregung öffentlichen Aergernisses oder öffentlichen Angriffs auf die Schamhaftigkeit, und darauf hin, denkbarerweise wenigstens, criminelle Scandaluntersuchung (wie sie ja jetzt noch besteht: s. oben) – mit all' ihren Schrecknissen, mit sofortiger Verhaftung etc. – gegen sich eingeleitet zu sehn.
Allerdings aber liegen, wenigstens aus Paris, Fälle vor, in denen man dem Urning, der jenen Charakter besaß, aus der Polizei vollständigen Schutz gewährte, ohne alle bittere Zuthat. Ein Urning, Student, den die Rupfer, fünf Kerle, bereits vollständig ausgeplündert hatten, war muthig genug, gerade seinerseits die Polizei anzusprechen. Ihr gelang es, fast sämmtliches Raubgut den Gaunern wieder abzujagen. Sie wurden bestraft. Ihm selber ward auch nicht ein Haar gekrümmt.
Wahrhaft haarsträubende Beispiele empörend raffinirter und grausamer, oft Jahre lang fortgesetzter, Blutsaugereien finden sich, aus französischen Polizeiacten geschöpft, in den überaus werthvollen Polizei-Memoiren von Canler. (Paris, 1855. Ich verweise namentlich auf die alle Schändlichkeit überbietende, welche an einem urnischen Advocaten verübt ward.) Mehrere Pariser Rupins haben sich, wie er andeutet, von begüterten Urningen ein Vermögen zusammengesogen, welches ihnen gestattete, »das Geschäft niederzulegen«, um als Rentiers auf ihren Lorbeern zu ruhen in Villen vor Paris, denen weder Gartensalon noch Bibliothekzimmer fehlt. In einem der Fälle, die Canler erzählt, hat das beklagenswerthe Opfer, von seinem Chanteur jahrelang gedemüthigt, gejagt und verfolgt, sogar über das Meer hin, vor demselben zuletzt sich gerettet – durch Selbstmord!
Beispiele aus Deutschland in den numantius'schen Schriften. Ihre Zahl könnte ich aus neuerer Kenntniß noch um einige andre vermehren, so durch einen Fall aus München aus vorigem Jahrzehnt, der den canler'schen fast ebenbürtig zur Seite steht.
Jede neue Criminaluntersuchung giebt diesem Vampyrgeschlecht neue Krallen und neue Säugrüssel und spornt sie an, ihr Haupt zu erheben, um die Gesetze, die angeblich das Eigenthum schützen, hohnlachend zu übertreten, gedeckt, kühner denn zuvor! O diese Gesetze gegen Raub und Erpressung: wie anständig sie sich auf dem Papier ausnehmen! »Schutz des Eigenthums:« wie kindlich naiv es sich ausspricht! Jede neue Criminaluntersuchung wegen urnischer Liebe unterbindet euren eignen Gesetzen die Pulsadern.
Geschrieben zu Würzburg im Winter 1867 – 1868