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Aus den Vorlesungen über Sagengeschichte der germanischen und romanischen Völker.

(1831/1832.)

1. Einleitung.

Die Sagengeschichte der germanischen und romanischen Völker ist der Gegenstand der Vorlesungen, die ich für das bevorstehende Semester eröffne. Einleitende Bemerkungen zur näheren Bestimmung der Aufgabe, welche hierdurch gestellt ist, sodann über den Weg und die Mittel der Lösung, sollen uns in der heutigen Stunde beschäftigen.

Fassen wir die Aufgabe zunächst nur äußerlich, so besteht sie in einer geschichtlichen Darstellung der mündlichen Ueberlieferungen, die bei den genannten Volksstämmen im Verfolge der Zeiten in Umlauf waren. Von dieser äußern Bezeichnung aber werden wir zur innern Bedeutung gelangen, wenn wir uns zu zweien der angegebenen Merkmale die Gegensätze denken, zu der Sage der mündlichen Ueberlieferung die Literatur, den Schriftverkehr, zu den Völkern in ihrer Gesamtheit die einzelnen Verfasser bestimmter Werke. Der literarischen Ausbildung und dem Hervortreten schriftstellerischer Persönlichkeit geht überall ein Zeitalter volkstümlicher Ueberlieferung voran. Diese verschiedenen Zustände sind Erzeugnis und Ausdruck der inneren Geschichte des geistigen Völkerlebens. Solang alle Kräfte und Richtungen des Geistes in der Poesie gesammelt sind, blüht das Reich der lebendigen Sage; sobald die geistigen Tätigkeiten sich nach verschiedenen Seiten der Erkenntnis zu sondern beginnen, entfaltet sich die Literatur. Die Erfindung der Schrift an sich ist es keineswegs, was eine so wesentliche Veränderung hervorbringt; diese Erfindung selbst ist nur das Werk des für sie erwachsenen geistigen Bedürfnisses. Allerdings aber wird die Schrift das Mittel, wodurch der Anteil der einzelnen an dem geistigen Gesamtleben und den gesonderten Richtungen desselben zur Erscheinung kommt und in immer schärferen Individualitäten sich ausprägt. Und so besteht auch umgekehrt die Sage nicht bloß in Ermangelung des noch unerfundenen Buchstabens, sondern weil für diesen noch gar kein Bedürfnis vorhanden ist, weil die Bilderschrift poetischer Gestaltungen ihn gar nicht vermissen läßt. Eben damit ergibt sich aber, daß die Sage im großen und ganzen auch wirklich nur eine poetische sein kann; denn wo das Wort weder für abstraktes Denken zugebildet, noch durch die Schrift festgehalten ist, kann eine geistige Mitteilung, eine dauernde Ueberlieferung nicht anders gedacht werden als mittelst der Anschauungen der Einbildungskraft. Selbst geschichtliche Tatsachen müßten als bloße Gedächtnissache frühzeitig erlöschen, wenn sie nicht durch poetische Kräfte, durch Phantasie und Gemüt, gehoben und fortwährend aufgefrischt würden. Die Sage der Völker ist hiernach wesentlich Volkspoesie; alle Volkspoesie aber ist ihrem Hauptbestande nach sagenhaft, sofern wir unter Sage die Ueberlieferung durch Erzählen, das epische Element der Poesie, zu verstehen pflegen. Denn wenn schon auch der Volkspoesie keine der poetischen Grundformen völlig fremd ist und sie in ihrem ursprünglichsten Zustand die verschiedenen Dichtformen ungetrennt in sich schließt, so kann sie doch immer nur durch Gestalt und Handlung, durch das episch Anschauliche, nachhaltigen Bestand gewinnen.

Das Wesen der Volks- und Sagenpoesie soll uns zwar eben erst durch die geschichtliche Ausführung selbst in volleres Licht treten; doch scheint es angemessen, uns über das bisher Aufgestellte durch einige weitere Andeutungen zu verständigen.

Der Drang, der dem einzelnen Menschen inwohnt, ein geistiges Bild seines Wesens und Lebens zu erzeugen, ist auch in ganzen Völkern, als solchen, schöpferisch wirksam, und es ist nicht bloße Redeform, daß die Völker dichten. Eben in diesem gemeinsamen Hervorbringen haftet der Begriff der Volkspoesie, und aus ihrem Ursprung ergeben sich ihre Eigenschaften.

Wohl kann auch sie nur mittelst einzelner sich äußern, aber die Persönlichkeit der einzelnen ist nicht, wie in der Dichtkunst literarisch gebildeter Zeiten, vorwiegend, sondern verschwindet im allgemeinen Volkscharakter. Auch aus den Zeiten der Volksdichtung haben sich berühmte Sängernamen erhalten und, wo dieselbe noch jetzt blüht, werden beliebte Sänger namhaft gemacht. Meist jedoch sind die Urheber der Sagenlieder unbekannt oder bestritten, und die Genannten selbst, auch wo die Namen nicht ins Mythische sich verlieren, erscheinen überall nur als Vertreter der Gattung, die einzelnen stören nicht die Gleichartigkeit der poetischen Masse, sie pflanzen das Ueberlieferte fort und reihen ihm das Ihrige nach Geist und Form übereinstimmend an, sie führen nicht abgesonderte Werke auf, sondern schaffen am gemeinsamen Bau, der niemals beschlossen ist. Dichter von gänzlich hervorstechender Eigentümlichkeit können hier schon darum nicht als dauernde Erscheinung gedacht werden, weil die mündliche Fortpflanzung der Poesie das Eigentümliche nach der allgemeinen Sinnesart zuschleift und nur ein allmähliches Wachstum gestattet. Vornehmlich aber läßt ein innerer Grund die Ueberlegenheit der einzelnen nicht aufkommen. Die allgemeinste Teilnahme eines Volkes an Lied und Sage, wie sie zur Erzeugung einer blühenden Volkspoesie erforderlich ist, findet notwendig dann statt, wenn die Poesie, wie zuvor bemerkt wurde, noch ausschließlich Bewahrerin und Ausspenderin des gesamten geistigen Besitztums ist. Eine bedeutende Abstufung und Ungleichheit der Geistesbildung ist aber in diesem Jugendalter eines Volkes nicht wohl gedenkbar; sie kann erst mit der vorgerückten künstlerischen und wissenschaftlichen Entwickelung eintreten. Denn wenn auch zu allen Zeiten die einzelnen Naturen mehr oder weniger begünstigt erscheinen, die einen gebend, die andern empfangend, die geistigen Anregungen aber das Geschäft der Edleren sind, so muß doch in jenem einfacheren Zustande die poetische Anschauung bei allen lebendiger, bei den einzelnen mehr im allgemeinen befangen gedacht werden. Indem die geistigen Richtungen noch ungeschieden sind, haben sich auch der Eigentümlichkeit noch keine besondern Bahnen eröffnet; das künstlerische Bewußtsein steht noch nicht dem Stoffe gegenüber, darum auch keine absichtliche Mannigfaltigkeit der Gestaltung; der Stoff selbst, im Gesamtleben des Volkes festbegründet, durch lange Ueberlieferungen geheiligt, gibt keiner freieren Willkür Raum. Und so bleibt zwar die Tätigkeit der Begabteren unverloren, aber sie mehrt und fördert nur unvermerkt das gemeinsame Ganze.

Allerdings kann auf keiner Stufe der poetischen Literatur, selbst nicht bei dem schärfsten Gepräge dichterischer Eigentümlichkeiten, der Zusammenhang des einzelnen mit der Gesamtbildung seines Volkes völlig verleugnet werden. Erscheinungen, die in Nähe und Gegenwart schroff auseinander stehen, treten in der Ferne der Zeit und des Raumes in größere Gruppen zusammen, und diese Gruppen selbst zeigen unter sich einen gemeinschaftlichen Charakter. Stellt man sich so dem gesamten poetischen Erzeugnis eines Volkes gegenüber, und vergleicht man es nach außen mit den Gesamtleistungen anderer Völker, so betrachtet man dasselbe als Nationalpoesie; für unsern Zweck war es um den innern Gegensatz zu tun, um die Volkspoesie in ihrem Verhältnisse zur dichterischen Persönlichkeit.

Die Volkspoesie lebt, wie gezeigt worden, nur in mündlichem Vortrage. Das nun, daß ihre Gebilde lediglich mittelst der Phantasie und des angeregten Gemütes durch Jahrhunderte getragen werden, bewährt dieselben als probehaltig. Was nicht klar mit dem innern Auge geschaut, was nicht mit regem Herzen empfunden werden kann, woran sollte das sein Dasein und seine Dauer knüpfen? Die Schrift, die auch das Entseelte in Balsam aufbewahrt, die Kunstform, die auch dem Leblosen den Schein des Lebens leiht, sind nicht vorhanden. Auch nicht Wort und Tonweise, im Gedächtnis festgehalten, können das Nichtige retten; denn das schlichte Wort ist in jenen Zeiten keine Schönheit für sich, es lebt und stirbt mit seinem Gegenstande; die einfache Tonweise, wenn sie selbst Dauer haben soll, muß ursprünglich einem Lebendigen gedient haben. Je fester und lebensvoller jene echten Gebilde dastehen, um so weniger kann das Scheinleben in ihrem Kreise aufkommen und geduldet werden.

Worin liegt aber der Gehalt und die Kraft, vermöge deren sie durch viele Geschlechter unvertilgbar fortbestehen? Ohne Zweifel darin, daß sie die Grundzüge des Volkscharakters, ja die Urformen naturkräftiger Menschheit, wahr und ausdrucksvoll vorzeichnen. Glaubensansichten, Naturanschauungen, Charaktere, Leidenschaften, menschliche Verhältnisse treten hier gleichsam in urweltlicher Größe und Nacktheit hervor; unverwitterte Bildwerke, gleich der erhabenen Arbeit des Urgebirgs. Darum kann auch gerade den Zeiten, welche durch gesellige, künstlerische und wissenschaftliche Verfeinerung solchen ursprünglichern Zuständen am fernsten und fremdesten stehen, der Rückblick auf diese lehrreich und erquicklich sein; so ungefähr, wie der größte der römischen Geschichtschreiber aus seinem welken Römerreich in die frischen germanischen Wälder, auf die riesenhaften Gestalten, einfachen Sitten und gesunden Charakterzüge ihrer Bewohner, vorhaltend und weissagend hinüberzeigte.

Wenn wir uns hier die Volkspoesie nach ihrem vollsten Begriffe gedacht haben, so ist doch leicht zu erachten, daß sie in ihrer geschichtlichen Erscheinung bei verschiedenen Völkern, nach Gehalt und Umfang, in sehr mannigfachen Abstufungen und Uebergängen sich darstelle. Wie das Leben jedes Volkes wird auch das Bild dieses Lebens, die Poesie, beschaffen sein. Ein Hirtenvolk, in dessen einsame Gebirgtäler der Kampf der Welt nur fernher in dumpfen Widerhallen eindringt, wird in seinen Liedern und Ortssagen die beschränkten Verhältnisse ländlichen Lebens, die Mahnungen der Naturgeister, die einfachsten Empfindungen und Gemütszustände niederlegen; sein Gesang wird idyllisch-lyrisch austönen. Ein Volk dagegen, das seit unvordenklicher Zeit in weltgeschichtlichen Schwingungen sich bewegt, mit gewaltigen Schicksalen kämpft und große Erinnerungen bewahrt, wird auch eine reiche Dichtung, voll mächtiger Charaktere, Taten und Leidenschaften, aus sich erschaffen, und wie sein Leben weitere Kreise zieht und größere Zusammenhänge bildet, wie sich in ihm ein höheres Walten mit stärkeren Zügen offenbart, so werden auch seine poetischen Ueberlieferungen sich zum Cyklus einer großartigen Götter- und Heldensage verknüpfen und ausdehnen. Bei demselben Volk aber wird man die eigentliche Volkspoesie in dem Maße zurückweichen sehen, in welchem die literarische Bildung und die mit ihr verbundene Herrschaft dichterischer Persönlichkeit vorschreiten. Gedeihen und Absterben der Volkspoesie hängt überall davon ab, ob die Grundbedingung derselben, Teilnahme des gesamten Volkes feststehe oder versage; ziehen die edleren Kräfte sich von ihr zurück, dem Schriftentum zugewandt, so versinkt sie notwendig in Armut und Gemeinheit.

Wir haben die Sage der Völker als Volkspoesie, und zwar als eine in Gestalt und Handlung darstellende Poesie bezeichnet. Hierdurch ergibt sich uns für die Sagengeschichte wesentlich der poetische Gesichtspunkt und eben damit auch die Verschiedenheit unsrer Aufgabe von derjenigen, welche sich die Verfasser der bekanntesten mythologischen Geschichtwerke gesetzt haben. Görres in seiner asiatischen Mythengeschichte, Creuzer und Baur in ihren Darstellungen der Symbolik und Mythologie der alten Völker, Mone in der Geschichte des Heidentums im nördlichen Europa haben sich vorzugsweise die Glaubensforschung, die vorchristliche Religionsgeschichte, zum Gegenstande genommen. So wenig nun eine Aufgabe die andere aufhebt, so ergibt sich doch mit dem verschiedenen Standpunkt und Zwecke, hier dem poetischen, dort dem religionsgeschichtlichen, auch eine bedeutende Verschiedenheit in der Abgrenzung der zu bearbeitenden Gebiete und in der Geltung der vorliegenden Stoffe. Die Mythengeschichte in der angegebenen Bedeutung hat nur diejenigen Sagen in ihren Bereich zu ziehen, in denen eine Glaubensansicht entweder unmittelbar zum Ausdruck kommt oder doch aus ihren Wirkungen zu erkennen ist; der Sagengeschichte in unsrem Sinne fallen alle Ueberlieferungen anheim, welche das Leben der Völker, in göttlichen und menschlichen Beziehungen, geistig zurückspiegeln. Wenn somit die Sagengeschichte allerdings auch die religiöse Mythenwelt in sich aufnimmt und deshalb das Mythologische nur einen ergänzenden Teil ihres ausgedehnteren Gebietes auszumachen scheint, so kommt doch auf der andern Seite in Betracht, daß sie sich gerade da zurückzieht, wo die Mythenforschung am lebhaftesten andringt, da wo der nackte Glaubenssatz, das Philosophem, das in den Bildern liegt, das enthüllte Mysterium hervortreten will vor der priesterlichen Lehre, deren Geheimnis den Glaubensforschern so bedeutsam ist, die aber, auch ohne den Gebrauch der Schrift, zu der volksmäßigen Sagenpoesie nicht weniger im Gegensatz steht, als die literarisch-wissenschaftliche Besonderung späterer Zeiten. Strebt die Mythengeschichte durch alle die bunten Entfaltungen der Dichterfabel nach philosophischer Einheit, so vergnügt sich die Sagengeschichte, wie wir sie aufgefaßt, an der reichsten poetischen Mannigfaltigkeit; sind nach der Ansicht philosophischer Mythenforscher die Götterlehren der heidnischen Völker nur Verdunkelungen einstiger reiner Offenbarung, nur Trümmer eines gemeinsamen Ursystems (Schelling, Gottheiten von Samothrace S. 30. 87), und soll die wissenschaftliche Mythologie durch alle Trübung und Zerstückelung jene reine und ganze Erkenntnis erschauen oder erahnen lassen, so mag es sich doch auch in poetischer Richtung der Mühe lohnen, jene Offenbarung der göttlichen Schöpferkraft, die im Geist und Gemüte der Menschen unversieglich fortwirkt, in ihre lebendigen Bildungen, wie die volksmäßigen Sagenkreise sie darbieten, zu verfolgen. Ist es verdienstlich, die Gedanken, die in den Mythen verborgen sind, rein zu ermitteln und in ihren Zusammenhängen darzulegen, so dürfen doch auch die poetischen Gestaltungen als solche nicht vernachlässigt werden, d. h. sofern sich in ihnen unmittelbar der innere Gehalt ausspricht, wie aus dem Auge die Seele blickt, sofern es eben auf diese Ungetrenntheit der Idee und der Erscheinung ankommt, ohne welche die Idee des Wesens und die Erscheinung des Geistes entbehren müßte. Während nun der mythologischen Ansicht, wo sie sich allzu einseitig ausgebildet hat, die Götterwelt selbst, sobald sie sich aus dem Unbegrenzten und Ungeheuren zu gestalten anhebt, sogleich verdächtig wird, die Heldensage, das Epos aber nur für eine vermenschlichte gesunkene Göttersage gilt Mone I, 327., so beginnt das poetische Interesse der Sagengeschichte gerade da, wo aus dem Hintergrunde des Unendlichen die Gestalten hervorspringen, und es steigt in dem Maße, als sich die Schöpfungen vervielfältigen, es findet sich am vollkommensten befriedigt, da wo Himmel und Erde, Göttliches und Menschliches, gestaltenreich und bewegt, zu einem vollen Leben ineinandergreifen.

So viel über Sage und Sagengeschichte im allgemeinen. Welche besondre Arten der Ueberlieferung in den Bereich der letztern fallen, werden wir gleich nachher berühren, wo von der Anordnung des geschichtlichen Vortrags zu sprechen ist.

Zur Bestimmung unsrer Aufgabe gehört aber hauptsächlich noch, daß wir uns über sie als eine Sagengeschichte der germanischen und romanischen Völker erklären.

Es ist die nationale Stellung, von der aus wir unsern Kreis beschreiben. Das deutsche Volk hat eine reiche, zum umfassenden epischen Zyklus ausgebildete Heldensage, und neben dieser noch hat es mannigfache andre Sagenbildungen angesetzt. Aber das Vorhandene selbst weist uns auf vieles hin, was einst vorhanden war und was dem auf uns Gekommenen zur Erklärung dienen sollte. Dieses gilt besonders in Beziehung auf den mythischen Bestand der Sagen. Suchen wir Ergänzung und Aufklärung, so müssen wir unsern Gesichtskreis auf diejenigen Völker erweitern, die sich uns durch Sprachverwandtschaft als Glieder des großen germanischen Gesamtstammes bewähren. So nun zeigt sich uns vorzüglich bei den Völkern des skandinavischen Nordens eine gemeinsame Götterlehre, dort noch ganz und klar, bei uns zertrümmert und verbleicht, eine gemeinsame Heldensage und, auch wo die Sagenäste sich scheiden, der gemeinschaftliche Ursprung. Ueberhaupt aber wird uns jedes der politisch untergegangenen oder noch blühenden germanischen Völker, sofern von den erstern überhaupt nähere Kunde geblieben ist, wechselseitige Beziehungen für die Kenntnis volkstümlicher Ueberlieferung eröffnen. Damit erstreckt sich unsre geschichtliche Forschung und Darstellung über die Gesamtheit der Völker des germanischen Sprach- und Volksstammes.

Was aber die romanischen Völker betrifft, d. h. diejenigen, deren Sprachen aus der Vermischung der altlateinischen mit andern, vorzüglich germanischen Idiomen hervorgegangen sind, so hat bei ihnen, mit den Einflüssen der germanischen Eroberungen überhaupt, auch die Sagenpoesie der Eroberer, wenngleich diese die Sprache der Besiegten annehmen, sich wirksam und fruchtbar erwiesen, und soweit dieses der Fall ist, sollen darum auch sie in den Kreis unsrer Aufgabe gezogen werden.

Von den nichtgermanischen Volksstämmen, welche vor oder nach den Germanen sich in europäischen Ländern angesiedelt haben, sind besonders der keltische und der slavische durch reichere Sagendichtung ausgezeichnet; ihre Sagen bieten auch, wie es nicht bloß die Nachbarschaft, sondern auch die weitere Verwandtschaft aller europäischen Stämme mit sich bringt, manche Beziehung zu der germanischen dar; aber die Aufgabe zu einer europäischen Sagengeschichte auszudehnen, würde mir schon die Unbekanntschaft mit den keltischen und slavischen Sprachen verbieten. Soweit jedoch in Frankreich und England die Mythen und Sagen der ältern keltischen Einwohner mit den germanischen sich verbunden und vermengt haben, werden auch sie, nach Maßgabe der zugänglichen Mittel, in Betracht gezogen werden.

Ueber den Weg zur Lösung der Aufgabe, wie sie im Bisherigen gestellt wurde, über die Anordnung der geschichtlichen Darstellung, füge ich weniges bei, da sich das Verfahren doch nur am Gegenstande selbst erproben kann.

Vor allem bringt es der entwickelte Begriff der Sage mit sich, daß wir sie von der Literatur völlig ablösen. Nicht als ob unterlassen werden dürfte, überall die literarischen Quellen und Hilfsmittel anzugeben, aus denen und durch welche die Kenntnis der Sage zu schöpfen ist. Aber das Schriftwerk als solches, das einzelne Gedicht, als Kunstganzes, der jeweilige Verfasser und Ordner sind uns nicht von wesentlichem Interesse, sie gehen uns nur insoweit an, als uns die nähere Bekanntschaft mit ihnen Merkmale für die kritische Würdigung der volksmäßigen Echtheit der in Schrift gefaßten Sage darbietet. Der poetische Stil, die Sprache, die äußere Kunstform sind uns ebensowenig für sich von Belang. Eine Aufzeichnung und Behandlung, welche das größte technische Ungeschick verrät, kann uns wichtiger sein als die künstlerisch lobenswerteste Bearbeitung; jene läßt vielleicht, eben wegen Unvermögens des Verfassers, selbst etwas zur Sache zu tun, den ursprünglichen Sagenbestand viel unverletzter, als die geschicktere Hand des selbsttätigen Bearbeiters. Dichter, als Individuen von eigentümlicher Persönlichkeit, kommen nach dem, was über das Wesen der Volkspoesie gesagt worden, hier nicht vor; handeln wir von den Stimmen, durch welche der poetische Geist der Völker in Sang und Sage sich aussprach, so kann nur von ganzen Klassen der Sänger und Sagenerzähler die Rede sein. Ueberall muß unser Bestreben dahin gehen, die Sage aus allen Formen, in die sie eingefangen ist, wieder frei und flüssig zu machen, sie dem beweglichen Elemente, in dem sie geworden und gewachsen ist, zurückzugeben.

Wo in den vorhandenen Schriftdenkmälern die Sage schon in großen und echten Gestaltungen vorliegt, werden davon Auszüge und Umrisse gegeben werden, mit Weglassung alles dessen, was sich Unwesentliches oder Fremdartiges beigemischt hat. Am besten wird immer die Sage selbst sprechen. Freier muß gesondert und verknüpft werden, wo Bestandteile derselben Sage in mehreren, oft nach Zeit und Sprache getrennten Denkmälern auseinander liegen. Endlich sind oft nur einzelne, fast versunkene und erloschene Ueberreste und Andeutungen vorhanden, welche doch, wenn jede leisere Spur verfolgt, wenn alles Zerstreute emsig gesammelt wird, unverhofft zu bedeutendern mythischen und sagenhaften Verbindungen anschwellen.

Den Auszügen und Kombinationen sollen dann Erläuterungen und Betrachtungen über Geschichte und Bedeutung der Sagen und Sagenkreise nachfolgen.

Mit der Göttersage, dem Mythus im engeren Sinne, wird da, wo eine solche in größern und erkennbaren Zügen vorliegt, der Anfang gemacht werden. Daran reiht sich die Heldensage, der epische Cyklus. Ortssagen, Geschlechtssagen, sonstige vereinzelte Sagen von mythischem oder geschichtlichem Anstrich werden der Götter- und Heldensage zur Ergänzung und Bestätigung dienen können oder von dort ihre Erklärung erhalten. Balladen, episch-lyrische Volkslieder, werden bald als die einfachen Typen größerer Dichtungen, bald als rhapsodische Bruchstücke verlorener Liederkreise oder als halb unkenntlich gewordene Umwandlungen älterer Mythen und Sagen unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. An manchen Orten werden wir aber auch in den Volksballaden sich eigene und neue Sagenkreise geringeren Umfangs bilden sehen. Manches endlich, was Mythus und Epos in fester Gestaltung, bestimmter Bedeutung, geordnetem Zusammenhang unter geschichtlichen Namen und örtlicher Bezeichnung aufführen, wird uns das Märchen in kindlichem Spiel, in phantastischer Auflösung, namen- und heimatlos wiedergeben.

Aber nicht bei jedem Volke werden uns alle diese Arten der Ueberlieferung, Göttersage, Heldensage, Orts- und Geschlechtssage, Ballade, Märchen, in so vollständiger Folge zu Gebot stehen. Oefters werden wir erst aus der Heldensage auf die untergegangene Götterwelt zurückschließen müssen oder nur noch aus Lokalsagen, Volksliedern, Märchen den ersterbenden Nachhall vollerer Sagenklänge vernehmen.

Das Ganze unsrer geschichtlichen Darstellung ordnet sich in zwei Hauptteile, deren erster die Sagengeschichte der germanischen, der zweite die der romanischen Völker behandeln wird. Jeder der beiden Hauptteile zerfällt dann, nach den Völkern, die ihm angehören, in untergeordnete Abschnitte.

Die Literatur der Quellen und Hilfsmittel wird je bei den besonderen Abschnitten, bei den Sagenkreisen und einzelnen Sagen, angegeben werden.

Allgemeinere Literaturnotizen am Schlusse dieser Einleitung beizufügen, bin ich darum nicht imstande, weil mir keine umfassendere Sagengeschichte in dem angezeigten Sinn bekannt ist. Am nächsten noch eignet sich hierher die schon erwähnte Geschichte des Heidentums im nördlichen Europa von F. J. Mone, 2 Teile, Leipzig und Darmstadt 1822 (auch als 5. und 6. Teil der Creuzerschen Symbolik und Mythologie der alten Völker). Mones Standpunkt ist aber ganz der religionsgeschichtliche und erstreckt sich in dieser ausschließlichen Richtung auch auf die finnischen, slavischen und keltischen Völkerstämme.

Eben der Umstand, daß die von mir betretene Bahn erst versucht werden muß, wird auch zur Folge haben, daß ich die große Masse des für eine solche Sagengeschichte nötigen Materials auf das erste Mal weder so vollständig noch so durchgearbeitet werde geben können, als es bei längerer Bearbeitung nach meinen eigenen Anforderungen geschehen sollte.


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