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Abends fuhr ich in Begleitung eines Freundes von Heidelberg nach Mannheim, um ein Scharivari zu hören – oder vielleicht eine Oper – sie heißt ›Lohengrin‹. Das Hämmern und Klopfen, das Sausen und Krachen war über alle Beschreibung. Es erregte mir einen unerträglich quälenden Schmerz, ganz ähnlich wie das Plombieren der Zähne beim Zahnarzt. Zwar hielt ich die vier Stunden bis zum Schluß aus, die Umstände nötigten mich dazu, aber die Erinnerung an dies endlos lange, erbarmungslose Leiden hat sich mir unauslöschlich eingeprägt. Daß ich es schweigend ertragen mußte und mich dabei nicht vom Fleck rühren könnte, machte die Sache noch ärger. Ich war mit acht bis zehn fremden Personen beiderlei Geschlechts in einem umhegten Raum eingeschlossen und versuchte natürlich mich so viel wie möglich zu beherrschen, doch überkam mich dann und wann ein so namenloses Weh, daß ich kaum imstande war, die Tränen zurückzuhalten. Wenn das Geheul, das Geschrei und Klagegestöhn der Sänger und das rasende Toben und Donnergetöse des ungeheuern Orchesters noch wilder und grimmiger wurde und sich zu immer höheren Höhen verstieg, hätte ich laut aufschluchzen mögen. Aber ich war nicht allein und die Fremden neben mir hätte ein solches Benehmen sicherlich überrascht; sie würden allerlei Bemerkungen darüber gemacht haben. Freilich mit Unrecht; denn, einen Menschen weinen zu sehen, dem man – um bildlich zu sprechen – bei lebendigem Leibe die Haut abzieht, sollte niemanden in Erstaunen setzen.
In der halbstündigen Pause am Ende des ersten Akts hätte ich hinausgehen und mich etwas erholen können, aber ich wagte es nicht, aus Furcht, fahnenflüchtig zu werden, was ich meinem Reisegefährten nicht antun wollte. Als dann gegen neun Uhr abermals eine Pause eintrat, hatte ich schon so viel durchgemacht, daß ich keine Widerstandskraft mehr besaß. In Ruhe gelassen zu werden, war mein einziges Verlangen. Ich will nicht behaupten, daß die übrigen Zuhörer meine Gefühle teilten, das war keineswegs der Fall. Ob sie für den Lärm von Natur eine besondere Vorliebe besaßen, oder ob sie sich mit der Zeit daran gewöhnt hatten, ihn schön zu finden, – jedenfalls gefiel er ihnen, das unterlag keinem Zweifel. Während das Getöse in vollem Gange war, saßen sie mit verzückten und wohlgefälligen Mienen da, wie Katzen, denen man den Rücken streichelt; kaum aber fiel der Vorhang, so stand die ganze ungeheure Menge wie ein Mann auf, und ein wahres Schneegestöber von wehenden Taschentüchern sauste durch die Luft, von Beifallsstürmen begleitet. Dies ging über mein Verständnis. Zudem waren die Logen und Ränge bis zum Schluß so voll wie sie es zu Anfang gewesen, und da sich nicht annehmen ließ, daß die Zuhörer alle nur gezwungen dablieben, mußte es ihnen wohl Vergnügen machen.
Was das Stück selbst betraf, so zeichnete es sich zwar durch prächtige Kostüme und Scenerieen aus, aber es enthielt merkwürdig wenig Handlung. Das heißt, es geschah in Wirklichkeit nichts, doch wurde viel über die Begebenheiten hin und her geredet und immer mit großer Aufregung. Man könnte es eine dramatisierte Erzählung nennen. Jeder Mitspieler trug eine Geschichte und eine Beschwerde vor, aber nicht ruhig und vernünftig, sondern auf eine höchst beleidigende, unbotmäßige Art und Weise. Ferner fiel mir auf, daß Tenor und Sopran sich nur selten in ihrer gewöhnlichen Manier dicht an die Rampen stellten, um mit vereinten Kräften und Stimmen zu trillern, die Arme nach einander auszustrecken, sie wieder zurückzuziehen, erst die rechte, dann die linke Hand auf die Brust zu drücken und sich dabei zu schütteln. Nein, jeder Lärmmacher besorgte seine Sache für sich allein; nach einander sangen sie ihre verschiedenen Anschuldigungen mit Begleitung des ganzen großen Orchesters. Wenn dies eine Weile gedauert hatte und man sich gerade mit der Hoffnung schmeichelte, sie würden sich nun verständigen und etwas weniger Spektakel machen, dann begann plötzlich ein Riesenchor, der aus lauter Tollhäuslern zusammengesetzt war, loszukreischen, und ich mußte zwei, oft auch drei Minuten lang alle Qualen noch einmal durchleben, die ich vor Jahren erlitten habe, als das Waisenhaus in N. in Brand geriet.
Diese lange und mit größter Anschaulichkeit durchgeführte Wiedergabe der gräßlichen Höllenpein ward nur durch einen einzigen kurzen Beigeschmack von Himmelsfrieden und Seligkeit unterbrochen – nämlich im dritten Akt, während ein prachtvoller Festzug auf der Bühne fort und fort rund um ging und der Hochzeitsmarsch ertönte. Dies war Musik für mein ungeschultes Ohr – göttliche Musik. Während der heilende Balsam jener lieblichen Töne meine wunde Seele überflutete, hätte ich fast alle vergangenen Qualen wieder erdulden mögen, um noch einmal diese süße Erquickung zu durchleben. Dabei wurde mir klar, mit welcher Schlauheit die Oper ihre Wirkung berechnet. Sie erregt so viele und schreckliche Leiden, daß die wenigen dazwischen gestreuten Freuden durch den Gegensatz aufs wunderbarste erhöht werden.
Nichts lieben die Deutschen so von ganzem Herzen wie die Oper. Sie werden durch Gewohnheit und Erziehung dahin geleitet. Auch wir Amerikaner können es ohne Zweifel eines Tages noch zu solcher Liebe bringen. Bis jetzt findet aber vielleicht unter fünfzig Besuchern der Oper einer wirklich Gefallen daran; von den übrigen neunundvierzig gehen viele, glaube ich, hin, weil sie sich daran gewöhnen möchten, und die andern, um mit Sachkenntnis davon reden zu können. Letztere summen gewöhnlich die Melodien vor sich hin, während sie auf der Bühne gesungen werden, um ihren Nachbarn zu zeigen, daß sie nicht zum erstenmal in der Oper sind. Sie verdienten dafür gehängt zu werden.
Drei bis vier Stunden auf einem Fleck zu bleiben, ist keine Kleinigkeit; einige von Wagners Opern zerschmettern aber das Trommelfell der Zuhörer sechs Stunden hintereinander. Die Leute sitzen da, freuen sich und wünschen, es dauerte noch länger. Mir sagte einmal eine deutsche Dame in München, Wagner gefiele keinem gleich bei der ersten Aufführung, man müsse ihn erst lieben lernen; dazu gehöre ein förmlicher Kursus, habe man den aber durchgemacht, so dürfe man auch sicher auf den Lohn rechnen; wer die Musik einmal lieben gelernt, verspüre einen solchen Hunger danach, daß er nie genug bekommen könne; sechs Stunden Wagner sei gar nicht zu viel. Dieser Komponist, sagte sie, habe in der Musik eine völlige Umwälzung hervorgebracht, die alten Meister müßten sich einer nach dem anderen von ihm begraben lassen. Nach ihrer Ansicht bestand der Unterschied zwischen Wagners Opern und allen übrigen hauptsächlich darin, daß sie nicht nur hie und da eingestreute Melodien enthielten, sondern, vom ersten Tone an, aus einer einzigen Melodie beständen. Das war mir überraschend und ich erwiderte, ich hätte der Aufführung einer seiner Schöpfungen beigewohnt und außer dem Hochzeitsmarsch wäre mir nichts darin wie Musik vorgekommen. Darauf riet sie mir, Lohengrin noch recht oft zu hören, dann würde ich mit der Zeit die endlose Melodie gewiß herausfühlen. Ich hatte schon auf der Zunge, sie zu fragen, ob sie einem Menschen wohl zureden würde, sich jahrelang darin zu üben, Zahnschmerzen zu haben, um schließlich einen Genuß daran zu finden. Aber ich unterdrückte die Bemerkung.
Die Dame sprach auch von dem ersten Tenor, den sie am vergangenen Abend in einer Wagnerschen Oper gehört hatte. Sie war seines Lobes voll, pries seinen altbewährten Ruhm und zählte die Auszeichnungen auf, welche ihm von sämtlichen Fürstenhäusern Deutschlands zu teil geworden waren. Das setzte mich abermals in Erstaunen. Ich war nämlich bei jener Aufführung zugegen gewesen – vertreten durch meinen Reisebegleiter – und hatte die genauesten Beobachtungen angestellt.
»Aber, gnädige Frau,« erwiderte ich daher, »mein Vertreter hat sich mit eigenen Ohren überzeugt, daß jener Tenor gar nicht singt, sondern nur kreischt und heult – wie eine Hyäne.«
»Das ist wahr,« versetzte sie, »jetzt kann er nicht mehr singen; seit vielen Jahren hat er schon die Stimme verloren; aber früher sang er wahrhaft himmlisch. Deshalb kann auch das Theater kaum die Zuhörer fassen, wenn er auftritt. Jawohl, bei Gott, seine Stimme klang wunderschön – in jener alten Zeit.«
Dies offenbarte mir einen freundlichen Charakterzug der Deutschen, welcher alle Anerkennung verdient. Jenseits des Ozeans sind wir weniger hochherzig. Wenn bei uns ein Sänger die Stimme verloren hat, oder ein Springer seine Beine, so ist es mit der Gunst des Publikums für ihn vorbei. Nach meiner Erfahrung zu urteilen, – ich bin dreimal in der Oper gewesen, einmal in Hannover, einmal in Mannheim und einmal in München, wo ich mich vertreten ließ – scheinen die Deutschen diejenigen Sänger am liebsten zu hören, welche nicht mehr singen können.
Das ist durchaus keine Übertreibung. In Heidelberg war die ganze Stadt schon eine Woche lang im voraus außer sich vor Entzücken über den dicken Tenor gewesen, der in Mannheim auftrat. Seine Stimme klang aber täuschend, als kratze man mit einem Nagel auf einer Fensterscheibe. Das gaben die Heidelberger auch zu, aber in früherer Zeit, meinten sie, sei sein Gesang so herrlich gewesen wie kein anderer. Ähnlich ging es mir in Hannover. Der Herr, mit dem ich dort in der Oper war, strahlte förmlich vor Begeisterung.
»Sie werden den großen Mann sehen,« rief er, »in ganz Deutschland ist sein Ruhm verbreitet. Er bezieht eine Pension von der Regierung und braucht nur noch zweimal jährlich zu singen. Thut er das aber nicht, so wird ihm die Pension entzogen.« Als der bejahrte Tenor nun wirklich auftrat, war ich sehr enttäuscht. Wenn er hinter einem Schirm gestanden hätte, würde ich geglaubt haben, man schneide ihm gerade die Gurgel ab. Ich warf meinem Bekannten einen Blick zu, aber der schwelgte in Wonne, seine Augen funkelten vor Vergnügen. Als der Vorhang endlich fiel, erhob sich ein wahrer Beifallssturm, welcher kein Ende nehmen wollte, bis der gewesene Tenor dreimal wieder zum Vorschein gekommen war und seine Verbeugungen gemacht hatte. Mein Freund klatschte aus Leibeskräften mit, dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn.
»Entschuldigen Sie,« sagte ich, »aber nennen Sie das Gesang?«
»Nein, Gott im Himmel, das nicht – aber vor fünfundzwanzig Jahren, da konnte er singen! Jetzt singt er nicht mehr, er schreit nur. Wenn man einer Katze auf den Schwanz tritt, klingt es gerade so.«
Wir halten die Deutschen im allgemeinen für ein ruhiges, phlegmatisches Volk, aber das ist weit gefehlt. Sie sind warmherzig, heißblütig und folgen der Eingebung des Augenblicks. Man kann sie ebenso leicht zu Thränen rühren wie zum Lachen bringen. Ihre Treue ist unerschütterlich und wen sie einmal ins Herz geschlossen haben, von dessen Lobe fließt ihr Mund über und sie werden nicht müde, ihm zuzujubeln. Wir Amerikaner sind kalt und zurückhaltend im Vergleich mit ihnen.