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Kaum war er in diese Stadt gekommen und in einem Gasthaus abgestiegen, als er sich auch gleich auf die Suche nach dem Hause der Witwe Milowidow machte. Während der ganzen Reise befand er sich in einer seltsamen Erstarrung, was ihn übrigens nicht hinderte, alles richtig zu machen: in Nischnij-Nowgorod die Eisenbahn mit dem Dampfschiff zu vertauschen, auf den Stationen zu essen und so weiter. Er war noch immer überzeugt, daß dort sich alles lösen würde; darum hielt er alle Erinnerungen und Betrachtungen von sich fern und begnügte sich mit den Vorbereitungen zum »Speech«, in dem er den Angehörigen Klaras seine Beweggründe klarmachen würde.
Endlich war er am Ziel und ließ sich anmelden. Man ließ ihn ein, wenn auch mit einiger Bestürzung und Angst.
Das Haus der Witwe Milowidow war tatsächlich so, wie Kupfer es beschrieben hatte; auch die Witwe selbst erinnerte an eine der Kaufmannsfrauen Ostrowskijs, obwohl sie eine Beamtenwitwe war: Ihr Mann hatte den Rang eines Kollegien-Assessors gehabt. Aratow entschuldigte sich zunächst wegen seiner Dreistigkeit und der Seltsamkeit seines Besuchs und hielt dann mit ziemlicher Mühe den vorbereiteten »Speech«. Er sprach von seinem Wunsch, alles Wissenswertes über die so jung verstorbene Künstlerin zu sammeln, und sagte, daß er dabei nicht von müßiger Neugierde, sondern von tiefer Sympathie für ihr Talent, dessen Verehrer (er gebraucht diesen Ausdruck: »Verehrer«) er gewesen sei, geleitet werde; daß es schließlich eine Sünde wäre, wenn man das Publikum in Unwissenheit darüber ließe, was es in ihr verloren habe und warum die auf sie gesetzten Hoffnungen nicht in Erfüllung gegangen waren.
Frau Milowidow unterbrach ihn nicht; sie verstand wohl kaum, was ihr dieser unbekannte Gast sagte, glotzte ihn erstaunt an und dachte sich nur, daß er ganz harmlos aussehe, anständig gekleidet, also kein Schwindler sei und wohl auch kein Geld erpressen werde.
»Sprechen Sie von Katja?« fragte sie, als Aratow fertig war.
»Gewiß . . . von Ihrer Tochter.«
»Sind Sie deswegen aus Moskau hergekommen?«
»Ja, aus Moskau.«
»Nur deswegen?« – »Ja, nur deswegen.«
Frau Milowidow fuhr plötzlich zusammen. »Sie sind wohl ein Schreiber? Schreiben Sie in den Journalen?«
»Nein, ich bin kein Schreiber und habe bisher in den Journalen nicht geschrieben.«
Die Witwe neigte den Kopf. Sie konnte gar nichts begreifen.
»Sie sind also . . . aus eigenem Antrieb gekommen?« fragte sie plötzlich. Aratow mußte sich auf eine Antwort besinnen.
»Aus Mitgefühl, aus Verehrung für das Talent«, antwortete er schließlich.
Das Wort »Verehrung« gefiel der Frau Milowidow gut. »Nun, warum auch nicht«, begann sie mit einem Seufzer. »Ich bin zwar ihre Mutter, und mein Schmerz war groß . . . Dieses unerwartete Unglück! Ich muß aber sagen: Sie war immer wild und hat auch auf eine wilde Manier geendet! Diese Schande! Urteilen Sie doch selbst, wie es der Mutter ums Herz ist! Ich muß schon damit zufrieden sein, daß sie ein christliches Begräbnis bekam.« Frau Milowidow bekreuzigte sich. »Von Kind auf gehorchte sie keinem Menschen, dann lief sie aus dem Elternhause fort und wurde zuletzt – bedenken Sie nur! – Schauspielerin! Natürlich sagte ich mich von ihr nicht los: Ich liebte sie ja und war immerhin ihre Mutter! Sie durfte doch nicht bei fremden Leuten wohnen oder betteln gehen.« Die Witwe vergoß einige Tränen. »Und wenn Sie, mein Herr«, begann sie von neuem, die Augen mit dem Ende ihres Tuches abwischend, »wenn Sie wirklich diese Absicht haben und uns keine Unehre antun, sondern, im Gegenteil, Ihre Aufmerksamkeit erweisen wollen – so sprechen Sie mit meiner anderen Tochter. Sie wird Ihnen alles viel besser als ich erzählen können – Annotschka!« rief Frau Milowidow, »Annotschka, komm doch her! Hier ist ein Herr aus Moskau, der mit dir wegen Katja sprechen möchte!«
Im Nebenzimmer klopfte etwas, aber niemand kam zum Vorschein. »Annotschka!« rief die Witwe wieder, »Anna Ssemjonowna! Komm, wenn man dich ruft!«
Die Tür ging leise auf, und an der Schwelle erschien ein nicht mehr junges Mädchen, kränklich, unschön, doch mit sanften, traurigen Augen. Aratow erhob sich bei ihrem Erscheinen und stellte sich, unter Berufung auf seinen Freund Kupfer, vor. »Ach so, Sie kennen Fjodor Fjodorowitsch!« sagte das Mädchen leise und ließ sich lautlos auf einen Stuhl nieder.
»Also sprich mit dem Herrn«, sagte Frau Milowidow, sich schwerfällig von ihrem Platz erhebend, »der Herr hat sich eigens dazu aus Moskau herbemüht, er will einiges über Katja erfahren. Mich müssen Sie aber entschuldigen, mein Herr!« fügte sie hinzu. »Ich muß nach der Wirtschaft schauen. Mit Annotschka werden Sie sich gut verständigen, sie wird Ihnen vom Theater erzählen . . . und vom übrigen. Sie ist klug und gebildet: kann französisch und liest Bücher, steht ihrer seligen Schwester in nichts nach. Sie hat sie ja sozusagen erzogen: Sie war die ältere und gab sich mit ihr ab.«
Frau Milowidow zog sich zurück.
Als Aratow mit Anna Ssemjonowna allein geblieben war, wiederholte er seinen Speech. Da er aber gleich auf den ersten Blick merkte, daß er es mit einem wirklich gebildeten Wesen und nicht mit einer gewöhnlichen Kaufmannstochter zu tun hatte, sprach er etwas weitläufiger als vorhin mit der Mutter und gebrauchte auch andere Ausdrücke. Zum Schluß wurde er aufgeregt, errötete und fühlte, wie ihm das Herz pochte. Anna hörte ihm schweigend mit gefalteten Händen zu; ein trauriges Lächeln wich nicht von ihrem Gesicht – ein bitteres, noch nicht verheiltes Weh sprach aus diesem Lächeln.
»Haben Sie meine Schwester gekannt?« fragte sie Aratow.
»Nein, ich habe sie eigentlich nicht gekannt«, antwortete er. »Ich habe sie wohl einmal gesehen und gehört. Es genügte aber, Ihre Schwester einmal zu sehen und zu hören . . .«
»Wollen Sie ihre Biographie schreiben?« fragte Anna.
Aratow hatte diese Frage nicht erwartet. Er antwortete aber sofort: »Warum auch nicht? Vor allem möchte ich das Publikum unterrichten . . .«
Anna unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
»Wozu das? Das Publikum hat ihr viel Leid zugefügt; Katja fing ja erst zu leben an. Doch wenn Sie selbst (Anna blickte ihn an und lächelte wieder traurig, doch etwas freundlicher. Es war, wie wenn sie sich sagte: Ja, du flößt mir wohl Vertrauen ein!), wenn Sie selbst soviel Mitgefühl für sie haben, so wollen Sie gütigst heute nachmittag nach dem Essen wiederkommen. Jetzt kann ich nicht . . . so plötzlich. Ich muß mich sammeln. Ich werde es versuchen. Ach, ich habe sie zu sehr geliebt!«
Anna wandte sich ab; sie schien dem Weinen nahe.
Aratow erhob sich schnell von seinem Stuhl, dankte für das Anerbieten, versprach unbedingt, ja, unbedingt zu kommen, und ging, ganz im Banne ihrer leisen Stimme und der sanften, traurigen Augen – und er verzehrte sich vor Sehnsucht nach dem Wiedersehen.