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XII.

So flossen die Tage dahin. Sinaïde wurde immer seltsamer, unbegreiflicher. Einst kam ich zu ihr, als sie auf einem Rohrstuhle saß und den Kopf hart an die scharfe Kante des Tisches gedrückt hielt. Sie richtete sich auf ... ihr ganzes Gesicht schwamm in Tränen.

– Ah, Sie sind's! sagte sie mit grausamem Lächeln. – Kommen Sie doch näher.

Ich trat zu ihr: sie legte mir die Hand auf den Kopf und begann plötzlich meine Haare zu zausen und sie mit den Fingerspitzen zusammenzudrehen.

– Es schmerzt ... sagte ich endlich.

– Ah! es schmerzt! schmerzt es mich denn nicht? mich denn nicht? wiederholte sie dabei.

– Ei! schrie sie plötzlich auf, als sie sah, daß sie mir eine Menge Haare ausgerissen hatte. – Was habe ich da gemacht? Armer Monsieur Woldemar!

Vorsichtig ordnete sie die ausgerissenen Haare, wickelte sie um ihren Finger und machte sich einen Ring daraus.

– Ich werde Ihre Haare in mein Medaillon legen und tragen – sagte sie ... Tränen standen noch immer in ihren Augen. – Vielleicht wird Sie das einigermaßen trösten ... jetzt aber, leben Sie wohl!

Ich kehrte nach Hause zurück und wurde dort Zeuge einer peinlichen Scene. Meine Mutter hatte eine Erörterung mit meinem Vater: sie machte ihm Vorwürfe über Etwas, er aber schwieg dazu, kalt und höflich, wie es seine Gewohnheit war – und fuhr bald darauf vom Hause fort. Ich konnte nicht verstehen, wovon meine Mutter sprach und dann lag mir auch anderes im Sinne; indessen erinnere ich mich doch, daß sie mich nach der Erörterung zu sich in ihr Kabinett rufen ließ und mir sehr aufgebracht Vorwürfe über meine häufigen Besuche bei der Fürstin machte, die, wie sie sich ausdrückte, »une femme capable de tout« wäre. Ich küßte ihr die Hand (was ich jedesmal tat, wenn ich ihren Vorwürfen ein Ende machen wollte) und begab mich auf mein Zimmer. Sinaïdes Tränen hatten mich ganz außer Fassung gebracht: ich wußte nicht, was ich von ihr denken sollte, und war selbst dem Weinen nahe, trotz meiner sechzehn Jahre war ich noch immer solch ein Kind. Ich dachte jetzt nicht mehr an Malewsky, obgleich Belowsorow mit jedem Tage ihm drohendere Mienen zeigte und auf den geschmeidigen Grafen Blicke schleuderte, wie ein Wolf auf ein Lamm; überhaupt dachte ich an Niemanden und an nichts. Ich verlor mich in unbestimmten Vermutungen und suchte beständig abgelegene Plätze auf. Besonders lieb waren mir die Trümmer des Treibhauses geworden. Dorthin, auf die hohe Mauer, pflegte ich zu klettern und saß dann da, ein so unglücklicher, einsamer und trauernder Jüngling, daß ich mir selbst leid zu tun begann – und doch, wie lieb waren mir diese traurigen Empfindungen, wie gern gab ich mich ihnen hin! ...

So saß ich wieder einmal auf der Mauer, blickte in die Ferne und lauschte dem Glockengeläute ... plötzlich durchzuckte mich Etwas – es war kein Lüftchen, kein Schauer ... es war wie ein Hauch, wie die Empfindung von etwas mir Nahem ... Ich senkte den Blick. Unten auf dem Wege, in leichtem grauen Kleide, mit rosenfarbenem Sonnenschirme auf der Schulter, ging Sinaïde eilig dahin. Sie wurde mich gewahr, blieb stehen, bog den Rand ihres Strohhutes zurück und erhob ihren Blick zu mir.

– Was machen Sie dort in solcher Höhe? fragte sie mich mit einem sonderbaren Lächeln. – Wohlan, fuhr sie fort, Sie versichern immer, Sie lieben mich – springen Sie doch zu mir herunter auf den Weg, wenn Sie mich wirklich lieben.

Sinaïde hatte diese Worte kaum ausgesprochen, so flog ich schon hinab, als wenn mich Jemand von hinten hinuntergestoßen hätte. Die Mauer war gegen zwei Klafter hoch. Ich fiel gerade auf die Füße, doch war der Sturz so heftig, daß ich mich nicht aufrecht zu erhalten vermochte: ich fiel hin und verlor auf einen Augenblick die Besinnung. Als ich zu mir gekommen war, empfand ich, ohne die Augen zu öffnen, daß Sinaïde neben mir stand. »Mein lieber Junge« – sagte sie über mich gebeugt – und in ihrer Stimme lag besorgte Zärtlichkeit, »wie konntest Du das tun, wie konntest Du mir gehorchen ... ich liebe Dich ja ... steh doch auf ...

Ich hörte das Atmen ihrer Brust neben mir, ihre Hände berührten meinen Kopf und plötzlich, – wie ward mir da! – ihre weichen, frischen Lippen begannen mein Gesicht mit Küssen zu bedecken ... sie drückten sich an meine Lippen ... Doch da verriet ihr wohl der Ausdruck meines Gesichtes, daß ich wieder zur Besinnung gekommen war, obgleich ich die Augen noch immer geschlossen hielt – und rasch aufspringend, sagte sie: »Nun, mutwilliger Junge, stehen Sie auf, Sie Wagehals; was liegen Sie da im Staube?« Ich erhob mich. – Geben Sie mir meinen Sonnenschirm her, – sagte sie, wie weit ich ihn fortgeworfen habe! Und richten Sie nicht solche Blicke auf mich ... wozu diese Albernheiten? Sie haben sich doch keinen Schaden getan? Vielleicht Etwas an den Nesseln verbrannt! Sie hören ja, Sie sollen mich nicht so ansehen ... Er hört ja aber nichts, antwortet nichts, fügte sie, wie für sich hinzu ... – Gehen Sie nach Hause, Monsieur Woldemar, säubern Sie sich, und daß es Ihnen nicht einfällt, mir zu folgen – sonst werde ich böse und nie wieder ...

Sie beendigte den Satz nicht und entfernte sich schnell; ich aber blieb am Weg sitzen ... Meine Beine trugen mich nicht. An den Nesseln hatte ich mir die Hände verbrannt, der Rücken tat mir weh und der Kopf ging in die Runde; doch das Gefühl von Wonne, daß ich damals empfand, wiederholte sich nicht mehr – nie in meinem ganzen Leben. Es haftete in allen meinen Gliedern, wie ein seliger Schmerz, der zuletzt in entzückten Sprüngen und Ausrufen zum Ausbruch gelangte. In der Tat: ich war noch ein Knabe.


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