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Er »entkam« aus dem Zuchthaus von Ohio nach zwei Jahren und sechs Monaten. Alle politischen Fäden wurden angezogen und alle Kunststücke ins Werk gesetzt. Brannigan sammelte Stimmen zur Wahl und die Stimmenzahl der Gewerkschaften fiel in Ohio sehr ins Gewicht. Der Richter, der ihn verurteilt hatte, sagte in einem Schreiben an den Gouverneur, daß in Anbetracht aller Umstände durch die Strafe Jack Muldoons der Gerechtigkeit Genüge getan worden sei.
Jerry Brannigan war ein Mann mit der verschmitzten, zynischen Miene eines Spielers, der verloren hatte. Und doch – er hatte eine Welt zu verschenken.
Er erwartete Jack Muldoon vor dem Gefängnistor. Sie gingen nach Ironton. »Ich habe dir einiges zu sagen, mein Junge«, sprach Brannigan. »Vor allen Dingen ändere deinen Namen. Mit den Muldoons und der ganzen Muldoonerei ist es für dich zu Ende. Du gehörst nicht mehr zu ihnen – sie waren nur das Gespann, das dich zur Parade führte. Du hast das Zeug in dir, Jack – ich weiß nicht, wieso du's hast, aber du hast es – und ich weiß nicht, wohin dich das verflixte Schicksal treiben wird – aber irgendwohin treibt es dich – Gott – und alles ist ein Geheimnis – ein Kerl aus der Sippschaft irischer Haderlumpen – du hast dich schlagen lassen, als wär's ein Scherz. Japper geschah recht, daß er tot ist – er hatte ein schwarzes Herz mit roten Krusten.«
Als sie durch die High Street dem Lagerplatz zustrebten, sagte Brannigan: »Du hast nie gewinselt, Jack – du warst dankbar, daß du Patsy und mich hattest, aber das ist es nicht, Jack – was ich sagen wollte, ist – das ganze, was man so Leben nennt, ist ein Schwindel. Der einzige, der gewinnt, ist jener, der verliert. Du fängst es jetzt geläutert an – mit reingewaschenen Händen – sie zerrten dich durch die Hölle – jetzt kannst du sie ausschwefeln. Es gibt viel Lebenswertes und viel Sehenswertes. Und das Meer des Lebens breitet sich um dich. Geh' und wate darin. Du mit deinen schweren Kiefern und deinen wuchtigen Schultern, mit deinen keulenfesten Armen und deiner Seele, die die Verfolgung kennt – halt' den Kopf hoch! Es gibt Leute, die geboren werden, damit sie in die Höhe kommen und andere, die hinuntersteigen müssen – und die ganze verfluchte Geschichte geht keinen etwas an – als den lieben Gott, – also streiten wir, zum Teufel, nicht über Worte. Du sollst mir siegen – damit die Leute in Ironton sagen können – ›Jerry Brannigan ist ein Zehn-Cent-Advokat, aber er spürte, was in Jack Muldoon steckte!‹«
Sie kamen knapp vor Mitternacht in Ironton an.
»Ich bin gleich wieder in Ihrer Wohnung, Jerry, lassen Sie mich ein Stück allein gehen.«
»Nur zu,« antwortete Jerry, »ich lass' von der Wirtschafterin ein wenig Kaffee und ein paar Gläschen Brandy herrichten, und dann sprechen wir weiter, bis der Zug kommt.«
Jack Muldoon ging zu dem kleinen Schuppen, wo er einst gewohnt hatte. Ein Gaslicht erhellte dürftig die schmutzige, menschenleere Straße, die krummen, zwerghaften, ausgemergelten Bäume glichen unheimlichen Spinnweben im Kot. Muldoon hörte keinen Ton, außer den Widerhall seiner schweren Schritte. Er bog in das verfallene Tor ein. In weitferne Erinnerungen vertieft, sah er sich nach Bum um. Mit einem trüben Lächeln stieß er das wackelige Tor auf und trat in den Schuppen. Muffiger Geruch strömte ihm entgegen, mit klobigen Schritten durchquerte er das Zimmer und blieb am Schlafzimmerfenster stehen. Hier lehnend, mit dem verschnittenen Anzug auf dem kraftstrotzenden Leib, die Lippen aufeinandergepreßt, die Stirn gerunzelt, dachte er an die Worte Jerry Brannigans in Columbus, – »der einzige, der gewinnt, ist jener, der verliert.« Er lachte. »Was verlieren – was gewinnen? Jerry ist gediegen – ich hab' ihn gern, aber ein weiches Herz – ein weicher Kopf!«
Bill Dunnigan, der Grobschmied, das war der richtige Kerl – ein paar Gläser hinter die Binde gegossen und dann forsch einem Polizisten an den Hals – sie beide waren ins Loch gekommen, nachdem sie Menschenkiefer zerschmettert hatten.
Der tote Japper riß die Vorhänge der Erinnerung beiseite und stand vor ihm, mit einem roten Tuch um den Hals. Tabakspeichel rann ihm die Mundwinkel herunter. »Hallo, du lumpiger Streikbrecher« – rief Muldoon laut in den leeren Raum. Die Wände warfen den Ausruf gespenstisch zurück. Muldoon schreckte auf, stieß seine knorrigen Fäuste vor, als stünde Japper vor ihm.
In der Ecke des Zimmers hatte einst das Bett gestanden, in dem Colleen gezeugt worden war. Er ging hin und blieb dort stehen.
In diesem Augenblick erschien ein kleines Mädchen an der Spitze eines sonderbaren Zuges – ein schwarzer Kater – die zwei Brannigans – der Grobschmied – der Profoß – der Sträfling, der für einen Tag ausgebrochen war – Japper – seine eigene Mutter mit dem müden Blick und der Maiskolbenpfeife – sein Vater mit den lahmen Beinen, den herabhängenden, geöffneten Lippen.
Kaum eine Meile entfernt, mästeten seine Eltern die Würmer.
Das Bild stieg vor ihm auf – Würmer, die sich am Leib seines Vaters betranken. Ein feister, starker Wurm steht in Vaters Gehirn auf dem Schwanz und spricht: »Brüder Würmer! Wir schmausen jetzt an einem Gentleman namens Timothy Muldoon. Das, was euch ins Hirn strömt und euch das Gefühl gibt, Adler des Kotes zu sein, ist nichts anderes, als die vierzig Whiskysorten, die Tim zu vertilgen klug genug war. Nun liegt er hier bei uns in geweihter Erde, und hätte er sich nicht mit solchen Mengen köstlichen Nasses gefüllt, so wäre er eine kärgliche Kost. Ei, Brüder Würmer – wir sind lange genug die unterirdischen Schleichwege entlang gekrochen und ihr werdet mir gewiß beipflichten, wenn ich sage, daß es keinen Leckerbissen gibt, der mit einem irischen Trunkenbold oder einem Bischof in geweihter Erde zu vergleichen wäre. Mein Ehrgeiz geht dahin, nächstes Jahr unterm Atlantik nach Rom zu kriechen und der Leiche eines Papstes zu harren. Meine Mutter erzählte mir zwar von einem Wurm des Mittelalters, der an einem toten Papst geschmaust hatte und plötzlich an Vergiftung gestorben war. Aber das alles hat sich geändert, seit ich diese Kunde vernahm. Jetzt liegt die Gefahr eher darin, daß ein Papst, der heilig stirbt, zusammengeschrumpfte Knochen und blutlos-zähes Fleisch hat.« Der Wurm guckte aus Timothys Gehirn hervor, das selbst einem Haufen kriechfauler Würmer glich. Seine Rede hatte keinen Eindruck gemacht. Die anderen Würmer setzten ihr Mahl fort.
»Der arme Saufpapa ist tot«, dachte Muldoon laut. Die Worte kehrten zurück – »der arme Saufpapa ist tot.«
Einer plötzlichen Eingebung gehorchend, schlug er das Tor hinter sich zu und trat in den Hof. »Herrje, warum bin ich hieher gekommen? – das ganze verdammte Irenpack stinkt vor Sentimentalität.«
Er schwang seine schweren Schultern durch die Nacht, immer im Gespräch mit sich selbst. Das Bewußtsein, frei zu sein, gab ihm ein Gefühl des Schwebens. Über seinem Kopfe funkelten die Sterne, segelten weiße Wolken. In Ironton war keine Seele mehr wach. Von weither vernahm er das Lärmen der Nagelfabrik wie das Gebrüll eines Löwen. Er ging am ungetünchten Haus der Muldoons mit den morschen Zaunpfählen vorbei. Keine Zuneigung für die drinnen regte sich in ihm. – »Mit denen bin ich fertig – der Teufel soll sie holen.«
Wieder kam seine Mutter – »Sie plagten deine arme alte Mutter im Grab – die Mäuse« – flink trippelte sie an seiner Seite – »Oh, Jackiejunge, du bist Mutters Schatz – wie hübsch du bist – und Vater O'Houlihan sagt, wie gut du ihm am Altar dienst, Halleluja – und nie läßt du ein lateinisches Wort aus, horchst treulich auf den Glockenklang, wenn Jesus wieder und wieder zum Altar kommt, um arme Sünder gleich dir und mir zu erlösen.« Er trabte schneller durch die Nacht. Das verhärmte Weiblein im Kattunrock und mit der Maiskolbenpfeife hielt Schritt mit ihm. »Gedenke deiner Mutter, Jackie – und sei ein braver Junge, denn es ist, wie Jerry Brannigan und Vater O'Houlihan sagen: Du bist nicht wie die andern – ich weiß es bestimmt, Jackiejunge – Mutter weiß es. Als du noch ein kleiner Knirps warst, sagte der gute Vater, hättest du Fragen gestellt, auf die er nicht zu antworten wußte – ein brennendes Hirn war in deinem Kopfe, sagte er – und eines Tages würdest du die Protestanten aus Irland verjagen oder sterben, mit hundert Kugeln im Leib. Oh Jackiejunge – so viel erwarte ich von dir – und so sehr werde ich über dich wachen, von den Toren des Himmels herab, wenn ich einmal oben bin, damit du hier unten nicht in die Irre gehst. Und wenn du's doch tust, werde ich zu Gott sagen: Oh, süßer Herr – er ist mein Büblein, mit dem brennenden Hirn in seinem Kopfe, wie Vater O'Houlihan sagte. Du brauchst Jungens wie er da unten, süßer großer Herr Jesus, Jungens, die Dir helfen die Sünden der Welt auszulöschen – Jungens, die die Menschenkinder nehmen und ihnen die gebrochenen Herzen zusammenkitten – Jungens, die die gefallenen Frauen aufheben und zu Nonnen vor deinem gnadenreichen Throne machen. Sieh' auf ihn, süßer Herr Jesus, mit seinen schweren Kinnbacken und dem großen Lockenkopf und mit den schönen großen Augen – den Augen von seinem Onkel, süßer Herr Jesus – dem Onkel, der Deiner heiligen Sache diente, als Priester in Belfast und mit seinen gewaltigen Fäusten wider die Schwarzen Iren stritt und ihnen sagte: ›Ich werde die Kirchen niederreißen und euch mit den Ziegeln zerschmettern, wenn ihr den Kelch auch nur anzublicken wagt, der sein köstliches Blut bewahrt.‹ Oh Herr, erinnerst Du dich nicht, wie er dastand, sein Talar im Winde der Seen von Killarney flatternd –. ›Treibt eure Nägel in mein Herz und eure Kugeln in meinen Kopf und zerfetzt mein zuckendes und sterbendes Fleisch mit euren schwarzirischen Zungen – aber hier stehe ich mit dem Kelche, angefüllt vom Blute meines Gottes und erhebe ihn wie Er, der da zum heiligen Petrus sagte: »Auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeine, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.«‹ Du mußt Dich doch an seinen Onkel erinnern, süßer Herr Jesus, er war mein lieber Bruder, das war er, und stolz war ich auf ihn und es zerbrach mir das Herz, als ich ihn verließ – traun, oh Herr – was dieser Vater Jarnegan für ein Mann war – wahrlich, er hätte es zum Papst gebracht, wenn er länger gelebt hätte – doch Dir gefiel es, ihn zu Dir zu nehmen, damit er an Deiner Rechten sitze und Deinen gebenedeiten Namen verteidige.«
Mit dem Klange der Mutterworte in seinem Ohr schritt er die Eisenbahngeleise entlang. In diesem Augenblick wurde der Welt ein neuer Name geboren. Er wollte den Namen seines Onkels annehmen, der in Belfast gestorben war. Ein ironisches Lächeln flog über das Gesicht des dahinschreitenden Exsträflings. – »Onkel tut es nichts – und es ist ein guter Name«, dachte er, als er plötzlich an der Stelle vorbeikam, wo er Japper ins Grab geprügelt hatte – –
Jerry Brannigan erwartete ihn.
»Wo ist Bum?« fragte Jack Muldoon.
»Ich glaube, er jagt draußen. Er war die ganze Nacht fort«, lachte Jerry.
»Passen Sie auf, Jerry. Ich hab' einen neuen Namen.«
»Lass' hören.«
»Jarnegan. Der Mädchenname meiner Mutter.«
»Ein guter Name, Jack. Er rollt wie Donner in deinem Munde. Sieh' zu, daß du ihn mit Blitzen auszackst.«
Jerrys Wirtschafterin hatte ein warmes Abendbrot und eine Flasche Bourbon hergerichtet. Sie schüttelte Jarnegan die Hand, als er ins Speisezimmer trat.
»Sie ist dir gut, Jack – glaub' mir's – sie wird kein Sterbenswörtchen sagen – denn sollte sie's tun – Vater O'Houlihan im Grabe würde sie heimsuchen.«
»Und jetzt,« fuhr der Advokat fort, »jetzt werde ich dir fünfzig Dollar vorstrecken, Jack. Geh' hin und vergib, wenn du kannst – und wenn du nicht kannst – vergiß.« Mit zu vollem Herzen, um sprechen zu können, murmelte Jack Dank und wandte sich ab.
Der verständige Anwalt ging in die Küche, weil er nicht die Tränen in Jacks Augen sehen wollte.
Die Wirtschafterin döste in ihrem Stuhl. »Zu Bett mit dir, Bridget – gleich ist es Zeit zum Aufstehen«, sagte er.
»Nein«, wehrte sie sich. »Ich geh' nicht schlafen, solang ich einen schmutzigen Teller auf dem Gewissen habe.«
Der Anwalt kehrte zu Jarnegan zurück.
Um vier Uhr früh bestieg Jarnegan den Zug mit einem abgewetzten Handkoffer, den Jerry ihm geschenkt hatte. Er enthielt zwei Viertel Whisky, eine Bibel und ein vergilbtes Exemplar von Mark Twains »Leben auf dem Mississippi«.
»In Chicago kannst du's weit bringen, und einmal schreibst du mir auch einen Brief, äh?«
»Ich will Ihnen telegraphieren, Jerry – wird mir leichter fallen – mit dem Schreiben komm' ich nicht weiter.«
»Wie du meinst, Jack – nur lass' von dir hören.«
Der Zug rollte heran. »Sie haben mein Wort, Jerry – Gott segne Sie allzeit. Ich werd's Ihnen vergelten und wenn ich Sand schaufeln müßte.«
»Mach' dir darüber keine Sorgen, Jack – pack nur mutig zu. Das weitere wird sich schon finden.«
Die Blicke des Anwalts folgten dem Zug, bis er entschwunden war. Dann drehte er sein Gesicht Ironton zu und murmelte: »Gott weiß, wie gerne ich in seiner Haut steckte.«