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Ich habe keine Angst

Der Abschied aus dem Elternhause war Pucki nach den schönen Ferien unendlich schwer geworden. Es bedurfte mancher Trostworte, denn Pucki meinte, es sei bei den Eltern doch schöner als bei Tante Grete, es gäbe eben nichts Schöneres als das Elternhaus. Auch Carmen behielt die herrlichen Ferienwochen in Birkenhain in lieber Erinnerung. Sie hatte sich sehr wohl im Forsthause gefühlt und beneidete Pucki im stillen um ihr schönes Elternhaus.

Nun ging die erste Schulwoche ihrem Ende entgegen, aber die Sehnsucht Puckis nach den Eltern, nach dem grünen Wald und den Rahnsburger Freundinnen schwand nicht.

»Nicht traurig sein, Pucki«, tröstete sie Hans Rogaten, »du wirst in den nächsten Tagen etwas sehr Schönes und Spaßiges sehen. Wenn du wieder einmal spazieren gehst, wandere hinaus nach dem Schützenhaus.«

»Ich kenne das Schützenhaus, das ist gar nicht schön.«

»Aber es ist etwas sehr Schönes dort zu sehen!«

»Was denn?«

»Seiltänzer bauen sich auf.«

»Oh, Seiltänzer, das sind Leute, die ein Seil ziehen und darauf laufen. Das habe ich früher mal bei uns in Rahnsburg gesehen.«

»Ach, das war gar nichts! Diese Seiltänzer draußen im Schützenhaus ziehen ein Seil, das ist höher als ein Haus.«

»O weh, wenn sie da herunterfallen, sind sie tot.«

»Sie fallen nicht, Pucki, sie können ganz rasch auf dem Seil hin und her laufen. Sie stehen auf dem Seil genau so sicher wie wir auf der Erde.«

»Kannst du auf einem Seil stehen, Hans?«

»Nein.«

»Man müßte es einmal versuchen.«

Tags darauf erzählte auch Tante Grete von den Seiltänzern und dem grünen Wagen, der auf dem Schützenhausplatz stände.

»Gehen wir mal hin?« fragte Pucki.

»Kann man sich das hohe Seil nicht mal ansehen?« fragte auch Carmen.

»Gewiß, ihr könntet heute nachmittag einen Spaziergang hinaus machen. Hans wird euch begleiten.«

»Wenn es aber furchtbar regnet, während die Leute auf dem Seil herumspringen? Bauen die Leute ein Zelt auf?«

»Wenn es regnet, findet die Vorstellung nicht statt.«

»Wenn ich Seiltänzer wäre«, meinte Pucki, »würde ich ein Seil ziehen, das über die Leute, die unten auf den Stühlen sitzen, hinweggeht. Und wenn sie alle nach mir hinaufschauen, nehme ich eine kleine Spritze mit Wasser in die Hand und taufe sie, so wie wir es in der Schule gemacht haben.«

»Du würdest dir schon wieder einen Unsinn ausdenken, Pucki«, lachte Hans Rogaten.

»Schade, daß ich kein Seiltänzer bin. – Ob ich das Seiltanzen auch lernen würde? Ich finde es furchtbar schön, auf einem Seil zu laufen. Wenn ich wieder Ferien habe, binde ich zu Hause zwischen zwei Bäumen einen Strick und übe darauf. – Oh, ich gebe dann vor euch allen eine Vorstellung, und ihr müßt Geld bezahlen.«

»Da geh nur mal hinaus zu den Seiltänzern und laß dir eine Unterrichtsstunde geben.«

»Ich möchte kein Seiltänzer sein«, sagte Carmen.

»Aber ich«, beharrte Pucki. »Wenn wir heute zu den Seiltänzern gehen, sehe ich mir alles genau an.«

Aber am Nachmittag bekam Hans Rogaten Besuch und konnte daher die beiden Kinder nicht nach dem Schützenhaus begleiten. Carmen meinte, es sei ohnehin kein gutes Wetter, und sie möchte den geplanten Spaziergang lieber auf morgen verschieben.

»Nein, Carmen, ich möchte die Seiltänzer sehen!«

»Die laufen doch nicht davon, Pucki. Sie bleiben längere Zeit hier.«

Aber Pucki ließ das hohe Seil, das viel höher gespannt sein sollte, als ein Haus hoch sei, keine Ruhe. Und als am Nachmittag Carmen noch bei ihren Schularbeiten saß, stülpte Pucki die Mütze aufs Haar und ging davon.

Das Schützenhaus war nicht weit, sie würde bald wieder zurück sein. Und außerdem hatte ja Tante Grete gestern den Spaziergang selber vorgeschlagen.

So lief das Mädchen hurtig hinaus zum Schützenhaus von Rotenburg. Es lag zehn Minuten vor der Stadt und war von Wiesen umgeben. Auf einer dieser Wiesen stand ein großer Wagen. Dieser Wagen fesselte Puckis Aufmerksamkeit nicht so sehr wie die hohen Pfosten, die mit einem straffgespannten Seil verbunden waren. Hans Rogaten hatte recht, das Seil ragte über das Dach des Schützenhauses hinaus. Und dort oben würde ein Mensch entlang gehen?

Pucki wartete ein Weilchen. Als sich endlich ein Mann zeigte, ging sie auf ihn zu.

»Sind Sie der Mann, der dort oben auf dem Seil tanzt, wenn Vorstellung ist?«

»Nein.«

»Könnte ich den Seiltänzer nicht mal sehen?«

»Es ist ein Fräulein.«

»Oh – wie schön! Könnte ich das Fräulein nicht mal sehen?«

»Morgen nachmittag geben wir unsere erste Vorstellung.«

»Dann komme ich her. Aber ich möchte so gern schon vorher das Fräulein einmal sehen. – Kann man das Seiltanzen erlernen?«

»Freilich.«

»Ich möchte es auch lernen.« Puckis Augen gingen zu dem hohen Seil hinauf. »Aber auf solch ein hohes Seil würde ich mich nicht trauen. Ich möchte zu gern das Fräulein einmal sehen.«

»Keine Zeit«, erwiderte der Mann unfreundlich und wandte dem Kinde den Rücken. Aber das kleine Mädchen aus dem Forsthause ließ sich dadurch nicht entmutigen.

»Wollen Sie mir nicht sagen, wo das Fräulein ist?«

»In den Wald gegangen.«

»Übt es dort?«

»Nein, es sucht Blaubeeren.«

»Ach, Blaubeeren! – Blaubeeren möchte ich auch gern suchen.«

Während Pucki die Augen sehnsüchtig nach dem nahen Walde schweifen ließ, entfernte sich der Mann wieder. Für Augenblicke war das hohe Seil vergessen, Pucki sah nur noch den Wald. Alle Sehnsucht erwachte wieder in dem Kinde. –

Ob es schnell einmal dem Walde guten Tag sagte und die dicken Tannen zärtlich umfaßte, in deren Zweigen die vielen kleinen Vögel lebten? Es schien Pucki, als winkten ihr die Wipfel der Bäume zu, als riefe es aus hundert Vogelkehlen: Komm, komm zu uns!

Unschlüssig stand das Försterkind an der Straße. Da sah es sechs Mädchen daherkommen, die Körbe, Kannen und kleine Eimer trugen. Sie gingen in die Blaubeeren! Solche Kinderscharen gab es auch im Walde des Vaters. Auch dort nahm man Körbe und Eimer mit, um Blaubeeren und Preißelbeeren zu pflücken.

Blaubeeren! – Ungezählte Sträuchlein standen im Walde von Birkenhain. Wie oft war Pucki hinausgelaufen in den Wald, um Beeren zu essen.

»Blaubeeren«, sagte Pucki leise und ihre Stimme zitterte bedenklich. »Der liebe Wald schenkt uns Blaubeeren, und ich – kann keine holen.«

Sie trat hinaus auf die Straße, den Kindern entgegen.

»Geht ihr in die Blaubeeren?«

»Ja.«

»Sind viele im Walde?«

»O ja.«

Die Kinderschar ging weiter. Pucki sah ihnen mit brennenden Augen nach. – Die Glücklichen! Sie durften Blaubeeren pflücken!

»Du lieber, lieber Wald – –!«

Da hielt es das Kind nicht länger aus. Vergessen waren die Seiltänzer, der Wald rief und lockte! Der Wald schenkte die schönsten Blaubeeren, die niemals so gut schmeckten, als wenn man sie selbst abpflücken durfte.

Pucki setzte sich in Laufschritt und rannte hinter den Kindern her. »Ich komme mit!«

Ein ungestümer Jubel erfüllte die kleine Kinderbrust. Blaubeeren pflücken erschien ihr heute als das größte Glück, das die Erde zu vergeben hatte.

Zeichnung Kirchbach

Der Wald war bald erreicht. Ein paar Augenblicke blieb das kleine Mädchen stehen. Es strich liebkosend über einige Stämme der Fichten, kniete auf den Waldboden nieder und flüsterte: »Guten Tag, lieber Wald, Pucki ist wieder da!«

Sie brauchte gar nicht tief in den Wald hineinzugehen, denn Blaubeerstauden standen schon am Rande. Aber die Kinderschar meinte, weiter drinnen gäbe es noch viel mehr.

»Wir müssen an sonnigen Stellen suchen«, sagte Pucki. »Dort, wo die Sonne durch die Bäume scheinen kann, sind die Beeren am größten und am süßesten.«

Anfangs hielt sie sich in der Nähe der Kinderschar. Es waren nicht nur die Blaubeeren, die ihr Herz so froh pochen ließen. Die Augen des Kindes gingen gar oft hinauf zu den Wipfeln der Bäume; sie rauschten ihm ihren Willkommensgruß zu. Oh, Pucki verstand, was sie sagten. Jetzt klang es ganz deutlich aus jener hohen Tanne an ihr Ohr:

»Grüß Gott, Pucki, bist du endlich da?«

Das Kind winkte mit der Hand dem Baume zu und rief jubelnd: »Ich glaube, daß du dich wunderst, aber ich mußte viel in der hohen Schule lernen. Aber heute bin ich da, heute sehe ich meinen lieben Wald endlich wieder!«

Zu ihren Füßen raschelte es. Pucki schaute auf den Boden. Durch das weiche Moos schlängelte sich ein hellbraunes flinkes Tier. Wie sein Leib glitzerte und blitzte im Schein der Nachmittagssonne!

»Eine kleine, süße Blindschleiche«, rief das Försterkind erfreut. »Du liebes Tierchen, ich weiß, daß du mir nichts tust. Du bist nicht so schlimm wie deine große Schwester, die Kreuzotter. Oh, der Vati hat mir gesagt, vor dir braucht sich niemand zu fürchten, nur vor der giftigen Kreuzotter.«

Pucki kniete auf dem Waldboden nieder, um die kleine Blindschleiche genauer zu betrachten. Doch da raschelte es wieder und – hui – war sie weg.

Was gab es nicht alles zu sehen im Walde! Hierhin und dorthin eilten die flinken Kinderfüße. Pucki merkte es nicht, daß sie immer tiefer in den Wald hinein kam. Den grünen Holzweg hatte sie längst verlassen, quer durch den Baumbestand führte der Weg des glücklichen kleinen Mädchens.

Ganz in der Ferne hörte Pucki die Stimmen der beerenpflückenden Kinder. Sie riefen wohl nach ihr. Oh, was machte das, sie war ja in dem lieben Wald, und hier war sie wie zu Hause, hier gab es nichts, vor dem sie sich zu fürchten brauchte.

Jubelnd schlug die Kleine die Hände zusammen. Aus dem Unterholz brach plötzlich ein Reh hervor. Es eilte in langen Sprüngen dicht an Pucki vorüber. Sie hörte das Aufschlagen der flinken Füße, dann war das Tier ihren Blicken wieder entschwunden.

»So schnell wie du kann ich leider nicht springen«, rief Pucki hinter dem Reh her. Dann lief sie im Laufschritt weiter. Ein gefällter Baum ließ das Kind stille stehen. Nun flink ein wenig Seiltänzer gespielt! Wie oft Pucki auf dem Stamm schon hin und her gelaufen war, wußte sie nicht, denn die Zeit verging ihr heute wohl doppelt so schnell wie sonst. Aber als sie endlich um sich blickte, mußte sie feststellen, daß die Sonne schon bedenklich tief stand.

»Dort, wo die Sonne untergeht, liegt Rahnsburg«, sagte Pucki überlegend zu sich, »das hat der Vati mir oft gesagt.«

Ach, sie wollte ja nicht nach Rahnsburg, sie wohnte ja jetzt in Rotenburg. Trotzdem wollte sie der untergehenden Sonne nachgehen, vielleicht kam sie dann auch nach Rotenburg und zu Tante Grete zurück. Pucki wurde das Herz schwer. Was würde die gute Tante sagen, wenn sie so lange fort blieb?

Tapfer schritt Pucki durch das Gehölz, immer nach Westen, der untergehenden Sonne zu. Heute wollte der Wald gar kein Ende nehmen, und es kam auch kein breiter Fahrweg, den sie hätte verfolgen können. Trotzdem fühlte Pucki keine Angst. Warum auch? Sie war ja in ihrem geliebten Walde, und dort gab es nichts, vor dem sie sich hätte fürchten müssen. – Endlich gelangte sie auf einen Weg. Er würde sicherlich bald auf die Fahrstraße münden, die nach Rotenburg führte. So liefen die flinken Kinderfüße hurtig weiter und richtig, nicht lange mehr, da leuchtete durch die Baumstämme etwas Helles. Das war die breite Fahrstraße. Hurra, nun hatte sie den rechten Weg erreicht!

Doch gar bald stellten sich neue Zweifel ein. Pucki stand ratlos. Nach rechts und nach links lief die Straße. Wohin sollte sie gehen? Es begann bereits dunkel zu werden, und wenn es noch finsterer wurde, würde sie nicht mehr heimfinden. – Was sollte sie beginnen?

»Ich habe keine Angst«, sagte sie zu sich vertrauensvoll, »denn der liebe Gott ist bei mir, er sieht mich von oben und führt mich wieder zu Tante Grete.«

Was aber sollte sie nun beginnen? Vielleicht kam ein Wagen vorübergefahren, der sie mitnahm? Durch den Birkenhainer Forst kamen oft Wagen. Es war wohl am richtigsten, ein Weilchen zu warten. So setzte sich Pucki unter einer hohen Kiefer nieder und lehnte das Köpfchen an den dicken Stamm.

Doch die Zeit verging, kein Wagen fuhr vorüber. Es war bereits ganz dunkel geworden, und Pucki saß noch immer an der Fahrstraße. Wie still war es in ihrem lieben Wald!

»Ich habe keine Angst«, klang es abermals von Puckis Lippen, jetzt schon ein wenig weinerlich. Wenn niemand kam, mußte sie die Nacht im Walde verbringen und auf das Aufgehen der lieben Sonne warten. Dieser Gedanke war für das kleine Mädchen doch beunruhigend. Wenn ihm auch der Wald kein Leid antat, so schlug das kleine Herz doch recht bange, wenn es an die lange, dunkle Nacht dachte. Die Stille des Waldes wirkte schließlich einschläfernd auf Pucki.

»Ich habe keine Angst«, murmelten die Kinderlippen, dann streckte sich der kleine Körper – – Pucki war eingeschlafen.

Ganz plötzlich erwachte sie. Ein heller Schein war auf sie gefallen. Was war das?

»Pucki! Endlich haben wir dich gefunden. Was machst du hier?« Hans Rogaten und Eberhard Gregor standen neben dem erwachten Kinde. Der helle Schein, der die Schläferin geweckt hatte, rührte von einer Fahrradlampe her. Die beiden Primaner hatten den Wald nach allen Richtungen hin durchfahren, um Pucki zu suchen. So hatten sie endlich das schlafende Kind unter dem Baum entdeckt.

»Warum bist du fortgelaufen?« fragte Hans Rogaten streng. »Wir suchen dich seit zwei Stunden. Du unnützes Ding, eine Tracht Schläge müßtest du bekommen. Na, warte nur, Tante Grete wird dir das Davonlaufen schon anstreichen!«

»Ach«, sagte Pucki weinerlich, »ich habe den Heimweg nicht mehr gefunden, da habe ich hier gewartet, bis – –«

»Du bist immer ein unnützes Ding gewesen«, sagte Eberhard ärgerlich. »Der Claus sollte wissen, daß du von zu Hause fortläufst, der würde dich ausschelten. Schreiben werde ich es ihm, damit er dich gehörig schilt.«

Pucki begann jetzt bitterlich zu weinen. Tante Grete und den großen Claus hatte sie in ihrer Freude, den lange entbehrten Wald endlich wiederzusehen, ganz vergessen. Nun erst kam ihr zum Bewußtsein, daß sie nicht so lange hätte im Walde bleiben dürfen. Sie würde Tante Grete von ihrer großen Freude erzählen, die sie im Walde erfüllt hatte. Da würde die Tante sicher nicht schelten, denn es hatte ja nicht in ihrer Absicht gelegen, bis zum Dunkelwerden fortzubleiben.

Nun schritt Pucki zwischen Hans und Eberhard schweigend dahin. Es dauerte fast eine Stunde, bis die drei das alte Stadttor von Rotenburg erreichten. Die Uhr zeigte halb elf, als sie endlich die Wohnung von Frau Perler betraten.

Tante Grete hatte schlimme Stunden verbracht. Als man sich zum Abendbrot an den Tisch setzen wollte, war das Kind noch immer nicht da. So radelte Eberhard zum Schützenhaus hinaus, um Nachfrage zu halten. Aber niemand hatte Pucki gesehen. Es erschien Eberhard ganz selbstverständlich, daß das Försterkind in den nahen Wald gegangen war, zumal Pucki ständig davon gesprochen hatte, endlich wieder einmal den lieben Wald aufzusuchen. Unverrichteter Sache kehrte er zunächst zurück. Das Abendessen schmeckte heute keinem, denn alle warteten auf Pucki. Schließlich machten sich Eberhard und Hans mit ihren Rädern auf den Weg, um den Wald nach allen Richtungen hin zu durchstreifen.

Suchend und rufend fuhren die beiden Primaner kreuz und quer die Waldwege entlang, bis sie endlich das schlafende Kind fanden. Verärgert brachten sie es heim. Pucki hatte auf dem Heimwege genügend Zeit, sich zu überlegen, daß sie heute recht unnütz gewesen war. Tante Grete mochte sich sehr geängstigt haben.

Frau Perler winkte Pucki in ihr Zimmer. Eberhard machte eine Bewegung mit der Hand, die darauf hindeutete, daß Pucki nun Schläge bekäme. Aber die gab es nicht. Aus den Worten der guten Tante klang die große Angst, die sie um ihren Schützling durchgemacht hatte. Das Försterkind wurde immer stiller.

»Was hast du dir eigentlich gedacht, mein Kind? Dir hätte im Walde etwas zustoßen können.«

Vertrauensvoll schlug Pucki die blauen Augen auf. »O nein, Tante Grete«, klang es innig, »im Walde geschieht mir nichts. Im Walde hat mich jeder Baum und jedes Tier lieb. Vati sagt, im Walde braucht man keine Angst zu haben, der liebe Gott geht jeden Tag durch den Wald und paßt auf jedes Tierchen auf. Er hat auch auf mich gut achtgegeben, das weiß ich.«

»Du hattest aber keine Erlaubnis, so lange auszubleiben.«

»Sei nicht böse, liebe Tante Grete, ich wollte nicht so weit fortlaufen. Aber da kamen Kinder mit Blaubeereimern, und der Wald hat nach mir gerufen, ich habe es deutlich gehört. Ja, er hat wirklich gerufen. Da dachte ich, es wird schon nicht so schlimm sein, wenn ich ihn besuche. – Ach, liebe, liebe Tante Grete«, Pucki schlang die Arme um den Hals der Frau Perler, »es tut mir so leid, daß du so große Angst um mich gehabt hast. Aber du mußt keine Angst haben.«

»Wenn dir etwas zugestoßen wäre, Pucki?«

»Im Walde geschieht mir nichts, Tante Grete.«

»Ich verbiete dir ein für allemal, Pucki, allein wieder in den Wald zu gehen, auch wenn er noch so sehr nach dir ruft.«

»Es war so schön – –«

»Wenn du meine Anordnung nicht befolgst, mein Kind, schreibe ich an deinen Vater. Und nun geh schnell ins Bett!«

»Gibst du mir heute keinen Gutenachtkuß, Tante?«

»Nein, Pucki, du hast mir heute zu viel Kummer bereitet.«

»Oh, Tante Grete, ich möchte dir keinen Kummer bereiten, ich weiß, daß du gut zu mir bist.«

»Das hättest du dir eher überlegen sollen, mein Kind. Ich werde heute eine sehr unruhige Nacht haben.«

»Liebe Tante Grete«, sagte Pucki kummervoll, »schlafe doch recht schön, ich gehe auch nicht mehr allein in den Wald. – Ach, der liebe, liebe Wald – –. Nein, ich tu's nicht wieder. – Bitte, bitte, nun gib mir doch einen Kuß!«

»Nein«, sagte Frau Perler streng, »nun gehe zu Bett. Auch Carmen hat sich deinetwegen sehr geängstigt und geweint.«

»Weil ich weg war?«

»Ja, sie glaubte, daß dir ein Unglück zugestoßen sei. – Sei sehr leise, damit Carmen nicht erwacht.«

Auf Zehenspitzen schlich Pucki ins Schlafzimmer, zog sich die Schuhe aus und trat in Strümpfen an das Bett der Klassenkameradin.

»Mußt nicht weinen«, flüsterte sie leise, »der liebe Gott soll dir einen recht schönen Traum schicken.«

Vorwitzig zog sie Carmen an den schwarzen Haaren. Da schlug Carmen die Augen auf. Im ersten Augenblick konnte sie sich nicht zurechtfinden.

»Ich bin wieder da«, sagte Pucki, »brauchst nicht zu weinen. – Aber nun schlaf und träume recht schön.«

Carmen drehte sich auf die andere Seite und schlief gleich wieder ein. Da war Pucki beruhigt. Große Müdigkeit überkam auch sie plötzlich. Sie stieg ins Bett, und bald zeigten auch ihre regelmäßigen Atemzüge, daß sie fest eingeschlafen war.

Am nächsten Morgen erzählte Pucki voller Begeisterung von dem hohen Seil und dem Fräulein, das darauf laufen würde.

»Tante Grete, gehen wir hinaus zu den Seiltänzern?«

»Hast du das verdient, Pucki? Du bist gestern recht unfolgsam gewesen.«

»Ja, ein ganz abscheuliches Mädchen!« schalt Eberhard Gregor. »Aus dir wird niemals was Rechtes werden!«

Treuherzig blickte Pucki den Jungen an. »Doch, Eberhard, aus mir wird sehr was Schönes – eine Seiltänzerin.«

»Ein Hanswurst wird aus dir!«

»Tante Grete – laß uns doch heute zum Schützenhaus gehen! Das Seil ist furchtbar hoch. Wenn das Fräulein herunterfällt, schlägt es sich tot.«

»Wir werden lieber bis zum Sonntag warten, Pucki.«

Alles Drängeln des Kindes nützte nichts, Tante Grete hatte bestimmt, und da gab es keine Widerrede.

Das Seiltanzen ging Pucki aber nicht aus dem Kopf. Gar zu gern hätte sie diese Kunst auch einmal versucht. Ständig überlegte sie, wo sich wohl eine Gelegenheit dazu böte.

Der Zufall kam dem Försterkinde zu Hilfe. Hinter dem Schulhof war ein kleiner Garten abgegrenzt. In diesem Garten war zwischen Pfählen eine Leine gespannt, da die Frau des Schuldieners heute nachmittag Wäsche trocknen wollte. Die Leine war freilich ziemlich hoch, so daß es unmöglich war, darauf zu laufen.

»Wenn sie doch etwas niedriger wäre«, meinte Pucki zu einer der Klassenkameradinnen.

»Wir machen die Leine eben ab und hängen sie tiefer.«

»Wir dürfen aber doch nicht in den Garten hinein.«

»Na, wenn wir das Seiltanzen erlernen wollen –«

»Dann kommt die Schuldienerfrau und schimpft uns aus.«

Während Pucki mit bestem Appetit das Frühstück verzehrte, blickte sie ständig mit verlangenden Augen hinüber zur Wäscheleine. Schließlich erbot sich einer der Knaben, die Leine abzuknüpfen und tiefer an den Pfählen zu befestigen.

»Nur schlimm«, sagte Pucki, »daß über dem Zaun noch so'n oller Draht ist. Aber wir kommen schon 'rüber. – Meinste nicht auch, Max?«

Der elfjährige Knabe machte als erster den Versuch. Es ging ganz gut, und ein großer Holzhaufen verbarg die kleinen Missetäter vor den Augen der anderen. Wenn sie nur nicht von der Frau des Schuldieners gesehen wurden.

Während Max an den Wäschepfählen emporklomm, um die Leine abzumachen, setzte Pucki mit einem Sprung über den Zaum

Da, ein kurzer Schrei! Die Stacheln des Drahtes hatten das Kleid des Mädchens erfaßt, und beim Sprung war aus dem Röckchen ein dreieckiges Stück herausgerissen und im Zaun hängengeblieben.

»Bist du aber ungeschickt!« tadelte Max.

Pucki stand entsetzt neben dem Zaun. Die Lust zum Seiltanzen war ihr für den Augenblick vergangen. Wie sah sie nun aus! Die Schulkameradinnen würden über sie lachen, wenn sie nach der Pause die Klasse wieder betrat. Und gerade nachher war Rechenstunde; da wurde sie oftmals aufgerufen, um vorne an der großen Wandtafel etwas vorzurechnen. Wenn es ein unglücklicher Zufall wollte, daß sie aus der Bank gerufen wurde, würde ein vielstimmiges Gelächter einsetzen.

»Was machen wir nun?«

Max wußte keinen besseren Rat, als schleunigst zurück in den Schulhof zu springen. Dem hochaufgeschossenen Knaben glückte es auch gut, unversehrt den Schulhof wieder zu erreichen.

»Max – Max«, rief Pucki ängstlich, »ich kann doch nicht zurück über den alten Stachelzaun!«

Doch Max hatte ein schlechtes Gewissen, lief davon und überließ Pucki ihrem Schicksal in dieser abgelegenen Ecke des Schulhofes.

Das kleine Mädchen lief an dem Drahtzaun hin und her. Nirgends war ein Ausweg! Der Garten war fest umschlossen, und die Gartenpforte ließ sich auch nicht öffnen. Wäre das Kleid nicht so zerrissen gewesen, daß das weiße Unterröckchen hervorsah, so hätte Pucki einen der großen Jungen herbeigerufen, die im Schulhof auf und ab wanderten. Aber da ertönte die Glocke, die das Ende der Pause kündete, und niemand war mehr zu sehen. Nun war Pucki hier gefangen.

Das Försterkind überlegte. Im Klettern war es ja gewandt. Wenn es dort den Baum erstieg und dann nach der anderen Seite absprang, war es zwar im Nachbargrundstück, aber von dort würde es schon auf den Schulhof zurückkommen.

Gedacht, getan! Pucki kletterte gewandt auf den Baum hinauf, kroch auf dem starken Ast, der ins Nachbargrundstück hinüberreichte, entlang, und der Absprung gelang. Da, ganz plötzlich ertönte lautes Hundegebell. In langen Sprüngen eilte ein großer Schäferhund auf sie zu. Obwohl Pucki vor Hunden keine Angst hatte, war ihr doch im ersten Augenblick recht unbehaglich zumute. Und als der Hund nach dem Röckchen schnappte, blieb dem Kinde für Augenblicke das Herz stillstehen.

»Ich habe ja keine Angst, du gutes Tierchen, ich weiß, du tust mir nichts. Du darfst mich nicht beißen. Mein Kleid ist ja ohnehin schon zerrissen.«

Mutig klopfte Pucki dem Tier auf den Kopf, und wirklich, der Hund ließ sie los.

»Du liebes Tierchen, laß mich rasch über den Zaun steigen. Ich bringe dir morgen ein Stück Zucker mit. – Nicht wahr, du schnappst nicht nach meinen Beinen, wenn ich am Zaun hochklettere?«

Als Pucki Miene machte weiterzugehen, schritt der Hund aufmerksam neben ihr her.

»Hast doch gehört, es hat schon geläutet. – Sieh mal, alle sind schon weg vom Schulhof. – So, und nun laß mich rasch über den Zaun steigen.«

Der Hund beobachtete das kleine Mädchen scharf. Als es jetzt die Pfosten anfaßte, um auf den Zaun zu steigen, bellte er erneut laut und zeigte sogar seine weißen Zähne.

»Ich habe ja keine Angst vor dir«, meinte Pucki mit bebender Stimme. »Ich weiß, unser Harras läßt auch keinen über den Zaun steigen. Ich bin doch kein Dieb, lieber Hund – sei doch vernünftig! Die Rechenstunde hat schon begonnen!«

Pucki ging noch ein wenig am Zaun entlang. Sie konnte den Schulhof genau übersehen. Er war leer. Noch einmal versuchte sie, den Zaun zu übersteigen, doch wieder knurrte der Hund so bösartig, daß Pucki einen neuen Versuch aufgab.

»Ich habe eben immer Unglück«, sagte sie. »Was ich anfange, geht schief! Was mache ich nun?«

Die Stunde mußte längst begonnen haben. Endlich kam Pucki auf den Gedanken, mit dem Hund ins Nachbarhaus zu gehen, in das das Tier gehörte. Sie wollte dort bitten, den Hund festzuhalten, bis sie über den Zaun gestiegen sei. Es fiel dem Kinde in seiner Erregung nicht ein, daß es einfach zur Gartentür hinausgehen könnte, denn das hätte der Hund gewiß geduldet. – So wanderte das kleine Mädchen in Begleitung des Hundes dem Hause zu. Pucki kannte den Besitzer nicht. Zaghaft betrat sie den Flur.

Ein Herr mit langem Bart kam auf das Bellen des Hundes aus einem Zimmer heraus.

»Ich möchte Sie nur bitten, den lieben Hund so lange festzuhalten, bis ich wieder über den Zaun gestiegen bin.«

»Wo kommst du denn her?«

»Ich gehöre ins Schiller-Gymnasium. Es hat schon längst geläutet, die Rechenstunde hat angefangen, aber ich kann nicht hinüber.«

»Warum denn nicht?«

»Weil der Hund mich beißen würde, wenn ich über den Zaun steige.«

»Was wolltest du denn bei mir im Garten? Lockten dich vielleicht die Kirschen?«

»Ach nein«, sagte Pucki treuherzig. »Ich wollte so gerne Seiltanzen lernen.«

Der Herr mit dem Barte lachte. »Na, dann setz dich mal zu mir, du kleines Mädchen, und erzähle mir, warum du gerade in meinem Garten Seiltanzen lernen wolltest.«

»Ich kann Ihnen jetzt nichts erzählen, ich muß zurück in die Rechenstunde. – Ach bitte, halten Sie den Hund fest, damit ich fix über den Zaun klettern kann.«

»Willst du dir das Kleidchen noch mehr zerreißen?«

»O je – –«, Pucki zuckte zusammen. Sie legte den Rock in eine Falte, damit man den Riß im Rock nicht sah. – »Kann ich nun gehen? Bleibt der Hund hier?«

»Ja, der Hund bleibt hier, aber du kannst doch zur Gartentür hinausgehen und zum Schultor wieder hereinspazieren.«

»Ach ja – – das kann ich! Daran habe ich noch gar nicht gedacht! Nun muß ich aber gehen, es ist schon so spät geworden.«

Dann stürmte das kleine Mädchen davon, hinaus aus dem Garten, hinein in den Schulhof.

Im Flur blieb Pucki aufatmend stehen. Aus dem Klassenzimmer hörte sie die Stimme des Studienrates. Der Unterricht war schon in vollem Gange. Pucki blickte an sich herunter. Das Kleid war sehr zerrissen; wenn sie die Tür öffnete und das Klassenzimmer betrat, wurde sie von allen gesehen, und keinem entging das fehlende Stück im Rock.

Pucki versuchte das Röckchen so zusammenzunehmen, daß der Schaden verschwand. Aber es gelang nicht. Im Flur hingen an langen Kleiderständern die Mäntel der Kinder. Pucki hatte heute keinen angezogen. Es würde gewiß nichts schaden, wenn sie sich den Mantel einer Klassenkameradin überzog. Dadurch wurde der zerrissene Rock verdeckt. – Was würde aber der Studienrat sagen, wenn sie im Mantel die Klasse betrat? Lügen, daß ihr kalt sei, wollte Pucki nicht, dazu war sie ein viel zu wahrhaftes Mädchen. Und warten, bis die Rechenstunde vorüber sei und dann rasch ins Zimmer huschen?

Die verschiedensten Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Es war wohl das Richtigste, wenn sie die Rechenstunde versäumte. Sie machte ihr ohnehin nicht viel Vergnügen. So schlenderte Pucki wieder den breiten Flur entlang und war eben im Begriff, die Treppe hinabzugehen, um im Schulhof hinter dem großen Holzstoß auf das Läuten der Glocke zu warten, als sich eine der vielen Türen öffnete.

Der Direktor!

Dem Direktor wäre es vielleicht nicht aufgefallen, einer Schülerin seines Gymnasiums hier zu begegnen, doch das verlegene Gesicht des kleinen Mädchens, das jähe Erschrecken, sagten ihm, daß das Verhalten des Kindes im Flur nicht seine Richtigkeit hatte.

»Nanu«, fragte er freundlich, »wo willst du jetzt hingehen?«

Pucki dachte nur an den zerrissenen Rock, wandte sich um und stellte sich mit dem Gesicht gegen die Wand. So konnte der Direktor die beschädigte Vorderbahn des Kleides nicht sehen.

Der Direktor, ein wohlwollender Herr, fragte lächelnd: »Nanu, was bedeutet denn das? Warum gibst du mir auf meine Frage keine Antwort? Warum siehst du mich nicht an?«

Pucki wandte nur das Köpfchen rückwärts. »Entschuldigen Sie, Herr Direktor, aber – aber – –«. Dann machte sie Miene fortzulaufen. Der Direktor hielt sie zurück.

»Das gibt es nicht, mein Kind. Wo willst du hin?«

»Heute geht mir alles quer!« rief Pucki verwirrt.

Da sie vom Direktor an der Hand festgehalten wurde, blieb ihr nichts anderes übrig, als ein volles Geständnis abzulegen. Kläglich wies Pucki auf das zerrissene Röckchen. »Es ist doch nicht schön, von allen ausgelacht zu werden. Ich habe mir eben keinen Rat gewußt, da wollte ich aus der Stunde wegbleiben.«

Der Direktor unterdrückte nur mühsam ein Lachen. Er kannte die wilde Hedi Sandler genau. Schon manchen tollen Streich hatte sie ausgeführt. Da jedoch niemals eine böse Absicht vorlag, konnte er dem Försterkind nicht böse sein. Mit dem zerrissenen Kleidchen konnte sich das Kind unmöglich vor den Klassenkameradinnen zeigen.

»Wohnst du weit vom Gymnasium?«

»Nein, Herr Direktor, nur durch die Lange Straße und dann fix um die Ecke. Ich wohne doch bei Tante Grete Perler.«

Der freundliche Herr zog die Uhr. »So laufe rasch heim, Hedi Sandler, und zieh dir ein anderes Kleid an. Aber beeile dich, daß du um elf Uhr wieder hier bist, wenn die neue Stunde beginnt.«

»Ja«, rief Pucki erleichtert, »das mache ich! Daran habe ich gar nicht gedacht.«

»Wenn du dann wiederkommst, entschuldigst du dich beim Herrn Studienrat und sagst ihm, du hättest mit mir gesprochen, und ich hätte dich für diese Stunde beurlaubt.«

»Ach ja!« sagte Pucki beruhigt, »so geht es! Na, ich bin froh, daß es noch so geklappt hat.«

»Und in Zukunft steigst du nicht mehr über den Stacheldraht.«

»Ich hätte nur ein bißchen höher springen sollen, dann wär's geglückt. Doch das lerne ich noch.«

Da lachte der gutmütige Direktor und ließ Pucki laufen. Sie lief schnell nach Hause, um sich rasch umzukleiden.


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