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Der sonntägliche Aufenthalt im Elternhaus war für Pucki wie ein großes Fest gewesen. Leider vergingen die Stunden viel zu schnell, und es war Hedi nicht möglich gewesen, alle Bekannten und Freunde zu begrüßen.
»Ich komme am nächsten Sonntag wieder«, hatte sie gesagt und energisch erklärt, sie würde es schon möglich machen, obwohl die Eltern meinten, daß solche Besuche in Birkenhain nur hin und wieder stattfinden könnten.
»Onkel Oberförster holt mich wieder.«
Als aber Oberförster Gregor bei der Rückfahrt meinte, daß er am nächsten Sonnabend nicht käme, daß Pucki nun bis zu den Pfingstferien in Rotenburg bleiben müsse, wandte sich das Kind an Eberhard.
»Du, dann fahren wir mit der Eisenbahn.«
»Wenn wir dazu Geld und Erlaubnis haben – ja.«
»Wir werden es schon machen«, tröstete Pucki.
Nun war sie wieder in Rotenburg bei Tante Grete und wartete auf den Sonnabend. Tante Perler erklärte jedoch kurz und bündig, daß am Sonnabend die Fahrt ins Elternhaus unterbleiben müsse. Pucki lief zu Hans Rogaten und fragte ihn um Rat.
»Wenn es dir nicht erlaubt wird, so geht es eben nicht, Pucki.«
»Wenn ich viel Geld hätte, könnte ich heimfahren.«
»Du hast aber kein Geld«, erwiderte er.
»So werde ich furchtbar sparen, und wenn ich so viel zusammen habe, wie ich brauche, fahre ich nach Rahnsburg. Dort freut man sich, wenn ich komme.«
Da Pucki jedoch nur ein Taschengeld von wenig Pfennigen bekam, erschien es dem langen Hans nicht nötig, dem eigenwilligen Mädchen weitere Vorhaltungen zu machen. Mit erstaunlicher Schnelle kam der Sonnabend heran, Pucki vergoß ein paar Tränen, als sie erkannte, daß aus der Heimfahrt nichts wurde, hoffte aber auf das nächste Wochenende, zumal sie an den Oberförster einen Brief geschrieben hatte, in dem sie ihm mitteilte, daß sie große Sehnsucht nach Birkenhain hätte.
Mit Carmen Gumpert freundete sich Pucki immer mehr an. Sie bestaunte den Fleiß der Kameradin, die sehr sorgfältig ihre Schularbeiten machte und mit dem Lernen nicht eher nachließ, als bis sie alles genau wußte. Sehr oft versuchte Pucki die kleine Freundin davon abzuhalten, aber Carmen ließ im Fleiß nicht nach, im Gegenteil, sie versuchte Pucki von der Nützlichkeit des Lernens zu überzeugen.
»Ich habe keine Mutti, ich muß sehr viel lernen, damit ich später einmal alles kann. Wenn der Vater von seiner Reise heimkommt, will er später alles so haben, wie es früher war. Und wenn er mir von Indien, von Amerika und Australien erzählt, muß ich genau wissen, wie es dort ist.«
»Ich habe aber eine Mutti«, erwiderte Pucki. »Mein Vater ist nicht in Indien und Amerika. Mein Vater ist immer im Wald, und den Wald kenne ich. Ich kenne auch die Vögel, die im Walde leben. Komm, wir wollen uns das schöne Vogelbuch ansehen.«
»Nein«, wehrte Carmen ab, »ich habe noch zu lernen.«
Pucki stahl sich aus dem Zimmer, sie wollte lieber auf dem Balkon des großen Wohnzimmers die Vögel füttern. Sie hatte heute von ihrem Frühstück etwas übrig behalten, das sollten die Vögel bekommen.
Im Zimmer war niemand. Tante Grete war in der Küche, um den Nachmittagskaffee zu bereiten. Puckis Blick fiel auf die große, alte Uhr an der Wand. Sie lachte. Der lange Hans behauptete immer wieder, daß das Uhrenmännchen das Treiben der Kinder beobachte. Hedi Sandler stemmte die Arme in die Hüften und schaute zur Uhr empor.
»Uhrenmännchen«, sagte sie vergnügt, »weißt du auch, daß ich heute mein Gedicht noch nicht gelernt habe?«
Die Uhr tickte sehr laut. Pucki lauschte auf das Geräusch. Plötzlich schien es ihr, als verwandle sich das Tick-tack in die Worte: Weiß – ich, weiß – ich! Pucki schüttelte den Kopf.
»Ach nein, es ist doch nur Tick – tack, das Uhrenmännchen weiß gar nichts.«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, Tante Grete trat ein. Sie sah Hedi vor der Uhr stehen.
»Gefällt sie dir? Die Uhr ist schon über hundert Jahre in unserer Familie, die Uhr habe ich sehr lieb, Pucki, sie hat mir einmal einen großen Dienst geleistet.«
»Der Hans hat gesagt, du weißt eine schöne Geschichte vom Uhrenmännchen. – Ist es wahr, Tante Grete, daß das Uhrenmännchen manchmal zu einem spricht?«
»Ja, Pucki.«
Da lachte Hedi überlaut auf. »O nein, Tante, so ein kleines Männchen aus Holz, das oben im Kasten sitzt, kann bestimmt nicht reden. Das ist nur ein Märchen, wie es ganz kleinen Kindern erzählt wird. Ich glaube das nicht!«
»So werde ich dir einmal davon erzählen, wie das Uhrenmännchen zu mir sprach und wie es mich vor großer Schuld bewahrte.«
Pucki wies mit dem Zeigefinger auf die Uhr. »Das kleine Männchen dort oben, das auf einen Draht aufgespießt ist und hinter der kleinen Klappe sitzt?«
»Ja, Pucki! Komm her, ich will es dir erzählen.«
Sofort setzte sich Pucki neben Tante Grete. Geschichten hörte sie gar zu gern. Während sich ihre Augen fest auf die Uhr hefteten, begann Frau Perler zu erzählen:
»Unsere Eltern hatten viele Kinder, und so wurden wir alle recht einfach und bescheiden erzogen. Als ich ungefähr so alt war wie du, lud man mich eines Tages zum Geburtstag zu einer Schulfreundin ein. Diese Freundin wohnte in einem prachtvollen Hause. Ihre Eltern waren sehr reich, und Adele bekam alles, was sie sich wünschte. Sie hatte viel kostbares Spielzeug und sagte zu uns, wir möchten ihr, wenn wir am Sonntag zum Geburtstagskaffee kämen, auch recht schöne Sachen mitbringen. So wurde schon in der Schule beraten, wodurch wir Adele erfreuen könnten, denn sie besaß eigentlich schon alles, was ein kleines Mädchen braucht.«
»Oh, hatte die es gut!« sagte Pucki.
»Sie war aber auch nicht glücklicher als wir, die wir nur einfaches Spielzeug besaßen. Ich bat meine Eltern, sie möchten für Adele etwas sehr Schönes kaufen. Aber die Mutter meinte, es wäre vollkommen genug, wenn ich ihr etwas zum Naschen schenkte. Sie kaufte mir ein Kästchen mit Süßigkeiten, das ich am Sonntag in das herrliche Haus mitnehmen sollte. Dieses Geschenk erschien mir aber zu gering, zumal ich wußte, daß Adele sehr oft, auch außer ihrem Geburtstage, Süßigkeiten bekam. Ich forderte daher recht unartig von meinen Eltern, sie möchten etwas anderes kaufen, aber die Mutter gab meinen Wünschen nicht nach.«
»Oh, Tante Grete, ich kann mir gar nicht denken, daß du auch mal ungezogen warst.«
»Am Sonnabend vor der Einladung ging ich sehr unlustig aus der Schule heim. Noch immer überlegte ich, ob ich Adele nicht irgend etwas Besseres schenken könnte. – Plötzlich stieß mein Fuß an ein kleines Paket. Ich hob es auf, wickelte es auseinander und fand darin ein mit Seide ausgepolstertes Kästchen, in dem eine schöne Kette lag. Da kam mir der Gedanke, diesen Fund als Geschenk meiner Freundin Adele mitzunehmen. Kein anderes Kind würde ein so herrliches Geschenk bringen wie ich.«
»Die Kette durftest du aber nicht nehmen. Wenn man etwas findet, muß man es abgeben, Tante Grete.«
»Jawohl, mein Kind, das muß man tun. Aber in diesem Augenblick kam die Versuchung riesengroß an mich heran, und ich beschloß, niemandem etwas von dem Funde zu sagen und morgen nachmittag die herrliche Kette, die auf blauseidenem Polster lag, Adele zu schenken.«
»Da hat sie sich gewiß sehr gefreut.«
»Es kam ganz anders, Pucki. Ich versteckte das Kästchen sorgsam vor meinen Eltern, denn ich war fest entschlossen, Adele am Sonntag die Kette zu überbringen. Am Nachmittag zeigte mir meine Mutter eine wunderhübsche Decke, die sie für einen Puppenwagen genäht hatte. Diese Decke sollte ich mit der Nascherei Adele am morgigen Tage bringen. Sonst hätte ich mich gewiß darüber gefreut, denn die hellblaue Decke war wirklich wunderhübsch, aber sie schien mir doch gegen die Kette recht erbärmlich zu sein. Ich schwieg daher noch immer und wartete auf den kommenden Tag. Im Traum erschien mir die Kette, die zu Unrecht in meinem Besitz war und mich ängstigte, denn aus den Perlen wurden kleine Männchen, die mir drohten. Angstvoll wachte ich auf. Es war alles totenstill, nur die Uhr tickte.«
»Die Blumenuhr, Tante Grete?«
»Ja, dieselbe Uhr, die du dort siehst. – Plötzlich schlug sie zwölfmal. Ich wußte, daß das Uhrenmännchen jetzt aus dem Kasten trat und nickte. Ich lauschte auf das Ticken. Aber ich hörte nicht mehr das gewohnte Tick – tack, die Uhr sagte ununterbrochen: ›Du Dieb – du Dieb – du Dieb!‹ Ich erschrak furchtbar. Ich zog das Bett über die Ohren, aber immer wieder tönte es: ›Du Dieb –‹«
»Hast du das wirklich gehört?«
»Ja, Pucki, es klang ganz deutlich zu mir herüber. – Ich konnte nicht einschlafen, mein Unrecht quälte mich, und ich bedauerte, daß ich nicht schon gestern meiner guten Mutter das Kästchen gezeigt hatte. Vielleicht hatte Adele gar keine Freude an dem Geschenk. Es gehörte mir nicht, und ich durfte es nicht weitergeben. – Die Uhr tickte unablässig: ›Du Dieb, du Dieb!‹ Endlich schlief ich doch wieder ein, aber als ich am Sonntag früh erwachte, lauschte ich nach der Uhr hin.«
»Hat sie noch immer getickt: ›Du Dieb?‹«
»Nein, sie sagte mahnend: ›Tu's nicht – tu's nicht – tu's nicht!‹ Noch immer zögerte ich. Mittags, um zwölf Uhr, wartete ich darauf, daß das Uhrenmännchen hervorkommen möge. Ich stellte mich vor die Uhr, und als es endlich heraustrat, war es mir, als sähe sein Gesicht grimmig aus. Es nickte mir heute nicht so freundlich zu wie sonst und rief: ›Tu's nicht, tu's nicht!‹«
Pucki lauschte atemlos.
»Da konnte ich es nicht länger aushalten. Ich fiel meiner Mutter um den Hals und gestand ihr alles. Ich brachte ihr den schönen Kasten mit der Perlenkette und sagte ihr, daß mich das Uhrenmännchen gewarnt hätte.«
»Wirklich das Uhrenmännchen?«
»Ja, Pucki. – Am Nachmittag ging ich zu meiner Freundin. Dort erfuhr ich sehr bald, daß am gestrigen Tage ein kostbares Geschenk, das man Adele machen wollte, verlorengegangen sei. Frau Holzer, Adeles Mutter, hatte im Goldwarengeschäft eine herrliche Perlenkette gekauft. Das Kästchen mußte ihr aus der Tasche gefallen sein. Nun suchte man seit gestern danach.«
»Na, das wäre ja eine schöne Geschichte geworden, wenn du nun das Kästchen gebracht hättest!«
»Ja, Pucki, wie hätte ich vor allen dagestanden. Wäre ich nicht so dumm gewesen, so hätte ich mir sagen müssen, daß ich als ein kleines Mädchen niemals eine so kostbare Kette hätte schenken können, aber ich wußte eben nicht, welch einen Wert diese Perlen hatten. Oh, wie war ich glücklich, als ich Adeles Mutter sagen konnte, daß ich solch ein Kästchen gefunden hätte. Frau Holzer schloß mich in die Arme und küßte mich immer wieder. Und Adele meinte, die blaue Wagendecke sei für sie das schönste Geschenk, denn sie hätte sich längst eine solche Decke gewünscht.«
»Da warst du wohl recht froh?«
»Ja, Pucki, man schickte sofort zu meiner Mutter und ließ das Kästchen mit der Perlenkette holen. Meine Mutter wollte es am Montag früh gleich zum Fundbüro tragen. Nun war der Verlierer schneller gefunden worden.«
»O je, Tante«, sagte Pucki, »was hätten die Leute nur gesagt, wenn du die Kette geschenkt hättest? Alle anderen Kinder hätten dich ausgelacht.«
»Sie alle hätten wie das Uhrenmännchen gesagt: ›Du Dieb – du Dieb!‹«
Wieder schaute Pucki nach der Uhr. »Komisch ist das – daß dich das Uhrenmännchen gewarnt hat. Ich glaube doch nicht, daß es sprechen kann.«
»Nein, mein Kind, es spricht auch nicht, aber unser Gewissen spricht. Wenn wir etwas Unrechtes tun, so ist in uns eine Stimme, die uns immer wieder an unser Unrecht mahnt. Dann hören wir diese Stimme überall. Und wenn die Uhr tickt, so ist es uns, als riefe auch sie uns unser Unrecht zu. Möge nie die Versuchung an dich herantreten, Pucki, sonst könntest du vielleicht auch einmal den Ruf des Uhrenmännchens an dir erleben.«
Noch lange dachte Pucki an diese Erzählung. Sie wurde noch nachdenklicher, als ihr der lange Hans bestätigte, daß auch er schon das Uhrenmännchen gehört hätte.
»Aber manchmal muß es doch auch etwas Schönes sagen? Horch mal hin, Hans, vielleicht sagt es uns jetzt gerade: Am nächsten Sonnabend fahren wir nach Rahnsburg.«
»Wir wollen mal horchen.«
Die beiden standen vor der Uhr.
»Tick – tack, tick – tack«, sagte das Uhrenmännchen.
»Ich höre nichts«, sagte Pucki ärgerlich. »Hörst du was?«
»Nein, ich höre auch nichts«, meinte Hans, »ich glaube, wir werden am kommenden Sonnabend hierbleiben müssen. Aber es ist ja bald Pfingsten, dann fahren wir heim.«
»Ich möchte aber schon an diesem Sonnabend heimfahren.«
»Der Oberförster kommt nicht mit dem Auto.«
»Dann nehmen wir die Eisenbahn.«
»Die kostet Geld.«
»Wieviel Geld muß ich denn haben?«
»Nun, auf Sonntagskarte ist es viel billiger, aber ein dickes Fünfmarkstück brauchst du schon.«
»Oh – fünf Mark, so viel Geld habe ich nicht!«
»Dann bleibst du eben hier.«
»Ich möchte aber nach Rahnsburg fahren.«
»Ich möchte auch mal nach Rahnsburg und kann es nicht. Ich kann auch nicht an jedem Sonnabend heim, weil meine Eltern zu weit weg wohnen. Ich fahre nicht mal über Pfingsten heim. Erst in den großen Ferien wieder.«
»Horch doch noch mal, ob das Uhrenmännchen nicht Rat weiß.«
»Kein Geld – kein Geld! – – Bleib hier – bleib hier«, sagte Hans zum Ticken der Uhr.
»Ach, du dummer Hans«, rief Pucki und verschwand rasch in ihrem Zimmer. Sie knallte die Tür kräftig hinter sich zu.
Wieder näherte sich eine Woche ihrem Ende. Morgen war Sonnabend, aber kein Onkel Oberförster kam. Pucki zählte des öfteren ihre wenigen Geldstücke. Es war nicht einmal eine Mark, und sie brauchte doch fünfmal so viel. Wahrscheinlich würde sie auch diesmal wieder hierbleiben müssen. – Ach, es war vor Heimweh kaum auszuhalten! Wie schön mußte es gerade jetzt im Wald und im Garten sein. Man war längst im lieben Maimonat. Gerade er war für das Försterkind der Inbegriff alles Schönen. Wie herrlich blühten jetzt in der Waldgrube, einer kleinen Vertiefung in der Nähe der Försterei, die Erdbeeren, und drüben, am kleinen Berg, wo die dicken Buchen mit den bemoosten Stämmen standen, hatte sie alljährlich Maiglöckchen gepflückt und der Mutti einen Strauß gebracht. Die liebe Mutti liebte diese Blümchen so sehr. Alles das mußte sie unterlassen, nur weil sie in Rotenburg auf dem Gymnasium lernen sollte. Ach, wie gut hatten es Waldi und Agnes!
Jemandem mußte sie ihr Herz ausschütten. Carmen gegenüber konnte sie nichts von ihrem Heimweh sagen. Sie machte immer so traurige Augen, denn Carmen konnte nie mehr zu ihrer Mutter. Eberhard und der lange Hans sagten immer nur, sie solle sich gedulden, und auch Tante Grete meinte, Pfingsten wäre nicht mehr fern, sie brauche morgen nicht nach Hause.
Nachdenklich stand Pucki am Fenster und schaute hinab in den Hof. Aus der Waschküche quollen dicke Dampfwolken heraus. Dort unten stand seit gestern eine Frau, die in einem großen Kessel die Wäsche von Tante Grete wusch. Gestern war Pucki schon einmal voller Neugier hinunter ins Waschhaus gegangen, um der Frau zuzusehen, wie sie die bloßen Arme tief in den Seifenschaum tauchte. Oh, es mußte sehr lustig sein, in dem weißen Schaum zu wühlen. Da das Kind nichts Besseres vorhatte, lief es hinunter in die Waschküche, stellte sich neben die fleißige Frau und schaute ihr zu.
Wie heiß es hier war! Der Frau rannen die dicken Tropfen über das Gesicht.
»Haben Sie viele Mühe dabei?« fragte Pucki neugierig. »Oder macht es Spaß?«
»Ich bin froh, daß ich Arbeit habe, mein Kind! Es macht gewiß Mühe, aber wenn man sein verdientes Geld heimbringt und für seine Kinder etwas kaufen kann, ist man froh, daß man noch Arbeit hat. Ich bin auch nicht mehr die Jüngste, der Rücken tut mir oftmals recht weh. Aber es muß eben sein.«
»Ja«, meinte Pucki, »ich weiß einen schönen Spruch, der hängt über meinem Bett, und der heißt:
Mit fröhlichen Sinnen
soll man beginnen,
mit lustigem Lachen
läßt alles sich machen.
Sie müssen ganz vergnügt lachen, dann ist die Arbeit nicht so schwer.«
»Ja, ja, mein gutes Kind, mitunter vergeht einem aber das Lachen. Ich will aber trotzdem dem lieben Gott danken, daß er mir noch genügend Kräfte gibt.«
Als Pucki aus der Waschküche kam, erkundigte sie sich bei Tante Grete, ob das Waschen eine so schwere Arbeit sei, daß man dabei sogar das Lachen verlerne.
»Du warst wohl unten bei unserer guten Frau Bäckler? Sie ist eine brave Frau, mein Kind, die sich mühsam ihr Brot mit Waschen verdient. Du kannst dir denken, daß es eine schwere Arbeit ist, den ganzen Tag am Waschfaß zu stehen.«
»Oh, sie hat auch tüchtig geschwitzt, aber sie ist froh, daß sie noch Kräfte hat.«
»Ja, Pucki, diese Wäscherin ist eine sehr ordentliche und achtbare Frau.«
»Hast du nicht ein Stück Kuchen oder ein Stück Schokolade für sie, Tante Grete?«
»Wenn sie nachher fertig ist, bekommt sie außer ihrem verdienten Lohn noch einige Leckerbissen für die Kinder.«
»Na, dann ist es ja gut, dann wird sie sich ja freuen.«
Frau Bäckler verzehrte das Abendbrot in der Küche bei Tante Grete. Pucki stand neben ihr und freute sich, wie gut es der fleißigen Frau schmeckte.
»Sie haben sich das auch sauer verdient«, plapperte der Kindermund. »Jetzt legen Sie sich sicher gleich ins Bett, wenn Sie heimkommen.«
»Nein, kleines Mädchen, da ist noch allerlei zu tun.« –
Die Waschfrau war gegangen. Pucki wollte eben in ihr Zimmer, als sie von Tante Grete nochmals zurückgerufen wurde.
»Hier, Pucki, ist der Schlüssel zum Waschhaus. Frau Bäckler hat ihn aus Versehen mit heraufgebracht. Trage ihn wieder hinunter und gib ihn bei dem Portier ab. Dann komme gleich wieder herauf, denn in fünf Minuten essen wir zu Abend.«
Pucki nahm den Schlüssel, sprang die Treppe hinab, klopfte an der Pförtnerwohnung an und überreichte den Schlüssel.
»Nun, kleine Pucki«, fragte die Pförtnersfrau, »fährst du morgen wieder im Auto nach Hause?«
»Nein«, sagte Pucki traurig, »der Onkel holt mich nicht.«
Dann schickte sie sich an, die Treppe wieder emporzusteigen. Was lag dort auf der untersten Stufe? Das war ein Geldstück. Pucki hob es auf.
»Zwei Mark!« sagte sie erstaunt. Sie hatte ein Zweimarkstück gefunden. Eben noch war sie sehr unglücklich darüber gewesen, daß sie morgen nicht nach Birkenhain konnte, jetzt hatte sie Geld! Hin- und Rückfahrt kosteten fünf Mark. Sie brauchte nur das Geld für die Hinreise, das andere gab ihr der Vati ganz bestimmt.
»Zwei Mark – und ich habe noch eine Mark. – Ach, ich kann nun morgen doch nach Hause fahren! Ich fahre mit der Eisenbahn!«
Als sie oben angekommen war, ging sie nicht gleich in das Eßzimmer hinein. Wenn sie jetzt auch Geld hatte, würde Tante Grete vielleicht doch die Reise nicht erlauben, überlegte sie. Sie wollte während des Abendessens erst einmal ganz bescheiden anfragen, ob man sie auch reisen ließe, wenn sie nun Geld hätte.
Geld? – Das Geld für die Reise hatte sie eben gefunden. Das Geld gehörte eigentlich nicht ihr! Gefundene Sachen mußte man abgeben.
Pucki wurde ein wenig unruhig. Sollte sie von dem Fund erzählen? Das Geldstück wurde plötzlich ganz heiß in ihrer Hand.
Schon hörte sie Tante Grete zum Abendbrot rufen. Sie steckte das Zweimarkstück schnell in die Kleidertasche und betrat mit gesenktem Kopf das Zimmer.
Die Speisen wurden aufgetragen. Plötzlich hörte Pucki das Ticken der Blumenuhr. Angstvoll richteten sich die blauen Kinderaugen auf das alte Erbstück. Die Blumenuhr hatte schon einmal warnend getickt, damals, als Tante Grete die Perlenkette fand.
Ob das Uhrenmännchen von dem Gelde etwas wußte, das sie gefunden hatte?
Ob es ihr riet, das Geld abzugeben?
»Gib's ab, gib's ab«, tickte es plötzlich laut und vernehmlich. Und während Pucki an dem Butterbrot kaute, klang es immer eindringlicher an ihr Ohr: »Gib's ab, gib's ab!«
»Pucki, du bist ja heute so still«, sagte Tante Grete.
Das Kind aß immer hastiger. Sonst schmeckte das Abendbrot so gut, heute störte das Ticken der Uhr. Tante Grete hatte damals eine Nacht lang nicht schlafen können, weil die Uhr immer wieder gerufen hatte: »Du Dieb, du Dieb!« – War sie nicht auch ein Dieb? Wem mochte das Geld gehören?
»Pucki, fehlt dir etwas?«
»Nein, nein – –«
Forschend ruhten die Augen der Tante auf dem Kinde, das so oft seine Blicke auf die alte Uhr heftete.
Schließlich war das Abendessen vorüber. Sonst saß man im Wohnzimmer noch zusammen, doch heute erklärte Pucki kleinlaut, sie wolle noch einmal ihr Gedicht durchlesen. So ging Pucki in ihr Zimmer und nahm das Lesebuch vor. Die kleine Hand tastete nach der Tasche, in der das Geldstück steckte. Glücklicherweise hörte sie die Uhr hier nicht ticken. Trotzdem war es Pucki, als riefe ihr das Uhrenmännchen aus einer Zimmerecke zu: »Gib's ab, gib's ab!«
Pucki hörte, daß nebenan das Zimmer leer wurde. Leise schlich sie wieder hinüber und stellte sich scheu vor die Uhr.
»Uhrenmännchen – bin ich ein Dieb? – Uhrenmännchen, weißt du, daß ich das Geld nahm?«
»Du Dieb, du Dieb«, tickte die alte Uhr.
Nein, ein Dieb wollte sie nicht sein! Lieber wollte sie auf die Reise ins Elternhaus verzichten. Was würden der große Claus, der Onkel Oberförster und vor allem die Eltern dazu sagen?
»Uhrenmännchen«, rief Pucki, »ich will kein Dieb sein!«
In dem kleinen roten Zimmer saß Tante Grete und schrieb in einem großen Buch. Pucki eilte auf sie zu, legte ein Zweimarkstück vor sie hin und sagte schluchzend:
»Das Uhrenmännchen sagt, ich bin ein Dieb! Aber ich will kein Dieb sein. Hier hast du das Geld. Ich will auch nicht heimfahren. Ich will ein gutes Mädchen bleiben, das alle Menschen gern haben. Einen Dieb mag niemand leiden. – Ach, Tante, das Uhrenmännchen hat gesagt, ich soll das Geld abgeben.«
»Meine liebe Pucki, was ist das für Geld?«
»Ich hab's gefunden, es lag auf der Treppe. Und weil ich doch so gern heimfahren wollte, hab' ich mich so darüber gefreut. Aber nun will ich nicht mehr heimfahren, nun bleibe ich bis Pfingsten hier.«
»Wann hast du das Geld gefunden?«
»Vorhin, als ich den Schlüssel fortbrachte. – Es lag ganz unten auf der Treppe.«
»Weißt du, wem das Geld gehört, Pucki?«
»Nein!«
»Das Geld hat unsere gute, fleißige Waschfrau verloren. Sie ist vorhin hier gewesen und hat mir erzählt, daß sie Geld verloren hat.«
»Die Waschfrau?« sagte Pucki leise. »Sie braucht das Geld, um für ihre Kinder was zu kaufen?«
»Ja, Pucki. Ihre müden, verarbeiteten Hände, die so schwer arbeiten müssen, haben das Geldstück verloren. Du hast es gefunden.«
Pucki sah die Tante groß an. »Nun, Pucki, du bist ein gutes Mädchen, sonst hättest du nicht auf die Stimme des Uhrenmännchens gehört. – Erinnerst du dich, daß ich dir erzählte, die Stimme des Uhrenmännchens ist die Stimme deines Gewissens! – Was hat dir denn das Uhrenmännchen gesagt?«
»Gib's ab, gib's ab«, sagte Pucki mit weinerlicher Stimme.
»Auch ich bin einmal in eine ähnliche Versuchung gekommen, Pucki.«
»Ja, Tanke Grete, du hattest die Perlenkette gefunden.«
»Du brauchst nicht zu weinen, mein kleines, liebes Mädchen. Du hättest zwar gleich mit dem Gelde zu mir kommen sollen, denn dann wäre der guten Frau Bäckler eine trübe Stunde erspart worden. Aber nun komm mit mir, wir wollen hören, was das Uhrenmännchen zu dir sagt, nachdem du die Versuchung wacker überstanden hast.«
Pucki trocknete die Tränen ab. Ihr war plötzlich so leicht ums Herz. Sie trat mit Frau Perler vor die Uhr.
»Ich glaube«, sagte Tante Grete, »das Uhrenmännchen freut sich darüber, daß du recht getan hast. Ich glaube, ich höre, wie es sagt: ›Recht so, recht so.‹«
Pucki lauschte. Ihre Augen wurden hell und strahlend. »Ich höre es, Tante Grete, ich höre es ganz genau! Das Uhrenmännchen sagt: ›Recht – so, recht – so!‹«