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»Pommerle!«
Die Tante rief das kleine Mädchen aus dem Wohnzimmer in die Küche. Pommerle kam gelaufen und fragte, was es solle. Schweigend wies Frau Bender auf den Küchenschemel, auf dem Pommerles Mütze lag.
»Ach so!« sagte das Kind kleinlaut, »da ist sie wieder mal liegengeblieben. Ich weiß schon, wo sie hingehört: in den Flur, an den Haken.«
»Wenn du die Mütze angehängt hast, gehst du einmal hinüber zum Onkel ins Arbeitszimmer, aber bald, ehe er zurückkehrt. Dort sieh dich um.«
Pommerle senkte den Kopf, nahm die Mütze, hing sie im Flur auf und begab sich zögernden Schrittes ins Arbeitszimmer des Onkels. Auf einem der Klubsessel lagen, unordentlich hingeworfen, verschiedene Puppenkleider. Rasch griff das Kind danach und sagte seufzend:
»Schrecklich, daß immer alles liegenbleibt! Dabei wollte ich mich doch bessern.«
Mit den Puppenkleidern kehrte es in sein Zimmerchen zurück. Es war ein kleiner, aber sehr freundlich eingerichteter Raum, in dem Pommerles Bett stand, am Fenster ein Tisch, der zum Spielen und zum Arbeiten diente. Das Zimmer lag neben dem Schlafraum der Pflegeeltern. Nachts blieb die Verbindungstür offen, denn Frau Bender wollte das kleine, temperamentvolle Mädchen möglichst viel unter ihren Augen haben.
Nicht immer sah es in Pommerles Stübchen so ordentlich aus wie eben jetzt, denn Anna, das tüchtige, langjährige Hausmädchen, hatte alles, was unordentlich umherlag, fortgeräumt und an seinen Platz gelegt. Gar zu oft mußte Frau Bender ihr Pflegetöchterchen daran erinnern, daß in einem Kinderzimmer auch Ordnung zu herrschen habe, daß es die Spielsachen, die benutzt worden waren, selbst wieder forträumen müsse. Es kam oftmals vor, daß Pommerle nach etwas suchte, dann klang sein Stimmchen weinerlich durch die Zimmer:
»Wo ist mein Federkasten, wo sind meine Handschuhe?«
»Wenn die Sabine auch alles so herumwerfen wollte«, sagte Pommerle zu sich selbst, »würde sie es nicht finden. Sie kann doch nicht so sehen wie ich.«
Dann legte das Kind die Puppenkleider ordentlich in den kleinen Puppenschrank, drohte dem Puppenkind mit dem Finger und meinte ernsthaft:
»Daß du mir als großer Mensch ordentlich wirst, ich kann keine Liederlichkeit leiden. Nur nichts herumwerfen! Hörst du?«
Aufmerksam schaute sich die Kleine im Raume um. Alles war an seinem Platz. Wenn die Tante kam, würde sie nichts zu tadeln finden.
Die Schulaufgaben waren gemacht, nun galt es, sich den Weihnachtshandarbeiten zuzuwenden, denn das Fest war nicht mehr fern. Pommerle seufzte. Es hatte noch viel zu tun. Da es in der Schule gelernt hatte, Strümpfe zu stricken, wollte es dem Onkel ein Paar derbe, graue Socken herstellen. Ein Strumpf war bereits unter Anleitung der Lehrerin fertig geworden, aber der zweite war noch stark im Rückstand. Dazu kam, daß auch die Pulswärmer für Jule noch manche Arbeitsstunde erforderten. Der eine war auch fertiggestellt, schön, warm und lang. In mühsamer Strickarbeit war er gefertigt. Wie würde sich der Jule freuen, denn bei seinen Arbeiten draußen im Hof oder im Schuppen war es mitunter so kalt, daß ihm die Finger steif wurden. Diesem Übel sollten die Pulswärmer abhelfen.
Das Geschenk für die Tante war fertig und stand wohlverwahrt in Pommerles Schrank. Alltäglich holte das Kind die kleine, selbstgefertigte Kommode hervor, die später auf dem Nähtisch der Tante prangen sollte. Hierfür hatte ebenfalls die Lehrerin die Anleitung gegeben, und voller Begeisterung hatte sich Pommerle dieser niedlichen Handarbeit unterzogen. Sie hatte sechs Streichholzschachteln in zwei Doppelreihen übereinander geleimt, so daß sich sechs kleine Schubfächer ergaben. Um diese sechs Kästchen herum war ein Stoffstreifen gespannt, auf den ein kleines Muster gestickt worden war. Auf dunkelblauem Grunde prangten gelbe und rote Kreuzchen aus Seide. Seit Tagen wartete das Kind darauf, dieses herrliche Geschenk Sabine zu zeigen, die versprochen hatte, in Kürze ihre kleine Freundin Pommerle wieder zu besuchen.
Pommerle holte den Strumpf und den Pulswärmer hervor. Woran sollte es nun arbeiten? Der Pulswärmer war fast fertig. Es fehlten nur noch die kleinen Zäckchen, die den Abschluß bildeten. Dabei mußte die Tante helfen, denn das war für Pommerle noch zu schwer.
Das Kind nahm den Pulswärmer zur Hand, stellte aber bald fest, daß es richtiger sei, an dem Strumpfe zu arbeiten, warf ihn auf den Stuhl und begann dann, an dem Strumpfe für den Onkel zu stricken. Immer wieder wurde an dem bereits fertiggestellten Strumpfe gemessen. Pommerle dehnte das gestrickte Stück und fand bald, daß es nun wohl an der Zeit sei, mit der schweren Ferse zu beginnen. Wenn der zweite Strumpf etwas kürzer würde, hatte das wohl nichts auf sich.
Nachdem Pommerle die ersten Nadeln der Ferse gestrickt hatte und wieder zu messen begann, stellte es erschreckt fest, daß der andere Strumpf viel länger war. Wenn es noch so sehr zog und dehnte, der in Arbeit befindliche Strumpf schrumpfte immer wieder zusammen. Wenn die Tante nachschaute, mußte es am Ende das gestrickte Stück wieder aufziehen. So wollte sich das Kind einmal bei Anna erkundigen, ob es nicht einerlei sei, wenn ein Strumpf kürzer, der andere etwas länger wäre.
Es strickte zunächst emsig weiter, immer wieder vor sich hin singend:
»Zwölfmal werden wir noch wach, heißa, dann ist Weihnachtstag.«
Doch das Stricken der Ferse war gar zu schwer. Sehr bald glitten einige Maschen von der Nadel, die Pommerle nicht mehr festhalten konnte. So begab es sich zur Tante.
»Es ist wieder mal ein Unglück bei dem dummen Strumpf geschehen, Tante. Bitte, mache mir doch den Strumpf wieder in Ordnung.«
»So ist es recht, mein liebes Kind, daß du fleißig arbeitest. Du kannst bei mir im Zimmer bleiben, ich habe auch zu nähen, und wir können uns dabei etwas erzählen. Nun gib einmal her.«
Mit nicht ganz gutem Gewissen reichte Pommerle den Strumpf hin.
»Du strickst schon die Ferse? Hast du den anderen Strumpf hier?«
»So lauf hinüber und hole ihn.«
Zögernd ging Pommerle in sein Stübchen, dabei warf es den Pulswärmer, der unordentlich auf dem Stuhl lag, herunter, das Wollknäuel rollte davon, aber Pommerle ließ es ruhig liegen.
Tante Bender legte die beiden Strümpfe aufeinander und schüttelte den Kopf.
»Nein, Pommerle, das geht nicht. Der Onkel hat zwei ganz gleich lange Beine, folglich müssen auch die Strümpfe gleich lang gearbeitet werden. Wenn man ein Geschenk anfertigt, muß es tadellos sein, sonst macht es keine Freude.«
Die begonnene Ferse wurde aufgetrennt, seufzend schaute das Kind der Tante zu. Dann machte es sich wieder an die Strickarbeit, während die Tante nähte. Nach einer Weile fragte die Kleine ganz unvermittelt:
»Tante, wollen wir nicht ein bißchen zusammen spielen?«
»Aber gewiß, Kleines.«
»Wollen wir Mutter und Kind spielen?«
»Auch gut, Pommerle.«
»Darf ich dann mal die Mutter sein und du das Kind?«
»Schön.«
»Nun heißt du also Pommerle, Tante. – Höre mal, Pommerle, Weihnachten kommt bald heran, da haben wir in unserem Haushalt noch viel zu tun. Ich bin schrecklich beschäftigt, ich habe für meinen Mann noch zu nähen und zu flicken, und für die Gäste muß ich Kuchen backen. – Pommerle, willst du mir helfen?«
»Freilich, Mama«, sagte die Tante lächelnd, »was soll ich denn tun?«
»Willst du mein liebes kleines Mädchen sein und mir eine große Arbeit abnehmen?«
»Ja, Mamachen, das will ich tun.«
Da sprang Pommerle wie elektrisiert auf, drückte der Tante den Strumpf in die Hände und sagte strahlend:
»Ätsch, Tante, du hast gesagt, du willst mir helfen, nun strick!«
Frau Bender mußte lachen. »Ja, Pommerle, wenn du das so machst. Wer schenkt denn den Strumpf, du oder ich?«
»Ach, liebe Tante, ich habe noch so viel zu tun. Wenn du mir ein ganz klein wenig helfen wolltest.« Plötzlich nahm das Kindergesichtchen einen strengen Ausdruck an. »Du strickst jetzt! Deine Mutter befiehlt es dir!«
»Oh, ich habe aber eine strenge Mama. Da muß ich mir wohl ein Beispiel nehmen. – Nun gib her, ein Stückchen will ich dir gern stricken.«
»Und die Pulswärmer für den Jule machst du mir auch fertig? Die kleinen Zacken obenauf kann ich nicht.«
»Die sind recht leicht herzustellen, Pommerle, ich will dir gern zeigen, wie man sie macht.«
»Na gut«, meinte das Kind, »dann will ich sie holen.«
Wenige Minuten später vernahm Frau Bender einen lauten, entsetzten Schrei. Darauf die Stimme Annas, dann wieder ihr Pommerle. Was hatte das Kind nur? Es schien dem Weinen nahe zu sein. Und wieder war es Anna, die laut und ärgerlich rief:
»Das ist doch nicht meine Schuld – warum wirfst du alles so liederlich umher!«
»Oh, nun ist alles hin, alles – alles!«
Frau Bender erhob sich. Da mußte sie doch einmal nachsehen, warum ihr Pommerle gar so jämmerlich klagte. Die Stimmen kamen aus dem Schlafzimmer. Sie trat ein. Da stand Pommerle und hielt Jules Pulswärmer in der Hand. Aber von dem langen, schönen Pulswärmer war nur noch ein kleiner Rand vorhanden.
»Sie hat alles kaputt gemacht«, klagte das Kind.
»Ich habe eben ein Knäuel mit Wolle auf der Erde gefunden«, verteidigte sich Anna, »es lag im Schlafzimmer der Herrschaften, da habe ich es aufgenommen und aufgewickelt. Und plötzlich ging es nicht weiter, da bin ich in Pommerles Zimmer gegangen, aus dem der Faden kam. Dann habe ich erst gesehen, daß ich den Pulswärmer aufgetrennt habe.«
Pommerle schwieg. Es erinnerte sich genau, daß es vorhin, als es den Strumpf holte, mit den Füßen das Wollknäuel mitgenommen und nicht aufgehoben hatte. Anscheinend war es ins Schlafzimmer der Tante gerollt. Dann war Anna gekommen, hatte das Knäuel aufgewickelt und die mühsame Arbeit vernichtet.
Ein mahnender Blick aus den Augen der Tante veranlaßte das kleine Mädchen, alle weiteren Vorwürfe Anna gegenüber zu unterlassen. Pommerle war ja selbst an diesem Unglück schuld. Nun mußte es doppelt fleißig sein, um Jule rechtzeitig beschenken zu können. Er sollte seine Pulswärmer haben, denn es wurde von Tag zu Tag kälter.
Am Abend dieses verhängnisvollen Tages hatte Pommerle doch noch eine Freude. Jule kam mit einer Bestellung ins Haus des Professors, und Sabine begleitete ihn.
»Wir haben nicht lange Zeit, Pommerle, ich wollte dir nur guten Abend sagen.«
»Ach, dann kann ich dir etwas ganz Feines zeigen. Komm doch mal mit.«
Geheimnisvoll zog Pommerle die große Freundin in sein Stübchen. Aus dem Schrank holte es die kleine Kommode, das Geschenk für die Tante.
»Ist es nicht herrlich?«
Sabine befühlte das Geschenk, Pommerle gab alle Erklärungen, die Blinde meinte, das sei ein reizendes Geschenk, und Pommerle hätte es gewiß recht hübsch und ordentlich beklebt und bestickt.
»Und dann zeige ich dir noch was anderes«, sagte Pommerle, indem es die kleine Kommode rasch auf einen der Stühle stellte. »Sieh mal, das hier werden Strümpfe für den Onkel. Aber einer ist erst fertig. – Kannst du eigentlich auch stricken?«
»Ja, das kann ich.«
»Ohne hinzusehen? Und wenn dir mal eine Masche herunterfällt?«
»Dann muß ich jemand bitten, mir die Masche aufzuheben. Aber wir stricken langsam, da fallen nur selten Maschen von der Nadel.«
»Kannst du auch eine Ferse stricken?«
»Ja, einen ganzen Strumpf.«
»Ach, Sabine, wenn du mal gar nichts zu tun hast, kommst du mich besuchen, aber noch vor Weihnachten. Dann erzählen wir uns schöne Sachen, und dabei strickst du.«
»Ich will dir gern helfen, kleines Pommerle.«
»Ach, das ist fein«, jubelte das Kind. »Nun setz dich mal ein Weilchen hin, dann zeige ich dir noch die Pulswärmer für den Jule. Den einen hat mir die Anna heute aus Versehen aufgetrennt. So, nun setz dich mal da auf den Stuhl.«
»Ich habe nicht lange Zeit, Pommerle, die Eltern warten mit dem Abendessen auf mich. Der Jule sollte gleich wieder heimkommen.«
»Na, ein Weilchen kannst du dich doch hinsetzen«, meinte die Kleine, indem sie Sabine am Arm nahm und energisch auf den Stuhl niederdrückte. Aber schon schnellte Sabine wieder auf.
»Was ist denn das?« Ihre Hand griff auf den Sitz. »Ach, Pommerle, deine kleine Kommode!«
Die eben noch so niedlich aussehende Handarbeit war vollkommen zerstört. Die kleinen Schachteln völlig zerbrochen, der gestickte Bezug glitt zu Boden.
»Au, die schöne Kommode!« klagte das Kind. »Heute ist alles verhext! Nun habe ich kein Geschenk für die Tante! Warum hast du dich auch daraufgesetzt?«
»Ich habe sie ja nicht gesehen«, sagte Sabine leise.
Da wurde Pommerle ganz still. Es durfte Sabine keinen Vorwurf machen. Wenn es die Weihnachtshandarbeit gleich wieder in den Schrank zurückgestellt hätte, wäre das Unglück nicht geschehen. – Was hatte die Tante gesagt? ›Du wirst dir durch deine Unordentlichkeit manchen Schaden zufügen.‹
»Oh, Pommerle«, klagte Sabine, »sei mir nicht böse. Ich will dir gern helfen, aber das werde ich nicht können.«
»Dann strickst du eben den Strumpf.«
»Ja, das will ich gern tun. Ich komme in den nächsten Tagen wieder, dann sind wir den ganzen Nachmittag zusammen, wir wollen fleißig arbeiten. Es tut mir ja so leid, daß ich dir das schöne Geschenk zerstörte.«
»Nun habe ich auch keine Streichholzschachteln mehr.«
»Die will ich dir gern besorgen, sei nur nicht traurig.«
Da betrat der Jule das Zimmer. Hastig ergriff Pommerle die Pulswärmer und versteckte sie auf dem Rücken.
»Ich glaube, wir müssen gehen, der Meister wartet.«
Als die beiden fort waren, betrachtete das Kind nochmals sorgenvoll die zerdrückte kleine Kommode.
»Erst trennt Anna mir den Pulswärmer auf, dann zerdrückt mir die Sabine die Kommode. Ach, es ist schrecklich!«
Zu schade, daß es sein Leid der Tante nicht klagen konnte. Aber das Geschenk war doch eine Überraschung, von der Frau Bender nichts wissen durfte. –
Am Spätabend desselben Tages ging Frau Bender nochmals durch das Haus. Sie sah nach, ob alle Fenster und Türen gut geschlossen waren, denn draußen tobte ein heftiger Sturm. Er riß an den Ästen der Bäume und bog die beiden Tannen, die am Eingang zum Garten standen, hin und her.
Pommerle, das bereits in seinem Bettchen lag, horchte auf.
»Puh, Tante, wie der Wind heute bläst! Wenn er auch so tüchtig an der See bläst, spritzen die Wellen hoch auf. Ich habe das oft gesehen. Höre doch mal, Tante, es klingt, als ob die Ostsee rauscht.«
»Schlaf' nur ein, Pommerle, es ist schon spät.«
Noch einmal warf sich das Kind unruhig im Bett umher, dann senkte sich trotz des heulenden Sturmes der Schlaf auf die Lider Pommerles hernieder. –
Pommerle hob den Kopf. Was war das? Alles war finster, und doch war es nicht so still wie sonst. Sogar im Hause hörte man sprechen. Es rief nach der Tante, dem Onkel, doch es erfolgte keine Antwort. Da kletterte das Kind aus dem Bett und eilte ins Nebenzimmer. Wie sah denn das Zimmer aus, alles in rotes Licht getaucht, die Betten der Pflegeeltern waren leer, und von unten her tönte immer lauter werdendes Rufen.
Im Hemdchen lief die Kleine auf den Flur hinaus. Hier war das elektrische Licht eingeschaltet, unten eilten Leute hin und her.
»Tante – Onkel!«
Pommerle eilte die Treppe hinab. Die Tante, die unten im Flur stand, sah das Kind.
»Aber, Pommerle, du kannst dich erkälten. Geh rasch wieder hinauf!«
»Was ist denn los?« fragte das Kind, unruhig werdend.
»Ein schreckliches Unglück ist geschehen, Pommerle, das Haus von Frau Hanke brennt.«
Frau Hanke! Pommerle kannte die alte Dame genau; sie hatte nebenan das hübsche Holzhaus mit dem großen Garten.
»Geh hinauf, Pommerle, und lege dich wieder ins Bett.«
»Du mußt bei mir bleiben, Tante – ich fürchte mich!«
»Deine Tante hat jetzt viel zu tun, sie muß helfen. Die Leute bringen die Sachen von Frau Hanke in unser Haus. Die Feuerwehr ist auch schon gekommen.«
»Da möchte ich auch helfen, Tante!«
»Vor allem ziehe dich an, Kind.« Frau Bender hielt es für das beste, daß das Kind munter blieb. Bei dem herrschenden Sturme konnte niemand wissen, wie sich das Feuer ausdehnte. Zwar stand der Wind nicht nach dem Hause des Professors zu, die Feuerwehr hatte erklärt, für den Benderschen Besitz sei keine Gefahr, um so mehr aber für das Grundstück auf der anderen Seite des brennenden Hauses. Selbstverständlich durfte das Kind sich nicht nach der Brandstelle begeben. Es sollte im Hause bleiben. Es konnte an der Seite der Tante auf die Sachen achtgeben, die die Feuerwehrleute und andere hilfsbereite Menschen heranbrachten.
Als Pommerle das brennende Nachbarhaus sah, erschrak es. Der Anblick war für das Kind ungewohnt und schaurig. Wenn es gar daran dachte, daß der freundlichen, alten Dame alles verbrannte, was sie besaß, tat Pommerle das Herz weh.
Hastig kleidete sich das Kind an, warf alles durcheinander, nur um recht rasch fertig zu werden, und kam dann herunter in das Wohnzimmer, in dem Möbel, Betten, Kisten und Kasten standen, und immer noch trug man weiteren Hausrat heran, der vor dem Feuer in Sicherheit gebracht werden sollte.
Wieder wagte sich das kleine Mädchen hinaus in den Hausflur. Es lauschte. Was war das für ein Jaulen und Heulen, das aus der Küche kam? Das Kind eilte sogleich hinüber. Auch in der Küche brannte Licht. Drei ganz kleine, reizende Hunde waren an langer Leine am Küchentisch festgebunden. Sie jammerten wohl nach ihrer Herrin.
»Oh, ihr süßen Tierchen«, jubelte Pommerle, kniete nieder und strich ihnen zärtlich über das zottige Fell. »Habt ihr auch Angst vor dem Feuer? Aber fürchtet euch nur nicht.«
»Geh hinaus!« ertönte eine Stimme.
Pommerle fuhr zusammen. Wer hatte eben gesprochen? »Geh hinaus!« Verwundert schaute sich Pommerle um. Dort in der Kammer, neben der Küche, stand ein großer Käfig, darin saß ein schöner Papagei. Er legte den Kopf auf die Seite und rief zum drittenmal: »Geh hinaus!«
»Ein Papagei – und einer, der so schön sprechen kann! – Oh, ihr süßen Tierchen«, sagte Pommerle, »wie schön ist es, daß ich euch hier habe!«
Aber den drei Hunden schien es gar nicht zu gefallen. Sie rissen an den Leinen und wollten sich mit Gewalt frei machen.
»Die armen Tierchen werden sich erwürgen«, meinte Pommerle. »In der Küche ist es so kalt. Ich glaube, ich muß sie in die warme Stube nehmen.«
Pommerle knotete die Leinen vom Tisch ab, die drei Hunde umbellten das Kind freudig.
»Habt ihr Hunger? – Hier ist es viel zu kalt für euch!«
Zuerst wollte Pommerle die drei Hunde ins Wohnzimmer bringen, doch darin lag so viel, daß kein rechter Platz mehr vorhanden war. So entschloß sich das Kind nach kurzem Überlegen, die süßen drei Hündchen hinauf in die warme Schlafstube zu nehmen. Dort brauchten sie nicht an der Leine festgebunden zu sein. Sie machte die Tür fest zu, dann konnten die Hündchen frei umherlaufen und würden sich nicht mehr ängstigen.
So stieg Pommerle mit den drei Hunden die Treppe empor und brachte die Tierchen in sein kleines Zimmerchen.
»Ja, das glaube ich, hier gefällt es euch, hier ist es auch schön warm.«
Das eine der Tierchen sprang zutraulich an dem Kinde hoch, als es von der Leine gebunden war. Pommerle nahm den Hund auf den Arm, ihn zärtlich streichelnd. Die beiden anderen schienen darüber neidisch zu sein, sie wollten gewiß auch spielen.
So saß das kleine Mädchen mitten zwischen den Hunden, hatte Feuer und alle anderen Aufregungen vergessen und fand es herrlich, des Nachts solch lieben Besuch zu haben. Schade, daß es nicht auch den Papagei heraufbringen konnte! Auch dem armen Vogel würde es dort unten zu kalt werden. Vielleicht fand sie die Anna, und diese konnte den Käfig heraufbringen.
»Ihr kleinen, süßen Hündchen bleibt jetzt allein. Ich bringe euch noch einen Spielgefährten.«
Sorgsam schloß Pommerle die Türe, daß die drei Hunde nicht heraus konnten. Aber Anna war nirgends zu finden. Dagegen stand die Tante wieder im Flur.
»Tante, ich glaube, der Papagei friert. Kannst du ihn mir nicht herauftragen?«
»Laß nur die Tiere in Ruhe, sie sind in Sicherheit.« Und schon war die Tante wieder fortgegangen. Beim Durchschreiten des Flures sah Pommerle gerade, wie ein glühender Funkenregen zum nächtlichen Himmel hinaufstieg. Das fesselte erneut seine Aufmerksamkeit. Wie sehr das hübsche Haus brannte – es war schrecklich anzusehen. Aus mehreren Schläuchen spritzte man Wasser in die Flammen; dicker, weißer Rauch stieg auf; doch das Feuer kam nicht zum Stehen.
Plötzlich erblickte Pommerle den Jule. Mit ausgebreiteten Armen lief es ihm entgegen. Der Jule schleppte auf dem Rücken einen großen Packen daher und warf ihn in den Flur.
»Hast du gesehen, Jule, es brennt!«
»Ja, es ist schrecklich!«
»Willst du mir nicht den Papagei herauftragen?«
»Ich habe jetzt keine Zeit.«
Nach wenigen Minuten war der Jule schon wieder da. Wieder trug er eine schwere Last. Und dann kamen viele andere, Männer und Frauen.
Endlich wurde es draußen ruhiger. Von dem Nachbarhause stand nicht mehr viel; nur das gemauerte Fundament war zu sehen, aus dem es stark rauchte und qualmte. Aus zwei Schläuchen gaben die Männer noch immer Wasser, damit auch die letzten Flammen erstickt wurden. Pommerle stand im Flur. Es horchte auf die Reden der Leute, die kamen und gingen.
»Wenn es wahr ist, was sie sagen«, sagte ein Mann, »dann wäre es doch schrecklich. Gestern abend waren die Enkelkinder zu Besuch. Da sollen die Jungens heimlich hinauf auf den Boden gegangen sein, um Zigaretten zu rauchen. Wahrscheinlich hat das umherliegende Gerümpel Feuer gefangen. Das kommt vom heimlichen Rauchen.«
Aufmerksam hatte Pommerle den Worten gelauscht. Es blickte von einem zum anderen, sah den Jule, der wie versteinert in der Tür stand. Warum riß er die Augen so weit auf? Warum sah er plötzlich so ganz anders aus? Und dann drehte sich der Jule um, Pommerle sah, wie er davonlief, er stürmte durch den Garten, weiter und weiter.
Was hatte der Mann gesagt? Zum ersten Male hatte der Jule gestern eine Zigarette geraucht. Er hatte einen guten Bekannten getroffen, nicht älter als er selbst, der hatte Zigaretten gehabt. Der Jule hatte bisher stets neidvoll auf alle jene gesehen, die rauchten. Ihm hatte man es verboten. Der Meister meinte, daß ein junger Bursche im ersten Lehrjahre noch nicht zu rauchen brauche. Und auch von Professor Bender hatte er niemals eine Zigarette bekommen. Gestern hatte ihm der Freund eine geschenkt, und am Abend hatte sich der Jule ganz heimlich in die bereits geschlossene Werkstatt geschlichen und dort geraucht.
»Die Werkstatt brennt«, murmelte Jule vor sich hin, während er im Sturmschritt die Straße hinunterlief. »Die Werkstatt brennt, ich habe sie angezündet, ich habe ja geraucht.« Er lief gegen zwei daherkommende Männer, die sich auch des Nachts aufgemacht hatten, um das schaurige Schauspiel zu betrachten. Er hörte nicht die Scheltworte der beiden. Nur weiter, daß er das Feuer in der Werkstatt löschen konnte.
Totenblaß, mit klopfendem Herzen erreichte der Jule das Haus Meister Reichardts. Es lag in tiefem Dunkel. Er ging hinter zur Werkstatt, schob den Riegel zur Seite. Alles war finster. Da sank der Jule erschöpft auf einem Haufen Hobelspäne nieder, rieb sich den Schweiß von der Stirn und sandte ein Dankgebet zum Himmel.
»Ich will niemals wieder heimlich rauchen«, sagte er vor sich hin. »Der Rübezahl hat es wohl nicht gesehen, sonst hätte er mir bestimmt einen Streich gespielt.« – –
»Nun aber zu Bett, Pommerle«, mahnte Frau Bender, »und bemühe dich, recht schnell einzuschlafen.«
»Ich bin gar nicht müde, Tante.«
»Doch, mein Kind, es ist kaum vier Uhr früh, da kannst du noch einige Stunden schlafen. Kleine Mädchen gehören um diese Zeit ins Bett.«
Pommerle wollte etwas erwidern, aber die Tante hob warnend den Finger. Sie drückte dem Kinde einen herzlichen Kuß auf die Stirn und wiederholte energisch: »Nun geh schnell zu Bett, wir kommen auch gleich nach.«
Da wußte Pommerle, daß es keine Widerrede gab. Es sagte der Tante gute Nacht und stieg die Treppe empor. Schon im Schlafzimmer der Pflegeeltern vernahm es das freudige Bellen der drei Hunde. Da strahlte das Gesicht des Kindes. Es würde jetzt mit den drei Hündchen schlafen gehen. Wenn das Licht wieder ausgelöscht war, würden auch die drei süßen Tierchen müde sein und schlafen. Ob es die niedlichen weißen Hündchen mit in sein Bett nehmen konnte?
Pommerle trat über die Schwelle. Die drei Hunde kollerten auf dem Teppich übereinander. Einer hielt etwas Graues im Maule, die beiden anderen bemühten sich, dem Bruder das Spielzeug zu entreißen.
Pommerle blickte auf die Hunde. Was hatten die im Maule? Was war das für ein langer Streifen?
Ritsch – ratsch, da war wieder in den Zähnen eines Hundes ein Stück grauer Stoff hängengeblieben. Und nun sah das Kind, was die drei süßen Tierchen angerichtet hatten. Beim schnellen Ankleiden hatte Pommerle auch das Strickzeug herausgeworfen. Der schöne fertige Strumpf, der für den Onkel als Weihnachtsgeschenk bestimmt war, diente den weißen, süßen Hündchen als Spielzeug. Sie schienen sich redlich darein zu teilen, denn jeder hatte ein Stück Strumpf abgerissen.
Anfangs war das Kind starr, dann hätte es am liebsten laut geweint.
»Oh, ihr Reißteufel! Oh, ihr schlimmen Tiere!«
Aber die drei Hunde schienen die Scheltworte als eine Liebkosung zu empfinden. Sie sprangen mit ihrer grauen Beute an dem kleinen Mädchen empor und kläfften es freudig an.
Da begann Pommerle bitterlich zu weinen. Langsam löste es ein Stück Strumpf nach dem anderen aus den Zähnen der Tiere. Hier war freilich nicht mehr viel zu retten.
»Da wollte ich nun mit euch zusammen schlafen gehen; nun dürft ihr zur Strafe nicht mit hereinkommen.«
Pommerle ergriff eins seiner Kopfkissen und warf es verärgert nach den Hunden. Dieses Wurfgeschoß wurde mit Freuden begrüßt. Der Kleinste biß sogleich kräftig hinein. Dem Kinde blieb das Herz stehen.
»Laß los«, rief es ängstlich, »das Bett gehört mir! Du böser Hund, laß doch los!«
Gerade in dem Augenblick, als Pommerle kräftig an dem Kissen zerrte, stürzten auch die beiden anderen Hunde auf das neue Spielzeug.
»Bitte, bitte«, rief Pommerle angstvoll, »laßt doch los, das ist ein gutes Bett! Laßt doch los!«
Es gelang dem Kinde wirklich, das Kissen aus den Zähnen der drei Hunde zu befreien, doch klaffte ein großer Riß in dem weißen Bezug. Ratlos stand das Mädchen vor den freudig wedelnden Tieren. Dann holte es die Leinen wieder herbei, fing einen Spitz nach dem anderen ein, band ihn am Halsband fest und führte die süßen drei Hunde scheu und verlegen wieder die Treppe hinab, hinein in die Küche.
»Das habt ihr nun davon, daß ihr so unartig seid.« Aber es erschien ihm doch zu grausam, die Tiere in der kalten Küche zu lassen. Es suchte noch einige Decken zusammen, dann bekam jeder Hund einen freundschaftlichen Klaps und die gute Ermahnung, zu schlafen. Dann drehte Pommerle in der Küche das Licht aus.
Sehr sorgenvoll stieg es empor. Die Hündchen hatten doch viel Unordnung im Zimmer gemacht. Und der schöne Strumpf! Nun war alles entzwei. Der Strumpf, der Pulswärmer und die kleine Kommode.
Am nächsten Tag berichtete Pommerle der Tante unter Tränen, was sich ereignet hatte.
»Siehst du, mein Pommerle, das kommt davon, wenn man als Kind eigenmächtig handelt. Die Tiere waren in der Küche gut aufgehoben. Sie hätten auch nicht gefroren, denn die Küche ist nicht kalt. Nun hast du dir durch eigene Schuld alle deine Weihnachtsgeschenke selbst verdorben. Siehst du nun ein, daß ein unordentlicher Mensch und einer, der zu vorlaut ist, sich selbst den meisten Schaden zufügt?«
»Ja, Tante, ich sehe das alles ein. Ach, mein schöner Strumpf!«
Als man am Frühstückstische saß, war das Kind still und niedergedrückt. Wie sollte es bis zum Weihnachtsfest neue Geschenke herstellen? Auch wenn Sabine ihm half, würden die Strümpfe für den Onkel nicht fertig werden.
Professor Bender sprach von dem Brande. Still und aufmerksam hörte Pommerle ihm zu.
»Es hätte ein furchtbares Unglück geben können. Die arme Frau Hanke! Durch den Leichtsinn der Knaben hat sie so schwere Verluste zu erleiden.«
Pommerle dachte an das zerrissene Kopfkissen und senkte das Köpfchen. Doch eine weitere Bemerkung des Onkels ließ es wieder aufhorchen.
»Ein schaurig-schöner Anblick war es, das lodernde Feuer in der Nacht. Ja, ja, die Elemente hassen das Gebild von Menschenhand.«
Als der Onkel später allein war, forschte das Kind neugierig:
»Onkel, was sind denn Elemente? Warum hassen die das Gebild von Menschenhand? – Und was ist ein Gebild?«
»Schau, Pommerle, da haben die Menschen in mühsamer Arbeit etwas geschaffen, und ganz plötzlich kommt eine große Kraft, eine Naturkraft, die zerstört alles, was die Menschen aufgebaut haben. Ein Dichter hat diese Worte gesagt. Von dem Dichter Schiller wirst du später auch hören und manches von ihm lernen.«
Darauf ging Pommerle zu den drei Hunden, die vorläufig von Anna betreut wurden. Es setzte sich neben die Hunde, die sogleich auf Pommerles Schoß sprangen.
»Ihr lieben, ihr bösen Tierchen; ihr seid auch solche Elemente! Da habe ich nun wochenlang an dem Strumpfe gestrickt – hört ihr zu? Meine Menschenhände haben den Strumpf gestrickt, nun kommt ihr Elemente und reißt ihn kaputt. Schämt euch!«
Drei Hundeschweife wedelten vergnügt. Da konnte Pommerle nicht länger zürnen. »Ach, liebe, süße Tierchen seid ihr ja doch, ihr seid eben noch zu dumm, um zu wissen, daß man das nicht machen darf. Aber lieb habe ich euch doch. – Ach, ich möchte zu Weihnachten auch so einen kleinen süßen Hund haben.«