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Trotz eifrigen Suchens hatte man die Leiche des ertrunkenen Fischers nicht gefunden. Professor Bender und seine Gattin waren übereingekommen, möglichst bald aus dem kleinen Ostseebade abzureisen, um in ihre schlesische Heimat zurückzukehren. Für beide stand es fest, das verwaiste Pommerle mitzunehmen. Man würde ihnen von keiner Seite Steine in den Weg legen, und besonders Fräulein Berta war über diese Lösung erfreut. Daß es Pommerle bei Benders gut haben würde, bezweifelte sie keinen Augenblick, und die Fischerfamilien des Ortes hielten es geradezu für ein Glück, daß Benders sich der Kleinen annehmen wollten.
Als Frau Bender zum ersten Male Pommerle davon Mitteilung machte, daß es mit ihr kommen sollte, schaute das Kind erst gänzlich verständnislos drein. Dann aber erklärte es, es wolle gern mitkommen. Das kleine Mädchen fühlte, daß man es gut mit ihm meinte, und in seiner Verlassenheit suchte es nach einem treuen Herzen, an dem es seinen Schmerz ausweinen konnte.
Die Uebersiedlung ging natürlich nicht so rasch vor sich. Es war allerlei zu erledigen. Außerdem hoffte der Professor nach wie vor, daß die Leiche Strödes angeschwemmt werde, um dem Manne ein würdiges Begräbnis zu bereiten.
Auch Pommerle wartete von Tag zu Tag darauf, den Vater nochmals zu sehen. Immer fester nistete sich in dem Hinterköpfchen der Gedanke ein, daß der Vater gar nicht ertrunken sei, daß ihn ein vorüberkommendes Schiff, weit draußen im Meere, aufgefischt und mitgenommen habe. Und als eines Tages Frau Bender erklärte, daß man in den nächsten Tagen von hier fortreise, rief Pommerle erregt:
»Wenn aber der Vater wiederkommt und ich bin nicht da, was wird er dann sagen?«
»Der Vater ist beim lieben Gott, Pommerle.«
»Wenn er aber doch zurückkommt?«
»So wissen die Nachbarn, wo wir wohnen. Dann wird er an uns schreiben.«
»Wir wollen ihm doch lieber einen Zettel hinlegen, und darauf schreibst du dann, wohin wir gefahren sind.«
Diesen Gedanken hielt Pommerle fest. Auf dem großen Tisch des Wohnzimmers sollte der Zettel niedergelegt werden, auf dem alles genau stand, damit der heimkehrende Vater wisse, wo sein Pommerle zu finden sei.
»Wann komme ich denn wieder hierher zurück?« fragte das kleine Mädchen.
»Vielleicht im nächsten Jahre, mein liebes Kind, aber über den Winter bleibst du bei uns. Nimm nur alle die Sachen, die dir lieb sind, mit, packe alle in einen großen Korb, damit du deine Spielsachen bei uns in Hirschberg wiederfindest.«
»Was soll ich denn alles mitnehmen?«
»Alles das, was du gerne behalten möchtest und was dir lieb ist.«
»Das alles darf ich einpacken?«
»Ja, mein Kind.«
Frau Bender besorgte für Pommerle einen mittelgroßen Reisekorb, stellte ihn in die Wohnstube des Fischers und redete Pommerle freundlich zu, nun da hinein die Kleider, Wäsche, die Schuhe und all ihr Spielzeug zu legen.
Als Pommerle sah, daß auch Frau Bender ans Einpacken ging, machte es sich an die Arbeit, von den Spielgefährten hatte es gehört, daß es sehr lange fortbleiben werde, daß es im Winter nicht mehr den Strand und die weite See sehen werde, daß dort, wo es von nun an wohnen sollte, hohe Häuser ständen und daß von nun an alles ganz anders werden würde.
Solche Worte stimmten die Kleine natürlich nachdenklich. Immer wieder glitten die blauen Kinderaugen hinaus auf die See, die es bald nicht mehr rauschen hören sollte. Aber dann erinnerte es sich der guten Tante Bender, und nun ging es ans Einpacken.
Der Korb faßte die Habseligkeiten Pommerles nicht. Ratlos stand Hanna zwischen dem ins Zimmer getragenen Kram, und als Frau Bender das Zimmer betrat, schaute sie erstaunt umher.
»Was machst du denn da, kleines Pommerle?«
Das Kind wies auf die Gießkanne, auf das einfache Futterhäuschen, das der Vater aus Brettern für die Vögel zusammengestellt hatte.
»Das muß auch noch mit.«
Im Korbe aber lag gar manches Kleidungsstück des Vaters. Die alten, hohen Fischerstiefel, die alte Lederjoppe, dazwischen das Garn, das zum Ausbessern der Netze diente, Küchengerät, Tassen, Töpfe, Teller und schließlich das Spielzeug.
Frau Bender ging daran, das Zusammengetragene zu sichten.
»Das Futterhäuschen lassen wir hier, Pommerle, auch die Gießkanne und die Sachen vom Vater.«
»Gibt es dort, wohin wir fahren, keine Vögel?«
»Natürlich gibt es welche, Pommerle, und du wirst während des Winters die Tierchen füttern. Ein neues Futterhäuschen besorgen wir uns auch.«
Pommerle schloß den Holzkasten fest in die Arme.
»Liebe Tante Bender, ich will kein anderes Futterhäuschen haben,« sagte sie mit verschleierter Stimme, »ich möchte mein Futterhäuschen behalten.«
Es bedurfte großer Ueberredungskunst, um das Kind schließlich von seinem Plane abzubringen. Aber als nun auch Frau Bender erklärte, daß man die Hühner zurücklassen müsse, brach Pommerle in Tränen aus.
»Ich will auch nicht fort, ich will dort bleiben, wo meine Hühner sind, wenn der Vater zurückkommt, findet er mich nicht.«
»Hühner wirst du bei uns auch haben, liebes Kind, im Garten des Nachbars laufen schöne weiße Hühner umher.«
Das gleiche Herzweh gab es bei den Blumen. Pommerle schleppte eine Menge Blumentöpfe herbei, die es durchaus mitnehmen wollte. Und wieder flossen die Tränen, als Frau Bender erklärte, daß auch die Blumen hier zurückbleiben müßten.
»Wir haben bei uns auch viele schöne Blumen, Pommerle. Im Garten und auf den Fensterbrettern findest du allerhand, und du wirst die Blumen auch selbst pflegen und begießen. Ganz die gleichen Blumen darfst du dir ziehen, wie diese hier.«
Pommerle wurde immer trauriger.
»Gar nichts darf ich mitnehmen, was ich lieb habe,« schluchzte es. »Packe nur selbst ein, ich mag es nicht weiter tun.«
Der Jammer des Kindes tat der warmherzigen Professorenfrau weh. Aber es ging doch nicht an, daß all der Kram mit nach Hirschberg genommen wurde, vergeblich bemühte sich auch der Professor, das Kind auf andere Gedanken zu bringen, aber es war, als sei das kleine Kinderherz mit jedem einzigen Stücke eng verwachsen, und die Aussicht, in ein hübsches Haus, zu guten Menschen zu kommen, hatte für Pommerle nichts Verlockendes mehr.
Traurig saß es daneben, wenn ihm die Fischersleute sagten, daß es Glück habe. Der Professor sei ein reicher, feiner Herr, und Pommerle würde schöne Kleider bekommen.
Das Kind blickte stumm auf sein derbes Röckchen und dann wieder sehnsüchtig hinaus auf die weite wogende Wasserfläche.
So kam der Tag heran, an dem Pommerle von seiner Heimat scheiden mußte. Der Wagen stand vor der Tür, die Koffer und Pommerles Korb wurden aufgeladen, eine Reihe Fischersleute waren gekommen, um dem Kinde nochmals die Hand zu drücken.
Berta hatte das Gesicht mit der Schürze verdeckt, es ging ihr doch nahe, das kleine Mädchen fortgeben zu müssen.
Das rotwangige Mädchen aber war merkwürdig blaß. Noch konnte es nicht ganz ermessen, was es heißt, das Vaterhaus zu verlassen, aber ein dumpfes Wehgefühl war in ihm und ein Bangen vor der Zukunft.
Da stand es nun vor der Tür des kleinen Hauses und ließ sich abschiednehmend die Hände drücken. Es sah keinen an, schaute nur hinaus auf das Meer, das heute wieder gar wild und erregt war. Rief nicht jede Welle, die sich überstürzend auf den Strand ergoß, ihm einen Abschiedsgruß zu?
Und plötzlich schrie Pommerle laut auf. Es war ein einziger schriller Schrei, in dem alle Qual dieses Kinderherzens lag. Der Professor nahm das Kind fest in die Arme.
»So, mein kleines Pommerle, nun steige ein, und jetzt machen wir eine Wagenfahrt, und dann geht es mit der Eisenbahn weiter.«
Pommerle ließ sich in den Wagen heben und schaute dabei unverwandt auf die See. Nun setzte sich auch Frau Bender neben das Kind, man gab dem Kutscher ein Zeichen, der Wagen rollte davon. Die Zurückbleibenden riefen noch unzählige gute Wünsche nach.
Das Kind saß starren Blickes neben seinen Wohltätern, nur von Zeit zu Zeit bewegten sich die Lippen, aber kein Wort war vernehmbar.
Frau Bender versuchte unterwegs die Gedanken des Kindes in andere Bahnen zu lenken, erzählte heitere Geschichten und wurde ganz plötzlich von der Frage unterbrochen:
»Aber wenn man auf einen hohen Berg steigt, sieht man dann die See, Tante Bender?«
»Nein, mein liebes Pommerle, aber viele grüne Täler, viele freundliche Dörfer, und der Himmel ist einem viel näher als hier.«
»Und gar keine See?«
»Hübsche Teiche haben wir, o, kleines Mädchen, es wird dir bei uns gefallen. Du siehst etwas ganz Neues.«
Pommerle fragte nichts mehr. Nur die kleinen Hände hatten sich fest ineinander gekrampft, es schluckte mehrmals krampfhaft und ließ hin und wieder einen leisen Seufzer hören.
Erst die Bahnfahrt ließ Pommerle ein wenig froher werden. Da flogen die Bäume, die Telegraphenstangen an den Fenstern vorüber, da sah man auf den Wiesen Rinder und Schafherden weiden. Bald hier, bald dort tauchte ein Kirchturm auf, und schließlich war eine große Stadt erreicht, in der sich Haus an Haus reihte.
Pommerle klammerte sich fest an Frau Bender, als man den Wartesaal betrat, um dort einen Imbiß einzunehmen. Ihm wurde ordentlich angst, hier zwischen den vielen Menschen, aber als es sich dann selbst auswählen durfte, was es essen wollte, fiel die Angst doch ein wenig von ihm ab.
Professor Bender las die Speisekarte von oben bis unten vor und gab Pommerle die nötigen Erklärungen.
»Nun,« sagte et schließlich lachend, »was willst du nun haben?«
»Kann ich sagen, was ich will?«
»Natürlich.«
Da beugte sich Pommerle ein wenig zum Ohr des Professors und flüsterte, indem sich das blasse Gesichtchen ein wenig rötete:
»Kartoffeln mit Flundern.«
Die gab es nun freilich nicht auf der Speisekarte, und es dauerte längere Zeit, ehe man Pommerle davon überzeugt hatte, daß Kalbsbraten viel besser schmecke als Flundern.
Dann ging die Reise weiter. Stundenlang fuhr man durch Wälder und Felder, kam durch Städte und Dörfer, bis Frau Bender endlich erklärte, nun sei man schon in Schlesien. Neugierig steckte das kleine Mädchen den Kopf zum Fenster hinaus. Es schaute rechts und links, konnte aber nichts Neues an Schlesien entdecken.
»Wo ist denn Schlesien?«
Wieder mußte der Professor erklären, daß Schlesien genau solch eine Provinz sei wie Pommern, daß sie aber statt der See hohe Berge habe.
»Wenn wir noch einige Stunden weiter gefahren sind, wirst du die Berge sehen.«
Man hatte Görlitz erreicht. Die Bergkette des Riesengebirges zeigte sich verschwommen am Horizonte.
»Schau einmal, keines Pommerle, das da hinten ist das Riesengebirge.«
»Leben darin Riesen?«
»Nein, aber freundliche Menschen.«
»Und ein Rübezahl,« setzte der Professor lachend hinzu. »Das ist ein guter Berggeist, der tief in den Bergen wohnt und allen guten Kindern gern hilft.«
Je mehr man sich den Bergen näherte, um so größer wurden die blauen Kinderaugen. So hohe Berge hatte Pommerle freilich noch nicht gesehen.
»Kann man da hinaufgehen?«
»Freilich kann man das.«
Pommerle staunte die Bergriesen an.
Sie reichten schier bis in die Wolken hinein, Wenn man dort ganz oben stand, auf der höchsten Spitze, mußte man ja einen Blick in den Himmel tun können. Man mußte aber auch über alle die Häuser, ja sogar über die höchsten Kirchtürme hinwegsehen können, und vielleicht sah man von dort oben doch ganz weit hinten die See.
»Fahren wir dort hinauf?«
»O nein, mein Kind, wir wohnen unten im Tale, in Hirschberg, einer großen Stadt, aber man kann sehr leicht zu den Bergen gelangen. Und wenn du erst ein wenig von der Reise ausgeruht bist, steigen wir einmal auf den Kynast oder zur Bismarckhöhe.«
So war für die nächsten Augenblicke Pommerles Kummer vergessen, denn all das Neue wirkte stark auf das Kindergemüt. Und als man nun gar im Wagen durch das freundliche Hirschberg fuhr, dessen Häuser fast alle anmutige Vorgärten hatten, konnte Pommerle sogar jauchzen und lachen.
Vor einem entzückenden Landhause hielt der Wagen an.
»So, Pommerle, hier wohnen wir.«
»In dem feinen Schloß?«
»Jawohl. Und in dem Garten darfst du Blumen pflanzen und graben nach Herzenslust.«
Aufgeregt lief das kleine Mädchen durch den Vorgarten. Im Hause huschte es in alle Winkel, schaute mit neugierigen Augen in jedes Zimmer, eilte hin zu den Fenstern, blickte hinauf zu den Bergen und strahlte über das ganze Gesichtchen. Die pommersche Heimat war für Augenblicke versunken.
Frau Bender hatte dem Hausmädchen, das während der Abwesenheit des Professorenpaares das Landhaus verwaltete, bereits schriftlich mitgeteilt, daß man ein kleines Mädchen mitbringe, und so war für das Notwendigste bereits gesorgt. Für Pommerle hatte man ein neues Bettchen beschafft, das Anna, das Mädchen, in das Schlafzimmer des Benderschen Ehepaares gestellt hatte. Das bisherige Nähzimmer sollte für Pommerle als Kinderzimmer hergerichtet werden, denn gerade im Anfange seines neuen Lebens sollte sich die Kleine recht wohl und behaglich fühlen.
Pommerle wußte gar nicht, wohin es zuerst schauen sollte. Was gab es hier nicht alles für neue Dinge, wieviel Wunder mußte es erblicken! Es war gewöhnt, daheim das gute Zimmer niemals mit Pantoffeln zu betreten, weil ein schöner, dunkelroter Teppich darin lag. Hier, bei Professor Bender, aber lagen in allen Zimmern solche Teppiche, und Hanna nahm sich vor, genau so artig zu sein wie daheim.
Als jetzt Frau Bender nach dem Kinde rief, setzte sich das kleine Mädchen rasch draußen im Flur auf die Treppe nieder, zog sich die schwarzen Schnürstiefelchen aus, um dann, nur in Strümpfen, das Zimmer zu betreten.
Erstaunt schaute Frau Bender das eintretende Kind an.
»Aber, Pommerle, wo hast du denn deine Schuhe gelassen?«
»Die habe ich rasch ausgezogen.«
»Warum denn?«
»Weil ich in die Stube kommen sollte.«
»Du kannst doch mit Schuhen ins Zimmer kommen, wir haben auch alle Schuhe an.«
»Hier liegen doch aber Teppiche, und auf die darf man doch nicht treten.«
Frau Bender lachte. »Das darfst du in der Stadt tun. Sieh einmal, wenn du dir draußen im Hausflur immer die Schuhe tüchtig abputzest, darfst du auch mit den Schuhen auf den Teppichen umhergehen.«
Aber Pommerle schien doch großen Respekt vor diesem weichen Fußbodenbelag zu haben, denn als es das nächste Mal ins Zimmer kam, blieb es zunächst vor dem Teppich stehen, dann ging es auf den Zehenspitzen darüber hin, drehte sich um, kniete nieder und wischte mit der Hand über die betretenen Stellen hinweg.
»Was machst du denn, Kind?«
»Ich habe die schönen Borsten auf dem Teppich zertreten.«
»Du brauchst aber nicht mit den Händchen darüber zu wischen, Pommerle. Sieh einmal, der Teppich wird an jedem Morgen gesäubert, damit aller Schmutz wieder heruntergeht. Das macht Anna.«
In diesem Augenblicke klingelte es im Nebenzimmer.
»Es kommt jemand,« rief das Kind erregt.
»Nein, Kleines, es ist das Telephon. Wahrscheinlich sagt uns der Onkel Bescheid, daß er etwas später heimkommt. Komm einmal mit, denn ein Telephon wirst du noch nicht kennen.«
Die Kleine ging mit der Tante hinüber ins Herrenzimmer. Auf dem Schreibtisch stand ein kleiner brauner Kasten mit zwei silbernen Hörnern. Auf diesen lag eine gebogene Stange mit einer schwarzen Muschel. Die nahm die Tante jetzt zur Hand und hielt sie ans Ohr. Das kam Pommerle nicht sonderlich merkwürdig vor, es hatte bereits manche Muschel ans Ohr gehalten, weil es darin so schön rauschte.
»Rauscht es auch, Tante?«
Frau Bender sprach etwas und sagte dann lachend zu der Kleinen: »Nun horche auch mal, jetzt spricht der Onkel mit dir.« Frau Bender gab dem Kinde den Hörer in die Hand, »halte die schwarze Scheibe ans Ohr.«
Im nächsten Augenblick warf Pommerle den Hörer erschreckt auf den Schreibtisch. Es flüchtete sich zur Tante und klammerte sich fest an deren Rock.
»Aber, Pommerle, es ist doch der Onkel, der mit dir spricht. – Komm und horche noch einmal.«
Das Kind blickte zwar ängstlich drein, ließ sich aber doch den Hörer erneut ans Ohr halten. Richtig, da sprach jemand. Es vernahm deutlich seinen Namen.
»Ich habe Angst,« sagte die Kleine.
So hing denn Frau Bender den Hörer wieder an.
»Du brauchst keine Angst zu haben, Kleines, das ist das Telephon. Durch diese Drähte, die in den kleinen Kasten hineingehen und die du auf der Straße stehst, kannst du den Onkel reden hören.«
Pommerle starrte den Kasten an. »Wie ist denn der Onkel in den kleinen Kasten gekommen, Tante?«
In diesem Augenblick betrat das Hausmädchen das Zimmer und rief Frau Bender. Sie eilte hinaus, und Pommerle blieb allein zurück. Noch immer starrte es auf den Kasten, dann klopfte es mit dem Fingerchen daran.
»Komm doch raus, Onkel!«
Keine Antwort erfolgte.
»Onkel,« rief das Kind ängstlich, »du mußt dich ja ganz zerknicken, wenn du in dem kleinen Kasten sitzt. Soll ich dir aufmachen?«
Wieder kam keine Antwort. Es wurde Pommerle ordentlich angst. Der Onkel mußte doch in dem kleinen Kasten ersticken. Wenn es nur wüßte, wie es den Kasten öffnen könnte. So lief es aus dem Zimmer, hin zur Tante.
»Du mußt eine Zange und einen Hammer holen, Tante, wir müssen doch die kleine Kiste öffnen, damit der Onkel endlich wieder heraus kann.«
»Was denn für eine Kiste?«
Nun erklärte die Kleine, daß der Onkel doch nicht noch länger in dem kleinen Kasten bleiben dürfe.
»Liebes Pommerle, der Onkel sitzt doch nicht in dem Kasten. Der Onkel sitzt in einem großen Zimmer mit vielen Leuten zusammen. Dort hat er auch genau solch einen Hörer, wie wir ihn haben, in den spricht er, genau so, wie ich es tat. Dann geht die Sprache an Drähten weiter und kommt bei uns wieder heraus. Paß auf, in wenigen Wochen macht dir das Telephon Freude, denn du lernst bald, wie man es machen muß.«
Aber noch ein anderes Wunder gab es für Pommerle. Das war die Wasserleitung. Anna brachte es fertig, aus der Wand Wasser fließen zu lassen. Als Pommerle das zum ersten Male sah, war es geradezu sprachlos.
»Wo kommt denn das Wasser her, Anna?«
»Aus der Wand,« lachte belustigt das Hausmädchen.
»Ist denn hinter der Wand Wasser?«
»Freilich!«
»Und wenn man die Wand zerschlägt, kommt dann auch Wasser heraus?«
»Man darf doch die Wand nicht zerschlagen.«
»Kannst du aus jeder Wand Wasser holen?«
»Nein, aber wenn so ein goldener Haken daran ist, wie dieser hier, dann geht es.«
Interessiert betrachtete das Kind den Wasserleitungshahn. Das war ihm doch etwas ganz Neues. Daheim holte man das Wasser aus einem Brunnen oder einer Pumpe.
So suchte denn Pommerle in allen Zimmern, ob es nicht noch einen solchen blitzenden Haken fände, aus dem das Wasser herauskäme. Endlich entdeckte es in Annas Kammer solch einen ähnlichen Haken.
»Anna, – Anna,« rief es erfreut, »darf ich auch mal drehen? Kommt hier auch Wasser raus?«
»Wo willst du denn dran drehen?« Das Hausmädchen kam herbei. Da wies die Kleine auf einen Wandarm, der eine elektrische Birne hielt. Der aus Messing hergestellte Arm war es, der Pommerle glauben machte, daß es auch hier wieder einen Wasserleitungshahn vor sich habe.
»Du meine Güte,« rief Anna entsetzt, »willst wohl ein Unglück anrichten, Pommerle! Es ist die elektrische Leitung, aber kein Wasserhahn!«
So nahm sich das einstige Fischerkind vor, in Zukunft nichts mehr anzurühren, damit es dem guten Onkel und der lieben Tante keinen Schaden zufüge. Aber es gab immer wieder Neues zu sehen, und Pommerle stellte unzählige Fragen, wozu alle diese Gegenstände Verwendung fänden.
Aber auch in Hirschberg selbst gab es an den Häusern und in den Straßen so viel Sehenswertes, daß das Verlangen des Kindes, möglichst bald auf den Berg zu steigen, zunächst nicht zum Ausdruck kam. Frau Bender widmete sich mit viel Liebe und Sorgfalt dem verwaisten Kinde, so daß sich Pommerle wie ein verzaubertes Königskind vorkam. Die schönen Spielsachen, die man ihm schenkte, wagte es kaum zu berühren.
So vergingen die ersten acht Tage, dann eröffnete man dem kleinen Mädchen eines Morgens, daß es hier in Hirschberg zur Schule gehen werde und daß man es schon am kommenden Tage dort erwarte. Frau Bender schenkte Pommerle eine hübsche, neue Schulmappe, dazu alle notwendigen Bücher und Hefte und brachte die Kleine am nächsten Tage selbst in das große Schulhaus.
Anfänglich war Pommerle recht scheu. Es fühlte sich fremd unter den vielen Kindern, die eine ganz andere Aussprache hatten, als es Pommerle von seiner Heimat her gewohnt war. Der Lehrer war sehr freundlich und gut zu Pommerle, auch die Mitschülerinnen näherten sich dem kleinen Mädchen, das von so weit herkam, und fragten es aus.
»Habt ihr noch nie das große Wasser gesehen, die große Ostsee?«
Die Kinder schüttelten die Köpfe.
»O, es ist so schön dort, die Wellen erzählen herrliche Geschichten.«
»Hier ist es aber noch viel schöner,« sagte eine der Mitschülerinnen.
Pommerle schüttelte energisch den Kopf. »Am schönsten ist es doch an der großen Ostsee.«
»Nein, in den Bergen!«
Pommerle blickte erstaunt auf.
»Du kennst unsere Berge wohl noch gar nicht? Du bist sicher noch nicht hinaufgestiegen.«
Pommerle erwiderte nichts mehr darauf. Aber es kam sich plötzlich recht verlassen vor. Die Sehnsucht nach der See tauchte wieder riesenhaft auf. Alle die Kinder, die hier umherstanden, wußten ja gar nicht, wie schön es am Strande war. Was nützte es, wenn man ihnen davon erzählte. Sie hatten noch niemals das Meer rauschen hören und konnten nicht wissen, was es für wunderschöne Märchen berichtete.
Der Gedanke, daß es hier unter den vielen Mitschülerinnen nicht eine einzige gab, mit der Pommerle vom Wasser erzählen konnte, drückte die Kleine sehr nieder. Sie blieb daher scheu und in sich gekehrt, ging den kleinen Mädchen aus dem Wege; und bald hieß es in der Klasse, daß Pommerle gar nicht zu ihren Mitschülerinnen passe, und so ließ man es einfach links liegen. Das schmerzte das kleine Mädchen tief, es versuchte aufs neue sich den Schulkameradinnen zu nähern, aber es kam doch nicht so weit, daß Pommerle eine Schulfreundin fand.
So blieb denn die Kleine meistens für sich allein. An die Pflegeeltern schloß es sich mit immer größerer Liebe an, es fühlte, daß es der Professor und seine Frau unendlich gut mit ihm meinten. Ihm war am wohlsten, wenn es neben der Tante saß, seinen Kopf in ihren Schoß legte und ihr vom Meer und dem weißen Strande erzählen konnte.
Dann kam es allerdings häufig vor, daß sich Pommerle plötzlich aufrichtete und die sehnsüchtige Frage stellte:
»Tante, fahren wir bald an die See?«
»Wir wollen doch erst einmal in die Berge hinauf, sie sind auch wunderbar schön, Pommerle.«
»Ja, Tante, wir wollen aus die Berge hinauf, damit ich ganz, ganz weit sehen kann!«
»Warum bringst du dir niemals eine kleine Freundin mit, mein Kind, ihr könntet im Garten so schön spielen.«
»Ich möchte mit der Grete Bauer und der Elli Götsch spielen.«
»Sind in deiner Klasse nicht auch nette Mädchen?«
»Sie sind so anders,« sagte Pommerle tief aufseufzend, »sie kennen auch alle die Ostsee nicht.«
»Das macht doch nichts, mein Kind. Sei nur immer recht lieb und nett zu deinen Mitschülerinnen, damit sie dich auch recht lieb gewinnen.«
»Das will ich, Tante!« –
Auch der Professor beschäftigte sich viel mit dem kleinen Mädchen. Er zeigte ihm seine Steinsammlung und erklärte dem Kinde die verschiedensten Gesteinarten, die man in der hiesigen Gebirgsgegend fände. Besonderes Interesse erweckte der große Bücherschrank in Pommerle. Was für wunderschöne Bilder gab es in den verschiedenen Büchern zu sehen! Die Kleine hatte gehört, daß der Onkel selbst solche Bücher schrieb, und so schaute es alle seine Bücher voller Ehrfurcht an.
Pommerle wies jetzt auf mehrere eng beschriebene Bogen, die auf dem Schreibtische des Onkels lagen:
»Was schreibst du denn jetzt wieder für ein feines Bilderbuch?«
»Die Flora und Fauna des Riesengebirges.«
Das verstand Pommerle freilich nicht. Der Professor mußte ihm erst erklären, daß dies ein Buch sei, in dem alle Blumen, die im Riesengebirge wachsen, und alle Tiere, die sich hier zeigten, auch die kleinen Lebewesen, die im Geröll lebten, beschrieben würden.
»Woher weißt du denn das alles?« fragte Pommerle erstaunt.
»Ich gehe oft in die Berge, mein kleines Töchterchen, und dann suche ich emsig, ob ich etwas Neues finde. Auch über die vielen merkwürdigen Gesteine, die wir hier haben, schreibe ich ein Buch. Schau einmal rasch durch das Fenster. Der Junge, der dort soeben vorüber geht, bringt mir oftmals einen interessanten Stein oder einen Käfer.«
Pommerle eilte ans Fenster. Es sah auf der Straße einen etwa vierzehn Jahre alten Knaben vorübergehen, lang aufgeschossen, aber mager. Er trug einen schlechten Rock, auf dem rötlichen Haar saß eine unsaubere alte Mütze, das Gesicht hatte einen pfiffigen Ausdruck.
»Schreibt der auch solche Bücher?«
»Nein, Kleines, das ist der Julius Kretschmar, ein fauler Schlingel, der sich tagelang in den Bergen umhertreibt, nichts rechtes gelernt hat, der sich aber hin und wieder ein bißchen Geld verdient, denn im Sommer trägt er das Gepäck der Fremden, macht auch zuweilen den Führer, und mir bringt er hin und wieder Steine, Blumen oder Käfer, die er in den Bergen findet und die ihm nicht alltäglich erscheinen.«
»Ich werde dir auch Blumen bringen, Onkel.«
»Gewiß, mein Pommerle, wenn erst der Frühling wieder ins Land kommt, wandern wir in die Berge. Jetzt ist es zu rauh für dich.«
»Dann sehen wir nach dem Meer aus!«
Das war seit langem zum ersten Male ein Erinnern an die Heimat.
Der Professor lenkte das kleine Mädchen rasch von diesem Gedanken ab.
»Jetzt wollen wir einmal den Julius rufen, ob er etwas für mich hat.«
Schon hatte Professor Bender das Fenster geöffnet und rief hinter dem Burschen her:
»Heda, Jule!«
Der Angerufene wandte sich um und kam, die Hände in den Hosentaschen, langsam näher, von oben bis unten musterte er das kleine Mädchen.
»Nanu, wer ist denn das?«
»Man sagt guten Morgen, Jule, hast du das immer noch nicht gelernt?«
»Wohnt die jetzt mit hier?«
»Jawohl, das ist unser kleines Pommerle. Hannchen heißt sie, damit du es weißt.«
»Hannchen Pommerle, – ist das ein verrückter Name.«
»Was willst du denn hier?«
»Du sollst dem Hannchen ein paar hübsche Blumen aus den Bergen bringen.«
»Der Enzian ist längst verblüht.«
»Wirst auch was anderes finden, Jule. Unser Pommerle kennt das Gebirge nicht. Das kleine Mädchen kommt von der See. Von der Ostsee. Davon weißt du hoffentlich noch was.«
»Freilich.«
»Na, na, wo ist denn die Ostsee?«
Jule drehte einige Augenblicke die Mütze zwischen den Händen, dann sagte er stockend: »Dort, wo Amerika liegt.«
»Schäme dich, Jule, aber in der Schule hast du ja immer geschlafen.«
Hanna Ströde lachte über das ganze Gesicht.
»Na, du bist aber dumm,« sagte sie. »Die Ostsee ist doch bei uns in Pommern.«
Jule fuhr verletzt auf.
»Weißt du, wo die Kochel fließt und wo die Leischnerbaude liegt?«
»Nein.«
»Na, – dann bist du noch viel dümmer! Hahaha, sie weiß nicht mal, wo die Kochel fließt.«
»Sei nicht wieder frech, Jule,« verwies der Professor den Knaben. »Hast du nichts Nettes für mich gefunden?«
»Freilich hab ich.«
Der Bursche griff in die Hosentasche, zog einen Strick heraus, dann eine verbeulte Zigarettenschachtel, einen Zigarrenstummel und schließlich zwei größere Steine, die mit eigenartigen Moosen bedeckt waren, prüfend nahm der Professor die Steine in die Hand.
»Ich hab das zwar schon, Jule, aber das macht nichts. Den einen Stein laß mir hier.«
Da drehte Jule die Mütze um und hielt sie dem Professor hin. Und als Professor Bender nicht sogleich darauf achtete, schob er ihm die Mütze dicht unter das Gesicht.
»Wo hast du denn diese Steine gefunden?«
»In der großen Schneegrube.«
»Jule, das ist nicht wahr!«
»Na, dann dicht daneben,« erwiderte der Knabe kleinlaut. Der Professor holte ein Fünfzigpfennigstück aus der Tasche legte es ihm in die Mütze. Jule griff danach, stieß die Unterlippe vor und sagte gedehnt:
»Viel ist es nicht.«
»Mehr ist dein Moos nicht wert, Junge, den zweiten Stein kannst du wieder mitnehmen, den brauche ich überhaupt nicht.«
Jule Kretschmar brummte etwas Unverständliches, setzte die Mütze wieder auf und ging davon.
»Jule!« Erregt rief der Professor hinter ihm her.
»Na?« fragte der Knabe mürrisch.
»Komm noch einmal zurück. – Wie sagt man, wenn man sich verabschiedet?«
»Wenn's weiter nischte is!«
»Kann man dir denn gar keinen Anstand beibringen! Noch eins, Jule. Jetzt zeigst du Hannchen den Weg zum Papierhändler. Dort bringst du mir, mein liebes Pommerle, zehn große weiße Briefumschläge, hier hast du Geld.«
Die beiden Kinder eilten davon. Auf der Straße blieb Jule stehen und betrachtete das kleine Mädchen prüfend.
»Wo kommst du denn eigentlich her?«
»Aus Pommern, von der Ostsee.«
»Und was willst du hier?«
»Was lernen.«
Jule kraute sich den Kopf. »Da wäre ich doch lieber in Pommern geblieben. Dort braucht man nichts zu lernen, nicht wahr? – Sind deine Eltern auch hier?«
»Nein, – meine Eltern sind im Himmel.«
Jule schaute zum Firmament empor.
»Hm,« sagte er nachdenklich.
Man war noch ewige Schritte weitergegangen, da blieb der Knabe wieder stehen. »Kannst du schmeißen?«
»Was denn?«
»Siehst du dort oben auf dem Dache die Wetterfahne? Ich schmeiße jetzt mit dem Stein danach.«
»Darfst du das tun?«
»Ich darf alles.« Und schon nahm Jule den Stein, der von Professor Bender verschmäht worden war, und schleuderte ihn gegen die kleine Blechfahne, die auf dem Dache eines der niedrigeren Häuser angebracht war. Er traf sie nicht, suchte sich einen zweiten und dritten Stein, und nun begann ein regelrechtes Bombardement.
»Was fällt dir denn ein, Bengel, mit Steinen zu werfen!«
Vor Jule stand ein älterer Herr, der die Kinder mit grimmigen Blicken musterte. Der Fremde hatte aber noch nicht ausgesprochen, da machte Jule kehrt und lief mit langen Sätzen davon, Pommerle ließ er einfach stehen.
Das kleine Mädchen mußte nun den Zornesausbruch des erregten Mannes über sich ergehen lassen.
»Ich habe doch nicht geworfen,« erwiderte es treuherzig, »der Jule hat geworfen.«
Der alte Herr ging ärgerlich weiter, Pommerle aber stand allein in der Straße und mußte sich nun bei vorübergehenden nach dem Papierladen zurechtfragen, um die Einkäufe zu erledigen. In dem Laden aber lagen Ansichtskarten, auf denen waren Schiffe abgebildet.
Da erstand vor des Kindes Augen ganz plötzlich wieder das Meer mit seinen Fahrzeugen, heiß stieg es ihm in die Augen, aber es wollte nicht weinen. Rasch lief es zurück in sein Heim, händigte dem Onkel die Briefumschläge aus, ging dann aber in sein kleines Spielzimmer, setzte sich still in die Ecke und dachte zurück an die Zeit, in der es an jedem Tage kleinere und größere Schiffe gesehen hatte, und das brennende Verlangen wuchs in ihm empor, zurück nach Pommern zu gehen, um wieder das weite Meer rauschen zu hören.
Da Pommerle nicht zum Abendbrot erschien, begab sich Frau Bender ins Kinderzimmer, um nach dem kleinen Mädchen zu sehen. Hanna saß zusammengekauert in einem Stuhl, über das Gesicht liefen noch die Tränen.
»Pommerle, mein liebes Pommerle, was ist geschehen?«
»Ich habe die See gesehen,« schluchzte das Kind, »und nun drückt's mich im Herzen!«
»Wo hast du die See gesehen, Pommerle?«
»Im Laden, – – in dem ich war. – – Auf dem Bilde, – – o, so blau war sie, – so ist sie auch gewesen, damals, ehe sie grau und böse wurde, ehe ich fort mußte!«
Frau Bender nahm die Kleine auf ihren Schoß.
»Bist du denn gar nicht gerne bei uns, Pommerle?«
»Ich möchte zurück!«
»Sieh, mein Kind, wir haben dich doch so lieb. – Aber wenn du gar nicht gern hier bist, macht uns das furchtbar traurig. Wir wollen doch ein fröhliches kleines Mädchen haben, du aber sitzest hier und weinst. – Da wird deine Tante auch weinen müssen, Pommerle, denn es tut ihr im Herzen sehr weh, wenn sie weiß, daß du nicht gerne bei uns bleiben willst.«
Die Kleine richtete seine blauen Augen erschreckt auf die Tante.
»Es tut dir weh, Tante? Bin ich denn so sehr ungezogen?«
»Nein, Pommerle, ungezogen bist du gar nicht.«
»Warum tut es dir dann aber weh, Tante?«
»Weil du wieder von uns fortgehen willst, Pommerle, weil du gar nicht fühlst, daß wir dich auch herzlich lieb haben!«
»Du bist also traurig, wenn ich sage, daß ich weg will? Du mußt weinen, wenn ich sage, daß die See viel schöner ist als die Berge?«
»Ich möchte, daß es dir bei uns so recht gut gefällt, Pommerle, und daß du uns so lieb hast, wie du einst Tante Berta und deinen Vater gehabt hast.«
»Ich habe dich aber auch furchtbar lieb, Tante!«
»Warum bist du dann aber so traurig, Pommerle?«
»Tut es dir nicht mehr im Herzen weh, wenn ich nicht traurig bin?«
»Du darfst dich nicht verstellen, mein liebes Kind, – du sollst mir alles sagen, was in deinem Herzen vorgeht, aber du sollst nicht immer allein sein und weinen.«
»Ich will's nicht mehr tun, liebe, liebe Tante,« sagte das kleine Mädchen mit fester Stimme. »Du sollst nicht traurig sein um mich, ich habe dich ja so furchtbar lieb!«
Frau Bender drückte Hanna einen langen Kuß auf die Stirn.
»So ist's recht, mein Pommerle, man muß immer tapfer und mutig sein, dann hilft der liebe Gott auch weiter.«
Als das Kleine am Abend in seinem Bettchen lag, dachte es nochmals an die Unterredung zurück. Es nahm sich fest vor, der Tante nicht mehr so viel von der Ostsee zu erzählen, weil die gute Tante darüber traurig wurde, vielleicht fand es irgend einen Menschen, dem es seine Sehnsucht anvertrauen konnte. Bei dieser Gelegenheit fiel ihm Julius ein. – Ob der wohl auch traurig wurde, wenn ihm Pommerle erzählte, was ihm die Wellen sagten? Die Kleine beschloß gleich beim nächsten Zusammensein mit Jule, den Knaben danach zu fragen. Und wenn Jule froh dabei blieb, wollte Pommerle von nun an ihm sein Herz ausschütten und nur ihm von seinem Kummer und seiner Sehnsucht sprechen.