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[1. Kapitel]

Der feurige Sonnenball am Horizont sank tiefer und tiefer. Er berührte die Fläche des weiten Meeres, das heute nicht so ruhig dalag wie sonst. Es rauschte und wogte, meterhohe Wellen wälzten sich dem Strande zu, an dem staunend die Menschen standen, um das wunderschöne Naturschauspiel zu beobachten.

Es gab nicht mehr viele Sommergäste in dem kleinen Badeorte. Der September war ins Land gezogen, die meisten Familien hatten den Ostseestrand bereits verlassen und waren in die Städte mit den hohen Häusern zurückgekehrt.

In dem kleinen Neuendorf gab es keine hohen Gebäude. Die vielen bescheidenen Landhäuser mit den leuchtenden Ziegeldächern hatten nur ein Stockwerk. Neben diesen standen die Fischerhütten, die nicht mehr als drei, höchstens vier Räume aufwiesen und noch immer ihre binsen- oder strohgedeckten Dächer hatten. Fischer gab es in dem kleinen Badeorte reichlich. An jedem Morgen konnte man zahlreiche Boote mit und ohne Segel auf der weiten Wasserfläche sehen, die hinausgefahren waren. Es mußten die Netze ausgelegt und hereingeholt werden.

Die Strandkörbe, die sonst den Strand schmückten, waren fast völlig verschwunden. Keine Sommergäste tummelten sich mehr im Wasser, die Kinder, die heute den Strand bevölkerten, trugen derbe und schlichte Kleidung. Sie gehörten den einheimischen Familien an.

Immer tiefer sank die Sonne, sie schien ins Meer tauchen zu wollen, aber die kleine Schar, die am Strande spielte, achtete nicht des hereinbrechenden Abends. Es waren Knaben und Mädchen, die sich hier vergnügten. Helles Lachen tönte von ihren Lippen, wenn sich dieses oder jenes Mädchen mit hochgenommenem Röckchen zu tief ins Wasser wagte, um dann mit Eilschritten vor der sich heranwälzenden Welle zu fliehen.

Die kleinen Buben, die die Mädchen immer wieder anfeuerten, sich ins Wasser zu wagen, hatten die kurzen Höschen bis weit über die Knie hinaufgeschlagen, sprangen mit einem Satz tief ins Wasser hinein und jauchzten hell auf, wenn die Nebenstehenden von dem feuchten Sprühregen überschüttet wurden.

Plötzlich hielt eines der Mädchen in dem lustigen Treiben inne und wies mit ausgestreckter Hand hinaus auf das Meer.

»Jetzt ist das ganze Wasser wieder golden.«

Obwohl das prächtige Schauspiel den Fischerkindern nichts Neues war, blickten sie doch andächtig auf die wundervollen Farben, die die untergehende Sonne hervorzauberte. Das blaue Meer hatte sich in eine rotgoldene Fläche verwandelt, aus der goldiger Schaum emporspritzte. Der Himmel färbte sich röter und immer röter, und die einzelnen Wolkengebilde, die sich zeigten, glichen Unholden, die am Firmamente ihr Unwesen trieben.

»Sieh mal, dort ein Pferd!«

Das kleine Mädchen mit den blonden Locken, die sich um ein anmutiges Gesichtchen ringelten, zeigte auf eine Wolke.

»Hahaha, ein Pferd,« lachte einer der Knaben, »du kannst wohl nicht dafür, Hanna?«

»Doch, es ist ein Pferd.«

»Mit drei Beinen. – Wo hat es denn den Schwanz?«

Die kleine Hanna gab keine Antwort. Fast andächtig schaute sie in die Wolken. Es machte ihr ein besonderes Vergnügen, allerlei Gestalten und Figuren aus den Wolkenbildungen herauszusuchen. Langsam kehrte sie an den Strand zurück, setzte sich dort nieder und wühlte die nassen Füße in den weißen, warmen Sand. Jedesmal wenn die Sonne so leuchtend ins Meer hinabsank, mußte die kleine Hanna Ströde hinunter an den Strand laufen. Dann hielt es sie nicht länger in der bescheidenen Fischerhütte. Das rotgolden gefärbte Wasser lockte das Mädchen mit unwiderstehlicher Gewalt, und das Rauschen des Meeres war ihr der schönste Gesang.

»Komm, Hanna, wir wollen Steine werfen,« rief ihr einer der Knaben zu.

Die Angeredete schüttelte den Kopf. Sie wollte das Schiff betrachten, das sich aus den Wolken gebildet hatte. Es war ein stattliches Fahrzeug mit hohen Masten und rauchenden Schornsteinen.

»Wenn ich erst groß bin,« murmelte das kleine Mädchen, und die blauen Augen weiteten sich, »wenn ich erst groß bin, fahre ich mit dem Vater immer weiter und weiter, bis das große Meer einmal zu Ende ist. – O, wie wird das schön sein!«

Sie nahm nicht mehr teil an dem fröhlichen Spielen und Lärmen der anderen Kinder. Sie träumte so gerne und hörte aus dem Rauschen des Meeres die seltsamsten Geschichten. Denn da unten, tief auf dem Wassergrunde, lebten schöne Frauen, dort wuchsen die prächtigsten Blumen, dort gab es Muscheln und Perlen in Mengen, und wer Glück hatte, der fischte solche Kostbarkeiten heraus. Wie oft schaute sie dem Vater neugierig ins Netz, ob sich nicht zwischen den Maschen die goldene Krone einer Meerjungfrau gefangen habe. Aber der Vater hatte bisher kein Glück gehabt, nur Flundern und Heringe schickten ihm die Wasserfrauen und mitunter viele häßliche Schlinggewächse, die die Netze zerrissen und dem Vater Arbeit machten.

Als das Meer seine rote Farbe allmählich verlor, erhob sich Hanna, denn es war Zeit heimzugehen. Das kleine Häuschen, in dem der Vater wohnte, stand ganz hinten am Ende des Dorfes, von allen Fenstern aus sah man das Meer, man hörte sein Rauschen bis in die fernsten Winkel der Zimmer. Das Rauschen hatte Hanna als ganz kleines Mädchen bereits in den Schlaf gesungen, denn die Mutter war ihr so früh gestorben, daß Hanna keine Erinnerung an sie hatte. Und wenn andere Kinder von ihrer Mutter erzählten, wurde in der kleinen Fischerdirne ein unerklärliches Sehnen wach, dann lief Hanna wohl hinab zum Strande, warf sich in den Sand, sprach leise mit der weiten Wasserfläche, und das Plätschern der Wellen schien ihr Antwort zu geben auf sehnsuchtsvolle Fragen.

Das Meer war immer ihre Trösterin gewesen. Die kleine Hanna erinnerte sich noch deutlich jenes Tages, an dem sie von Tante Berta, die dem Vater die Wirtschaft führte, geschlagen worden war. Sie hatte einen schönen Teller zerbrochen, und die Tante hatte sie dafür derb auf die Hände geklopft. Da hatte Hanna wohl eine Stunde lang am Meere gelegen und war erst durch dessen Murmeln wieder getröstet worden.

Heute war nichts Trauriges in ihr. Wenn sie heimkam, gab es eine reichliche Abendmahlzeit, dann durfte sie vielleicht auch noch ein paar Augenblicke zu den netten Leuten, die jedes Jahr im Spätsommer nach dem kleinen Ostseebade kamen und bei Fischer Ströde Wohnung nahmen. Hanna wußte es nicht anders, als daß Professor Bender und seine Frau alljährlich bei ihnen weilten und so lieb und nett waren, daß es Hanna stets warm ums Herz wurde, wenn sie der schönen Frau in die Augen schauen durfte.

Was gab es bei diesen Fremden nicht alles zu sehen! Wenn die Koffer ausgepackt wurden, stand die kleine Hanna staunend daneben, wagte jedoch nicht zu fragen, wozu die glänzenden Flaschen und Büchsen dienten. Auch über die vielen Bücher wunderte sie sich, die der Onkel Professor mitbrachte. Jedesmal, wenn das Ehepaar nach Neuendorf kam, gedachte man der kleinen Hanna, und die schönen Puppen, die sie besaß, waren Geschenke von Tante Bender.

Leichtfüßig eilte Hanna mit bloßen Füßen den Strand hinab. Endlich war das kleine Fischerhäuschen erreicht. Es war ein Parterrehaus mit vier Fenstern Front und einer schmalen Haustür, vom Flur aus ging es links in die beiden Zimmer, die der Professor bewohnte, rechts lebte der Fischer Ströde mit seiner achtjährigen Tochter Hanna und einer entfernten Verwandten. Berta führte dem verwitweten Fischer nun schon seit Jahren den Haushalt, kam ihren Pflichten aber stets mit mürrischer Miene nach, viel lieber wäre sie zu ihrer in der Stadt verheirateten Schwester gezogen, doch sah sie ein, daß sie den Vetter und das kleine Mädchen nicht ohne Beistand zurücklassen konnte. Aber es verging wohl kein Tag, an dem Berta dem Vetter nicht zuredete, sich endlich wieder zu verheiraten.

Fischer Ströde war ein schwerfälliger Mann. Er hatte mit seiner verstorbenen Frau recht glücklich und zufrieden gelebt, liebte sein Töchterchen über alles und fürchtete, daß eine neue Mutter vielleicht doch nicht gut im Hause täte. Obwohl es im Dorfe manches Mädchen gab, das den fleißigen Fischer Ströde gerne geheiratet hätte, war es doch noch keiner gelungen, Ströde so an sich zu fesseln, daß er sich zu einer Ehe entschloß.

Als Hanna die Tür zu dem gemeinsamen Wohnzimmer öffnete, das sehr einfach ausgestattet war, hatte man bereits den Abendbrottisch gedeckt. Der Vater saß am Fenster und besserte eines der großen Flundernetze aus. Voller Eifer berichtete ihm Hanna von dem Schiff und dem Pferd, das sie heute am rosig gefärbten Abendhimmel gesehen habe. Lächelnd hörte Ströde dem Bericht seiner Tochter zu. Er war ein Mann Mitte der Dreißig, hatte ein gutmütiges, hübsches Gesicht, aus dem ein paar ehrliche Augen herausschauten.

»Wieviele Jahre muß man denn fahren, Vater, bis das Meer zu Ende ist?«

Ströde lachte. »Wenn du erst größer geworden bist und in der Schule mehr gelernt hast, nehme ich dich einmal mit.«

»Was liegt denn hinter dem Meere, Vater?«

Der Fischer wies mit der Hand durch das Fenster. »Wenn wir hier immer geradeaus fahren, kommen wir an die Küste eines anderen Landes. Dieses Land heißt Schweden.«

»Und dann?«

»Dann kommt wieder Wasser, aber es wird immer kälter, bis es schließlich zu festem Eis gefroren ist. Dann kann kein Schiff mehr hindurchfahren.«

»Leben auf dem Eise auch Menschen, Vater?«

»Nein, kleine Hanna.«

»Und wie lange bleibt das Eis?«

»Das schmilzt niemals.«

Nachdenklich blickte Hanna zu Boden. »Das muß nicht schön sein, Vater. Wenn nur Eis ist, kann das Wasser doch nichts mehr reden.«

»Nein, dort oben ist es totenstill.«

Plötzlich zog Ströde den kleinen Blondkopf an seine Brust. Hanna schmiegte sich fest an den Vater. Es passierte nicht oft, daß der stille Mann sein kleines Mädchen so zärtlich im Arme hielt.

»Du mußt immer ein braves und fleißiges Mädchen sein, Hanna; mußt immer fest an den lieben Gott glauben, der in jeder Not hilft. Deine Mutter war auch eine gute und brave Frau.«

Hanna erwiderte kein Wort. Warum sprach der Vater in so eigenartigem Tone zu ihr?

Aber auch Ströde strich sich mit der Hand über die Stirn. Was kamen ihm denn plötzlich für düstere Gedanken? Er schob Hanna wieder von sich.

»Jetzt wird noch ein wenig weiter gearbeitet, weil ich das Netz heute nacht mit hinausnehmen will.«

In demselben Augenblicke wurde die Tür geöffnet. Eine ältliche Frau betrat das Zimmer, die eine Schüssel mit dampfenden Kartoffeln in den Händen hielt. Es war Tante Berta, die das Abendbrot brachte.

»Soll es denn heute nacht wieder fortgehen?«

»Freilich, Berta.«

»Wann kommst du zurück?«

»Ich denke, daß wir morgen früh gegen sieben wieder hier sind.«

»So ein Handwerk sollte mir passen,« klang es von den Lippen der Frau, »bei Nacht und Nebel aufs Wasser hinaus.«

»Brauchst ja nicht mit,« lachte Ströde.

»Das Meer ist seit Tagen unruhig.«

»Nicht so schlimm,« erwiderte der Fischer, »von der Seewarte aus ist kein Sturm gemeldet, und das bißchen Nordost, das wir augenblicklich haben, hat nichts auf sich. Der flaut bald ab.«

»Mir soll es gleich sein.«

»Ziehst doch ein schiefes Gesicht, Berta, wenn ich dir keine Fische ins Haus bringe. Nun aber laß endlich das saure Gesicht, wir wollen essen. – Hat der Herr Professor irgend etwas gewünscht?«

»Nein.«

»Dann ist's gut.«

Wacker sprachen die drei dem bescheidenen Abendessen zu, das aus Kartoffeln und eingelegten Flundern bestand. Aber es mundete alles vortrefflich. Nachdem man abgegessen hatte, machte sich der Fischer weiter an die Arbeit, um die letzten schadhaften Schlingen zusammenzuziehen. Hanna half in der Küche der Tante beim Reinigen des Geschirrs.

Aber dem Fischer wollte heute die Arbeit nicht recht von der Hand gehen. Oefters hielt er inne und schüttelte sorgenvoll den Kopf. Ihm war das Herz heute so sonderbar schwer. Das kam wohl daher, daß um diese Zeit vor sieben Jahren sein junges Weib schwer krank wurde. Warum kam ihm das alles gerade heute in den Sinn?

Er atmete sichtlich erleichtert auf, als es an die Tür klopfte und auf sein Herein Professor Bender und Frau das Zimmer betraten.

Der Professor war ein stattlicher Herr von etwa fünfzig Jahren, mit einem klugen und ausdrucksvollen Gesicht. Seine Gattin schien heiteren Temperaments zu sein, denn ein sonniges Lächeln verklärte das sympathische Antlitz. Seit acht Jahren wohnte man in jedem September bei Strödes, und besonders das kleine Mädchen hatte Frau Professor Bender, die keine eigenen Kinder besaß, in ihr Herz geschlossen. Sie hatte Hanna von Jahr zu Jahr wachsen und gedeihen sehen und daher ihre helle Freude an dem frischen, hübschen Kinde gehabt.

»Sie glauben gar nicht, lieber Herr Ströde, wie wir uns alljährlich auf die Reise nach Pommern freuen. Wir lieben die See, wir lieben das kleine Fischerhaus, wir lieben aber auch unser herziges Pommerle.«

Pommerle war der Kosename, den Frau Bender geprägt hatte und der dem kleinen Hannchen galt. Sie nannte Hanna niemals bei ihrem Vornamen, sie rief stets nach Pommerle, und Hanna war stolz auf den hübschen Namen, den ihr die freundliche Tante gegeben hatte.

»Unser Pommerle verkörpert in sich das ganze Pommernland, die blauen Augen, die so tief und unergründlich sind, das ist die See und das helle Blond ihres Haares ist der von uns geliebte Strand. Das stämmige Körperchen aber ist der echte pommerische Schlag, trotzig und treu.«

So kam es, daß Hanna Ströde von sehr vielen, die das kleine Mädchen kannten, nur noch Pommerle gerufen wurde.

Auch jetzt fragte man wieder nach Pommerle.

»Ich glaube, sie ist draußen in der Küche, gnädige Frau,« sagte der Fischer. »Sie hat noch zu tun.«

»Unser fleißiges, kleines Mädelchen,« lächelte Frau Professor Bender. »Das Kind bringt Ihnen sicherlich viel Sonnenschein ins Haus.«

Ströde nickte. »Manchmal ist mir recht bange um das kleine Ding. Die Mutter fehlt ihm, und wenn eines Tages unsereinen einmal ein Unglück trifft – –«

»Wie können Sie an so etwas denken, Herr Ströde!« tadelte Frau Bender, »Sie sind ein junger, gesunder Mann.«

»Das Wasser hat schon jüngere verschlungen.«

»Sie sollten derartige Gedanken nicht haben, lieber Herr Ströde.«

»Ich weiß selbst nicht, gnädige Frau, warum sie heute kommen. Es will mir gar nicht aus dem Sinn. – Was sollte wohl aus dem Kinde werden?«

»Ihr Beruf ist gewiß recht gefährlich, Herr Ströde, aber wir alle stehen in Gottes Hand.«

»Das sage ich mir ja auch, ich bin auch gewiß kein Feigling, es ist ja nur ums Hannchen.«

Professor Bender war hinzugetreten und legte dem Fischer die Hand auf die Schulter.

»Ich weiß, daß jedem mitunter solch trübe Gedanken kommen, Herr Ströde. Für ihr Hannchen würde unter allen Umständen gesorgt werden. Ich weiß ja, daß Sie keine Verwandten haben, die sich der Kleinen annehmen würden, wenn es aber einmal schlimm käme, würden wir unser Pommerle nicht unter fremde Menschen gehen lassen. Das Kind ist uns beiden lieb wie eine eigene Tochter.«

Die rauhe, wetterharte Hand des Fischers griff nach der Rechten des Professors.

»Herr Professor,« sagte er mit schwankender Stimme, »bei Ihnen wird sie es gut haben, das weiß ich, viel besser als bei meiner Base, aber – – lassen wir das jetzt. Ich bin so oft in Todesnöten gewesen, und immer ist es gut ausgegangen. Der liebe Gott wird nicht wollen, daß mein Hannchen auch noch den Vater verliert.«

»Wir wollen nicht von so trüben Dingen reden, Herr Ströde,« warf Frau Bender dazwischen, »ich hole jetzt das Pommerle und mache mit ihm noch einen Spaziergang. Ist es Ihnen recht?«

Der Fischer nickte. Sein Pommerle war nirgends besser aufgehoben als unter dem Schutze dieser freundlichen Frau.

Es war gegen Mitternacht, als der Fischer Ströde die Fischereigerätschaften zusammenpackte, um hinaus aufs Meer zu fahren. In diesen Septembernächten war es notwendig, daß man die ausgelegten Netze vor Morgengrauen einzog, um einen guten Fang zu haben. Ströde ging sonst so leichten Herzens zum Strande, heute waren ihm die Füße schwer wie Blei. Als er in der Haustür stand, hatte er das Gefühl, als hielte ihn eine unsichtbare Gewalt zurück.

Er überwand das Verlangen, Hannas Schlafzimmer zu betreten, um das Kind nochmals zu sehen. Morgen früh, gegen fünf Uhr, war er wieder zurück, dann konnte er sein Töchterchen wieder ans Herz drücken.

Als er an den Strand kam, waren die beiden anderen Fischer, die Bootsgenossenschaft mit ihm hatten, bereits damit beschäftigt, die Netze ins Boot zu legen. Man hatte zu dritt das Segelboot und teilte sich zu gleichen Teilen in den Fang. Einige Boote schaukelten bereits auf dem Wasser, andere folgten, und nun ging es bei frischem Nordost hinaus.

»Ich trau' dem Wetter nicht recht,« sagte Fischer Ehmke, der neben Ströde im Boote saß und sich mit dem Segel zu schaffen machte.

»Der Nordost ist uns noch nie ein guter Freund gewesen.«

Für wenige Augenblicke schaute auch Ströde auf. »Mag sein,« erwiderte et, »wir fahren ja nicht weit, in vier Stunden sind wir wieder zurück.«

Der Flundernfang war diesmal reichlicher denn zuvor. Man dachte bereits an die Heimfahrt, denn der Nordost nahm an Stärke beträchtlich zu. Von Zeit zu Zeit kam's wie ein Stoß gegen die Segel, und Ehmke hatte alle Hände voll zu tun, um diese Böen zu parieren. Bedenklich schwankten die Boote auf den Wellen, und man gab sich alle Mühe, möglichst rasch das Heimatdorf wieder zu erreichen.

Der Flundernfang war diesmal reichlicher denn zuvor.

»Wir steuern mehr rechts,« sagte Ehmke, »damit wir nicht in die Nähe der Sandbänke kommen.«

Langsam zog er das Segel fester an, das Boot steuerte wieder ein wenig mehr in die offene See hinaus.

Es war gegen vier Uhr morgens, als der Strand sichtbar wurde. Wäre der Nordost nicht gewesen, so hätte man in etwa zwanzig Minuten das Land erreicht, jetzt aber sorgte der immer stärker werdende Wind dafür, daß man nicht so rasch ans Ziel kam.

Die aufgepeitschten Wellen rollten in ununterbrochener Folge auf die Boote zu, fielen klatschend in das Innere der kleinen Fahrzeuge, überschütteten die Fischer mit ihrem Sprühregen und ließen sie die Morgenkälte schärfer empfinden.

Plötzlich ein pfeifendes Heulen, dann eine sich hoch auftürmende Welle; und ehe es Ehmke noch recht gelungen war, das nur halb gehißte Segel völlig zu reffen, prallte die Woge an das Schiff. – Im nächsten Augenblick schlug das Boot um, Ströde und Hegler stürzten ins Wasser, während sich Ehmke an den Stricken des Segels festhalten konnte.

Der Vorfall war von den anderen Fischern nicht unbemerkt geblieben. Todesmutig versuchte man sich der Unglücksstätte zu nähern. Man wußte, daß sich gerade an dieser Stelle die gefährliche Sandbank befand, an der vor vier Jahren ein braver Fischer sein Leben gelassen hatte.

Dort tauchte aus den Wellen der Körper des einen Verunglückten auf. Ein leeres Netz, ein paar Stricke warf man ihm zu, aber schon spülte eine neue Welle über den Ertrinkenden hinweg. Da tauchte er nochmals auf.

Wieder wurde ein Rettungsversuch unternommen, ein Ruder warf man dem Manne zu. Das konnte Hegler erfassen. Mit Hilfe von Netzen und Stricken gelang es schließlich, ihn in eines der Boote zu ziehen.

»Wo ist Ströde?«

Das war die bange Frage, die von Mund zu Mund ging. Und während andere Männer bemüht waren, Ehmke aus seiner furchtbaren Lage zu befreien, wurden auch von den anderen Booten Taue ausgeworfen, die sich erst auf dem unruhigen Meere herumschlängelten, dann aber von den aufgepeitschten Wellen mitgerissen wurden.

»Ströde – – Ströde!« Die gellenden Rufe mischten sich in das Brausen des Wassers.

»Dort – – dort hinten!« Einer der Fischer wies auf einen dunklen Punkt, der etwa sechzig Meter von den rettenden Booten auftauchte.

Kraftvolle Männerarme griffen nach den Rudern, niemand dachte jetzt an die Todesgefahr, der man sich aussetzte, als man das mit Wasser halb angefüllte Boot durch die Sturzwellen lenkte.

Der dunkle Punkt war wieder verschwunden. Aufs neue suchte man die Wasserfläche ab, warf Ruder aus, aber nirgends tauchte eine Hand auf, die nach der rettenden Planke griff.

Trotz der frühen Morgenstunde war es am Strande lebendig geworden. Im Fischerdörfchen pflegten die Einwohner zeitig auf zu sein, denn in den frühen Morgenstunden fahren ihrer viele in die See hinaus. Gerüchte wurden laut, man ahnte, daß sich da draußen etwas Furchtbares ereignet hatte.

Aufs neue sprangen beherzte Männer in die Boote, um vielleicht Rettung bringen zu können. Es war ein grausiger Kampf mit dem wilden Elemente, aber der, den man suchte, den man zu finden hoffte, der war von den Wellen mit fortgerissen und weit in die See hinausgetrieben worden.

Nach einstündigem, vergeblichem Suchen sah man ein, daß ein weiteres Verweilen draußen auf der tobenden See keinen Zweck hatte, zumal die Rettenden bereits selbst halb erstarrt waren. So kehrte man gedrückt ans Land zurück.

Die schreckliche Kunde verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Einer berichtete es dem anderen, und jeder, der die traurige Nachricht vernahm, sprach ein Wort des Bedauerns, weil man Fischer Ströde als einen der besten und fleißigsten Männer kannte.

Als sich Hanna Ströde des Morgens gegen sechs Uhr erhob, ahnte sie nicht, welch schreckliche Botschaft ihr der neue Tag bringen würde. Ihr erster Gruß galt wieder der See, die ihr über Nacht den Vater geraubt hatte.

Wie wild und aufgewühlt das Wasser heute war, ordentlich unheimlich sah es aus. Hanna drohte der weiten Fläche mit dem Finger.

»Mußt nicht gar so wild sein!«

Vom Fenster aus sah sie eine Gruppe Dorfbewohner, die alle nach dem kleinen Fischerhause blickten. Aber Hanna hatte jetzt keine Zeit, zu den Leuten hinüber zu springen, es galt, in der Küche Tante Berta beim Richten des Frühmahles zu helfen.

Ob der Vater schon zurück war?

Die Küche war leer, Tante Berta anscheinend schon ausgegangen. Das Feuer brannte im Herde, im Wasserkessel summte das Wasser, sonst war noch nichts hergerichtet. Es hatte den Anschein, als sei Tante Berta eilig davongelaufen. Hanna holte die Tassen aus dem Küchenschranke und deckte in der Küche den Frühstückstisch. Ihr wurde plötzlich merkwürdig unheimlich zumute, denn die Tante blieb doch sonst nicht so lange fort.

Sie eilte hinaus vor das Haus, sah dort noch immer die Leute umherstehen und schritt langsam näher. Die lebhafte Unterhaltung verstummte plötzlich, als die Kleine näher herangekommen war. Dann sprachen alle gar gut und freundlich zu ihr. Hanna schaute bedrückt von einem zum anderen und fühlte sich plötzlich von der dicken Frau Jäger umschlungen. Die Fischersfrau weinte.

»Geh nur heim, Hannchen, oder komm mit mir, kannst bei uns frühstücken.«

»Wo ist Tante Berta?«

»Komm nur mit mir.«

Dem kleinen Mädchen wurde plötzlich bange. Und dann sah es, wie aus dem Hause Frau Professor Bender eilte. Sie trug noch den dunkelroten Morgenrock, hatte ein Häubchen auf dem Haar und sah sehr bleich aus. Zögernd ging ihr Hanna entgegen.

»Tante Bender,« sagte Hanna gedrückt, »mir ist so angst, heute ist alles so anders.«

»Ist's wirklich wahr?« Die Frage aus dem Munde der Frau Professor war leise an die Umstehenden gerichtet, aber Hanna hatte sie doch vernommen.

»Wo ist der Vater?« rief die Kleine plötzlich.

Frau Bender wollte das Kind festhalten, aber Hanna riß sich los, flog wie ein Pfeil über den Strand, hin zu den Booten, suchte einige Augenblicke und stürzte dann mit einem wilden Aufschrei auf einen der Fischer zu.

»Wo ist der Vater?»

»Noch haben wir ihn nicht gefunden,« sagte der wettergebräunte Alte.

Sekundenlang starrte ihn Hanna an, dann hatte sie verstanden, hier an der Wasserkante sah man alltäglich dem Tode in die Augen, da wußte man gleich, was solch ein Ausspruch zu bedeuten hatte.

Sekundenlang stand Hanna regungslos. Ihre blauen Augen schauten hinaus auf das Meer, das noch immer erregt wogte und rollte. Obwohl sie ahnte, was geschehen war, faßte sie im Augenblicke die ganze Schwere dieser wenigen Worte nicht. Sie wußte nur das eine, daß etwas Entsetzliches mit dem Vater geschehen war.

Der Alte verstand nicht, der Kleinen tröstende Worte zu sagen.

»An jeden von uns kommt es mal heran,« sagte er dumpf.

Da schrie Hanna auf. »Der Vater – – wo ist der Vater?«

Sie eilte zu einem der Boote, lehnte sich an den Rand des Fahrzeuges und rief immer wieder: »Vater – Vater – Vater!«

Frau Bender war der Erregten nachgeeilt. Sie war die erste, die Hanna erreichte und das schier erstarrte Mädchen fest in ihre Atme schloß.

»Pommerle, mein geliebtes Pommerle!«

»Der Vater,« schluchzte das kleine Mädchen.

»Ist zum lieben Gott gegangen.«

Da schauerte das Kind zusammen, und dann stürzten ihm die Tränen aus den Augen. »Ich will zum Vater!«

Frau Bender setzte sich auf den Rand des Kahnes und nahm Pommerle auf den Schoß, wie ein kleines Kind wiegte sie die Achtjährige in den Armen.

»Der liebe Gott hat zum Vater gesagt, er solle zu ihm kommen; und da ist der Vater gekommen. Denke doch an das hübsche Bild, das ich dir neulich gezeigt habe. Da kommt der Herr Jesus auf dem Wasser geschritten, – er ist auch heute so gekommen und hat deinem Väterchen die Hand gereicht und ihn dann zu sich in den schönen Himmel geholt.«

Pommerle preßte das tränenüberströmte Kindergesicht an die Schultern der gütigen Frau.

»Ich will auch in den Himmel.«

»Du bleibst erst noch ein Weilchen bei mir, mein liebes Pommerle.«

»Ich will zum Vater!«

Aufgeregt versuchte Hanna sich aus den Armen der Frau zu lösen, aber Frau Bender hielt das zitternde Kind fest.

»Du betest doch an jedem Abend zum lieben Gott: dein Wille geschehe! Wenn es der liebe Gott so bestimmt hat, müssen wir uns damit zufrieden geben.«

Aufs neue brach wildes Schluchzen aus dem Kinde hervor, und immer wieder versuchte Frau Bender zu trösten.

»Schau, mein Pommerle, dort guckt die Sonne hervor. Das ist ein Gruß deines Vaters, der jetzt im Himmel ist. Er läßt dir sagen, daß du nicht weinen sollst, wenn er auch nicht mehr in dem kleinen Häuschen wohnt, sieht er dich doch zu jeder Stunde und wacht darüber, daß dir nichts geschieht.«

Hin und wieder hob das kleine Mädchen den Kopf und schaute zu der Sprecherin auf. Dann aber füllten sich die blauen Augen wieder mit Tränen.

»Komm, mein Pommerle, wir gehen jetzt heim.«

Energisch zog Frau Bender das Kind mit sich fort. Man schritt an den neugierig dreinschauenden Gruppen vorüber, hin zum Hause. Aber als man den kleinen Flur betrat, als Pommerle dort die Lederjoppe des Vaters hängen sah, rief es jammernd aus:

»Vater, Vater!«

Frau Bender nahm das Kind in ihr Zimmer, setzte es auf das gute rote Plüschsofa, vor dem Pommerle stets eine fast heilige Scheu gehabt hatte, legte ein Kissen unter das tränenüberströmte Gesicht der Kleinen, zog sich einen Stuhl heran und streichelte mit zitternden Händen das Gesicht des Kindes.

Der Professor hatte inzwischen auch von den Fischern die entsetzliche Kunde erfahren. Er hatte gesehen, wie seine Frau das fassungslose Kind ins Haus gebracht hatte, und ließ die beiden zunächst allein. Keine andere als seine Gattin fand hier so tröstende und zarte Worte, in ihren Armen würde Pommerle seinen ersten Schmerz ausweinen. Für ihn stand es sogleich fest, daß er dieses Kind unter keinen Umständen hier unter fremden Leuten zurücklassen würde, in dem behaglichen Professorenhause sollte Pommerle von nun an eine neue Heimat haben.

Fräulein Berta war völlig kopflos geworden. Sie war mit Freunden mitgegangen und weinte nun in einem fremden Hause ihr Leid aus. So kam es, daß schließlich Professor Bender auf einen Wink seiner Frau hin in der kleinen, rauchgeschwärzten Küche stand und für sich, seine Frau und Pommerle den Morgenimbiß bereitete. Es war für ihn freilich eine ungewohnte Arbeit, aber heute wollte er seine Gattin nicht von dem Kinde wegrufen.

Was wohl dem Pommerle am besten schmeckte? Milchkakao? Man hatte ja alles mitgebracht. Und so quirlte der Herr Professor, der sonst nur die Feder in den Händen hielt, einen dicken Kakao ein, dem er viel zu reichlich Zucker hinzusetzte, aber schließlich war das Werk beendet, und eigenhändig brachte er den braunen Trank ins Zimmer.

Pommerle hatte beide Fäuste an die Augen gedrückt und schluchzte noch immer leise vor sich hin. Aber als es von Frau Bender die Tasse an den Mund gehalten bekam, trank es doch.

Während Frau Bender sich weiterhin um das Kind bemühte, wanderte der Professor ins Dorf und kaufte in dem einzigen Laden, der sich hier befand, verschiedenes Spielzeug ein. Pommerle mußte ein wenig auf andere Gedanken kommen, sollte das Furchtbare ein wenig vergessen.

Aber das Kind hatte für die schönen Sachen gar wenig Interesse. Es hatte den Kopf aufgerichtet, schaute durch das kleine Fenster auf die See hinaus, und um die frischen Kinderlippen grub sich ein gramvoller Zug ein.

Dann barg die Kleine wieder den Kopf in den Kissen und begann erneut zu weinen.


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