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»Mein liebes Mädel, mein kleines Goldköpfchen, du wirst deiner Mutter, als sie noch ein Kind war, mit jedem Jahre ähnlicher. Sei mir herzlich willkommen in Dillstadt! Der Opa freut sich mächtig, daß er dich hier hat!«
»Opa, ich freue mich auch sehr. Ich bin hergekommen, um mich bei dir nützlich zu machen. Ich werde dir keine Last sein, damit du mit Freuden an meinen Besuch zurückdenkst.«
»Wer hat dir denn das gesagt?«
»Mein Vati. – Ich soll dir keine Last sein, und einen Besuch hat man nur dann gerne, wenn man mit Freuden an ihn zurückdenkt. – Oh, du wirst mit vielen Freuden an mich zurückdenken, lieber Opa, denn ich werde dir furchtbar viel helfen. – Du, Opa, ich kann nämlich allerlei; dem Onkel Kuno kann ich in der Apotheke auch schon beistehen, wenn er zuviel zu tun hat.«
»Und um den kleinen Harald wirst du dich auch kümmern?«
»Aber freilich, lieber Opa! – Das Kindchen von Tante Karla werde ich gut behüten und im Wagen spazierenfahren. – Weißt du, Opa, ich habe das Kind schon furchtbar lieb, weil es Harald heißt. Harald hat doch mein erstes Väterli geheißen, mein liebes Väterli, das fortsterben mußte, weil es sehr vielen anderen Menschen geholfen hat, damit sie nicht mit dem Wagen und den wilden Pferden umkippten.«
Die Begrüßung der kleinen Erna in Dillstadt war von allen Seiten eine überaus herzliche gewesen. Apotheker Wagner und seine Frau, die in Erna das Ebenbild ihrer Tochter Bärbel sahen, schütteten ihre ganze Liebe auf das kleine Mädchen aus, das vom ersten Tage seines Hierseins den Namen »Klein-Goldköpfchen« bekam. Hatte Erna doch genau dieselben blonden Locken wie einst Bärbel, dieselben blauen Augen; nur daß diese Augen viel schelmischer und listiger in die Welt blickten als die ihrer Tochter Bärbel.
Onkel Kuno und Tante Karla waren ebenfalls von Klein-Goldköpfchen begeistert. Karla hatte das immer fröhliche Kind von jeher in ihr Herz geschlossen, schon damals, als sie noch bei Goldköpfchen in Heidenau im photographischen Atelier arbeitete. Dort war sie mit Bärbels Bruder Kuno bekanntgeworden, man hatte geheiratet und lebte nun in der glücklichsten Ehe. Seit sechs Monaten schrie im Schlafzimmer ein kleiner Knabe, dem man den Namen Harald gegeben hatte.
Fräulein Rettich, die Erna nach Dillstadt gebracht hatte, verblieb nur bis zum nächsten Morgen im Hause des Apothekers, dann fuhr sie heim zu ihren Angehörigen. Sie hatte gern den kleinen Umweg über Dillstadt gemacht, um Erna hier abzuliefern. Erna bekam am Abschiedsmorgen noch gutgemeinte Ermahnungen, dann brachte man Fräulein Rettich zur Bahn.
»So, – lieber Opa, nun sind wir wieder unter uns. – Weißt du, ich habe es nicht gerne, wenn man wie ein kleines Kind behandelt wird. Ich brauche nämlich keine Aufsicht mehr, wollte ganz allein herfahren, aber die Mutti hat es nicht erlaubt. – Na, nun ist die ja weg, und jetzt kann ich machen, was ich will.«
»Nein, nein, Klein-Goldköpfchen, ein Kind muß sich immer fügen, es muß tun, was ihm die Erwachsenen raten.«
»Ach, lieber guter Opa«, sagte Erna und schaute ihn blinzelnd an, »du freust dich doch, wenn du das machen kannst – was ich gerne machen möchte. Du hast mich ja sooo lieb, darum sind wir beide auch gute Freunde.«
»Das wollen wir immer bleiben.«
»Sieh mal, lieber Opa, ich bin hier kein kleines Mädchen mehr, jetzt ist der Rettich fort, und ich schlafe ganz allein in einem Zimmer. In Heidenau muß ich mit dem Haufen anderer Kinder zusammenschlafen. Wer aber ganz allein ein Zimmer hat, – der ist eine Dame.«
»Was bist du kleiner Schnack?«
»Nun – so ein Fräulein, – das eben schon alleine schlafen kann. – Ach, du lieber, lieber Opa, laß mir doch die Freude. Ich bin doch sooo glücklich, daß ich bei euch bin. Denke mal, keiner von dem anderen Haufen ist hier, – das wird ganz besonders schön sein. – Du hast doch keine kleinen Kinder mehr, aber meine Mutti hat 'ne Masse kleiner Kinder.«
»Ich denke doch, das ist sehr schön, Klein-Goldköpfchen.«
»Nu ja – in Heidenau ist es ja auch ganz schön, daß wir so 'ne Masse sind, aber hier – ist es auch sehr schön, daß ich für euch alle ganz allein bin.«
»Der Harald ist doch auch da.«
»Ach der«, klang es geringschätzig, »mit dem kann man doch keine ernsten Gespräche führen. Mit dem kannst du keinen Gedanken austauschen, Opa. – Sieh mal, ich habe mir das so gedacht: Meine Mutti hat viel Liebes und viel Gutes in sich, das ist etwa so, als ob sie einen großen Topf hat, aus dem sie mit der Suppenkelle achtmal Suppe nimmt. Jedes Kind bekommt einen Teller voll. Ganz einerlei, ob es die Kinder vom Väti sind oder die Goldköpfchenkinder. Da kennt sie keinen Unterschied, denn sie ist doch keine Stiefmutter, wie der dumme Gottlieb Hilse mal gesagt hat.«
»Da hast du ganz recht, Klein-Goldköpfchen, deine Mutti hat alle Kinder gleich lieb.«
»Ja, das hat sie, – aber sie muß doch aus ihrer Liebe acht gleichgroße Haufen machen, und hier, bei euch, bin ich ganz allein. Da kannst du, wenn du auch acht Haufen machst, alle acht Haufen auf einen Haufen schmeißen, und ich kriege den ganzen großen Haufen Liebe von euch. – Opa, das stimmt doch?«
»Du bist ja merkwürdig weltklug!«
»Oh, lieber Opa«, lachte Erna hell auf, »das bin ich, das hat mir schon mal einer gesagt, als ich mit der Zeitung auf der Bank saß.«
»Was war das für eine Zeitung? Du kannst ja kaum lesen.«
»Opa, hast du hier auch Zeitungen mit einem Kreuzworträtsel?«
»Willst du kleine Krabbe schon Kreuzworträtsel raten?«
Erna kniff erneut die Augen zusammen. »Opa, das macht Spaß! – Ach, Opa, du schenkst mir später eine Zeitung mit einem Kreuzworträtsel.«
»Die kannst du gerne haben. Aber was willst du denn damit?«
»Ich will wieder weltklug sein, wie damals der Mann in Heidenau gesagt hat.«
»Welcher Mann hat das gesagt?«
»Ich kenne ihn nicht, Opa, aber hübsch war er, ganz dünn und groß, und über den Schuhen hatte er noch solche weiße Dinger, die guckten unter den Hosenrändern vor. Oh, der war hübsch. Dann hat er gesagt, ich bin weltklug.«
»Ein kleiner Affe bist du, weiter nichts.«
»Na, laß nur, lieber Opa, – wenn du mir erst 'ne Zeitung mit 'nem Kreuzworträtsel schenkst, wirste schon was erleben.«
»Klein-Goldköpfchen, mir wird schon ordentlich angst. Ich habe vor zwei Jahren im Sommer mit euch mancherlei erlebt.«
»Ach ja, Opa, da hat der Teufel über der Garage gewohnt, und dann haben die Jungen mit dem Schlauch in die Fenster gespritzt. – Opa, komm doch und zeig' mir euer Haus und euren Garten und die Garage. Ich soll mich hier sehr umsehen, hat der Vati gesagt, ich soll die Augen gut offenhalten. Nur dann wird man klug. Opa, ich möchte gern einmal sehr klug sein.«
»Dann wollen wir zunächst zur Oma gehen und sie fragen, ob sie mitkommt. Tante Karla wird keine Zeit haben, sie muß erst den kleinen Harald besorgen, und Onkel Kuno ist in der Apotheke.«
»Na ja, wir wollen erst zur Oma gehen. – Weißt du, die Oma wird mit uns nicht so herumkriechen können, weil sie doch wacklige Beine hat. Und ich möchte mit dir gern wieder auf den schaurigen Boden gehen, mit dem langen Gang, wo es bei jedem Schritt knistert und knastert, und dann in den großen Keller zu den vielen Flaschen. – Opa, ist der Baldrian noch immer bei dir?«
»Mein guter Hausdiener, der Adrian? Ja, der ist noch hier, den wirst du gleich sehen, wenn wir durch den Hof gehen.«
»Au fein, Opa, der Baldrian hat mich sehr gern. Ich habe auch Zigaretten für ihn. – Weißt du, die habe ich dem Vati abgeschwatzt. Ich werde ihm aber nicht gleich die ganze Schachtel geben, er kriegt immer nur eine, denn wenn ich mal was von ihm will, und ich gebe ihm nichts, dann will er auch nicht. Wenn ich ihm dann aber sage: ›Du, Baldrian, du kriegst auch eine Zigarette‹, dann macht er alles, was ich will.«
»So, meinst du? – Erst macht der Opa alles, was du willst, und nun soll es der Adrian auch tun.«
»Ja, lieber Opa«, sagte Erna im Flüstertone, »ich kenne doch die Männer. Sieh mal her, dann mache ich sooo.« Dabei legte Erna das Köpfchen zur Seite, kniff die Augen ein wenig zu und lächelte.
»Und ich mache so«, erwiderte der Großvater und versetzte der Kleinen einen sanften Nasenstüber.
»Hahaha, es tat nicht weh«, lachte die Kleine, »Opa, das war doch nur 'ne Liebkosung.«
»Kleiner Racker! So gerissen war mein Goldköpfchen nicht!«
»Opa, ich bin ja auch weltklug.«
»Na, na, Erna – –«
»Opa, sag doch lieber wieder Klein-Goldköpfchen, das höre ich furchtbar gern, das klingt so angenehm in den Ohren. – Bitte, lieber Opa, sag Klein-Goldköpfchen, auch dann, wenn du deine Bekannten hier hast. Du hast doch sicher furchtbar viele Bekannte? – Opa, es wäre mir sehr lieb, wenn ich die auch kennenlernte. Ich habe es gern, wenn viele Leute da sind.«
»Schau, schau, – aus dir kann noch was Nettes werden! Aber nun komm, jetzt wollen wir durch das ganze Haus, durch den Hof und den Garten gehen. Doch erst suchen wir die Oma, die wahrscheinlich in der Küche sein wird.«
»Und dann gehen wir in die Apotheke. Das macht furchtbar viel Spaß.«
»Nein, jetzt besichtigen wir erst den Hof und den Garten. Onkel Kuno hat heute sehr viel zu tun, den dürfen wir jetzt nicht stören.«
»Aber morgen dürfen wir ihn stören?«
»Ja, morgen geht es.«
Zunächst wurde die Großmama besucht, die in der Küche war und Vorbereitungen für das Mittagessen traf. In einer Schüssel standen Johannisbeeren, die für eine Speise verwendet werden sollten.
»Oh«, sagte Erna, »Johannisbeeren sind meine ganze Freude.«
»Wenn du in den Garten gehst, sind genug an den Sträuchern«, lachte die Großmama, »hier wird nicht genascht.«
»Ich pflücke dir welche ab«, flüsterte der Opa der kleinen Erna zu, denn er sah die begehrlichen Blicke des kleinen Mädchens.
»Schön, schön«, wisperte die Kleine, dann sagte sie laut: »Liebe Oma, du hast viel zu tun, da wollen wir dich nicht stören. Wir wollen lieber in den Garten gehen, ich muß mich belehren.«
»Willst du nicht ein Löffelchen haben«, sagte die weichherzige Oma und hatte schon auf einen Teller die schönsten Johannisbeeren gelegt.
»Wenn du sie loswerden willst«, erwiderte Erna und verschlang in Eile die Beeren. »So, Opa, nun komm!«
»Was zuerst? Wahrscheinlich den Garten.«
»Na, damit könnten wir nu' noch warten. Erst mal in das Haus mit dem gruseligen Boden. – Opa, ich finde den Weg noch. Hier geht es rauf!«
»Willst du nicht erst Harald beschauen und Tante Karla begrüßen?«
»Ach, lieber erst auf den gruseligen Boden. Dann gehen wir die kleine Treppe 'runter. – Komm doch, lieber Opa!«
»Aber, Klein-Goldköpfchen, ich kann doch nicht so schnell laufen wie du, ich bin doch schon ein alter Mann.«
»Wie alt biste denn, Opa?«
»Im nächsten Jahre werde ich siebzig Jahre.«
»Ach, gelacht, lieber Opa, da biste doch nicht alt! Onkel Forstrat ist gleich achtzig, und der rennt auch noch Treppen. Mach mal ein bißchen fix, lieber Opa!«
Apotheker Wagner lief, so rasch er konnte, die Treppen empor. Das Haus hatte drei Stockwerke, außerdem noch einen Giebel, und gerade aus dieser Giebelstube wollte Erna hinausgucken, weil man von dort weit über die kleine Stadt sehen konnte.
Der Opa kam auch wirklich nach und gab am Fenster seiner Enkelin alle gewünschten Erklärungen.
»Einen schönen Stadtpark haben wir bekommen, sieh, dort die vielen Bäume, das ist er.«
»Darf ich auch in den Stadtpark gehen, Opa? Darf ich dort auf einer Bank sitzen?«
»Natürlich, Tante Karla fährt den kleinen Harald fast jeden Tag nach dem Stadtpark und sitzt auf einer Bank.«
»Au, fein, Opa, und dann gibst du mir auch die Zeitung mit dem Kreuzworträtsel.«
»Möchte doch wissen, was du mit der Zeitung willst.«
»Ach, laß nur, lieber Opa, komm jetzt zu dem finsteren Gang und dem großen Boden.«
Der große Hausboden der Apotheke mit seinen vielen Kammern und Winkeln war schon die Freude Goldköpfchens und ihrer Brüder gewesen. Dort hatten sie unzählige Male Verstecken gespielt, dort hatte man umhergetollt und die anderen das Gruseln gelehrt.
Plötzlich war Erna verschwunden. Der Großvater sah zwar, daß sie hinter einem Balken kauerte, trotzdem rief er immer wieder nach seiner Enkelin. Als er dann in die Nähe des Versteckes kam, sprang Erna hervor, indem sie ein lautes: »Hu-Hu« ausstieß.
Der gute Großvater stellte sich erschrocken. So hatte Erna ihre helle Freude an dem entsetzten Gesicht des alten Herrn.
»Nun komm weiter, aber ein bißchen schnell. Jetzt gehen wir in den Keller zu den vielen Flaschen!«
»Immer langsam, der Opa kann nicht so schnell.«
»Dann laß dir doch vom Onkel Kuno was aus der Apotheke gehen, er hat so viele weiße Töpfe stehen. – Ach, Opa, mach mir doch die Freude und komm ein bißchen schneller.«
Erna rutschte auf dem Geländer hinunter, der Großvater folgte im Geschwindschritt. Erna streichelte ihm zärtlich die Wange. »Ach ja, du bist sehr gut. – So, und nun komm in den Keller!«
Im Hof stand Adrian, der Hausdiener, und wusch Flaschen. Eine herzliche Begrüßung zwischen ihm und Erna folgte. »Du kennst mich doch noch?« klang es von der Kleinen Lippen.
»Aber freilich«, lachte der junge Mann.
»Opa«, flüsterte Erna, »bist du so gut und läufst rasch mal in mein Zimmer, aber bitte ganz fix. Dort liegt meine kleine Handtasche, knallrot. In der Handtasche steckt eine kleine Schachtel mit Zigaretten, die hol mal.«
»Nein, nein, Klein-Goldköpfchen, die magst du dir allein holen, du hast jüngere Beine.«
»Baldrian, – du weißt doch, wo ich wohne? Geh mal rauf und –«
»Nein, Klein-Goldköpfchen«, fiel der Großvater ein, »ein Geschenk holt man ganz allein.«
»Die Mutti sagt immer, die Männer müßten höflich gegen Frauen sein. Der Hermann rennt immer gleich und holt. – Na, wartet mal hier, ich laufe schnell und hole alles alleine.«
Sehr bald war die Kleine wieder zurück. Sie hatte die rote Handtasche mitgebracht. »Sieh mal, Opa, der Vati hat mir drei Geldstücke geschenkt, blitzblank, wie Silber. Jedes Geldstück ist eine Mark. Das darf ich hier alles ausgeben. Immer wenn ich eine Briefmarke brauche, soll ich sie bezahlen. Aber – wenn ich zu Hause eine Briefmarke brauche, schenkt sie mir immer der Vati.«
»Aha, ich verstehe schon. – Ich denke, Adrian soll etwas bekommen?«
Erna entnahm ihrer Handtasche eine plattgedrückte kleine Schachtel. Der Großvater lachte. »Da hast du wohl schon drauf gesessen?«
»Oh, sie rauchen sich noch!« Erna zerbohrte die Schachtel. Da fiel ihr der Tabak schon entgegen: einige der Zigaretten waren zerbrochen. Sie suchte eine noch brauchbare heraus und reichte sie Adrian. »Die habe ich dir mitgebracht.« Dann wurde das zerdrückte Kästchen in die Handtasche zurückgelegt.
Adrian bedankte sich lachend und steckte die Zigarette in die Brusttasche. Dann ging man weiter.
Vor der Garage blieb Erna stehen. Sie zeigte hinauf zu den kleinen Fenstern, die über der Garage sichtbar waren, und lachte hell auf.
»Opa, dort oben soll mal der Teufel gewohnt haben; dabei hat doch die Mutti immer dort geschlafen.«
»Ich weiß, ach, ich weiß, Klein-Goldköpfchen.«
Weiter gingen die beiden über den Hof, und wieder blieb Erna vor einer großen Kiste stehen, in der kleine Flaschen, allerlei Scherben und sonstiges Gerümpel lag. Mit spitzen Fingerchen griff sie in die Kiste und zog ein kleines niedliches Fläschchen heraus, das einen Schraubdeckel hatte.
»Na, das ist arg«, klang es entrüstet, »so 'ne schöne Flasche – – Und da, guck mal, Opa, da unten liegt eine schöne grüne Flasche. – Wühl die mal raus!«
»Aber, Klein-Goldköpfchen, ich zerschneide mir ja die Hände, wenn ich aus all den Scherben die grüne Flasche heraushole.«
Mißbilligend schüttelte Erna das Köpfchen. »Ihr seid aber keine sparsamen Leute. – Nein, das gefällt mir nicht! Meine Mutti sammelt alles und verwendet es. – Soviel zerschlagen wir auch nicht wie ihr! Ach, so schöne Flaschen! – Und dort, sieh mal, Opa, so ein Haufen Holzwolle und alte Bretter. Das muß anders werden! Holzwolle kann man gut im Ofen verbrennen, sie heizt, – und ihr schmeißt das im Stall herum. – Ach nein, lieber Opa, das mißfällt mir!«
»So so, bist du so ordentlich?«
»Und die vielen Kistendeckel, die zerhackt man klein und verbrennt sie. Da kriegt man im Winter einen schönen warmen Ofen. – Ach«, wieder wandte sie sich der Scherbenkiste zu, »die vielen schönen Flaschen. – Opa, bitte wühl mir doch solche kleine Flaschen raus. Die bringe ich den Kindern mit, dann freuen sie sich.«
»Wir werden in der Apotheke nachsehen, dort gibt es allerlei Flaschen.«
»Nein, Opa, ich möchte so gerne die hübsche grüne Flasche da unten. Ich will gar keine neue Flasche. Die Mutti sagt, man muß erst das Alte verwenden.«
»Ich werde dir später so 'ne kleine grüne Flasche heraussuchen lassen.«
»Und auch die weiße da, mit dem krummen Hals!«
»Aber, Klein-Goldköpfchen, was willst du denn mit einer alten Odolflasche anfangen?«
»Die ist sehr schön! – Ach, lieber Opa, suche mir doch die kleinen niedlichen Flaschen heraus. Die nehme ich mit nach Heidenau, dann freut sich der Kinderhaufen!«
»Komm nun, jetzt gehen wir in den Keller«, sagte Herr Wagner, um das Kind von der Scherbenkiste abzulenken. Er schloß die Kellertür auf und drehte das elektrische Licht an. Dann stiegen beide hinab.
»Opa, so 'nen großen Keller, mit so vielen kleinen Kellern, hat kein anderer.«
»Ich brauche alle die Keller. Wenn man eine Apotheke hat, muß man verschiedene Keller haben.«
»Opa, in welchem Keller ist das schlimme Gift?«
»Das ist ganz woanders.«
»Wo ist das? – Opa, ich möchte furchtbar gern mal das schlimme Gift sehen.«
»Das hat Onkel Kuno in einem Schrank, das zeigt er keinem.«
»Dir auch nicht?«
»Mir zeigt er es schon.«
»Na, dann zeigt er es mir auch«, sagte Erna listig. »Ich schenke ihm einen schönen Blick, und dann sehe ich auch das fürchterliche Gift.«
»Und dann komme ich«, lachte der Großvater, »sehe meinen Kuno mit einem noch viel lieberen Blick an, und dann – zeigt er dir das Gift nicht.«
Da lachte Erna laut auf. »Opa, wollen mal sehen, wer lieber blicken kann! – Na, warte mal ab, Opa!«
»Hier ist auch Gift«, sagte Wagner und wies auf einige mittelgroße Fässer, die in einem der Keller lagen.
Erna faßte ängstlich nach der Hand des Großvaters. »Was ist das?«
»Das ist Rum. – Das dort ist Weinbrand, und das dort ist Süßwein.«
»Oh«, lachte die Kleine hell auf, »Opa, das ist doch kein Gift! – Opa, die Fässer haben alle einen Hahn zum Drehen. Dreh doch mal ein bißchen an dem Hahn von dem Süßwein.«
»Warum denn?«
»Nun«, meinte Erna und lächelte wieder verschmitzt den Großvater an, »ich möchte gerne mal dran riechen. Ich halte den Finger drunter, dann tropft es, und dann lecke ich meinen Finger ab.«
Auch jetzt konnte der gute Großvater nicht widerstehen. Er drehte den Hahn des Tokaierfäßchens ein ganz klein wenig auf; der Tropfen wurde von Ernas Hand aufgefangen. Dann leckte sie ihre Handfläche ab.
»Hm – der ist aber gut, Opa. Ach, laß doch noch mal tropfen!«
Sie durfte noch einige Tröpfchen schlecken, dann drehte Wagner den Hahn wieder fest zu. Weiter gingen die beiden durch die Keller. Hier lagen Flaschen verschiedener Heilbrunnen, Kasten und Kisten standen hoch übereinander getürmt. Säcke standen herum, und immer wollte die Kleine neue Erklärungen haben, die der Großvater willig gab.
»So, Opa, nun haben wir genug gesehen, nun stärken wir uns noch mit einem süßen Tropfen von dem kleinen Faß, und dann gehen wir in den Garten zu den Beerensträuchern.«
»Jetzt ist es genug mit dem Tröpfeln.«
»Ach, lieber guter Opa, nur noch einmal schmecken. – Bitte, bitte, komm doch!«
»Aber nur einen Tropfen.«
Es wurden aber doch fünf Tropfen aus dem versprochenen einen, bis der Hahn wieder fest geschlossen war. Dann verließen Großvater und Enkelin endlich den Keller.
Im Garten hatte sich nicht viel verändert. Erna fand sich rasch darin zurecht.
»Opa, weißt du noch, wie wir hier mit dir Maulschmeißer gespielt haben? Jetzt spiel doch mit mir Maulschmeißer.«
»Das ist doch kein schönes Spiel! Damals wolltet ihr mir Steine in den Mund werfen.«
»Opa, mir schmeißt du jetzt Johannisbeeren ins Maul oder Himbeeren. So, Opa, ich setze mich hier auf die Bank, und du pflückst die Beeren ab, und dann schmeißt du sie mir ins Maul.«
»Aber Erna, eine weltkluge junge Dame hat doch kein Maul! Sie hat doch ein hübsches Mündchen.«
»Opa, – wenn ich recht viel Beeren haben will, habe ich immer ein Maul, denn ein Maul ist doch viel größer als ein Mündchen. Kannst ruhig Maul sagen, ich sag's nicht weiter. Vor der Mutti dürfen wir das auch nicht sagen. Aber wenn der Kinderhaufen beisammen ist, haben wir alle ein Maul! – So, nu geh pflücken, ich warte hier!«
»Komm lieber mit, kleiner Faulpelz! Beeren, die man selbst vom Strauche abpflückt, schmecken noch einmal so gut!«
Gemeinsam pflückte man Beeren. Als aber Großvater Wagner einige in seinen Mund steckte, sah ihn Erna vorwurfsvoll an. »Ich dachte, du pflückst für mich?«
»Nun, ich wollte auch ein paar Beeren essen.«
»Nu ja, ein paar Beeren kannste schon essen, aber denke daran, daß ich Beeren furchtbar gerne esse.«
So bekam Erna eine schöne Portion Beeren, die sie nur zum Teil selbst pflückte, die größere Menge bekam sie vom Großvater. Plötzlich schrie Erna vor Freude laut auf: »Opa, hier sind ganz, ganz große Himbeeren!«
»Das sind die besonders guten Beeren!«
Vorsichtig pflückte Erna ihr Händchen voll. Dann lief sie zum Großvater. »So, die schenke ich dir. Weil du so lieb und gut zu mir warst, vergelte ich dir jetzt deine Guttat. – Da hast du die schönen Beeren!«
»Das ist sehr nett von dir, aber iß sie nur allein!«
»Nein, Opa, das sind deine Beeren, die mußt du essen, ich gebe sie dir gerne. Ein anderes Mal kannst du mir ja auch große Beeren schenken.«
Wagner mußte die Himbeeren verspeisen. Neidlos sah Erna ihm zu.
»So«, sagte sie, »nun gehen wir noch einmal durch den Garten, und ich hänge mich in deinen Arm, ich gehe gerne mit hübschen Herren Arm in Arm spazieren.«
Vor dem gemauerten Becken, in dessen Mitte ein verrostetes Rohr sichtbar war, blieb Erna stehen. »Damals haben noch Fische drin geschwommen, jetzt ist gar kein Wasser mehr drin. – Das gefällt mir nicht.«
»Das war früher ein Springbrunnen. Jetzt ist er kaputt. Deine Mutti hat manchmal an diesem Springbrunnen gestanden und sich an dem Wasserstrahl erfreut.«
»Opa – wenn der Springbrunnen doch gesprungen hat, als meine Mutti noch dein Kind war, so mach doch, daß er jetzt auch wieder springt.«
»Er ist entzwei. Das Becken kann eine hübsche Rennbahn für dich abgeben, immer rund herum.«
»Ach, ich möchte viel lieber einen Springbrunnen. Unsere Kinder zu Hause fahren bald zu einem Wasserfall. Ich möchte hier auch einen kleinen Wasserfall haben. – Ach, lieber, lieber Opa, mach mir doch einen Springbrunnen, genau so bunt wie in Dresden in einem Garten. Da ist das Wasser mal rot, mal gelb, mal grün.«
»Das würde furchtbar viel Geld kosten, Klein-Goldköpfchen.«
»Na, dann mach nur 'nen weißen Springbrunnen. Bitte, bitte, ich möchte so furchtbar gern einen Springbrunnen.«
Wagner schwieg. Er überlegte schon wieder, ob er seinem geliebten Enkelchen nicht auch diesen Wunsch erfüllen könne. Ein Springbrunnen würde sicher seinen Garten verschönen.
Erna beobachtete aufmerksam das Gesicht des Großvaters und sagte befriedigt: »Es wird schon ein Springbrunnen werden, – nicht wahr, mein lieber guter Opa?«