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Es war immer dasselbe! Jeden Mittag, wenn die Kinder aus der Schule heimkamen, war im Hause Doktor Kirschners lautes Lärmen. Die vier Knaben, Hermann, Jürgen, Stefan und Fritz stürzten mit Neuigkeiten zur geliebten Mutti, die in der Küche stand, um das Mittagessen für die große Familie fertig zu machen. Unwillig sahen Marlene und die kleine Adele dieser Auseinandersetzung entgegen; wurden doch die beiden kleineren Schwestern von den Brüdern achtlos zur Seite geschoben.
»Jetzt sind wir an der Reihe«, sagte Fritz mit seiner hellen Stimme. »Ihr habt die Mutti lange genug gehabt. Wir mußten fleißig lernen, ihr habt nichts getan!«
Die einzige, die sich an dem lauten Lärmen nicht beteiligte, war die sechsjährige Erna. Meistens ging sie, nachdem sie die Mutti begrüßt hatte, hinüber ins Kinderzimmer. Dort nahm sie mit wichtiger Miene die auf die Erde geschleuderten Bücherranzen der Brüder auf, legte sie sorgsam in die Ecke, schüttelte mitunter sorgenvoll das Blondköpfchen und sagte seufzend:
»Ja ja, diese Bengel, – man hat nur Arbeit und Sorgen mit ihnen.« Und das kleine Mädchen legte gedankenvoll die Stirn in Falten und lauschte dem Lärmen, das in der Küche kein Ende nehmen wollte.
Heute ging es besonders lebhaft zu, so daß Frau Leuschner, die gute, treue Kinderfrau, die Klein-Ulla auf dem Arme trug, ebenfalls nach der Küche eilte, da sie fürchtete, daß Frau Bärbel Kirschner, ihr geliebtes Goldköpfchen, allzusehr belästigt werde. Nur zu oft mußte sie die lebhafte Schar mit einem Machtwort von der Mutti entfernen, weil immer wieder eines der Kinder eine besondere Liebkosung einheimsen wollte.
Frau Leuschner wurde von der jungen Schar zunächst nicht beachtet, obwohl auch sie von den Kindern heiß geliebt war. Alle umdrängten Goldköpfchen, das mit hochroten Wangen am Herd stand und in den großen Kochtöpfen rührte; galt es doch, einem Haushalt von vierzehn Personen vorzustehen, und das war nicht immer leicht.
»Mutti, – der Stefan hat erst nicht gewußt, was er schreiben sollte, aber ich habe gleich mächtig drauflosgeschrieben«, rief Jürgen, der neunjährige zweite Sohn der glücklichen Mutter.
»Bist ja dämlich, Jürgen, ich habe wohl gewußt, was ich schreiben sollte! – Aber an der Wand kroch gerade eine Spinne, da habe ich nicht soviel schreiben können.«
»Mutti, – ich hätte noch viel mehr schreiben können.«
Frau Bärbel Kirschner wandte sich ihrem ältesten Sohne Hermann zu: »Habt ihr auch über den Muttertag schreiben müssen, der am Sonntag gefeiert wird?«
»Ja, Mutti!«
»Hat mein Junge gewußt, was er schreiben sollte?«
Hermann Wendelin schlug die blauen Augen zärtlich zu seiner Mutter auf. »Wenn ich an dich denke, Mutti, kann man alles gar nicht niederschreiben, was man gern möchte. Und ich habe immerzu an dich gedacht.«
Goldköpfchen ließ sich die zärtliche Umarmung des Knaben gefallen, sie wußte ja, wie innig gerade ihr Ältester an ihr hing. In der schweren Zeit, die hinter ihr lag, hatte sich der zwölfjährige Knabe bemüht, ihr eine Stütze zu sein. Glücklich machte ihn jedes Lob, das ihm die Mutter zollte.
»Ich will auch über den Muttertag schreiben«, piepste die fünfjährige Marlene.
»Blödsinn«, schrie Stefan sie an, »du kannst ja noch nicht schreiben!«
»Und ich auch«, rief Adele, die Dreijährige.
»Ihr dummen Mädchen«, tadelte Stefan, »spielt lieber mit den Puppen. Redet nicht immer dazwischen, wenn Männer sprechen.«
»Stefan«, tadelte Goldköpfchen, »Männer sind zu jungen Mädchen immer höflich.«
»Hahaha«, lachte Marlene, »siehst du!« Dann nahm sie ein Küchenhandtuch vom Stuhl, legte es um die Hüften, zog es schleppend hinter sich her und schritt in der Küche auf und ab. »Ich bin jetzt eine feine Dame, und du mußt gut zu mir sein, dummer Junge!«
»Ein Zierläppchen bist du!« Schon stand Stefan auf der Schleppenpracht und riß Marlene den Schmuck von den Hüften.
»Wenn ihr nicht artig seid, müßt ihr aus der Küche gehen. Ich habe noch zu tun«, mahnte Goldköpfchen. Ihre Stimme klang nicht streng.
»Mutti, ich brülle nicht mit so lauter Stimme wie der Stefan«, sagte Jürgen, »blase dir auch nicht die Ohren voll. Ich will dir gleich mal erzählen, was ich über den Muttertag geschrieben habe: Ich habe eine Mutti, wie es auf der ganzen Welt keine zweite gibt. In Heidenau möchte jeder meine Goldköpfchenmutti zur Mutti haben. Wir geben sie aber nicht her – –«
»Rede nicht so lange!« Stefan stieß den Bruder unwirsch zur Seite. »Ich habe auch geschrieben, daß wir, die Goldköpfchenkinder, die beste Mutti haben.«
»Du bist doch kein Goldköpfchenkind«, rief Jürgen unwillig, »du hast unsere Mutti erst später zur Mutti bekommen.«
»Ich bin ein Goldköpfchenkind«, rief Marlene.
»Ihr seid alle meine lieben Kinder, ihr braucht solch törichtes Zeug nicht zu reden. Nun laß meinen Arm los, Marlene, ich habe noch zu tun. Der Vater wird gleich heimkommen, dann muß das Mittagessen fertig sein.«
»Ach, Mutti, der Vati kommt nicht immer zur rechten Zeit«, sagte Stefan, »da kann er auch mal warten!«
»Nein, Stefan, der Vater darf nicht warten.«
»Ich habe auch in meinem Mutteraufsatz geschrieben«, fuhr Jürgen mit immer durchdringenderer Stimme fort, »daß meine Mutti schon zwei Väter für uns hatte. Sie war sehr traurig, als unser Vati starb – –«
»Laß die Mutti kochen«, rief Hermann dazwischen. Er wußte genau, daß jede Erwähnung des verstorbenen Vaters der geliebten Mutter großen Schmerz zufügte. Jedesmal, wenn es in Goldköpfchens Gesicht so schmerzlich aufzuckte, tat ihr das Herz weh. Das konnte Hermann nicht sehen! Es war noch gar nicht so lange her, daß seine geliebte Mutti am Grabe des toten Vaters bitterlich geweint hatte. Alles war anders geworden. Seit dem Tode des Vaters hatte die Mutti ein photographisches Atelier in Heidenau gehabt. Sie sagte, sie müsse ihre drei Kinder damit ernähren. Jeder hatte die blonde Frau lieb gehabt. Dann war es wieder anders geworden. Doktor Kirschner, der Hausarzt, wußte in seiner Not keinen anderen Ausweg, als die Mutti zu bitten, in sein Haus zu kommen und seine Frau zu werden, damit die fünf verwaisten Kinder wieder eine Mutter hätten.
Noch klang in Hermann die Unterredung nach, die er mit seinem neuen Vater gehabt hatte. Man stand am Grabe des verstorbenen Ingenieurs Wendelin, dort hatte Doktor Kirschner zu dem verzweifelten Knaben Worte gesprochen, die tief in das Herz des Kindes eindrangen. »Du sollst deinen Vater niemals vergessen, Hermann, er soll in deinem Herzen der erste sein. Sei deiner Mutter auch fernerhin ein Freund und eine Stütze, aber auch mir reiche deine Hand, damit wir wie Freunde zusammenstehen.«
Vor fünf Monaten war dann Bärbel Wendelin ins Haus Doktor Kirschners übersiedelt. Aus der blondhaarigen Frau Wendelin war eine Frau Kirschner geworden, die acht Kinder mit innigster Liebe betreute.
»Jetzt ist's genug!« rief Goldköpfchen, als sich die Knaben wieder um sie drängten, um weitere Neuigkeiten zu berichten. »Ihr geht hinüber ins Kinderzimmer und wartet dort, bis ich zum Essen rufe. Liebste Frau Leuschner, nehmen Sie die wilde Horde mit!«
»Wir finden den Weg auch ohne Frau Leuschner«, rief Stefan und lief als erster hinaus.
»Mutti, ich kann doch hierbleiben«, bat Adele, »die ollen Jungens können rausgehen, aber die kleine Lieblichkeit bleibt hier.«
Goldköpfchen wandte sich jäh um, ein Lachen zuckte um ihren Mund. »Wer bleibt hier, Adele?«
In dem Kindergesicht strahlten die Augen. »Die kleine Lieblichkeit, Mutti! Vorhin, als ich mit Tante Rettich beim Bäcker war, hat er gesagt, ich bin eine kleine Lieblichkeit.«
Goldköpfchen erwiderte nichts. Sie wußte, daß Adele oft von Bekannten bewundert wurde. Das dunkelblonde Mädchen mit den lachenden Braunaugen war so reizvoll, daß man oftmals stehenblieb und fragte, wem das Kind gehöre. Und Fräulein Rettich, das Kinderfräulein, schmückte Adele besonders mit Schleifchen und Bändern, um ihre Anmut noch zu heben. So war es wohl möglich, daß jemand von der Lieblichkeit des Kindes gesprochen hatte. Adele schnappte vieles auf.
»Wenn du brav bist, darfst du bei mir bleiben.«
»Weil ich deine Lieblichkeit bin«, wiederholte die Kleine und beschäftigte sich eingehend mit dem Eimer, in dem die Küchenabfälle lagen.
»Pfui, was machst du da!« rief Grete plötzlich, die treue Haushilfe. Adele hatte soeben den Gemüseabfall herausgeholt und auf der Schürze ausgebreitet. »Du willst eine Lieblichkeit sein? Ein kleines Ferkel bist du!«
Eine Viertelstunde später traf Doktor Kirschner ein. Er war ein vielbeschäftigter Arzt, den man überall gern sah. Seine Gewissenhaftigkeit sprach sich rasch herum, und oft machte es ihm große Mühe, allen Patienten gerecht zu werden.
Trotzdem nahm sich Doktor Kirschner noch immer Zeit, einige Stunden im Kreise seiner Familie zu verbringen. Für ihn gab es kein größeres Glück, als am Tisch zu sitzen und heimlich Frau und Kinder zu beobachten. Überall spürte er Goldköpfchens liebevolles Wirken, und wenn er auch nach wie vor seiner verstorbenen Gattin treuestes Erinnern bewahrte, so erkannte er doch, daß Goldköpfchens erzieherische Talente weit über das hinausgingen, was einstmals seine Frau geleistet hatte.
Er verehrte seine zweite Frau geradezu. Keinen Augenblick vergaß er, daß sie ihm mit dieser Ehe das größte Opfer ihres Lebens gebracht hatte. Niemals murrte sie, immer war sie von gleichbleibender Freundlichkeit, immer zeigte sie den Kindern ihre nie ermüdende Mutterliebe. Trotzdem gab es Stunden für Goldköpfchen, in denen sie sich anklagte, etwas nicht richtig gemacht zu haben. Eines der Kinder wäre ein wenig vernachlässigt, das andere sei nicht richtig behandelt worden. Dann überkamen sie Zweifel, ob sie der schweren Aufgabe, die sie übernommen, auch gewachsen sei.
Ganz im geheimen verglich sie oftmals ihre drei Kinder mit den fünf des zweiten Gatten. Schon jetzt machte sich der Unterschied in den Charakteren bemerkbar. Ihr Ältester, Hermann, glich stark ihrem verstorbenen Gatten Harald. Alles an ihm war Güte und eifriges Streben. Der Knabe besaß scharfe Beobachtungsgabe und ein selten reiches Innenleben. Jürgen, der zweite, war ein wildes, aber harmloses Kind, das gern nachgab und auch an Raufereien wenig Freude fand. Trotzdem bewies er Wagemut und Energie. Erna, die zu Ostern in die Schule gekommen war, wurde schon jetzt das Hausmütterchen genannt. Sie konnte still neben der Mutter sitzen und für die Puppe nähen. Sie räumte mit Ida in den Zimmern auf, wenn sie Zeit dazu hatte, und mahnte die größeren Brüder an ihre Pflichten. Oft wurde Jürgen daran erinnert, daß er den Kanarienvogel füttern solle und der Hund frisches Wasser haben müsse. Jedesmal fragte sie, ob die Butterbrote in den Mappen wären, und wenn auf dem Tisch einmal das Salz fehlte, lief sie unaufgefordert hinaus, es zu holen. Sie war die einzige, die von Stefan uneingeschränkte Anerkennung erhielt.
»Ich weiß schon heute, du wirst einmal eine gute Hausfrau und eine prächtige Mutter werden. Die anderen Mädchen sind dazu zu dämlich!«
Zu diesen dreien gesellten sich nun die fünf Kinder, denen sie durch die Heirat mit Doktor Kirschner Mutter geworden war.
Besonders der älteste Kirschnersche Knabe, Stefan, der mit ihrem Jürgen in die gleiche Schulklasse ging, verursachte Goldköpfchen manche schwere Stunde. Der Knabe war stark verwildert und hatte sich durch Jahre Freunde ausgesucht, die auf ihn keinen guten Einfluß hatten. Der Vater hatte den Knaben mit unnachsichtlicher Strenge behandelt. Das war vielleicht verkehrt gewesen. Es schien Goldköpfchen mitunter, als erreiche sie mit Liebe und Nachsicht mehr, doch ertappte sie Stefan häufig auf einer Unwahrheit. Er war auch verschlagen und hinterlistig. Dennoch hoffte Goldköpfchen, daß es ihr gelingen werde, den schlimmen Samen aus dem Herzen Stefans zu reißen.
Ferner der eigensinnige Fritz. Aber durch Liebe ließ er sich leichter leiten. Mit der sechsjährigen Marlene ging es gut. Sie war ein aufgewecktes und gutherziges Mädchen, bescheiden und zurückhaltend. Dagegen zeigte sich bei Adele, der Dreijährigen, ein ausgesprochenes Geltungsbedürfnis. Das auffallend schöne Kind ließ sich gern bewundern. Adele liebte es, von den Großen beachtet zu werden, und merkte sich die Schmeicheleien, die man ihr sagte, genau. Die kleine einjährige Ulla konnte sich Goldköpfchen von vornherein nach ihrer Erziehungsmethode formen.
Und nun saß die große Kinderschar um den Eßtisch. Wie trefflich mundete allen das Mahl, nur Stefan stocherte wieder im Essen herum und sagte: es könne doch bald mal wieder Braten geben, er habe seit hundert Jahren keinen gegessen.
»Mutti, – darf ich dir jetzt erzählen, was ich vom Muttertag geschrieben habe?« fragte Jürgen.
»Wenn du mit dem Essen fertig bist«, sagte der Vater, »darfst du es erzählen. Ich kann mir denken, daß du viel Schönes über die Mutti geschrieben hast. Und am Sonntag, wenn wir hier den Muttertag feiern, dann –« Weiter kam Doktor Kirschner nicht.
Lärmender Jubel brach los. Stefan schlug mit der Gabel auf den Teller und schrie: »Fein, – Muttertag, – fein, Muttertag, – fein – fein – fein!«
»Ich schenke dir was, Muttilein!« rief Fritz. »Was willst du haben? – Vater, wir kaufen was Schönes für die Mutti!«
»Ich schenke dir auch was!«
»Ich auch!«
»Ich auch!«
»Biste auch eine Mutter?« wandte sich Marlene an die neben ihr sitzende Frau Leuschner.
Stefan lachte brüllend los. »Blödsinn! – Das ist doch unsere Kinderfrau!«
Doktor Kirschner mußte energisch werden, damit sich der Lärm wieder legte. Doch nun steckten die Kinder die Köpfe zusammen, und aus dem Flüstern hörte Goldköpfchen beglückt immer wieder die eine Frage heraus: Was schenke ich ihr, damit sie sich freut?
»Bist du neidisch, wenn wir nur der Mutter was schenken?« fragte Stefan, »oder willst du auch 'nen Vatertag machen, Vater?«
»Ich bin gar nicht neidisch, Stefan. Eine Mutti verdient immer, daß man sie ganz besonders feiert, denn eine Mutti ist das Beste, was Kinder auf der Erde haben können.«
»Wir haben schon zwei Muttis gehabt«, rief Stefan, »ihr habt nur eine Mutti!«
»Oh –« sagte Jürgen überlegen, »wir haben schon, als wir noch ganz klein waren, unsere Goldköpfchenmutti gehabt. Ihr habt sie erst später bekommen.«
Auch diese Unterhaltung mußte von Doktor Kirschner abgebrochen werden, denn es hatte mehrmals Schlägereien gegeben, wenn Jürgen sagte, daß die eine Mutti so gut wie zwei Muttis sei und die Goldköpfchenkinder in Heidenau immer bekannt gewesen wären. Goldköpfchen werde überhaupt in der ganzen Welt gekannt.
Hätte Frau Bärbel nicht immer mit Klugheit und Liebe den Streit zu schlichten verstanden, hätte es manchen blauen Fleck gegeben. Sie hoffte überhaupt, allmählich die Unterscheidung zwischen Goldköpfchenkindern und Doktorkindern aus der Welt zu schaffen.
Heute war es nach dem Essen merkwürdig still. Goldköpfchen, das in der Küche alles fortstellte, wurde ein wenig unruhig. Das Schweigen im Hause bedrückte sie. So beeilte sie sich mit der Arbeit und ging dann hinüber in das große Kinderzimmer. Dort bot sich ihr ein überraschendes Bild. In der Mitte des Zimmers saß auf einem kleinen Schemel Frau Leuschner, um sie herum lagen, lang ausgestreckt, die Ellenbogen auf die Erde gestützt, Hermann, Jürgen, Erna, Stefan, Fritz, Marlene und Adele. Frau Leuschner sprach gerade. Goldköpfchen lauschte, sie wollte nicht, daß sie gesehen werde.
»Eine Girlande könnt ihr winden, denn eine so gute Mutti verdient das.«
»Ich –« fing Stefan an zu schreien, aber Hermann machte ihm sogleich ein Zeichen, und er verstummte sofort.
»Sie darf doch nichts hören. – Wer Lärm macht, wird aus unserem Verein ausgeschlossen«, mahnte Hermann.
»Was machen wir noch?« fragte Jürgen im Flüstertone Frau Leuschner.
»Ich schenke ihr meinen Teddy«, sagte Adele.
»Wir spielen Theater«, meinte Jürgen. »Einer von uns ist eine Mutter, dann nehmen wir die Puppen der Mädel, die sind alle krank, und sie geht herum und verbindet sie.«
»Wir machen ein Gedicht!«
»Wir singen ein Lied!«
»Wir geben ihr viele dolle Küsse!«
So flüsterte es durcheinander. Da war nicht einer, der nicht mit ganzem Herzen dabei war, wenn es galt, der Mutti eine Freude zu machen.
»Wir brauchen Geld«, sagte Jürgen. »Der Vater muß uns Geld geben. Ich will mal fix zu ihm laufen.«
»Nun ja, ein bißchen Geld müßten wir freilich haben«, sagte Hermann. »Aber viel wird er uns nicht geben können, denn wir acht kosten viel Geld, und er muß es allein verdienen.«
»Ach, er hat schon Geld. Ich laufe gleich zu ihm.«
»Ich auch, – ich bin die Lieblichkeit!«
In der nächsten Minute setzte sich ein Zug von sieben Kindern in Bewegung, um Doktor Kirschner, der sich ein wenig niedergelegt hatte, aufzusuchen. Vor der Tür seines Zimmers entstand wieder ein wenig Unfrieden, denn Stefan wollte der erste sein, weil er meinte, der erste bekomme am meisten.
»Ihr kleinen Mädchen braucht nicht mitzugehen. Mutti freut sich, wenn ihr am Muttertage artig seid. Kleine Mädchen können wir nicht brauchen. Nur Erna kann mitkommen.«
»Du bist ein dummer Junge, Stefan«, sagte Marlene, »bist immer der Unart. Du brauchst am Muttertage gar nicht mitzumachen, – du bist zu frech!«
Stefan stieß Marlene energisch gegen die Zimmertür. Da schlug das kleine Mädchen mit beiden Fäusten auf den Bruder ein und traf dabei auch Jürgen.
»Du, was fällt dir ein, ich habe dir doch nichts getan!«
Als Doktor Kirschner, der den Streit der Kinder hörte, die Tür öffnete, fiel ein Haufen von vier Kindern über die Schwelle, der sich langsam entwirrte.
Stefan war der erste, der dem Vater sein Anliegen vorbrachte. »Du meinst, weil die Mutti mit dir die größte Mühe hat, mein Junge, deswegen mußt du ihr das meiste schenken? Es ist wohl richtiger, wenn wir gemeinsam überlegen, wie wir der Mutti den Tag recht nett gestalten. Hermann wird sicher schon einen Vorschlag machen können.«
Nun ging der Lärm erneut los, bis der Vater energisch Schweigen gebot. »Still! – Die Mutti darf nichts wissen, wir wollen sie doch überraschen. Wer nicht ganz ruhig ist, geht hinaus.«
Aus jedem Munde kam ein anderer Vorschlag. Die meisten waren unbrauchbar.
»Kaufe ihr ein neues Kleid«, sagte Stefan, »Frauen wollen immer neue Kleider haben.«
»Du kennst die Bescheidenheit deiner Mutter, mein Junge«, sagte der Vater mahnend. »Überlegt es euch bis heute abend, wie ihr euch den Tag denkt. Ein jeder soll der Mutti etwas Liebes erweisen. Heute abend kommt ihr wieder zu mir und sagt, was ihr euch ausgedacht habt.«
Schon eine halbe Stunde später saß Jürgen neben Goldköpfchen: »Wenn du ein kleiner Junge wärst und hättest eine Mutti, – was würdest du ihr zum Muttertag schenken?«
»Ich würde ihr versprechen, daß ich das ganze Jahr über ein lieber Junge sein werde, und dann würde ich mich bemühen, das Versprechen zu halten.«
»Würde das eine Mutter sehr freuen?«
»O ja!«
»Dann ist es fein! Da braucht der Vater kein Geld rauszurücken. Das ist billig!«
Kurze Zeit darauf kam Marlene.
»Mutti – du darfst nichts wissen. Am Sonntag ist Muttertag, – was schenkt man einer Mutti, die man furchtbar lieb hat?«
»Man bringt ihr ein paar Blümchen, nimmt sie um den Hals, sagt ihr, daß man ihr gut ist und gibt ihr einen Kuß.«
Marlene war damit auch zufrieden. Im Garten des Nachbars blühten gerade herrliche gelbe Tulpen, im Zaun war ein Loch, da konnte sie durchkriechen und die Tulpen holen.
Erna, die auch von Goldköpfchen erwartet wurde, kam nicht. Sie hatte sich den Ofenschirm aus dem Wohnzimmer geholt und saß nun im Kinderzimmer hinter dem Schirm. Mitunter rollte ein Knäuel hervor, das von Erna rasch wieder geholt wurde.
Es ging recht geheimnisvoll in den beiden nächsten Tagen zu. Hin und wieder machte eines der Kinder eine Andeutung.
»Es ist eine Freude, wenn man achte hat«, meinte Jürgen, »da kriegt eine Mutter am Muttertage achtmal geschenkt. Und vom Vater bekommst du auch was.«
»Mutti«, sagte Hermann, »hast du am Muttertag auch Zeit, um zum Vati zu gehen? Er wird gewiß an dich denken.«
»Gewiß, Hermann, gleich vormittags gehen wir zu ihm hinaus.«
»Wir müssen auch der anderen Mutti Blumen bringen. Wenn sie auch tot ist, denkt sie doch am Muttertag an ihre Kinder.«
»Auch das werden wir machen, Hermann. Wir schmücken den Hügel unserer lieben Frau Kirschner mit Blumen.« –
Am kommenden Sonntag, dem Tage, den man zum Muttertag ernannt hatte, ging es im Kirschnerschen Hause schon frühmorgens recht lebhaft zu. Erna war die erste gewesen, die zu Goldköpfchen ins Bett kam. Das kleine Mädchen, das sonst sehr gut schlief, war heute bereits vor sechs Uhr wach. Nun schmiegte es sich an die Mutter, um ihr liebe Worte zu sagen.
»Eine Mutti ist nur glücklich, wenn sie immerfort herumsausen kann. Sie freut sich, wenn sie für ihre Kinder schwitzen darf. Dann ist sie zufrieden. So eine Mutti habe ich auch. Oh, werde recht zufrieden und glücklich, liebe Mutti, ich habe dich ja so furchtbar lieb. Und weil du dir einmal in der Küche die Finger verbrannt hast, habe ich dir ein Tuch gestrickt, mit dem du die Töpfe anfassen kannst. – Mutti, nimm es gnädig an, denn ich liebe dich!«
Als Goldköpfchen später zum Frühstück kam, war ihr Stuhl mit einer Girlande bekränzt. Vor ihrem Platz lagen gelbe Tulpen. Marlene stand noch mit unsauberen Händen dabei, doch ihr Gesichtchen strahlte.
»Die habe ich alle für dich fortgenommen, keine einzige ist mehr da, und keiner hat mich gesehen.«
»Marlene, wo hast du die Tulpen hergeholt?«
»Weil ich dich so furchtbar lieb habe, habe ich sie von nebenan weggeholt, denn meine Mutti ist viel besser als die Mutti nebenan.«
Obwohl Goldköpfchen Marlene die Freude nicht nehmen wollte, mußte sie doch mit sanft mahnenden Worten die Kleine darauf aufmerksam machen, daß sie unrecht gehandelt habe, weil sie niemals fremdes Eigentum angreifen dürfe.
Marlene nahm die Vorwürfe mit verschmitztem Lächeln entgegen:
»Meine Mutti hat heute schöne Blumen, das macht mir Freude!«
Jürgen kam mit einem großen Bogen. Er hatte einen Aufsatz für seine Mutti niedergeschrieben. »Es ist mir doch zu wenig, wenn ich dir nur sage, daß ich brav bleiben will. Ich habe noch einen Brief an dich geschrieben, einen Brief an meine Mutti!«
Goldköpfchen las und verhielt das Lachen, aber Doktor Kirschner lief aus dem Zimmer und lachte sich draußen erst gründlich satt.
»Es ist ganz einerlei«, hatte Jürgen geschrieben, »ob eine Mutti ein Mensch oder ein Schwein ist. Sie hat immer ihre Kinder lieb, und darum ist es ein Glück, wenn du noch eine Mutter hast. Ich habe so eine alte Sau sitzen sehen, immer hat sie nach ihren Kindern geguckt. Genau so macht es meine goldene Mutti auch! Sie rennt, sie näht, sie stopft die Löcher, auch wenn sie ganz groß sind, sie haut uns nicht, und darum wollen wir sie immer liebhaben und in Ehren halten, damit es uns wohl gehe.«
Fritz hatte Bonbons gesammelt und holte sie in ziemlich unansehnlichem Zustand aus der Hosentasche. Adele brachte ihren Teddybär.
»Ich schenke ihn dir, Mutti. – Aber er weint, wenn er von seiner Mutti weg muß. – Schenkst du ihn mir wieder, wenn er weint?«
»Jawohl, mein liebes Mädchen.«
»Hörst du, Mutti«, sagte sie geheimnisvoll, »er weint schon.« So legte Goldköpfchen das Spielzeug dem beglückten Mädchen wieder in den Arm, bedankte sich aber trotzdem mit herzlichen Worten für das Geschenk, das ihr viel Freude bereitet hatte.
Hermann kam mit seinem Geschenk zuletzt. Er wartete darauf, daß die Mutti einen Augenblick allein sei. Dann brachte er ihr das Bild des Vaters in einem selbst gesägten Rahmen.
»Damit er weiter um uns ist, liebe Mutti, und mir hilft, dir beizustehen, damit du es nicht so furchtbar schwer hast. – Ich weiß genau, wieviel Mühe du mit uns hast. Aber immer und immer, wenn ich einmal ein Mann bin, werde ich daran denken, was du uns alles zuliebe tatest, wie du immer nur für uns lebtest. Ich glaube auch, Mutti, man kann nicht schlecht werden, wenn man so eine Mutti hat wie dich. Man mag dich nicht betrüben, man kann dich auch gar nicht betrüben, man würde darüber sterben müssen.«
Und Goldköpfchen war es, als spräche ihr Häschen, ihr Harald, mit ihr. Stumm legte sie den Kopf auf die Schulter ihres Ältesten.
Daß draußen auf dem Kirchhof auch eine Mutter lag, die heute von Goldköpfchen bedacht werden mußte, war selbstverständlich. Bereitwilligst gingen die Kinder mit. Viele Blumen wurden auf den Hügel gelegt.
Gegen Mittag kam der Nachbar. »Mein Mädchen sagte mir, daß Ihre Kleine die Tulpen abgebrochen hat.«
»Ich wäre heute noch zu Ihnen gekommen, Herr Gerber, um mein Kind zu entschuldigen. Wie soll ich den Schaden gutmachen?«
»Schicken Sie mir die kleine Sünderin einmal her.«
Marlene wurde gerufen. Sie lächelte Herrn Gerber freundlich an. »Ich habe meiner lieben Mutti Blumen schenken wollen, denn heute ist doch Muttertag. Im nächsten Jahre blühen deine Tulpen wieder. Du hast doch noch so viele andere Blumen.«
»Darfst du fremdes Eigentum fortnehmen?«
Marlene legte den Arm um Goldköpfchen, denn bei ihr fühlte sie sich sicher. »Weil ich doch eine so schöne Mutti habe – – weil deine Blumen die allerschönsten sind, und weil heute Muttertag ist.«
Der gutherzige Nachbar war entwaffnet. Blumen, die für Frau Goldköpfchen bestimmt waren, hatten ihren Zweck vollauf erfüllt. Diese tapfere Frau, diese prächtige Mutter sollte keinen neuen Ärger haben.
»Aber das nächstemal fragst du mich, kleine Unart«, sagte er beim Fortgehen. »Man kommt nicht in den Nachbargarten und maust die Blumen, denn daran hat eine Mutti keine Freude.«
Der Muttertag war für Goldköpfchen recht anstrengend, denn alle Kinder behaupteten, an diesem Tage müsse sich eine Mutter ganz besonders ihrer Kinder annehmen. Doktor Kirschner bemühte sich vergeblich, seine Frau zu entlasten, aber Jürgen erklärte altklug, er käme am Vatertag an die Reihe. Heute müsse man sich nur mit der Mutti beschäftigen, um ihr zu zeigen, wie lieb man sie habe. So hatte Goldköpfchen keine Minute für sich Zeit. Immerfort verlangte eines der Kinder, es wolle etwas von der Mutti hören, wollte wissen, ob es auch schlechte Mütter gäbe, ob irgendwo Kinder vorhanden wären, die ihrer Mutter am Muttertag keine Freude bereiteten, und ob die Neger in Afrika auch einen Muttertag hätten. Kurzum, Hunderte von Fragen hagelten auf Frau Goldköpfchen nieder. Erna behauptete: ein Muttertag sei etwas so Schönes, daß auch sie einmal Mutter werden wolle. Bei ihr müßten auch acht Kinder sein, denn es mache Spaß, an einem großen Tisch zu sitzen.
Doktor Kirschner bedauerte seine Frau aus ganzem Herzen. Vergeblich versuchte er Goldköpfchen eine Stunde für sich zu haben, die Kinder erklärten ihm übereinstimmend: am Muttertage gehöre die Mutter ihren Kindern. Und auch Goldköpfchen fühlte sich beglückt über die große Liebe, über alle die Zärtlichkeiten, die ihr von Kindern und Stiefkindern gleichmäßig entgegengebracht wurden.
»Ätsch«, meinte Stefan am Abend, »der Gottlieb Hilse hat doch nicht recht, wenn er sagt, eine Stiefmutter ist immer eine böse Frau. Ich habe auch eine Stiefmutter –«
»Nein, wir haben keine Stiefmutter«, rief Fritz, »wir haben eine gute Mutti!«
»Eine Stiefmutter ist sie doch, aber eine gute Stiefmutter«, beharrte Stefan.
Da kam Fritz wie ein Pfeil ins Bett des Bruders geschossen, zog ihm die Decke fort und verprügelte den Bruder. So endete der Muttertag damit, daß Goldköpfchen die beiden Knaben, deren Geschrei bis ins Wohnzimmer drang, trennen mußte.
»Wieviel habe ich dir zu danken«, sagte zu später Abendstunde Doktor Kirschner zu seiner Frau. »Wieviel Sonnenschein hast du in dem letzten halben Jahr in mein verödetes Haus getragen. Wenn aus meinen fünf ordentliche Menschen werden, habe ich es dir allein zu danken.«
»Ich freue mich meiner Pflichten, Ewald und hoffe, daß ich sie auch weiterhin treu erfüllen kann.«