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Hermann Wendelin hatte von den Großeltern einen neuen Rodelschlitten erhalten. Das war für ihn natürlich eine unbeschreibliche Freude. Viel weniger Spaß machte es ihm hingegen, daß er jedesmal, wenn er sich draußen zeigte, angehalten und befragt wurde.
»Junge, Junge, du hast Herrn Hampel und seine Tochter vom Ertrinken errettet?«
Hermann gab schon keine Antworten mehr. Er wollte zum Rodeln gehen und wurde von fremden Leuten aufgehalten.
»Bist du nicht der kleine Wendelin, der am Silvesterabend zwei Menschen vom Ertrinken errettet hat?«
»Quatsch!« Das war alles, was Hermann auf die freundliche Frage erwiderte; weg war er.
»Seht mal, da kommt der kleine Wendelin – –«
Hastig bog Hermann mit seinem Schlitten in eine Nebenstraße; und als er merkte, daß ihm die Leute nachsahen, machte er sich einige Schneebälle und schleuderte sie ärgerlich seinen Bewunderern zu.
Für ihn war die Tat längst erledigt. Freilich, die Freunde sprachen auch davon, er aber stopfte verärgert dem einen eine Hand voll Schnee in den Mund. Es gab doch viel Wichtigeres zu erzählen. Er bekam eine Indianerausrüstung, eine, die eines Häuptlings wert war. Nun fragte es sich, ob er der Häuptling der Sioux, der Schwarzfußindianer, der Apachen oder der Wahehe werden sollte. Ein Zank entstand unter den Knaben, denn der Schwarzfuß-Häuptling war in festen Händen.
Auch das Gelände, in dem die Kämpfe zwischen den feindlichen Stämmen ausgefochten wurden, wurde erforscht, ein Wigwam mußte errichtet werden. Kurzum, es gab ungezählte wichtige Dinge zu besprechen.
»Wir bekämpfen euch bis aufs Blut, bis der letzte Mann in den Sand gesunken ist.«
»Und wir rauben die weiße Blume der Prärie. Die muß die Erna sein.«
»Und ich heirate sie!« schrie ein anderer. »Sie wird die Gemahlin des Schwarzfuß-Indianerhäuptlings.«
Als Hermann an diesem Tage heimkam, empfing ihn die Mutter mit lächelndem Gesicht.
»Du sollst morgen vormittag um zehn Uhr aufs Rathaus kommen, mein Junge.«
Da sank ein Knabenkopf tief auf die Brust.
»Freust du dich nicht, Hermann?«
»Zu wem soll ich denn kommen?«
»Zum Herrn Bürgermeister.«
»Mutti!« Hermanns Hände krallten sich in den Rock der Mutter.
»Du kannst ohne Sorgen hingehen, mein Junge. Der Bürgermeister wird dir etwas sehr Liebes sagen.«
»Nee, – du weißt ja nicht – –«
»Was denn, Hermann?«
»Ach, schlimm ist es ja nicht, aber – –«
»Was hast du wieder auf dem Herzen, mein lieber Junge? Mir kannst du es doch sagen.«
»Er hat doch immer so 'nen Hut, oben so eingedrückt, wie ein Loch sieht es aus. Und jeden Tag kommt er zur gleichen Stunde an Hugos Haus vorüber und – – und – –«
»Was ist denn los?«
»Und – – da haben wir ihm eben – – wir haben immer aufgepaßt, wenn er vorbeikam, und – – auf den Balkon haben wir ein Brett gestellt und – und 'ne Schippe, – und – dann haben wir kleine Schneekullerchen gemacht, und – wenn er kam, dann haben wir versucht, wer am besten einen Schneeball in das Hutloch schmeißen kann.«
»Aber, Junge!«
»Und gestern, da habe ich so 'nen großen Schneeball gemacht. – Weißt du, Mutti, der Schnee klumpt sich jetzt so schön, – aber ich habe nicht gut getroffen, er sollte doch in das Hutloch fallen, und bums, gerade auf seiner Nase ist der Schneeball zerplatzt. Da ist ihm die Brille von der Nase gefallen. – Wir wollten uns schnell verstecken, aber wir konnten uns nicht halten. Ich habe so gelacht, und dann ist auch noch das Brett 'runtergefallen. Da hat er uns gesehen. – Mutti, ich gehe nicht zum Bürgermeister.«
»Siehst du, Hermann, das kommt davon. Man bewirft Leute, die vorübergehen, nicht mit Schnee. – Trotzdem mußt du zum Bürgermeister.«
»Nein, Mutti, geh du lieber hin.«
»Ich will dich begleiten, Hermann. Doch mit unserem Herrn Bürgermeister mußt du allein sprechen.«
Ein leidenschaftlicher Stoßseufzer kam aus Hermanns Brust. »Warum haben wir keine Schule, dann könnte ich nicht gehen!«
Der Knabe verbrachte den Nachmittag in ziemlicher Unruhe, obwohl die Mutter mehrmals andeutete, daß der Bürgermeister wahrscheinlich wegen etwas ganz anderem mit Hermann sprechen wollte.
Der Knabe schüttelte ungläubig den Kopf.
»Es war doch ein ganz großer Schneeball, und ganz fest habe ich ihn gedrückt. – Kann mir schon denken, was er will.«
Das schlechte Gewissen des Knaben nahm ihm für heute die Ruhe. Er hatte keine Lust zum Spielen. Immer wieder lief er durch den Korridor, hinüber ins Atelier der Mutter, immer wieder hatte er das Verlangen nach tröstenden Worten.
Und gerade jetzt, als er sich wieder auf dem Flur befand, hörte er, daß jemand die Treppe herauf kam. Neugierig schaute der Knabe durch das kleine Guckloch.
Sein Herz pochte stürmisch. Der Mann, der eben den Fuß aus die letzte Treppenstufe setzte, war sein Feind: Herr Hampel.
Alle Schandtaten fielen ihm sofort wieder ein. Hampel hatte gedroht, er werde Hermann noch eine ganz andere Strafe zudiktieren als die Ohrfeigen, die er erhalten hatte. Und dann – – er hatte Herrn Hampel, als er ihn in Sicherheit hatte, auf dem Eise mehrfach Wasser ins Gesicht gespritzt, er hatte ihn auch, als er ihn festhielt, tüchtig gezwickt. Sehr liebe Worte hatte er für Herrn Hampel auch nicht gehabt, als er am Ufer war. Das alles fiel ihm jetzt schwer aufs Herz. Nun kam der Mann und würde der Mutti davon erzählen, daß ihn Hermann mit Schimpfnamen belegt hatte.
Er riß das Taschentuch hervor. Weiß war es schon lange nicht mehr. Was tat das! Hastig umwickelte er die Glocke. Nun konnte der Klöppel nicht gegen das Metall schlagen. Um ganz sicher zu gehen, legte er noch die Hände darauf.
Herr Hampel zog die Glocke. Nur ein leises Geräusch war vernehmbar. Sorgenvoll schaute Hermann nach der Ateliertür. Wenn die Mutti oder Frau Leuschner kam, war der Plan vereitelt. Wie sein Herz hämmerte!
Draußen stand sein Feind und wartete. Noch einmal wurde die Klingel gezogen, und wieder vergingen bange Minuten. Zum dritten Male. Atemlos wartete Hermann; dann hörte er, daß Herr Hampel langsam die Treppe hinabstieg.
Diese Gefahr war also glücklich abgewendet. Aber vielleicht kam er morgen wieder. Ach, er entging dem Strafgericht doch nicht! Wenn er sich nur morgen vor dem Bürgermeister drücken könnte!
Aber der neue Tag kam, und als Hermann um halb zehn Uhr den Schlitten nahm und die Mutter fragte, ob er nicht wieder rodeln gehen dürfe, verneinte die Mutter.
»Wir müssen um zehn Uhr zum Bürgermeister.«
»Die Großmutter sagte, ich könne mir was wünschen. Sie soll mir – sie soll mir«, er schluckte tapfer, »den Indianeranzug nicht schicken. Ich wünsche mir, daß ich nicht zum Bürgermeister zu gehen brauche.«
»Und du willst ein tapferer Junge sein?«
»Ich will kein tapferer Junge sein, Mutti, aber ich will nicht zum Bürgermeister. – Mutti, der Schneeball war ja viel größer als mein Kopf.«
»Dann kannst du dich gleich für deine Ungezogenheit entschuldigen. Nun laß dir von Frau Leuschner die andere Jacke und die anderen Schuhe anziehen, dann gehen wir. Der Herr Bürgermeister darf nicht warten.«
Es gab kein Entweichen. Hermann mußte neben der Mutter zum Rathaus trotten.
»Mutti, ich schippe gewiß keinen Schnee mehr vom Balkon 'runter. Sage ihm das.«
Als man in der großen Vorhalle stand, wurde es Hermann recht bänglich ums Herz. Und als er gar hörte, daß der Bürgermeister bereit sei, Frau Wendelin zu empfangen, stand in den Knabenaugen helle Angst.
Aber – was war denn das? Der schlanke, weißhaarige Herr reichte Hermann sehr freundlich die Hand, sprach von dem schönen Rettungswerk im See, hatte nur freundliche Worte und nannte ihn einen tapferen und überlegten Knaben, den man für die Rettungsmedaille vorgeschlagen habe.
»Ein elfjähriger Knabe, der die Rettungsmedaille tragen wird! Mein Junge, das ist etwas ganz Besonderes, etwas ganz Großes.«
Hermann empfand das gar nicht als etwas Großes. Er hatte daheim schon zwei Medaillen liegen. Die eine hatte er auf dem letzten Jahrmarkt bekommen. Daß aber der Bürgermeister nicht zürnte, so gar nichts von dem Schneeball sagte, war immerhin eine Freude.
Endlich war es wieder an der Zeit, sich zu verabschieden.
»Hermann«, mahnte die Mutter leise, »wolltest du nicht noch etwas sagen?«
Der Knabe verzog den Mund, dann schaute er selbstbewußt auf den Bürgermeister.
»Ich denke, ich konnte mir mal einen Spaß erlauben, wenn ich doch so tapfer gewesen bin. – Es sollte nur auf den Hut gehen, nicht auf die Nase. – Bitte, entschuldigen Sie, Herr Bürgermeister.«
»Aber, Hermann«, rief Frau Wendelin.
»Ach, richtig, du warst gestern einer der Schlingel! Warte nur, ein anderes mal bin ich nicht so nachsichtig!«
»Dann ist also die Angelegenheit erledigt.« Hermann atmete sichtlich erleichtert auf.
Noch ein kräftiges Händeschütteln; dann waren Mutter und Sohn entlassen. Draußen aber warf sich Hermann stolz in die Brust:
»Mutti, habe ich mich eigentlich gefürchtet?«
»Du hattest ein sehr schlechtes Gewissen, Hermann. Und wenn man ein schlechtes Gewissen hat, vermutet man leicht etwas Falsches.«
Hermann dachte an die Klingel und an Herrn Hampel. Nein, Hampel war nicht in guter Absicht zur Mutti gekommen. Er hatte eine Wut im Leibe gegen das Atelier Goldköpfchen. Der Hampel wollte der Mutti gewiß nur ein Leid zufügen. Wenn er nur wissen könnte, wann der Hampel wiederkäme. Er würde bestimmt die Klingel wieder festhalten.
»Die Rettungsmedaille«, sagte Bärbel stolz. »Hast du es gehört, Hermann?«
»Fein, Mutti. Wenn ich dann Indianerhäuptling bin, hänge ich sie mir an einem roten Bande um den Hals. Der Hugo hat keine solche, dann müssen sie mir untertan sein. Das ist mein Häuptlingsabzeichen.«
Seit Monaten war es das erste Lachen, das von Bärbels Lippen klang. Sie drückte ihren Ältesten herzlich an sich. Was würde der Bürgermeister sagen, wenn er Hermanns Absichten gehört hätte? – –
Die Ferientage vergingen. Der erste Schultag lag hinter den Knaben.
»Nun habe ich das alles aber satt!« Mit diesen Worten schleuderte Hermann den Bücherranzen mitten ins Zimmer, daß er bis zu den Füßen Frau Leuschners rutschte.
»Hermann«, – mahnte die gute Alte.
»Sie sollen mich in Ruhe lassen!« Der Knabe begann zu weinen. »Alle glotzen mich an, und immerzu muß ich es erzählen. Und der Direktor ist gekommen.«
»Ist denn das nicht schön, Hermann?«
»Dann soll man immer ein Mann sein, und als ich den Fritz kräftig in die Seite gepufft habe, sagten sie, das macht einer nicht, der zwei Menschen das Leben rettet. Wenn der Hugo den Dietrich pufft, schadet das nichts; mich haben sie aber gleich ausgezankt, weil ich durchaus schon ein Mann sein soll. – Ich will aber noch lange kein Mann sein!«
Das verärgerte Weinen des Knaben rief die Mutter herein.
»Ich will sein wie alle anderen Jungens, nicht einer, den man immerzu anglotzt!«
»Hermann, Hermann, was ist denn wieder los?«
Mit zorniger Stimme berichtete er von der Ehrung, die ihm heute durch den Direktor des Gymnasiums zuteil geworden war.
»Und was hast du gesagt?«
»Daß ich das nächste Mal den anderen ertrinken lasse, wenn sie mich nicht endlich in Ruhe lassen.«
Obwohl sich Bärbel bemühte, dem Knaben klar zu machen, daß es seinen Lehrern ein Herzensbedürfnis wäre, ihn für seine gute Tat zu loben, versicherte Hermann immer wieder: »Ich will von all dem nun aber nichts mehr hören. Wenn lieber mein Indianeranzug käme!«
Der Besuch Hampels schwebte über ihm wie ein Gespenst. Heute, in der Schule hatte einer gesagt, er habe gehört, daß der Hampel ins Atelier Goldköpfchen gehen wollte. – So war das Herz Hermanns wieder voller Sorgen.
»Otto«, hatte er gefragt, »du warst doch auch am Teich. Was habe ich denn zu Hampel gesagt?«
»Na, du hast schön geschimpft.«
»Hm«, meinte Hermann sorgenvoll, »habe ich toll geschimpft?«
»Noch toller als der Schuster Ritter.«
»Noch toller?«
»Ja.«
»Au weh, – dann ist es schlimm!«
Sehr zaghaft kam er am Mittag aus der Schule heim. Sein erster Weg war zu Frau Leuschner, die er befragte, ob Herr Hampel hiergewesen sei.
»Nein, Hermann. Warum fragst du?«
»Ungewißheit ist etwas Quälendes, hat heute der Lehrer gesagt. Und der hat recht.«
»Was willst du denn von Herrn Hampel? Hast du vielleicht wieder neue Dummheiten gemacht?«
»Nein, heute nicht. Aber neulich, da habe ich ihn ausgeschimpft. Nun wird er zur Mutti kommen und petzen.«
Die gute Frau Leuschner erschrak. Sie wußte, daß Herr Hampel ihrer geliebten Frau Wendelin nicht freundlich gesinnt war. Erst als sie von Hermann Genaueres hörte, war sie ein wenig beruhigt.
»Da siehst du, Hermann, wohin es führt, wenn man so häßliche Ausdrücke gebraucht wie du. In der Erregung stößt man sie dann ungewollt aus. Du mußt dich in Zukunft mehr mäßigen.«
»Ungewollt? – Ich habe es wohl gewollt!«
»Und nun hast du Sorgen.«
»Ha, ja, –« sagte Hermann seufzend, »nun habe ich Sorgen. – Hauen, das kann er! – –«
Es war abends, kurz vor sieben Uhr, als Frau Leuschner nach Jürgen rief.
»Lauf mal schnell hinunter zum Kaufmann, hier ist Geld, bringe uns ein halbes Pfund Butter herauf. Die Mutti wird gleich von ihrem Ausgang zurück sein. Beeile dich, Jürgen, und verliere das Geld nicht. Hermann hat noch mit Schularbeiten zu tun, so mußt du uns helfen.«
»Wird gemacht!«
Jürgen nahm das Geld, stürmte die Treppe hinab und wollte soeben über die Straße eilen, als seine Aufmerksamkeit durch ein Auto gefesselt wurde, das ziemlich nahe am Hause hielt.
Zwei Männer standen vor dem Wagen und unterhielten sich lebhaft.
»Au fein, 'ne Panne«, sagte Jürgen und stellte sich daneben.
Mit altklugem Ausdruck betrachtete er die Räder.
»Vielleicht der Zylinder entzwei«, sagte er und wandte sich an den Herrn im Pelz.
»Oh, boy, wo kann man hier bekommen eine Aufnahme?«
»Eine Aufnahme?« rief Jürgen hastig. »Hier oben im Atelier.«
»In Hotelier, – hier Hotelier?«
»Jawohl, die Mutti hat ein Atelier, Mutti macht sehr gute Aufnahmen.«
Der Herr sprach in unverständlichen Worten irgend etwas in den Wagen hinein. Der kleine Jürgen drängte sich näher heran und bemerkte, daß im Wagen noch eine Dame saß.
Die Mutti hatte kürzlich gesagt, daß sie wenig zu tun habe. Es wäre herrlich, wenn sie für diese Leute eine Aufnahme machen könnte! Jürgen neigte sich in den Wagen hinein.
»Kommen Sie nur mit mir hinauf. Sie werden sich freuen. Da hat ein ganz berühmter Mann, von dem die Zeitungen schreiben, auch Aufnahmen machen lassen. Ein ganzes Zimmer voller Blumen, – fein!«
Die Dame sagte nichts; doch der Herr im Pelz fragte: »Zimmer groß und schön?«
»Ein riesiges Zimmer und alles voller Blumen. Kommen Sie nur mit!«
Wieder sprachen der Herr und die Dame in unverständlichen Lauten miteinander. Jürgen schaute erstaunt von einem zum anderen.
»Kommen Sie nur!« unterbrach er den Redefluß.
Die Dame wollte den Wagen verlassen, doch ihr Fuß glitt von dem vereisten Trittbrett ab, und mit einem Schmerzenslaut fiel sie dem Herrn in die Arme.
»O, my foot!«
»Jawohl, die Mutti ist gerade fort, sie kommt aber gleich wieder. Kommen Sie nur mit.«
Der Herr stützte die Dame, dann sprach er mit dem anderen Manne in der Lederjacke; schließlich fragte der Herr aufs neue:
»Is this a boarding-house?«
»Was für ein Haus?«
»A boarding-house?«
Ob der Mann die Aufnahmen geborgt haben wollte, oder was meinte er? Nun, die Mutti würde ihn ja verstehen. Sicherlich war das Indianisch, wie es Hermann mit seinen Freunden immer sprach.
»Kommen Sie nur!«
Der Herr stützte die Dame. Im zweiten Stockwerk machte man halt.
»Oh«, begann der Herr erneut, »wie hoch?«
»Nicht hoch.«
Es ging bis ins dritte Stockwerk hinauf. Die Dame stöhnte des öfteren. Jürgen war vorausgeeilt und klingelte. Hermann öffnete.
»Es kommen zwei, die wollen sich photographieren lassen.«
»Au fein«, rief Hermann, »Mutti wird sich freuen.« Er lief zur Tür des Empfangszimmers, öffnete sie weit und stellte sich wartend daneben.
Der Herr und die Dame erschienen. Hermann machte vor ihnen eine tadellose Verbeugung. »Ich bitte sehr.«
Die Dame ließ sich leise stöhnend in einen der Sessel fallen. Der Herr sprach auf sie ein. Hermann zog die Stirn kraus. So hatte er es damals auch gemacht, als er mit Hugo und seinem Bruder ins Atelier Hampel ging.
Leise schlich er davon, hin zu Jürgen. »Du, das ist 'ne Gemeinheit, das hat der Hampel gemacht. – Wie du mir, so ich dir! Ich soll mir einbilden, es sei ein indischer Maharadscha! Na, so dumm!«
»Die beiden wollen eine Aufnahme.«
»Schwindel ist es. Na, die will ich kurieren.«
Beide Knaben kehrten ins Atelier zurück.
»Can I have a room?«
»Hatschi mutsch batschi.«
»Can I have a room?«
»O, my foot!«
»Pschi muschta hummla, Mutti. Affi, – Esli – –«
Der Herr und die Dame blickten sich erstaunt an.
»Eine Aufnahme in diese Haus, Auto defekt, von Dresden.«
»Ach Quatsch, sagen Sie es doch ehrlich. Herr Hampel schickt Sie her. Aber wir fallen nicht darauf herein. Sind Sie auch ein Sohn vom Maharadscha? – Latschi muschti Affi – Esli – –«
»Diese Dame – der Herr von diese Haus – –«
»Der bin ich«, sagte Hermann. »Was wollen Sie vom Herrn des Hauses? Zum Anführen sind wir nicht da.«
Ein neuer englischer Wortschwall von seiten der Dame ergoß sich über Hermann. Sie schien sehr erregt zu sein, verzog das schöne Gesicht mehrfach schmerzlich und zeigte nach ihrem Fuß.
Hermann wurde unsicher. Ungezogen durfte er gegen Kunden nicht sein. Jürgen hatte von einem Auto gesprochen, das vor dem Hause hielt. Vielleicht waren es doch Kunden, die aus einem fremden Lande gekommen waren. Der Herr Geheimrat mit den Blumenzimmern war, so hatte die Mutti erzählt, in Asien und Afrika gewesen. Vielleicht hatte der die beiden hergeschickt.
Hermann wurde plötzlich sehr höflich. »Oh, gnädige Frau, Sie werden gleich photographiert werden. Die Inhaberin des Ateliers ist nur einmal weggegangen, sie hatte einen wichtigen Gang vor. Aber trösten Sie sich, bitte, wollen Sie diese Bilder ansehen.«
»O, my foot!«
»Die Oma, die ist auch nicht im Hause. Aber die Besitzerin des Ateliers muß gleich zurückkommen. Bitte, nur noch etwas Geduld.«
»Wir wünschen ein Haus, um in der Nacht da zu sein. Auto defekt.«
»Ein Hotel?«
»Ja ja, ein Hotel.«
»Ach so«, sagte Hermann enttäuscht. »Dann gehen Sie nur wieder los. Das hier ist ein photographisches Atelier. – Bitte.«
Er ging zur Tür und öffnete sie weit.
»O no«, sagte die Dame, während ihr Tränen in die Augen traten, my foot!«
»Vielleicht sind Sie doch von Herrn Hampel geschickt«, meinte Hermann mißtrauisch. »Ein Hotel ist gleich in der Nähe des Bahnhofs. – Bitte.«
Abermals erfolgte eine Unterhaltung zwischen den beiden Fremden. Die Dame weinte leise. Jürgen verzog sich leise lachend, lief zu Frau Leuschner hinüber, um ihr zu erzählen, daß drüben im Empfangszimmer zwei Leute wären, die in einer urkomischen Sprache redeten.
»Ich habe es ja nicht klingeln hören. Ist die Mama schon wieder zurück?«
»Nee, der Hermann unterhält sich mit ihnen. Er spricht wie ein Indianer.«
Sehr schnell erhob sich Frau Leuschner und ging hinüber. »Gib dir nur keine Mühe, Frau Leuschner«, sagte Hermann, »die Leutchen werden das Zimmer bald wieder räumen, ich muß es ihnen nur erst klar machen.«
Fragend wandte sich die alte Kinderfrau an die Dame; und als sie von dort keinen Bescheid erhielt, an den Herrn.
»Hotel hier? Meine Frau schlimme Fuß. Kann nicht machen einen Schritt. Hotel für die Nacht?«
»Das hier ist kein Hotel, mein Herr.«
Noch ehe völlige Klärung der Sachlage herbeigeführt war, erschien Bärbel. Hermann eilte ihr entgegen.
»Mutti, ich glaube, da drin sitzt eine Gemeinheit von Hampel.«
Als Frau Wendelin erschien, klärte sich der Irrtum rasch auf. Aber nun war guter Rat teuer. Die Dame hatte sich beim Verlassen des Wagens eine schmerzhafte Sehnenzerrung zugezogen, die Schmerzen steigerten sich von Minute zu Minute, und es schien unmöglich, daß sie die Treppe hinuntergehen könnte.
Obwohl Goldköpfchen nicht gut englisch sprechen konnte, gelang es doch, sich zu verständigen. Hermann schaute voller Bewunderung auf seine Mutter, die sich auf Indianisch unterhalten konnte.
»Sie ist die weiße Blüte der Prärie«, flüsterte er dem Bruder zu.
»Quatsch, sie ist meine Mutti.«
Nun wurde beraten. Bärbel meinte, es sei das beste, die Unfallstation zu benachrichtigen und die Leidende mit der Bahre nach dem Hotel bringen zu lassen. Das Auto stand noch immer vor dem Hause, es war anscheinend nicht in Gang zu bringen. Aber die Dame, anscheinend sehr verzogen und eigenwillig, behauptete, jede Bewegung verursache ihr die größte Pein. Ob es nicht möglich sei, für eine Nacht hier unterzukommen.
Zunächst lehnte Goldköpfchen ab.
»Frau Wendelin, das Fremdenzimmer ist wieder in Ordnung«, meinte Frau Leuschner.
»Was sollen wir mit den fremden Leuten?«
»Ach, Frau Wendelin«, sagte die treue Alte, »Sie sind ja immer hilfsbereit, ich glaube, Sie würden den Leuten eine große Gefälligkeit erweisen.«
Zögernd bot Bärbel ihr Fremdenzimmer an. Es fehle diesem Raume allerdings jede Bequemlichkeit, die Herrschaften würden enttäuscht sein, aber sie wollte gern für eine Nacht helfen.
Der Fuß schwoll überraschend schnell an. Es war wohl das beste, wenn man Umschläge machte, damit die Schmerzen ein wenig nachließen.
»Wir werden nie vergessen. – Sehr viel Dank.«
Der Herr, der das Zimmer besah, schilderte es seiner Gattin in begeisterten Worten, dann wurde der Transport vorgenommen, bei dem Bärbel persönlich half. Auch hier zeigte sich wieder ihre Umsicht, ihre linde, weiche Hand.
»You are very kind!«
Hermann und Jürgen standen im Flur und flüsterten zusammen.
»Was wollen nur die fremden Leute hier?«
»Uns berauben«, erwiderte Jürgen.
»Ich lege mein Messer neben mich.«
Jürgen hatte Angst um die Mutti. Er hatte kürzlich ein Bild gesehen, da waren böse Menschen über eine Frau hergefallen. So beschlossen die beiden Kinder, die Mutti gut zu beschützen. Nur Erna freundete sich sehr schnell mit dem Herrn an. Obwohl sie ihn nicht verstand, fand sie, daß er ein sehr lieber Onkel sei.
Frau Wendelin bemühte sich um die Leidende. Man hatte die Dame zu Bett gebracht und nach dem Arzt geschickt.
»Es ist schon besser so, gnädige Frau. Man kann nicht wissen, ob es nicht etwas Schlimmeres ist.«
Der Arzt beruhigte die Amerikaner. Es war wirklich nur eine Sehnenzerrung, die vielleicht schon morgen behoben war.
»Ruhe ist jetzt die Hauptsache. Es ist gut, mein Herr, daß Sie gleich hierbleiben konnten. Nun hat der kranke Fuß Ruhe und verbleibt in derselben Lage. Er braucht nicht unnötig angestrengt zu werden.«
Bärbel brachte die Kinder zu Bett. Forschend schaute sie in ihre Augen. Irgend etwas war wieder nicht in Ordnung.
»Wollt ihr mich noch etwas fragen?«
»Nimm dich in acht vor den fremden Indianern!«
»Das sind gute Leute.«
»Na, na«, meinte Hermann. »In den großen Städten kann man niemals wissen, was da alles herumläuft. Und wer im Auto fährt, ist manchmal ein ganz gerissener Hochstapler.«
»Aber, Hermann, woher hast du denn solche Weisheiten?«
»Ich bin doch ein Mann, Mutti.«
»Dann schlafe recht gut, du lieber Mann.«
»Hab' nur keine Sorgen, Muttichen«, meinte Jürgen, als er ihr den Gutenachtkuß gab, »wir zwei beschützen dich.«
»Das weiß ich, mein liebes Bübchen. Und nun schlafe süß.« – –
Bärbel hatte sich aus dem Schlafzimmer entfernt, Frau Leuschner hatte nach einer Viertelstunde nochmals leise hineingesehen, ob auch alles in Ordnung sei. Die Knabenaugen waren geschlossen; aber weder Hermann noch Jürgen schliefen. Sie warteten nur darauf, daß Frau Leuschner wieder gegangen sei. Sie wußten, sie kam alltäglich noch einmal, um nachzusehen; doch dann hatte man Ruhe.
Nun war es ganz still und finster im Zimmer.
»Jürgen?«
»Ja!«
»Wollen wir nun gehen?«
»Ja.«
Unter der Bettdecke holte der kleine Jürgen seine Knallbüchse hervor, schaute nochmals nach, daß der Korken auch fest in der Röhre steckte, Hermann brachte die Säge aus dem Handwerkskasten.
»So, nun gehen wir.«
Barfüßig schlichen die Knaben ins Schlafzimmer der Mutter.
»Sie kommt in die Mitte, ich lege mich nach vorn, du, Kleiner, nach hinten. Dann kann ihr gar nichts zustoßen.«
»Och, ich liege ja ganz dicht an der Wand.«
»Wirst du liegen bleiben«, rief Hermann und gab dem Jüngeren einen Stoß, weil er zu sehr nach der Mitte gerutscht war.
»Ich schieße«, rief Jürgen.
»Still bist du!«
Wieder rückte er nach der Bettmitte, und aufs neue erhielt er einen Stoß von Hermann. Und da dieser Stoß etwas derb ausgefallen war, sprang Jürgen auf und versetzte dem Bruder einen Schlag. Vergessen war alle Vorsicht, das Lärmen der Kinder rief die Mutter herbei.
Die Kopfkissen lagen auf der Erde, an der Decke zerrten zwei erregte Knaben.
»Was soll das heißen, Kinder?«
Schon der strenge Ton beschwichtigte die erregten Gemüter.
»Wir beschützen dich vor den Indianern.«
Dann kam die Erklärung. Und schließlich trug Frau Bärbel zwei müde Kinder in ihre Betten zurück.
»Schlaft nur ganz ruhig ein, die Indianer kommen nicht. Das sind gar gute Leute.«
»Aber – aber –«, sagte Jürgen schon schlaftrunken, »die Schießpistole lege mal neben dich. Vor der laufen sie weg. – Morgen – –« seine Zunge wurde immer schwerer, »morgen – verhaue ich den Hermann.« –
»Dämlicher Bengel!«
Bärbel konnte keinen Verweis mehr erteilen. Der Schlummer senkte sich bereits auf die beiden Knaben nieder. Der brüderliche Zwist war beseitigt.