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Im Wendelinschen Hause ging es wieder einmal recht lebhaft zu. Frau Wagner weilte seit zwei Tagen als Gast im Hause der Tochter, und die drei Enkelkinder ließen der Ärmsten keine Ruhe. Der Besuch der Großmutter hatte einen ganz besonderen Grund. In wenigen Tagen feierte Harald seinen vierzigsten Geburtstag. Unter Anleitung der guten Großmama lernten die Kinder Geburtstagsverse und beendeten ihre Geschenke.
»Ich will ja das Gedicht aufsagen, Großmama«, meinte Hermann, »ich mache aber dem Vati noch eine ganz besondere Freude. Ich habe selber einen Glückwunsch gedichtet.«
»Bist du mit deinen elf Jahren schon unter die Dichter gegangen?«
»Soll ich dir mein Gedicht mal aufsagen?«
»Nein, Großmama, das ist eine Überraschung. Ich bin auch noch nicht ganz fertig mit dem Gedicht, ich dichte Tag und Nacht daran. Es wird sehr fein.«
»Großmama«, sagte die kleine Erna, »wenn Vati vierzig Jahre alt wird, ist er doch ein schrecklich alter Mann.«
»O nein, dein Vati ist noch ein junger Mann.«
»Ach nee«, lachte Jürgen. »Wenn man schon vierzigmal Weihnachten gefeiert hat, ist man ganz alt.«
Frau Wagner lachte nur dazu. Sie wußte, daß in den Augen der Kinder ein Mann von vierzig Jahren etwas sehr Altes war.
Wie freute sie sich an dem Glück ihrer Tochter! Auch ihre Ehe war eine sehr gute gewesen, aber das Verhältnis zwischen ihrem geliebten Goldköpfchen und Harald hatte noch immer so etwas Inniges und Zartes wie in der Brautzeit.
An einem herrlichen Frühlingstage feierte man im Hause des Oberingenieurs Wendelin den Geburtstag des Hausherrn. Alle drei Kinder waren schon zeitig wach, galt es doch, dem Vater um die Kaffeetasse einen Kranz von Vergißmeinnicht zu legen. Außerdem sollten vor dem Frühstück die Gedichte aufgesagt werden. Erna lief durch die Zimmer und plapperte laut und vernehmlich vor sich hin:
»Lieb' Vati, ich bin zwar noch klein,
Und weiß nicht viel zu sagen –«
»Nicht doch so laut, Erna«, sagte die Großmama. »Der Vati hört dein Gedicht, und du willst es ihm doch erst am Frühstückstisch sagen.«
»Großmama«, sagte Jürgen, »kannst du mein Gedicht? Ich bleib immerzu stecken. – Großmama, sage es mir doch schnell mal auf.«
Und die gute Großmama wiederholte mit dem Knaben immer wieder das Gedicht, wobei sie feststellte, daß der aufgeregte Knabe heute gar nichts mehr von dem Gelernten wußte.
Schließlich kam die Frühstücksstunde heran. Bärbel hatte sich ganz besonders nett gekleidet. Mit strahlenden Augen führte sie den Gatten an den festlich geschmückten Geburtstagstisch.
Dann kamen die Gedichte an die Reihe. Erna schrie ihre sechs Zeilen so laut, daß Anna in der Küche feststellen konnte, sie sei nicht steckengeblieben. Dann kam Jürgen an die Reihe. Er blieb dicht an der Seite der Großmama stehen.
»Geh hin, zu Vati«, ermahnte ihn die Mutter.
»Komm mit, Großmama«, sagte der Knabe mit ängstlichen Augen.
Harald merkte sofort, daß das Kind in seiner Aufregung steckenbleiben würde. Er nahm daher den sauber geschriebenen Wunschbogen zur Hand und fing selbst an, halbleise mitzulesen. Da strahlte Jürgen. Und nun ging das Gedicht auch glatt, er brauchte die Großmama nicht, weil er beständig auf Vatis Lippen starrte und von dort Hilfe und Beistand erhielt.
Als Letzter kam Hermann an die Reihe.
»Erst das olle aus dem Buche«, sagte er. »Aber dann kommt mein Extrageschenk.«
Hastig leierte er das Gedicht herunter; dann reckte er den schlanken Knabenkörper, rieb die Hände und begann:
»Du lieber Vati, du lieber Alter,
Ich bin der Hermann und nicht der Walter.
Ich bin ein glücklicher Junge, o ja,
Denn der Vati ist nämlich immer da.
Und weil du so 'n alter Mann heute bist,
Dein Hermann von heute ab immer sehr folgsam ist,
Damit dein Kopf keine weißen Haare kriegen tut,
Vati, dein Hermann ist dir sooooo gut!«
»Das war freilich ein feines Gedicht«, sagte der Vater, »das hast du selbst verfaßt?«
»Ja, in den Tagen und in den Nächten.«
»Fabelhaft. Meinst du wirklich, daß ich nun schon ein alter Mann bin? Sehe ich denn so aus?«
»Bist ein schöner, junger Mann«, piepste Erna. »Wenn ich erst groß bin, dann heirate ich dich.«
Leider mußte Harald auch an diesem Morgen zeitig nach der Fabrik gehen.
Kurz nachdem der Vater fortgegangen war, rüsteten sich auch die beiden Knaben für die Schule.
Dann war es still im Hause. Erna war in den Garten hinuntergelaufen und vergnügte sich mit dem Onkel Forstrat.
»Habt ihr eigentlich Nachricht von Martin, Mama?«
»Er schrieb nur ganz kurz, daß es ihm sehr schlecht ginge. Ach ja, mein Bärbel, es ist für eine Mutter unendlich schwer, zu wissen, daß eines der Kinder nicht recht gerät.«
»Ihr habt das Möglichste für Martin getan. Es ist für ihn vielleicht ganz gut, daß er drüben in Amerika versuchen muß, aus eigener Kraft weiterzukommen.«
»Wenn er nur nicht untergeht! Ich weiß, daß heute drüben in Amerika das Geld nicht auf der Straße liegt, daß es heute viel schwerer ist als früher, dort Arbeit zu finden. Der Gedanke, daß er vielleicht hungert, drückt mich recht nieder.«
»Da du ihn zu einem Verwandten gegeben hast, Mama, der, wie du erzähltest, ein außerordentlich fleißiger Mann ist, wird er gewiß nicht zugrunde gehen.«
»Vetter Rudolf ist ein harter Mann, Bärbel.«
»Er hat sich damals sofort bereit erklärt, Martin zu sich zu nehmen. Er wird sicherlich einen guten Einfluß auf ihn ausüben.«
»Das möchte ich hoffen.«
Mittags kamen die beiden Knaben aus der Schule.
Voller Ungeduld warteten die Kinder auf die Rückkehr des Vaters. Erna stand seit einer halben Stunde am Gartentor und spähte die Straße hinab. Man hatte zu einem kleinen Abendessen eingeladen, an dem außer dem Forstrat und seiner Frau auch Edith mit ihrem Gatten teilnahmen.
Das Freudengeheul der kleinen Erna verkündete, daß der Vati gekommen war. Jürgen ließ sich nicht sehen. Er stand in der Speisekammer bei der Großmama und roch an der Bowle.
»Wenn sie nur gut ist! Wollen wir nicht lieber erst mal kosten, Großmama?«
»Nun gut, so hole ein Gläschen.«
Jürgen stürmte in die Küche. »Anna, gib mir doch mal das große Weißbierglas!«
»Wozu brauchst du denn das?«
»Gib nur her, die Großmama braucht es!« –
»So, Großmama, hier ist ein Glas.« –
»Aber, Jürgen!«
»Wir wollen schon noch mal kosten. Tu mal was 'rein.«
Frau Wagner goß ein wenig in das große Glas; aber als es Jürgen zum Munde führen wollte, entfiel es seinen Händen und zerbrach.
Aber auch im Eßzimmer wäre fast zur gleichen Zeit ein Unglück geschehen. Erna war auf einen Stuhl gestiegen und damit umgefallen. Dabei hatte sie schutzsuchend nach dem Tisch gegriffen und einen der guten Teller vom Eßgeschirr auf den Boden geworfen. – Auch hier Scherben.
Harald tröstete sein verärgertes Frauchen.
»Scherben bringen Glück, Goldköpfchen. Das neue Lebensjahr steht im Zeichen von Scherben, es wird also recht glücklich sein.«
»Du bist doch sonst nicht abergläubisch, Häschen.«
»Bin ich auch nicht«, lachte er. »Was bleibt mir aber anders übrig, um mein grollendes Frauchen zu trösten?«
Am Abend dieser Geburtstagsfeier ging es auch nicht glatt. Hermann stellte fest, daß er sich zum trinkfesten Manne ausbilden müsse, wollte durchaus den Mundschenk machen.
Erna behauptete nach dem ersten Schluck, sie hätte sich einen Affen angeschafft und sei betrunken. Sie gab im Zimmer Vorstellung, begann zu torkeln und wurde von der Mutter ernsthaft zur Ordnung gerufen.
Hermann, dem das Verhalten Ernas imponierte, erklärte, er würde Theater vorspielen, und begann einen Betrunkenen so echt zu kopieren, daß der Forstrat hell auflachte, während Harald und Bärbel erstaunt die Köpfe schüttelten. Woher hatte der Junge diese Fähigkeiten, alles so täuschend nachzuahmen?
Erst als die drei Kinder zu Bett geschickt worden waren, konnten sich die Erwachsenen einander widmen.
Mit Ende der Woche wollte Frau Wagner wieder nach Dillstadt zurückkehren. Bärbel und Harald baten inständig, die Mutter möge die schönen Frühlingstage weiterhin in Heidenau verleben, man habe doch noch nichts von der Umgegend gesehen.
»Großmama, du mußt mal nach Lerchental, das ist sooo schön!«
»Was ist denn in Lerchental zu sehen?«
»Ganz hohe Bäume, wie sie nirgendswo auf der Welt wachsen, und viele Vögel singen dort. Dann ist dort auch ein großes Storchnest. Da kannst du richtige Störche sehen. – Großmama, hast du überhaupt schon mal einen Storch gesehen?«
»Ei freilich.«
»Aber so einen schönen Storch wie in Lerchental hast du noch nicht gesehen. – Mutti, können wir nicht mal nach Lerchental hinaus?«
»Da hast du einen guten Gedanken, Hermann«, sagte der Vater. »Wenn am kommenden Sonntag das Wetter schön ist, gehen wir mit der Großmama nach Lerchental.«
Hermann machte einen Luftsprung. »Au fein! Aber, Großmama, du bist doch schon ein so altes – eine so alte Frau, kannst du auch bis Lerchental laufen?«
»Wie weit ist es denn?«
»Bis man müde wird, dann sind wir da.«
»Also abgemacht«, erklärte der Vater. »Am Sonntag geht es hinaus nach Lerchental.«
»Aber am Montag fahre ich heim.«
So war es eine beschlossene Sache. Sehnsüchtig erwarteten die drei Kinder den Sonntag und schauten am frühen Morgen nach dem Wetter aus. Die Sonne schien hell, es stand dem Ausfluge nach Lerchental nichts im Wege.
»Es wird heute um zwölf gegessen, um ein Uhr marschieren wir ab. Es wird gewiß sehr schön werden.«
Es wurde auch sehr schön. Voller Entzücken betrachtete Bärbel die Obstbäume, die hier in Mengen in vollster Blüte standen. Die Landschaft, die von sanften Hügeln durchzogen wurde, zeigte eine geradezu verschwenderische Blütenpracht. So weit das Auge reichte, sah es den weißen Blütenschnee der Kirschbäume, unterbrochen von rosaroten Pfirsichbäumen. Zwischen den Hügeln hindurch schlängelte sich ein kleines Flüßchen, an dessen Ufern die Ausflugslokale lagen. Das Flüßchen endete in einen großen See, der in seiner Mitte eine Insel aufwies. Auf dieser Insel waren Schwäne angesiedelt, die in majestätischer Haltung auf der blaugrünen Wasserfläche ihre Kreise zogen. An diesem See lag Lerchental.
Endlich mahnte Harald zum Aufbruch.
»Wir wollen zunächst den Waldweg gehen, dann ein Stück auf der Chaussee, um den großen Bogen abzukürzen. Großmama ist ein wenig ermüdet.«
»Oh, es wird schon gehen«, meinte lachend Frau Wagner.
»Nein, nein, Mutter. Die Chaussee ist schattig und nicht sehr befahren. Wir schlucken dort gewiß nicht zu viel Staub.«
So trat man den Heimweg an. Die Kinder pflückten am Wegrain Blumen, die Erwachsenen folgten langsam. Auf der Landstraße herrschte heute aber doch reges Leben. Gar viele hatten den schönen Sonntag zu Ausflügen benutzt, ununterbrochen kamen Autos, Motorräder und Wagen dahergefahren.
Auch jetzt vernahm man wieder das laute Knattern eines daherkommenden Motorrades. Von der anderen Seite näherte sich ein Kremser, besetzt mit fröhlichen Ausflüglern.
Wendelins traten dicht an den Chausseegraben heran. Der Motorradfahrer hatte auf dem Soziussitz eine Dame, die, als man an dem Kremser vorüberfuhr, jauchzend die rote Strickjacke schwenkte und übermütige Worte den im Wagen Sitzenden zurief.
Aber dieses unerwartete Schwenken des Kleidungsstückes ließ die beiden Pferde scheuen. Sie waren ohnehin durch den vielen Verkehr unruhig geworden; der Kutscher verlor die Gewalt über die beiden Tiere, sie bäumten sich hoch auf, und Harald Wendelin erkannte im gleichen Augenblick die große Gefahr.
Ohne erst lange zu überlegen, sprang er nach vorn. Er hatte auf dem Kremser Mütter mit ihren Kindern gesehen, er bemerkte auch, wie der Kutscher, anscheinend ein wenig angetrunken, auf dem Bock schwankte und versuchte, die wildgewordenen Tiere zu halten.
Wendelin verfügte über große Kräfte, so hoffte er, einen schlimmen Unfall verhüten zu können. Wohl gelang es ihm, den beiden Tieren mit raschem Griff in den Zügel zu fallen; aber die wild gewordenen Tiere bäumten sich erneut hoch auf. Aus dem Wagen tönten entsetzte Schreie, wodurch die beiden Braunen noch erregter wurden.
Harald ließ die Tiere nicht los. Mit eiserner Kraft versuchte er die Pferde zum Stehen zu bringen, doch das laute Schreien im Wagen ließ nicht nach. Die Pferde rasten mit dem Wagen weiter, schleiften Harald Wendelin ein Stück des Weges mit sich fort, der Wagen schleuderte, und noch immer ertönten die Angstschreie aus dem Innern heraus.
Eins der Tiere war zur Seite gesprungen, Harald fühlte einen heftigen Stoß, ein schwarzer Schatten senkte sich für Sekunden über seine Augen. Dennoch sagte er sich, daß er jetzt nicht loslassen dürfe.
Und nun wieder ein Aufbäumen der Pferde, wieder ein schwerer Schlag, der ihm heftige Schmerzen verursachte. Er raffte sich nochmals auf; dann war es ihm, als würden die Tiere ruhiger. Irgend jemand stand neben ihm. Langsam ließ er die Zügel los, er glitt tiefer und immer tiefer, hinein in etwas Schwarzes. Er wollte sich aufrichten, dachte daran, daß er seinem Goldköpfchen keinen Schrecken einjagen dürfe, und plötzlich wurde es Nacht um ihn her.
Frau Wagner und Bärbel hatten das beherzte Zuspringen Haralds gesehen. Sie sahen auch, wie er den Pferden in die Zügel fiel, wie er von den rasenden Tieren mit fortgeschleift wurde. Es war ganz unmöglich, im Augenblick dem Bedrängten zu Hilfe zu kommen. Bärbel wäre dazu auch nicht imstande gewesen. Was sollte sie mit durchgehenden Pferden beginnen? Die Füße schienen ihr plötzlich wie am Boden festgewurzelt zu sein. Nochmals blickte sie dem schwankenden Wagen nach, der in eine Staubwolke eingehüllt wurde. Sie sah den Motorradfahrer zurückkommen, dem Wagen nachstürmen.
»Häschen, mein liebes Häschen«, zitterte es von ihren Lippen. Dann eilte sie dem Kremser nach.
Der Wagen war zum Halten gebracht worden. Die erregten Tiere schnauften noch, aber sie standen wenigstens still. Bärbel sah, wie Männer und Frauen eiligst vom Wagen stiegen, sie hörte Weinen von Kinderstimmen, hörte erregtes Stimmgewirr und kam gerade zurecht, als zwei Männer ihren staubbedeckten Gatten an den Straßenrand trugen.
»Häschen!« Bärbel kniete an seiner Seite nieder und sah in sein bleiches Gesicht mit den geschlossenen Augen. Ihr Herz schien stillestehen zu wollen. Ihr Harald, der soeben noch froh und heiter an ihrer Seite dahingeschritten war, lag, einem Toten gleich, am Wege.
Sie zog den leichten Staubmantel aus, legte ihn vorsichtig dem Ohnmächtigen unter den Kopf und fragte mit tonloser Stimme, ob niemand Wasser oder etwas Belebendes bei sich habe. Man reichte ihr etwas Kölnisches Wasser.
»Häschen, mein Häschen!« Sie rieb dem Gatten die Schläfen, die Stirn.
Auch Frau Wagner war herangekommen, desgleichen die drei Kinder.
»Vati, Vati, was machst du denn? – Vati, haben dich die wilden Pferde geschlagen?«
Bärbel hob den Kopf und schaute mit flehenden Blicken auf die Mutter.
»Führe die Kinder ein wenig abseits.«
Sie wollten zwar anfangs nicht, aber Frau Wagner nahm sie gewaltsam mit sich fort. Es waren genügend Neugierige, die den Verunglückten umstanden.
»Das hätte ein Unglück geben können!«
»Beinahe wäre ich aus dem Wagen geschleudert worden!«
»Ach, was wäre das für ein Ende des schönen Ausfluges geworden!«
Bärbel hörte diese Stimmen nicht, die erregt durcheinanderklangen. Ihre Blicke hingen nur an dem Ohnmächtigen. Ihr Herz hämmerte so stürmisch, daß es alles übertönte. Nur von Zeit zu Zeit formten ihre Lippen ein süßes: »Häschen, mein Häschen!«
Da schlug der Verletzte die Augen auf. Am liebsten hätte Goldköpfchen den Arm um ihn gelegt und ihn aufgehoben. Sie konnte den Jubel ihres Innern kaum meistern. Aber dieser verstummte jäh, als sie sah, wie sich sein blasses Antlitz schmerzhaft verzerrte.
»Sorge dich nicht, mein Liebling.«
»Häschen, was ist dir? Du hast Schmerzen?«
»Ein wenig.«
»Lieg nur ganz still, ganz still, ich bin ja bei dir. Einer ist schon zur Stadt nach dem Arzt gefahren. Ein Wagen wird gleich hier sein. Bitte, sprich auch nicht. Willst du Wasser oder etwas anderes haben?«
»Nein, nein, es geht mir ganz gut.«
Da schlossen sich schon wieder die Augen. Wie fest er die Lippen zusammenpreßte! Es sollte wohl kein Schmerzensschrei zu der besorgten Gattin dringen. Goldköpfchen ahnte, daß die Verletzungen des Gatten viel schlimmer waren, als es den Anschein hatte. Sie verkrampfte die Hände ineinander.
»Das wirst du mir nicht antun«, sagte sie lautlos. »Nein, das tust du mir gewiß nicht an. Ich – ich glaube, ich ertrüge es nicht.«
Die Ausflügler hatten sich erboten, den Verletzten in den Kremser zu legen, um mit ihm recht schnell in Heidenau zu sein. Auch Frau Wagner hielt es für das beste, Harald recht rasch von hier fortzubringen.
»Lassen Sie mich mit anfassen«, sagte Goldköpfchen. »Er hat Schmerzen. Bitte, seien Sie recht behutsam.«
Als man Wendelin aufrichtete, konnte er ein Aufstöhnen nicht unterdrücken.
»Mein Häschen, wir tun dir weh? Häschen, daß ich dir die Schmerzen abnehmen dürfte! – Häschen, liebes, liebes Häschen!«
Sie meinte wohl, daß er die Schmerzen nicht so fühlen würde, wenn sie beständig lieb und zärtlich auf ihn einsprach. Sie sah seinen starren Blick, sah das Zucken seiner Lippen und hatte dabei ein Gefühl, als reiße man ihr das Herz in Stücke.
Man bettete den Verletzten sehr behutsam in den Wagen. Aber es war nicht ohne manchen Schmerzensruf abgegangen. Bärbel und zwei Männer waren mit in den Wagen gestiegen. Frau Wagner war mit den Kindern zurückgeblieben. Erna und Jürgen weinten. Hermann hatte tausend Fragen auf dem Herzen, die Frau Wagner nur schwer beantworten konnte. Auch sie fühlte sich so unglücklich, so verängstigt, aber sie leistete Bärbel wohl die beste Hilfe, wenn sie die neugierigen Kinder von ihr fernhielt.
Es war eine gar traurige Heimfahrt. Das Krankenhaus war benachrichtigt worden, ein Wärter war zur Stelle, der in sachkundiger Weise den Verletzten aus dem Wagen hob.
Die Schmerzensanfälle wechselten mit völliger Bewußtlosigkeit ab. Sah Harald Wendelin sein Weib, so versuchte er freundlich zu lächeln und versicherte immer wieder, daß er allerdings Schmerzen habe, daß es gewiß nichts Schlimmes sei. Bärbel hatte anfangs die Absicht gehabt, den Gatten ins eigene Heim bringen zu lassen. Es war wohl aber besser, wenn er sogleich ins Krankenhaus käme. Sie fürchtete, daß Harald schwere innere Verletzungen erhalten habe, die vielleicht eine Operation sofort notwendig machten.
Sie hörte wie aus weiter Ferne die Worte des Arztes, der sie aus dem Zimmer wies und sagte, daß er zunächst eine Untersuchung vornehmen müsse. Dann werde sie Bescheid erhalten.
»Es ist gewiß nicht so schlimm«, tröstete Harald seine Frau, die den Gatten nochmals mit einem innigen Blick umfaßte. Zwei eiskalte Hände lagen für Sekunden ineinander, zwei Augenpaare grüßten sich in innigster Liebe. –
»Und nun, Herr Doktor, sagen Sie es mir ganz offen, wie steht es um mich?«
»Das Leben eines jeden Menschen steht in eines Höheren Hand.«
Einige Sekunden lang verschleierten sich die Blicke des Oberingenieurs. Nach einer Weile sagte er ruhig: »Sind es noch Tage, oder sind es nur noch Stunden, Herr Doktor?«
»Sie wollen die Wahrheit wissen?«
»Ja, Herr Doktor, ohne Umschweife. An den Schmerzen, die ich aushalte, glaube ich zu erkennen, daß ärztliche Hilfe hier vergeblich ist.«
»Sie haben Ihr Leben tapfer für andere geopfert, Herr Wendelin.«
»Und wie lange Zeit geben Sie mir noch?«
»Sie werden noch Zeit genug haben, um sich von Ihrer lieben Frau zu verabschieden.«
Die Hand Wendelins krallte sich in die Decke.
»Mein Goldköpfchen«, sagte er leise. »Herr Doktor, rufen Sie mir meine Frau herein, ich glaube, ich habe nicht mehr viel Zeit.«
»Ich sollte Ihnen anraten, sich nach der Untersuchung zu schonen, Herr Wendelin, aber – wenn Sie wollen, ich rufe Ihre Gattin.«
»Bitte, sagen Sie ihr nichts, sie soll es von mir selbst erfahren.«
Mit festem Händedruck umspannte der Arzt die Hand des Verunglückten. Dann verließ er das Zimmer.
Goldköpfchen ging im Wartezimmer auf und ab. Von Zeit zu Zeit lehnte sie sich gegen die Wand, weil ihr die Knie zu stark zitterten. Wollte diese entsetzliche Untersuchung denn nicht enden? Oder war es sehr schlimm? O nein, die Arzte vollbrachten heute fast Wunder. Kranke, an deren Genesung man kaum glauben wollte, wurden durch Operationen wieder gesund, und ihr Häschen war eine kraftvolle Natur.
»Warum dauert es gar so lange?«
Wieder nahm sie die Wanderung durch das Zimmer auf. Sie ging hin und her, her und hin. Die Minuten dehnten sich zu Stunden.
Bis der Arzt kam. Sie wollte ihn fragen, aber nur ihre Lippen zitterten.
»Sie dürfen nun zu Ihrem Gatten hineingehen, gnädige Frau.«
»Wie steht es mit ihm?« hauchte sie.
»Ihr Herr Gemahl hat sich schwere innere Verletzungen zugezogen, aber solange ein Mensch noch atmet, hoffen wir.«
»Hoffen Sie wirklich, Herr Doktor?«
»Natürlich, meine liebe, gnädige Frau.«
Dann war er schnell davongegangen, und auch Goldköpfchen eilte zur Tür, hinter der ihr geliebter Mann lag.
Er lächelte sie an. »Komm her, mein Goldköpfchen, du darfst dich auf die Bettkante setzen. So, und nun reiche mir auch deine liebe Hand.«
»Was sagt der Arzt?«
Harald schaute seiner Frau tief in die Augen; dann hob er die Hände und strich ihr über das goldblonde Haar.
»In unserer Ehe hat niemals eine Lüge gestanden, mein liebes Goldköpfchen. In frohen, in traurigen Stunden haben wir uns immer an den Händen gehalten. – Goldköpfchen, jetzt heißt es Abschied nehmen.«
Sie zuckte nicht einmal zusammen, als sie diese Worte hörte. Ihr Blick hing wie gebannt am Antlitz des Gatten. Nur ganz leise wiederholte sie: »Abschied nehmen.«
»Jawohl, mein Liebling. Viele glückliche Jahre hat uns das Schicksal geschenkt, dafür wollen wir ihm dankbar sein. Wir haben ein Glück genossen, wie es nur wenigen zuteil wird. Ich danke dir, mein geliebtes Goldköpfchen, danke dir für die wonnevolle Zeit, die du mir geschaffen hast. Grüße die Kinder. Ihr Vater bittet sie, sie sollen brave Menschen werden! Das sage ihnen, sage es ihnen jetzt, sage es den Heranwachsenden, sage es ihnen in der Zeit, in der die Jugend in die Sturm- und Drangperiode kommt, und sage es ihnen immer wieder. – Nimm es nicht gar so schwer, mein Liebling. Es ist doch des Himmels Fügung.«
»Häschen – –«
»Dein Häschen verläßt dich nun für eine Zeit, doch dein Häschen weiß auch, daß es eine tapfere Frau hat, die den Kampf mit dem Leben aufnimmt, die sich nicht verliert in Klagen und Jammern. Mein Goldköpfchen kennt seine Pflichten genau, mein Goldköpfchen lebt weiter für die Kinder, lebt und sorgt für sie, bis es einmal mir nachfolgt.«
Bärbel hatte den Kopf an die Schulter Haralds gelegt. Sie lag ganz still und rührte sich nicht. Er schlang nochmals seinen Arm um sie.
»Eins deiner Worte fällt mir ein, gerade in unserer Scheidestunde. Damit mußt du dich später trösten. Weißt du noch, wie du mir in Tannengrund sagtest: Man muß den Kindern die Mutter erhalten? Ich sah auf dem Kremser viele Kinder. Ich konnte nicht anders handeln. Man muß den Kindern die Mutter erhalten! Da bin ich den Pferden in die Zügel gesprungen. Habe es doch von dir gelernt, zu helfen und in der Not den Bedrängten beizustehen. Und wenn ich nicht mehr bin, mein Bärbel, wirst du dich den Kindern erhalten. Du bist tapfer und stark. – Nun wollen wir uns noch einmal fröhlich in die Augen sehen. Schau mich an!«
Bärbel hatte sich aufgerichtet. Die Blicke der Ehegatten tauchten ineinander. Sie hatte die Lippen fest aufeinandergepreßt. Sie wollte nicht schreien, nicht weinen. O nein, zum Weinen war ihr auch gar nicht zumute. Hier geschah etwas ganz Unfaßliches. Ihr Harald wollte sie für immer verlassen. Ihr Inneres fror.
Sie sah seinen lieben, zärtlichen Blick, sah das Lächeln seiner Augen, das sie abschiednehmend grüßte.
»Bleib, Häschen, bleib doch bei mir, Häschen, du wirst doch nicht von mir gehen. – Häschen, ich mag nicht allein sein.«
Es klang wie verzweifeltes Gestammel, wie ein Lallen aus gebrochenem Herzen.
»Du hast noch die Kinder, mein Goldköpfchen, sie bleiben bei dir, die lasse ich dir, dir, der treuesten und besten Frau. Ich – –«
»Harald – Harald, was ist dir?«
»Laß mir deine lieben Hände – so will ich – hinübergehen. Sei tapfer – mein – Goldköpfchen – ich danke dir – mein Liebling – leb wohl – –«
»Häschen«, hauchte Bärbel, und ihre Augen waren starr auf den Gatten gerichtet. »Häschen, ich fühle es, aus meinem Innern nimmst du etwas mit. – Oh, es wird so kalt in mir. – Häschen, ich ersticke – ich – ich –«
Dann sank ein blondes Köpfchen auf die Brust eines Mannes, der soeben sanft hinübergeschlummert war.