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Mit zwei Tagen Verspätung hatte Familie Wendelin die Reise nach der Försterei Tannengrund angetreten. Der Ort schien außerordentlich günstig gewählt zu sein. Die Försterei, ein hübscher Bau, lag mitten im Buchenwald, unweit davon eine prachtvolle Wiese, die Goldköpfchens ganzes Entzücken war. Auf dieser Wiese wollte sie liegen und träumen, dem Gesang der Vögel lauschen und sich so recht von Herzen ausruhen und erholen.
Für die Kinder gab es unsäglich viel Neues zu sehen. Die großen Stallungen, in denen sich zwei Pferde, Kühe, Schweine, Ziegen, Hühner und Kaninchen befanden, lösten stürmischen Jubel aus. Als man dann gar noch hörte, daß die Kinder Gelegenheit haben würden, zwei zahme Rehe zu sehen, kannte die Begeisterung keine Grenzen mehr.
Hermann lief von einem Stall in den anderen, schlug sich mit der Hand vor die Stirn und schrie: »Ein Dummkopf wäre ich beinahe gewesen, ein Dummkopf, ein riesengroßer Dummkopf!«
»Weshalb denn?« fragte der Förster, dem die Freude der Kinder viel Spaß machte.
»Na, hab' ich etwa in Berlin Rehe, Schweine und Kühe? Ein Dummkopf wäre ich gewesen. Meinen Sie nicht auch, Herr Förster?«
Als die Kinder zum ersten Male vom Vater hörten, daß der Förster den Namen Piepenburg führte, schrien sie vor Lachen.
»Piepenburg – Piepenburg«, schallte es, nicht als ob drei schrien, nein, als ob eine Horde von zwanzig unartigen Knaben losgelassen sei.
»Heißt du wirklich Piepenburg?« fragte die kleine Erna den Forstmann.
»Jawohl, so heiße ich.«
»O pfui Teufel, wie kann man so heißen! Piepe, Piepe, Piepenburg.«
Schließlich mußte Frau Bärbel die unartige Gesellschaft zur Ordnung rufen. Sie verbot den Kindern auf das strengste, den Förster oder dessen Frau zu verhöhnen.
»Ich schicke euch sofort mit Frau Leuschner nach Hause.«
Worauf Jürgen noch zur selben Stunde der Försterin sagte: »Oh, ist ja so ein schöner Name, den du hast, viel schöner als mein Name. Heißt du auch wirklich Piepenburg?« Dabei verzog sich das Kindergesicht allerdings wieder zu vergnügtem Grinsen.
Am Abend, als Frau Leuschner die Kinder zu Bett brachte, wurde Goldköpfchen wieder durch lautes Geschrei herbeigerufen. Die Försterin hatte im zweiten Schlafzimmer ein großes Bett für beide Knaben aufgestellt, da sie so viel Kinderbetten nicht besaß. Bärbel hatte gemeint, es ginge recht gut, wenn die beiden Knaben zusammen schliefen. Als sie das Zimmer betrat, sah sie Frau Leuschner, die anscheinend eben ärgerlich auf die im Bett liegenden Buben eingeredet hatte, mit hochrotem Kopfe stehen.
Jürgen hatte Tränen in den Augen und war von Hermann ganz auf die Seite gedrückt worden.
»Wollt ihr wohl friedlich sein!«
»Ich möchte schon friedlich sein«, schluchzte Jürgen. »Aber der Hermann ist so frech. – Ich hab' doch keinen Platz.«
»Nanu, in solch einem breiten Bett können doch zwei kleine Jungen sehr gut nebeneinander liegen.«
»Nein«, schluchzte Jürgen jämmerlich. »Der Hermann will immer in der Mitte liegen, und ich soll auf beiden Seiten liegen.«
»Ja, das soll er«, bestätigte Hermann.
»Sprich nicht so dummes Zeug, Hermann!«
»Ich kann aber nicht auf beiden Seiten liegen«, weinte Jürgen, und erneut begann das Geschrei.
Hermann mußte zur Seite rücken. Als Bärbel zur Tür hinausgehen wollte, weil sie glaubte, sie habe Ordnung geschaffen, fiel Hermann mit Gepolter zum Bett heraus.
»Ätsch«, frohlockte Jürgen, »jetzt habe ich ihn mit den Beinen kräftig hinten drangestoßen. Nu fliegt er 'raus!«
Hermann begann zu weinen, dann riß er dem Bruder das Kopfkissen fort, und ehe es Frau Leuschner verhindern konnte, schlug er damit auf Jürgen ein.
»Du Lausebengel!« Aber schon fühlte er einen leichten Schlag von Frau Leuschners Hand auf seinem Munde. Da weinten beide Knaben.
»Lassen Sie nur, gnädige Frau, ich stifte hier schon Ordnung.«
Bärbel ging aus dem Zimmer, sie wußte, sie konnte sich auf die treue Frau Leuschner verlassen. Aber draußen begann sie zu lachen. Sie stellte sich Hermanns Verlangen nochmals vor und schüttelte den Kopf über die Kinder, die so urkomische Einfälle hatten.
In dem Bett war freilich noch lange keine Ruhe und Ordnung. Bald zog der eine, bald der andere Knabe an der Decke, dann wurde noch ein Weilchen gesprochen.
»Das Bett piept«, meinte Hermann. Beide Knaben begannen mit dem Bett zu schaukeln.
»Hahaha, das Bett vom Herrn Piepenburg piept.«
»Ihr sollt schlafen, sonst wacht die kleine Erna auf.«
»Hahaha«, lachte es aus dem Nebenzimmer, »ich schlafe noch nicht. Mein Bett hat so 'nen komischen Draht, da kann ich die Nase durchstecken.«
Die alte treue Kinderfrau ging hin und her. Die vielen neuen Eindrücke waren viel zu mächtig in den Kinderseelen. Immer wieder, wenn alle drei ein Weilchen ruhig gelegen hatten, mußte einer noch etwas fragen.
Endlich aber kam doch der Sandmann; die Kinder schliefen fest ein.
Goldköpfchen schritt an der Seite des Gatten noch ein wenig in dem herrlichen Garten umher. Welch eine Ruhe, welch ein Frieden in der Natur!
»Ich glaube, mein liebes Goldköpfchen, die Ruhe und Stille wird uns beiden sehr guttun. Die Kinder werden wir viel der guten Frau Leuschner überlassen, denn du sollst hier gründlich ausruhen.«
»Ach ja, Häschen. Die Kinder haben hier so viel zu sehen, die Förstersleute scheinen sehr nett zu sein, ich denke, es werden herrliche Ferien werden.«
Aber schon am nächsten Morgen wurden die Hoffnungen Goldköpfchens vernichtet.
»Mutti, komm mit, wir haben dir sooo viel zu zeigen!«
»Die Mutti will jetzt mit Vati in den Wald gehen.«
»Ach nee, den Vati hast du doch schon so lange, da waren wir noch ganz klein, da bist du schon mit dem Vati spazierengegangen. Nu sind wir an der Reihe.«
Frau Leuschner kam und erklärte den Kindern energisch, daß sie die Mutter in Ruhe lassen sollten. Man wollte hinaus aufs Feld gehen, zu den beiden Pferden.
»Aber die Mutti muß mit! – Mutti, so schöne Pferde hast du überhaupt noch nicht gesehen. Komm nur mit!«
Erst als der Vater erschien, wurde der strikte Befehl ausgegeben, daß die Kinder mit Frau Leuschner zu den Pferden gehen sollten. Bärbel blieb mit dem Gatten auf der Wiese zurück.
Welch eine herrliche Stunde der Erholung war das! Obwohl sich Goldköpfchen ein Buch zum Lesen mitgenommen hatte, zog sie es vor, mit geschlossenen Augen dazuliegen. Von Zeit zu Zeit tastete sich ihre Hand zu der des Gatten hinüber, der neben ihr ausgestreckt auf dem grünen Boden lag. Beide ersehnten nichts als Ruhe und Ausspannung.
Zum Mittagessen fand sich die Kinderschar wieder ein. Bärbel sah strahlende Gesichter.
»Mutti, was wir erlebt haben, oh, es war fein!«
Dann begannen die drei furchtbar zu lachen. Das Gekicher wollte gar kein Ende nehmen.
»Nun kommt zu Tisch, es ist Zeit.«
»Ew gibt gleich waw zu ewen.«
Frau Bärbel schaute verdutzt auf Hermann. Was hatte er plötzlich für eine eigentümliche Stimme, und warum stieß er mit der Zunge an? Jürgen und Erna krümmten sich vor Lachen.
»Wo ist Welma? Kommt Welma auch?«
Die beiden Kleinen schrien vor Vergnügen.
Frau Bärbel schüttelte verwundert den Kopf.
»Wepp heißt du? Wepp ist ein wehr schöner Name.«
»Wepp, Wepp!« jauchzten die beiden anderen.
»Ich bin nämlich die Magd vom Herrn Förster und heiße Welma.«
Langsam fing die Mutter an zu begreifen. Fragend wandte sie sich an Frau Leuschner.
»Ja, ja, gnädige Frau«, sagte die Alte, »da ist nun nichts zu machen. Die Kinder haben Bekanntschaft mit der Magd, der Selma, geschlossen, sie hat einen kleinen Sprachfehler. Um die Ärmste zu foppen, haben sich die Kinder umgetauft. Der Hermann meinte, er heiße Sepp.«
»Wuwchen heißt sie«, lachte Hermann. »Die Erna heißt Wuwchen!«
»Mutti, ich bin jetzt Suschen.«
»Immer wieder haben sie das arme Mädchen dazu gebracht, sich von ihr rufen zu lassen. Ich habe es ihnen mehrfach verwiesen, leider hat es nichts genützt.«
Aufs neue erließ Bärbel ihre Mahnungen. Wenn ein Mensch einen Sprachfehler habe, dürfe man ihn damit nicht foppen.
Aber schon am Nachmittage hallte es hier und dort durch das Haus:
»Welma, komm mal her. Welma, wie heiße ich?«
Goldköpfchen horchte auf.
Brüllendes Gelächter folgte.
»Und wie heißt meine kleine Schwester?«
»Wuwchen.«
Der Jubel wollte kein Ende nehmen. Die gutmütige Magd schien die Verhöhnung nicht zu bemerken. Sie machte tatsächlich einen recht beschränkten Eindruck, war sonst aber arbeitsam und grundehrlich. Für die Kinder war Selma natürlich eine Quelle ewigen Humors und Gelächters. –
In der ländlichen Stille und Einsamkeit wollte Goldköpfchen endlich all ihre Briefschulden abtragen. Sie war in letzter Zeit so wenig zum Schreiben gekommen, und dabei interessierten sich doch die guten Eltern für alles, was im Wendelinschen Hause vorging. Seit dem Tode der Großmama, der vor zwei Jahren erfolgte, hatte Bärbel keine nahen Verwandten mehr in der Nähe. Wie hatte ihr die gute, treue Seele gefehlt! Großmama Lindberg war sanft und friedlich hinübergeschlummert, doch noch heute betrauerte Frau Bärbel die Entschlafene, bei der sie eine so glückliche Jungmädchenzeit verlebt hatte. Wie oft wanderte sie zu dem Grabe. Immer prangte es im herrlichen Blütenschmuck, denn auch Harald sorgte dafür, daß die von ihm hochverehrte Frau unvergessen blieb.
In Dillstadt ging alles seinen gewohnten Gang. Der Vater hatte sich seit kurzem ein wenig von seinem Berufe zurückgezogen, da er durch seinen Sohn Kuno sehr entlastet wurde. Kuno hatte sein Examen als Apotheker mit Auszeichnung bestanden und zeigte immer mehr, daß er zu diesem Berufe trefflich geeignet war.
Wie anders war dagegen Martin, der Zwillingsbruder Kunos, geartet. Martin studierte auf den verschiedensten Universitäten Medizin. Schon die ersten Semester hatte der Bruder stark verbummelt, alle Ermahnungen der Eltern hatten nichts gefruchtet. So kam es, daß Martin, der bereits neunundzwanzig Jahre zählte, noch immer nicht sein Staatsexamen gemacht hatte.
An diesen Zwillingsbruder dachte Bärbel jetzt, als sie wieder auf der sonnigen Wiese lag. Martin hatte den Eltern gar manchen Kummer bereitet. Sie wußte, er war ein leichtlebiger junger Mann, der schon öfters Schulden gemacht hatte. Beim ersten Examen war er durchgefallen. Daraufhin hatte er erklärt, umzusatteln und Chemie zu studieren. Der Vater hatte nachgegeben; doch nach einem abermaligen verbummelten Semester war Martin wieder zu dem Entschluß gekommen, lieber bei der Medizin zu bleiben.
Im vorigen Jahre war es gewesen, daß Martin ganz unerwartet in Heidenau eintraf. Bärbel hatte gleich von Anfang an ein Gefühl des Unbehagens gehabt. Der Bruder war nervös und gereizt und hatte schließlich allerlei heimliche Unterredungen mit Harald. Da Harald vor seiner Frau keine Geheimnisse hatte, erfuhr sie, allerdings erst nach der plötzlichen Abreise des Bruders, daß Martin beträchtliche Schulden gemacht hatte. Die Eltern hatten sich geweigert, diese abermaligen Schulden zu tilgen. So war Martin nach Heidenau gekommen, um den Schwager um Hilfe zu bitten.
Der Oberingenieur hatte geholfen. Er hatte sich aber von Martin das feste Versprechen geben lassen, daß jener von nun an fleißig dem Studium obliege und vor allem dafür sorge, daß er mit dem reichlichen Monatswechsel auskomme.
Martin schrieb nicht oft. Man erfuhr wenig von seinen Neigungen, nur im zeitigen Frühjahr war erneut von ihm die Nachricht gekommen, daß er auch dieses Semester noch nicht ins Examen gegangen sei. Er habe diesen Plan bis zum Herbst verschoben.
Neunundzwanzig Jahre. Andere Mediziner waren längst in Amt und Brot. Nur Martin bummelte noch immer auf den Universitäten herum. Seit einem Jahre studierte er in Jena, wo es ihm anscheinend sehr gut gefiel.
Warum schweiften ihre Gedanken immer wieder zu Martin hin? Warum mußte Bärbel, obwohl Harald von allerlei Dingen sprach, ausschließlich an den Bruder denken? Warum fühlte sie eine so eigenartige Unruhe in sich? Es hielt sie schließlich nicht länger auf der Wiese.
»Hast du schon genug gefaulenzt, mein Goldköpfchen?« neckte sie der Gatte.
»Ich bin heute so unruhig, Häschen, ich will einmal nach den Kindern sehen.«
»Die sind bei Frau Leuschner ganz prächtig aufgehoben.«
Aber Bärbel ließ sich nicht zurückhalten. Sie ging ins Haus. Dort sagte ihr die Försterin, daß die Kinder mit drei Ziegen in den Wald gegangen wären.
»Ihr Ältester wollte gern noch drei Schweine mitnehmen, das habe ich ihm nicht erlaubt.«
»Lassen Sie den Kindern, bitte, nicht gar zu viel durchgehen, Frau Piepenburg, sie machen hier übergenug Wirtschaft. Die Kinder haben ausreichend Freude und Zerstreuung.«
»Ach, es sind doch so liebe Kinder.«
Bärbel lachte. »Hoffentlich sind Sie bei unserem Scheiden noch derselben Ansicht.«
»Vorhin war der Briefträger da, gnädige Frau. Er hat einen Brief für Sie abgegeben. Er liegt drüben in Ihrem Zimmer.«
Diesmal konnte es Bärbel kaum erwarten, sie mußte hingehen und wissen, woher das Schreiben kam. Es war direkt an sie gerichtet. Sie sah die Handschrift des Bruders.
»Von Martin«, sagte sie leise, und erneut überkam sie ein Gefühl des Unbehagens.
Ihre Ahnungen hatten sie nicht getrogen. Der Brief war ein stürmisches Flehen um Geld. Martin schrieb, daß er sich in einer verzweifelten Lage befände. Er müsse innerhalb acht Tagen fünfhundert Mark schaffen. An die Eltern könne er sich nicht wenden. Bärbel möge auch kein Wort zu Harald darüber verlauten lassen. Sie würde schon Rat wissen, sie müsse ihm helfen, sonst könnte das Schlimmste eintreten.
Bärbel war ratlos. Selbstverständlich stand es für sie fest, daß Harald von diesem Schreiben sofort Kenntnis bekam. Sie wußte, daß der Bruder dem Schwager das Versprechen gegeben hatte, keine neuen Schulden mehr zu machen. Nun hatte er sein Wort gebrochen.
Sie las den Brief noch mehrere Male durch. Die Töne der Verzweiflung, die darin angeschlagen wurden, waren unzweifelhaft echt. Martin schien in einer sehr unangenehmen Lage zu sein. Fünfhundert Mark waren immerhin eine Summe, mit der man im Wendelinschen Hause rechnen mußte. Ersparnisse hatte man keine machen können, der Haushalt kostete Geld, außerdem opferte man für wohltätige Zwecke allmonatlich eine beträchtliche Summe. In Heidenau gab es verschiedene alte, verarmte Männer und Frauen, die regelmäßige Unterstützungen von Wendelins bezogen.
Schließlich nahm Bärbel den Brief und begab sich damit zurück auf die Wiese. Schweigend reichte sie das Schreiben dem Gatten. Harald brauchte seinem Goldköpfchen nur in die Augen zu sehen, um zu wissen, daß es eine niederdrückende Botschaft erhalten hatte.
Er las. Eine tiefe Furche zeigte sich auf seiner Stirn. Dann erhob er sich und steckte den Brief zu sich.
»Ich werde statt deiner an Martin schreiben.«
»Willst du ihm nochmals helfen?« fragte Bärbel zaghaft.
»Nein.«
»Er ist in Not –«
»War das nötig? Beunruhige dich nicht, Goldköpfchen, ich werde zuerst genauere Auskünfte verlangen.«
»Wenn er sich ein Leid antäte – er ist doch mein Bruder.«
»Glaubst du, daß er sich ändern würde, wenn er jetzt wieder umgehend Beistand fände? Wir dürfen ihn in seiner Liederlichkeit nicht noch unterstützen. Ich kenne Martin. Mit Besorgnis habe ich sein Studium verfolgt. Er soll es an den Nagel hängen, wenn er die Studentenzeit nur dazu benutzt, um zu verbummeln.«
Wenn Harald in diesem Tone sprach, wußte Bärbel, daß nichts zu erreichen war. Trotzdem legte sie den Arm um seine Schulter und sagte nochmals weich und zärtlich:
»Er ist ein schwacher Mensch, Häschen, aber er ist doch mein Bruder. Geschwister sollen zusammenhalten.«
»Ich glaube, mein Kind, ich erweise ihm einen besseren Dienst, wenn ich heute ›nein‹ sage, als wenn ich versuche, das Geld zu beschaffen.«
Mit schwerem Herzen sah Bärbel dem davonschreitenden Gatten nach. Sie selbst konnte dem Bruder nicht helfen, höchstens daß sie bei den Eltern die Vermittlerin spielte. Es würde den Vater tief betrüben, wenn er erneut von der Liederlichkeit seines Sohnes hörte. Wenn sie an Kuno schrieb? Aber er konnte wohl auch schlecht helfen. Außerdem war Kuno ein sehr guter Geschäftsmann, der es schon einmal abgelehnt hatte, dem Bruder auszuhelfen. Aber Martin schrieb so verzweifelt, daß man wohl alles versuchen mußte, ihm noch einmal zu helfen.
Noch während Bärbel ihren trüben Gedanken nachging, hörte sie plötzlich das laute Lachen des Försters. Zwischendurch klangen die hellen Stimmen ihrer Kinder.
»Und du, Hermann? Hast du Freunde?«
»Ja, drei Stück, aber ich kann sie alle drei nicht leiden.«
»Warum denn nicht?«
»Sie sind so dumm und so gefräßig.«
Wieder lachte Förster Piepenburg. Auch auf Bärbels Gesicht erschien ein Lächeln. Kamen einmal traurige Stunden über sie, waren es immer wieder die Kinder, die sie absichtlich und unabsichtlich erheiterten. Harald würde die Angelegenheit mit dem Bruder gewiß regeln. Er hatte ihr gesagt, sie solle sich nicht beunruhigen. Sie wollte es versuchen, trotzdem lag ein Schatten auf ihrem Gemüt. Martin war gewiß leichtsinnig; ein Leid würde er sich nicht antun. Harald hatte recht, wenn er nicht gleich half. Sie wollte dem Bruder aber doch schreiben, ihn nochmals eindringlich ermahnen, endlich fleißiger zu arbeiten und vor allen Dingen mit dem Gelde sparsamer umzugehen. Sie wußte, daß manch einer, der so anfing wie der Bruder, schlecht endete. Das war es, was Bärbel bekümmerte.
»Onkel Piepenburg, sitzt in der Teufelsschlucht der Teufel? Stößt er Erna mit den Hörnchen, wenn sie hinkommt?«
»Nein, kleines Mädchen, der Teufel tut artigen Kindern nichts.«
»Ich glaube nicht an den Teufel«, sagte Hermann, »es gibt ja keinen.«
»Na, na«, drohte der Förster.
»Du kannst mir viel vorreden! Die Anna hat auch gesagt, es gibt einen Weihnachtsmann. Das ist genau so wie beim Teufel. Das ist immer der Vati.«
»Aber, Hermann!«
»Ich glaube eben an keinen Weihnachtsmann und an keinen Teufel. Die großen Leute wollen die Kinder nur dumm machen. – Wenn mal der Teufel zu mir käme, würde ich sagen: ›Ach, Vati, verstell' dich mal nicht.‹«
Wieder mußte Bärbel leise lachen. Die Bemerkung, daß der Vater der Teufel sei, war freilich nicht gerade respektierlich. Aber sie war nicht schlimm gemeint.
»Aber 'nen Engel gibt's doch, Onkel Piepenburg?«
»Freilich!«
»Nee«, lachte Hermann, »Engel gibt's auch nicht!«
»O doch«, meinte Jürgen, »die Mutti ist ein Engel.«
»Hast recht, kleiner Mann. Deine Mutti ist wirklich ein Engel.«
»Und die Flügel hat man ihr abgeschnitten, Onkel Piepenburg. – Warum denn?«
»Sonst paßt ihr das Kleid nicht«, sagte Jürgen altklug.
Bärbel erhob sich. Die Kinder waren ganz in der Nähe. Warum sollte sie nicht zu ihnen gehen und sich die trüben Gedanken verscheuchen lassen. – –
Am Abend fragte Bärbel zaghaft den Gatten, was er an Martin geschrieben habe.
»Ich habe ihm ins Gewissen geredet, mein Goldköpfchen, und ihm geschrieben, daß er Hilfe von dir nicht zu erwarten braucht.«
»Ich habe ihm auch geschrieben, Harald. – Ob es wohl nützen wird?«
»Es ist schade, daß gerade in die Ferienzeit hinein solch eine unangenehme Nachricht kommt. Schlage dir nur alle die trüben Gedanken aus dem Kopfe, Martin wird selbst Rat wissen.«
Obwohl sich Goldköpfchen in den nächsten Tagen bemühte, fröhlich zu erscheinen, mußte sie immer wieder an Martin denken, mit schwerem Herzen. Ob er einen Ausweg gefunden hatte oder ob ihn die Verzweiflung packte?
Voller Unruhe wartete sie an jedem Morgen auf den Briefträger, hoffend, daß von Martin ein Lebenszeichen käme. Sie hatte den Bruder so herzlich gebeten, ihr mitzuteilen, was er weiter zu tun gedenke; die Antwort aus Jena hätte längst eintreffen müssen. Außerdem ging auch das Semester zur Neige. Martin würde wahrscheinlich nach Dillstadt zu den Eltern fahren. Eine Aussprache würde erfolgen, der gute Vater würde alles noch einmal regeln.
Harald bemerkte die Unruhe sehr wohl, die seine junge Frau erfaßt hatte. Nicht mehr wie in den ersten Tagen lag Bärbel auf der grünen Wiese, sie ging in den Wald, kam wieder zurück, huschte ins Haus hinein und kehrte nur für Viertelstunden zu ihrem Lagerplatz zurück.
Bei einem solchen unruhevollen Gange hörte sie vor der Försterei einen Wagen anhalten. Es war dieselbe Zeit wie damals, als man selbst mit dem Fuhrwerk hier angekommen war, also der Anschluß an den Eisenbahnzug.
Bärbel blieb stehen und schaute zum Eingang hinüber. Ein Herr in mittleren Jahren stieg aus, schaute sich um und kam langsam näher. Zuerst hatte er Bärbel erblickt, die er forschend betrachtete.
Er zog höflich den Hut. »Wenn ich mich nicht irre, so sehe ich Frau Wendelin vor mir. Die Ähnlichkeit ist unverkennbar.«
»Sie wünschen?«
»Mein Name ist Kellermann, ich komme aus Jena. Der Besuch gilt Ihnen, gnädige Frau.«
Eisiger Schrecken durchfuhr Bärbel.
»Was ist mit meinem Bruder geschehen?«
Der andere lächelte. Unwillkürlich trat Bärbel einen Schritt zurück. Der Fremde flößte ihr Unbehagen ein. Das Lächeln stand dem unerbittlichen Gesicht mit dem spöttischen Zuge um die Lippen gar nicht.
»Ihr Herr Bruder ist wohlauf und gesund.«
»Wollen Sie näher treten oder – wollen wir im Garten bleiben?«
»Wenn es Ihnen recht ist, bleiben wir im Garten. Ich hoffe, daß unsere Unterredung schnell zu einem zufriedenstellenden Ergebnis führt, damit ich den nächsten Zug erreiche. Der Wagen wartet.«
»Sie bringen mir Nachricht von meinem Bruder?«
Kellermann betrachtete aufmerksam seine Fingernägel und lächelte. »Es wird an Ihnen liegen, gnädige Frau. Ich kam persönlich, im Interesse Ihres Herrn Bruders. Er ist mir stark verpflichtet.«
Bärbel senkte den Kopf. »Vielleicht ist es gut, wenn ich meinen Mann rufe.«
»Oh, nicht doch!« Er legte seine gepflegte Hand auf ihren Arm. Da trat Bärbel noch einen Schritt mehr zurück.
»Es ist besser, wenn wir die Angelegenheit allein durchsprechen, meine verehrte gnädige Frau.«
»Sagen Sie mir ohne Umschweife, was Sie mir mitzuteilen haben«, klang es herb zurück. Bärbel setzte ihre abweisendste Miene auf, denn die süßlichen Blicke des Mannes bereiteten ihr Unbehagen.
»Wie Sie wünschen, gnädige Frau. Ihr Herr Bruder hat des öfteren Darlehen von mir erhalten, er hat sich zur Rückgabe verpflichtet, sein Wort aber nicht gehalten. Es sind zwei Wechsel in meinem Besitz, die ich Ihnen vielleicht präsentieren darf. Es dürfte Ihnen bekannt sein, gnädige Frau, daß ein Verhalten, wie das Ihres Herrn Bruders, zur Folge haben könnte, daß er von der Universität verwiesen wird.«
»Es ist mir bekannt, daß mein Bruder Schulden hat. Wie hoch ist die Summe?«
Das süßliche Lächeln wich nicht vom Gesicht Kellermanns, als er langsam aus seiner Brieftasche zwei Wechsel zog.
»Der eine lautet über eintausend Mark, der zweite über zweitausend Mark. Außerdem habe ich Ihrem Herrn Bruder noch mit anderen Beträgen ausgeholfen. Die beiden Wechsel sind am heutigen Tage fällig.«
»Ich verstehe davon sehr wenig«, erwiderte Goldköpfchen angstvoll. »Es ist besser, ich rufe meinen Mann.«
»Ihr Herr Gemahl hat klipp und klar jede Hilfe abgelehnt, gnädige Frau. Ich weiß von Herrn Wendelin, daß also auf Tilgung der Schuld durch Ihren Gatten nicht zu rechnen ist. Nur die Schwester, so meinte der Herr Kandidat, wäre vielleicht doch dazu bereit. Ich nehme an, gnädige Frau, daß Sie Ihrem Herrn Bruder die Karriere nicht verderben und die fälligen Wechsel einlösen werden.«
»Selbst wenn ich es wollte, ich könnte es nicht.«
»Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg, gnädige Frau.«
»Ich habe keine dreitausend Mark. Mein Mann hat wohl ein gutes Einkommen, doch wird es aufgebraucht. Ersparnisse haben wir nicht.«
»Soviel ich weiß, stammen gnädige Frau aus einem vermögenden Hause.«
»Meine Eltern haben mir eine sehr gute Aussteuer mitgegeben, weiter habe ich nichts zu beanspruchen.«
»Ja«, Kellermann zuckte mit den Schultern, »dann wird Ihr Herr Bruder von der Universität verwiesen werden. Die Angelegenheit wächst sich langsam zu einem Skandal aus, denn ich bin nicht der einzige in Jena, der von Ihrem Herrn Bruder in unverantwortlicher Weise getäuscht wurde.«
»Ich habe das Geld nicht.«
»Nun, im Notfalle könnte ich an eine Verlängerung des Wechsels denken, wenn mir von Ihrer Seite gewisse Garantien gegeben würden.«
»Ich sagte Ihnen schon, Herr Kellermann, daß ich von alledem nichts verstehe. Was kann ich Ihnen für Garantien geben?«
»Sie verpflichten sich durch Ihre Unterschrift zur monatlichen Abzahlung, meine verehrte gnädige Frau. Sehen Sie, ich bin kein Unmensch, ich will nicht, daß diese schönen blauen Augen in Tränen schwimmen. Ein so süßes Frauchen wie Sie –«
»Ich denke, wir haben Geschäftliches zu verhandeln«, brauste Goldköpfchen auf.
»Gewiß, gnädige Frau«, sagte Kellermann mit leichtem Hohn in der Stimme. »Ich präsentiere Ihnen die beiden Wechsel über die Summe von dreitausend Mark und frage an, ob ich das Geld für Ihren Herrn Bruder erhalten kann.«
»Das ist ganz unmöglich.«
»Also gut, dann hätte ich hier nichts mehr zu suchen.«
»Und was wird mit Martin?«
»Weiß ich das?«
»Warten Sie noch einen Augenblick, ich bin sogleich wieder hier.«
Mit einem spöttischen Lächeln schaute Kellermann der Davoneilenden nach. Holte sie das Geld oder rief sie den Gatten herbei? Vielleicht überlegte sie sich zuerst die Angelegenheit. Welch ein reizendes, blondes Frauchen! Warum war sie nur gar so abweisend? Auf monatliche Abzahlungen wollte sich Kellermann einlassen. Vielleicht konnte er auch mit dem reizenden, goldblonden Frauchen gute Freundschaft schließen.
Bärbel eilte zu Harald. Mit hastigen Worten berichtete sie ihm von dem Besuch. Sie konnte und wollte hinter dem Rücken des Gatten nichts tun. Es erschien ihr ganz unmöglich, vor ihrem Häschen ein Geheimnis zu haben. Sie wäre sich geradezu schuldbeladen vorgekommen, wenn sie ihm nicht mehr ihr ganzes Herz ausschütten konnte.
Schweigend hörte Harald den Bericht seiner Gattin an.
»Ich werde allein mit Herrn Kellermann verhandeln.«
»Nein, Harald, ich bitte dich, laß mich zugegen sein. Es ist gut, wenn ich auch etwas von geschäftlichen Dingen erfahre. Ich muß wissen, wie alles ausgeht. Man kann Martin doch nicht von der Universität weisen. Seine ganze Zukunft wäre verpfuscht.«
»Wer hätte die Schuld daran, mein Goldköpfchen?«
»Ja, ja, Harald, ich sehe es ja ein, er ist es selbst, der sich die Zukunft verdirbt. Aber Geschwister sollen immer fest zusammenhalten.«
»So komme mit mir. Ich weiß, du hättest sonst doch keine Ruhe.«
Kellermann erhob sich sehr steif, als er den Oberingenieur kommen sah. Einige kurze Fragen hin und her, aufs neue zeigte Kellermann die beiden Wechsel.
»Wie kommt es, daß mein Schwager nur fünfhundert Mark brauchte, da diese Wechsel über dreitausend Mark lauten?«
»Darüber kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben.«
»Wenn ich die Frage stellen würde, was mein Schwager an barem Gelde von Ihnen erhalten hat, würde ich sicher eine ganz andere Summe hören als die, die auf diesen Papieren steht.«
»Herr Wendelin!«
»Es ist müßig, darüber zu streiten. Mein Schwager hat die unheilvollen Wechsel unterschrieben und sich dadurch in Ihre Hände gegeben. Stecken Sie die Papiere wieder ein, ich bin nicht in der Lage, zu helfen.«
Harald fühlte auf seinem Arm Goldköpfchens flehenden Druck, doch keine Miene seines Gesichts veränderte sich.
»Ihr Verhalten wird die schlimmsten Folgen haben, Herr Wendelin.«
»Das wird sich mein Schwager auch gesagt haben.«
»Sie lehnen also jede Hilfe ab?«
»Jawohl.«
»Dann hätte ich hier nichts mehr zu suchen.« Kellermann hatte sich erhoben.
»Ich werde wahrscheinlich noch heute mit meinem Schwager in Jena sprechen. Ich fahre heute nachmittag zu ihm und werde hören, wie sich die Angelegenheit verhält.«
»Die Wechsel sind heute fällig, Herr Wendelin.«
»Und werden nicht eingelöst«, klang es bestimmt zurück.
»So bin ich gezwungen, die Klage einzureichen.«
»Sie werden über alles Weitere unterrichtet werden, Herr Kellermann. Sie hören morgen von mir.«
Der Geldverleiher war gegangen. Bärbel schaute den Gatten bittend an.
»Du willst zu Martin fahren?«
»Ja, mein liebes Kind, ich sehe ein, daß es in diesem Falle das beste ist, wenn ich mir Martin persönlich vornehme. Anders geht es nicht. Ich habe die schlimmsten Befürchtungen, außerdem traue ich Kellermann nicht. Beutelt der Mann deinen Bruder auf eine unglaubliche Art und Weise aus, so wird er sich hüten, energische Schritte zu unternehmen. Er wird den Betrag erhalten, den er hergeliehen hat.«
»So willst du Martin noch einmal helfen?«
»Nur unter gewissen Bedingungen, die ich mit Martin abmachen werde. Sonst nicht.«
»Ach, Harald, wie gut du bist!«
»Nein, Bärbel, glaube nicht, daß diese Hilfe bereits erwiesen ist. Erst will ich von Martin hören, wie er sich seine Zukunft denkt. Es könnte sein, daß ich ihm noch heute jeden Beistand versage.«
Am Mittag rüstete Harald in größter Eile zum Aufbruch. Er mußte den Zweiuhrzug nehmen. Er hatte Bärbel und den Kindern gesagt, daß er vielleicht schon morgen wieder zurück sein werde.
Hermann wollte natürlich mitfahren, als er von der Reise des Vaters hörte.
»Ihr bleibt recht artig bei Frau Leuschner, quält die Mutti nicht gar zu sehr, denn Mutti braucht Ruhe.«
»Bringst du uns auch was mit, Vati?«
»Ja, einen Stock, wenn ich höre, daß ihr nicht brav wäret.«
»Au, Vati, du wirst deine Freude an uns haben. Frau Piepenburg sagte neulich, wir seien furchtbar artige Kinder.«
»Nun, dann ist es ja gut, dann bleibt nur so.«
Bereitwilligst spannte der Förster den Wagen an, um den Oberingenieur zur Bahn fahren zu lassen. Natürlich fuhren alle drei Kinder mit. Auch Bärbel begleitete den Gatten.
»Sei nicht traurig, mein Goldköpfchen, es wird schon alles wieder zum guten Ende kommen.«
»Sei mal nicht traurig, Goldköpfchen«, echote Hermann, duckte sich aber sofort, als er die zuckende Hand des Vaters sah.
»Soll ich dich abladen lassen?«
»Aber Vati, du wirst mich doch nicht allein in den dustern Wald setzen. Du bist doch nicht die böse Stiefmutter.«
»Dann betrage dich, wie es sich für einen anständigen Jungen geziemt.«
Auf dem Bahnhofe umarmte Harald Wendelin sein Goldköpfchen nochmals herzlich. »Morgen bin ich wieder bei dir, hoffentlich mit guten Nachrichten.«
Aber am nächsten Tage hielt Goldköpfchen ein Telegramm in Händen, das lautete: »Komme erst Sonntag, fahre nach Dillstadt.«
Diese wenigen Worte besagten ihr, daß es mit dem Bruder schlimm stand, daß der Gatte nicht in der Lage war, allein die Angelegenheit zu ordnen, daß er die Hilfe seines Schwiegervaters dazu brauchte.