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Das Leben als Schulkind war schwer, als junge Dame war es noch schwerer. Aber am schwersten ist es als Mutter. – Ach ja!
Ein langer Seufzer aus Bärbels Munde folgte diesen Worten. Sie warf einen fast vorwurfsvollen Blick auf die Mutter, die soeben ziemlich energisch das Baby neu gewickelt hatte. Frau Wagner lachte vor sich hin. Solange ihre Tochter das Bett gehütet hatte, ging alles ganz gut; aber seit Bärbel selbst wieder herumwirtschaftete und sich um ihren kleinen Buben kümmerte, seit dieser Zeit war es mit der jungen Mutter kaum zum Aushalten. Hatte sie das Baby unter Aufsicht, ging alles gut; wenn man aber den Knaben ins Nebenzimmer schob, war Bärbel von allen guten Geistern verlassen. Schrie der Kleine, so behauptete sie, er würde sich eine Lungenentzündung anschreien, man müsse ihn beruhigen; verbot die Mutter das Hinübergehen, so erzählte Bärbel die schrecklichsten Geschichten von Katzen, die ein Kind durch Aufspringen auf die Brust erstickten und anderes mehr. War der Cheruskerfürst aber still, dann glaubte die junge Mutter, das Bettchen sei ihm über den Kopf gefallen, er sei dem Ersticken nahe, man müsse unbedingt nachsehen, ob nicht gar etwas passiert sei.
Sehr häufig traten in die Blauaugen der jungen Mutter Tränen, wenn Frau Wagner erklärte, Bärbel solle doch endlich vernünftig sein und sich nicht von vornherein selbst nervös machen.
»Ich bin keine schlechte Mutter gewesen, Bärbel, ihr seid alle gesund geblieben; du hattest doch stets Vertrauen zu mir, behalte es auch weiterhin.«
Dann schluckte Goldköpfchen die Tränen hinunter, nickte mit dem Kopf und meinte kleinlaut:
»Aber einen einzigen Augenblick könnte man nach ihm sehen.«
Als Großmama Lindberg wieder einmal nach Heidenau gekommen war, um sich nach dem Befinden von Mutter und Kind zu erkundigen, versuchte Bärbel mit der alten Dame ein Komplott zu schmieden.
»Es ist gewiß richtig, Großmama, was die Mutti sagt, aber das mag bei kräftigen und robusten Kindern zur Anwendung kommen. Hermann ist doch aber ein schwaches Kindchen, das jeder Infektion ausgesetzt ist. Möchtest du nicht einmal mit Mutti reden?«
Die Großmutter lachte Bärbel aus. Das schmächtige Kind hatte bei der Geburt neun volle Pfund gewogen, und der Arzt, der es sich später angesehen hatte, behauptete, daß er selten einen so kräftigen Jungen gesehen habe.
Da auch die Großmutter Bärbel nicht beistand, hoffte sie auf die Hilfe des Gatten.
Eines Tages vertraute sie ihm ihren Kummer an.
»Sieh 'mal, Häschen, so ein erstes Kind muß immer ganz besonders sorgfältig behandelt werden, – das siehst du doch ein. Habe ich es unter Augen, dann ist ja alles gut; aber ich leide Höllenqualen, wenn ich es nicht sehe. Es könnte sich aufrichten, aus dem Bettchen fallen, sich mit den Fäusten die Augen ausstoßen, es könnte sich den Bettzipfel tief in den Schlund stopfen und daran ersticken. Es könnte –«
Lachend schlang Harald seine Arme um die Ängstliche. »Aufrichten kann es sich noch nicht, und geschehen wird ihm auch nichts, kleine ängstliche Mutter; deine Mama sorgt schon, daß alles seine Ordnung hat. Du kannst ihr ruhig in allem folgen, mein Goldköpfchen.«
»Und wenn ihm etwas zustößt, ist es zu spät!«
»Aber, Bärbel, was soll dem Kleinen denn zustoßen? Du mußt doch nicht überängstlich sein. Schau, es ist ganz verkehrt, wenn man jede Sekunde dem Kleinen opfert. Du darfst über dem Buben deine anderen Pflichten nicht vergessen.«
»Das ist jetzt alles anders geworden. Harald, unser Romeo ist nun einmal der Pol, um den sich alles dreht. So wird es von nun an bleiben.«
»Das wäre mir eine nette Wirtschaft, wenn sich alles um das Baby drehen wollte. Noch dazu um einen Romeo. – Wer ist denn das?«
Bärbel machte ein verlegenes Gesicht. »Ich muß dir ein Geständnis machen, Harald, aber du darfst nicht lachen. Ich habe mir so lange überlegt, wie ich den Jungen nennen soll. An den Namen Romeo aber habe ich gar nicht gedacht. Ro–me–o. Höre doch nur, wie das klingt, dreistimmig, – feierlich, – da habe ich mir gedacht. Romeo ist viel netter als Hermann. – Nein, Hermann klingt nicht nett Wir haben uns da vertauft. Ich denke, wir nennen ihn bei der Taufe doch noch anders. Du gehst noch einmal zum Standesbeamten und läßt den ›Hermann‹ streichen.«
»Kleines verdrehtes Frauchen! Ich bin mit meinem Hermann durchaus einverstanden. Puh, Romeo, – wie würde der arme Junge später ausgelacht werden, wenn er Romeo Wendelin hieße. Finde dich nur damit ab, daß er Hermann heißt.«
Bärbel seufzte auf. »Immerfort muß ich mich mit etwas abfinden! Ach, Harald, ich habe es verteufelt schwer! Du sagst es, die Mutti sagt es, und die Großmutter hat es auch gesagt. – Ja, ist eine junge Frau denn nur dazu da, um sich mit allem abzufinden?«
»Du wirst noch vieles lernen müssen, mein liebes Bärbel.«
»Ja, – man wird alt wie ein Haus und lernt niemals aus. So wird es bis an mein Lebensende gehen. Da habt ihr Männer es doch besser. Wenn ihr fertig studiert habt, seid ihr ausgelernt, und kein Mensch wagt es, euch auch nur ein einziges Mal zu sagen: ›Damit mußt du dich abfinden.‹«
»Oho, kleines Goldköpfchen, mir hat man auch schon allerlei gesagt und sagt es auch jetzt noch. Gerade heute habe ich mich einer Anordnung des Werkmeisters gefügt.«
»Du – der Oberingenieur?«
»Ja, – ich bin doch nur ein kleines Rad in der großen Maschinerie.«
»Also kein Pol, um den sich alles dreht? Ach nein, das ist nur unser Cheruskerfürst. – Aber etwas muß ich dir noch sagen, Harald, ich denke, du wirst mich verstehen. Als ich mich verheiratete, habe ich mir gedacht, nun wird alles ganz anders werden. Das Bärbel, das sich immer fügen mußte und das immer korrigiert wurde, ist nun etwas ganz anderes geworden, selbständig, wissend, na und so weiter. Und was ist nun? Kein Mensch sieht mir an, daß ich etwas anderes geworden bin. Genau so wie damals, als ich ins Atelier zu Brausewetter ging, laufe ich auf der Straße, niemand zeigt hinter mir her, keiner sagt: ›Das ist die junge Frau aus Heidenau.‹ Eigentlich ist das eine kleine Enttäuschung für mich. Das verstehst du doch?«
»Ich kann mir schon denken, was du meinst, Goldköpfchen. Aber möchtest du denn, daß alle Menschen hinter dir herzeigen und sagen: ›Seht doch 'mal, da geht das Bärbel Wendelin.‹ – Laß gut sein, mein liebes Goldköpfchen, es genügt doch, daß wir beide durch die Eheschließung unsagbar glücklich geworden sind.«
»Ja, – und da wir nun unseren Pol haben, – ach, Harald, manchmal kann ich es gar nicht fassen, daß das liebe, süße Wesen mein alleiniges Eigentum ist. Mein – mein Kind!«
»Gehört mir denn nicht auch etwas davon, Bärbel?«
»Natürlich, Häschen, – aber mir gehört es doch noch etwas mehr.«
»Vom juristischen Standpunkt aus ist deine Behauptung unrichtig, Bärbel. Ein Kind gehört dem Vater und der Mutter zu gleichen Teilen.«
Bärbel machte ein unglückliches Gesicht. »Vom juristischen Standpunkt, – na ja, aber wir brauchen doch nicht gleich zum Gericht zu gehen.«
»Der weise Salomo hatte schon recht, als er –«
Ein Aufschrei kam aus dem Munde der jungen Mutter. »Du Rabenvater! Harald, ich flehe dich an, – Harald, was sind das für Gedanken!«
Lachend drückte er ihren Kopf an seine Schulter. »Kleines Schäfchen, wir können doch unseren Pol nicht halbieren. Behalte du deinen Jungen, ich nehme mir mein Recht schon von selbst. Die Hauptsache ist, daß er ein gesunder und tüchtiger Junge wird. Wirst mich schon noch rufen, Bärbel, wenn es nötig wird. So ein Papa versteht das Prügeln immer viel besser als eine Mama.«
Sie fiel ihm entsetzt in den Arm. »Prügeln willst du das zarte Geschöpfchen? Harald, mit Prügel erzieht man kein Kind. Soll es verängstigt in der Ecke hocken und mit entsetzten Augen den Rohrstock ansehen, der an der Wand hängt? – Harald, wenn wir uns niemals gezankt haben, – aber es würde zu einer Katastrophe kommen, wenn du einen Stock ins Haus brächtest.«
»Wie war es doch, Bärbel? – Es ist noch kein Vierteljahr her, da erzählte mir jemand, daß die Erziehung vom ersten Tage an einsetzen müsse, und daß Prügel die beste Erziehungsmethode seien. – Kannst du mir nicht sagen, wer diese Äußerung getan hat?«
»Was muß das für eine Mutter gewesen sein,« sagte Bärbel entrüstet, »irgendeine, die –« Plötzlich verstummte sie, wurde glühend rot und sagte leise: »Die das gesagt hat, wußte noch nicht, wie es ist, wenn ein Baby da ist. – Ich sagte dir ja, Harald, man lernt nie aus.«
»Na also, – da wollen wir uns heute über den Rohrstock nicht streiten, in einigen Jahren wirst du selbst gehen und dir solch einen Helfer anschaffen.«
»Niemals!« rief Bärbel feurig, »ich kenne mich, es ist eine grausame Folter, es geht auch ohne ihn. Paß auf, bei unserem Pol geht es ohne. – Sieh dir doch den Jungen 'mal genau an, solch ein liebes Kindchen. In seinen Augen steht nichts von Schlechtigkeit und Falschheit. Also noch einmal: Rohrstock ausgeschlossen! – Aber nun habe ich meine Pflichten als Mutter schon wieder schmählich vernachlässigt, Häschen, der Pol braucht mich.«
»So komm, da wollen wir uns gemeinsam unseren Pol ansehen.«
Überglücklich neigte sich Bärbel über den schlafenden Knaben.
»Sieh 'mal, Harald, wie er lacht! – Was mag er wohl träumen?«
»Der träumt noch gar nichts, mein Bärbel, der schläft«
»Mein Junge, – mein – mein Junge!« Und dann warf sie sich Harald an die Brust, umschlang ihn voll innersten Glückes und flüsterte leise: »Kann ein Mensch wohl so glücklich sein wie ich?« –
Apotheker Wagner, der in Dillstadt eine Apotheke hatte, war selbstverständlich damit einverstanden gewesen, daß Bärbel zur Zeit, als sie selbst Mutter werden sollte, von der Mutter betreut wurde. Man hatte beschlossen, daß die beiden Unterprimaner, Martin und Kuno, während der Herbstferien nach Dresden zur Großmutter reisten, weil Herr Wagner in Dillstadt mit den Jünglingen wenig anzufangen wußte. Wo keine Hausfrau ist, herrscht auch keine Ordnung, und da sich Frau Lindberg, wie immer, bereitwillig erboten hatte, auch hier wieder helfend einzuspringen, war ihr Vorschlag dankbar angenommen worden.
Martin und Kuno, die beiden Achtzehnjährigen, waren über die bevorstehende Reise sehr erfreut. Auch sie liebten die Großmutter zärtlich, die nach ihren Begriffen mehr Verständnis für ihre Gefühle hatte als Vater und Mutter. Außerdem würde es in Dresden manches Interessante geben. Auch Bärbel würde man besuchen, wollte sich den neu erschienenen Schreihals ansehen, den man auf den scheußlichen Namen Hermann getauft hatte. Bei Schwager Wendelin war es immer recht nett, und besonders Kuno schätzte den guten Weinkeller und die Zigaretten, die Harald vorrätig hatte. Martin dagegen freute sich mehr auf die schicken Großstädterinnen. Er wußte, daß im Hause der Großmutter eine flotte Zwanzigjährige wohnte, die schon seit langem das Herz des Primaners entflammt hatte. Die Dillstädter Kleinstadtpflanzen schätzte er nicht. Er war für das Moderne, für rassige Mädels; fand es zwar scheußlich, wenn eine mit geschminkten Lippen umherlief, trotzdem interessierte er sich für jene.
Frau Lindberg, die die Knaben nun Anfang Oktober als Gäste erhalten hatte, duldete es zunächst nicht, daß beide nach Heidenau hinausfuhren. Sie wußte genau, daß Bärbel von den Brüdern wieder gefoppt werden würde, und wollte der jungen Mutter jede Aufregung fernhalten. Nun aber, da sich Bärbel wieder wohl und kräftig fühlte, waren die Brüder nicht mehr zu halten. An einem Sonntagmorgen erschienen beide in Begleitung der Großmama draußen in Heidenau.
»Wollt ihr Bärbel denn nicht ein paar Blumen mitnehmen?« hatte Frau Lindberg gefragt.
»Wozu denn?« fragte Kuno. »Ich brauche doch meiner Schwester keine Blumen zu bringen.«
»So viel Taschengeld bekommen wir nicht, Großmama, daß wir die Markstücke unnötig wegschmeißen können. Wir haben doch andere Verpflichtungen. Bärbel freut sich, wenn wir kommen.«
»Gut, – ich dachte ja auch nur, weil ihr nun Unterprimaner seid. Ihr steht jetzt in dem Alter, in dem ihr eigentlich wissen müßtet, was sich gehört. – Also, lassen wir es.«
Martin knurrte einige undeutliche Worte vor sich hin, Kuno strich den Schnurrbart, der noch nicht vorhanden war, und sagte herablassend: »Wenn's nicht zu teuer wird, können wir ihr ja schließlich 'ne Hand voll Astern mitnehmen.«
»Nein, nein, laßt nur,« meinte Frau Lindberg. »Was man nicht aus sich selbst heraus tut, hat keinen Wert.«
Während der Fahrt nach Heidenau waren die beiden jungen Herren ziemlich still. Die Worte der Großmutter hatten sie ein wenig verstimmt, die gute Laune war verflogen. Frau Lindberg gab sich den Anschein, als merke sie nichts davon, sie sprach freundlich auf ihre beiden Enkel ein und meinte schließlich:
»Regt mir aber mein Bärbel nicht auf.«
»Aber, Großmutter, wir wissen doch, wie man sich zu betragen hat.«
»Das freut mich.«
Endlich war Heidenau erreicht. Es war nicht weit bis zu der hübschen kleinen Villa, in der Bärbel im ersten Stock wohnte. Man ließ die Großmutter vorangehen, dann flüsterte Kuno dem Bruder zu:
»Ob wir nicht doch noch ein paar Blumen besorgen?«
»Quatsch, – sollst 'mal sehen, wie ich mich aus der Affäre ziehe.«
Bärbel wäre den beiden Brüdern am liebsten um den Hals gefallen; aber sie dachte an ihre frauliche Würde und unterließ es. Außerdem waren beide Brüder um einen guten Kopf größer als sie und machten unnahbare Gesichter.
»Meinen herzlichsten Glückwunsch, Schwester Barbara,« sagte Martin, »ich freue mich fabelhaft! Habe lange überlegt, womit ich dir eine Freude bereiten könnte, Blumen? – Nee, – wo doch die schönste Blume in der Wiege liegt.«
Bärbel sah den Bruder beglückt an. Das hatte Martin wunderschön gesagt.
»Kommt 'mal mit,« flüsterte sie strahlend, »ihr müßt gleich zu meinem Romeo kommen, – er ist ja so süß!«
»Nachher, Bärbel.«
»Nein, ach nein, ihr müßt gleich kommen.«
Nun erschienen auch Frau Wagner und Harald Wendelin. Beide Primaner hielten es für ratsam, ins Herrenzimmer zu gehen, anstatt das Schlafzimmer aufzusuchen.
So stand Bärbel wartend am Bettchen ihres Kindes, bis sie schließlich die Geduld verlor und ins Herrenzimmer eilte.
»Na, – ich denke, ihr wollt euch meinen Jungen ansehen?«
Kuno, der sich soeben eine Zigarette angezündet hatte, sagte kurz: »Später, ich rauche gerade.«
»Dann komm du wenigstens, Martin.«
»Äh – natürlich,« meinte Martin, »muß mir doch die Krabbe besehen. Wenn es dich nicht stört, Bärbel? Du bist doch immerhin eine junge Frau – und junge Herren gehören nicht recht –«
»Na, kommt nur mit,« meinte Harald, »Bärbel will euch doch ihren Jungen zeigen.«
Als Kuno, die Zigarette in der Hand, durch die Tür schritt, riß sie ihm Bärbel ungestüm aus den Fingern und trat sie aus.
»Willst du meinen Jungen nikotinvergiften? Du hast wohl gar keinen Verstand, Kuno?«
Das war arg! Sofort beschloß der Bruder, sich zu rächen. Ihm, dem Unterprimaner, zu sagen, er habe keinen Verstand! Mit dem denkbar blasiertesten Gesicht trat er an das Bettchen des Kleinen und sagte gedehnt:
»Nun ja, nach Kürbis sehen sie alle aus.«
»Was?« rief Bärbel.
»Auf dem Komposthaufen daheim liegt genau so ein rundes Ding. Oder meinst du, daß er dir ähnlich sieht und das reizendste Baby der Welt ist? Mütter haben immer solche fixe Ideen.«
»Aber, Kuno, benimm dich ein wenig besser,« flüsterte Frau Lindberg ihrem Enkel zu. Sie sah, daß Bärbel die Röte der Empörung ins Gesicht stieg.
Martin holte aus der Westentasche ein Monokel hervor, klemmte es ins Auge und sagte näselnd:
»Hm, – ähnlich sieht er euch nicht, er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Dillstädter Lumpen-Wilhelm.«
»Mit wem?« fragte Bärbel erstickt.
»Äh,« meinte Martin nachlässig, »du mußt doch den alten Mann auch kennen, der immer Lumpen und Knochen sammelt und mit seinem Hundewagen durch Dillstadt fährt. Hast ihm doch oft genug was gebracht.«
Da vergaß Bärbel ihre frauliche Würde. »Ihr seid ja dämlich,« rief sie empört, »ihr seid gar nicht wert, solch einen Neffen zu haben! Denkt ihr, ihr habt anders ausgesehen? Zwei ekelhafte Kohlköpfe waret ihr, immerfort habt ihr geschrien. Oh, ich weiß das genau! Ihr könnt euch überhaupt kein Urteil anmaßen, steckt eure Regennasen lieber in die Schulbücher.«
»Aber, Bärbel,« mahnte die Mutter.
»Ihr habt nicht genug Prügel gekriegt, meiner braucht keinen Rohrstock! – Ihr wollt Primaner sein?« Dann stellte sie sich vor das Bettchen, drehte den Brüdern den Rücken zu und streichelte die Händchen des Kleinen.
»Das ist doch keine Beleidigung, Bärbel,« meinte Martin, »wenn ich eine Ähnlichkeit herausfinde. Der Lumpen-Wilhelm kann in seiner Jugend ein sehr hübscher Junge gewesen sein. Aus wissenschaftlichen Forschung weiß man, daß sich –«
»Ich brauche deine wissenschaftlichen Forschungen nicht, davon verstehst du einen Quark!«
»Nicht ärgerlich sein, mein Bärbel,« begütigte Harald. »Du kennst doch die Brüder, sie machen sich gern einen Spaß mit dir. – Was sich liebt, das neckt sich. Wir wollen uns doch den schönen Sonntag nicht verderben. Kuno und Martin sind genau unserer Meinung, daß sie einen sehr lieben Neffen bekommen haben, und freuen sich mit uns. Nicht wahr, Jungens?«
Martin schaute den Schwager mit einem strafenden Blick an.
»Ich hätte eine Bitte an dich, Schwager Harald. Ich habe kürzlich meinen achtzehnten Geburtstag gefeiert. Mit ›Jungen‹ kann man uns heute nicht mehr anreden.«
»Sei nicht so albern, Martin,« rief Frau Lindberg ein wenig ärgerlich dazwischen, »und nimm den Glasscherben aus dem Auge! Für einen Primaner wirkt das geradezu kindisch. Wo hast du denn das Ding her?«
»Es scheint mir, als sähe ich auf dem einen Auge nicht gut?«
»Dann gehe ich gleich morgen mit dir zum Augenarzt,« sagte die Großmama. »Also abgemacht, Martin, es bleibt dabei, wir gehen morgen zu Dr. Flöge.«
Der Glasscherben verschwand rasch. Dann hielt es Harald für angebracht, seine beiden jungen Schwager hinüber ins Herrenzimmer zu bitten. Er wußte, daß es seinem Bärbel so am liebsten sei.
Bärbel blieb allein im Schlafzimmer zurück. Sie wollte sich nicht ärgern, sie kannte die Art der Brüder; aber daß man ihren Cheruskerfürsten mit einem Kürbis verglichen hatte, kränkte sie doch ein wenig.
»Ach was,« sagte sie tief aufatmend, »es sind eben noch dumme Jungens. Wir wollen uns über sie nicht ärgern. Du wirst einmal viel klüger sein als die beiden zusammen. Bist ja kein Zwilling, hast das Gehirn von beiden in deinem süßen Köpfchen. Man kann mit ihnen nicht rechten. Wir wollen ihnen verzeihen.«
Gegen zwölf Uhr kam noch anderer Besuch, und zwar war es Direktor Dr. Gerlach, der es für richtig befand, der jungen Frau seines Oberingenieurs einen Besuch zu machen. Bärbel war ein wenig verlegen, als ihr der ältere Herr die Hand küßte und einen prachtvollen Strauß Rosen überreichte. Die beiden Primaner standen ein wenig abseits und warfen sich einen verschämten Blick zu. Sie staunten aber auch über die Sicherheit der Schwester, die jetzt so liebenswürdig mit dem Direktor sprach.
»Macht eigentlich 'ne fabelhafte Figur. So sicher ist meine Irma nicht im Auftreten. – Donnerwetter!«
»Und wie sie den Handkuß entgegengenommen hat, alle Achtung!«
Das Baby wurde gebracht. Gespannt horchten die beiden Primaner auf die Worte des Direktors, der Bärbel über das Kleine liebenswürdige Komplimente sagte.
»Welch ein freundliches Kind, – nicht wahr, kleiner Mann, du weinst nicht, wenn du mich siehst? Er macht schon jetzt seinem Namen Ehre, gnädige Frau. Was er für strahlende blaue Augen hat, die haben Sie ihm mitgegeben, liebe gnädige Frau.«
»Kann der aber schmusen,« flüsterte Kuno dem Bruder zu.
»Die blauen Augen scheinen in Ihrer Familie zu liegen, gnädige Frau.« Der Direktor schaute Martin an.
»Selbstverständlich, Herr Direktor, seit Generationen. Der Vater, die Mutter, schon der Großvater von beiden Seiten –«
»Das trifft nicht immer zu,« meinte Frau Wagner, »wie Sie sehen, habe ich braune Augen. Ich finde aber auch, daß der Knabe meinem Bärbel sehr ähnlich sieht.«
»Fabelhafte Ähnlichkeit,« näselte Martin, »und ein so freundliches Kind. Es hat auch vorhin nicht geweint, denn wir beide waren ihm doch auch fremd. – Wirklich ein freundliches Kind. – Meiner Schwester wie aus dem Gesicht geschnitten, – nicht wahr, Herr Direktor?«
Langsam wandte Bärbel den Kopf nach dem Bruder hin, sah ihn von oben bis unten an und flüsterte, nur für Martin verständlich:
»Lumpen-Wilhelm!«
Kuno war sprachlos. Der Direktor, er wußte von Harald, daß es ein schwerreicher Industrieller war, dieser selbe Direktor besaß drei Autos und ein Reitpferd; und dieser Direktor kam zu seiner Schwester, küßte ihr die Hand und brachte ihr Rosen, dazu nannte er sie ›gnädige Frau‹. Und diese Schwester, die Kuno bisher nicht für voll angesehen hatte, stieg plötzlich in den Augen des Bruders turmhoch. Freilich, Bärbel war eine hübsche Erscheinung, geradezu fabelhaft hübsch. Wenn man mit ihr spazierenging, würde man Eindruck schinden. Das wollte er gleich morgen tun. Er würde Bärbel abholen, dann konnte man ein Stündchen im Freien umherwandern.
Der Direktor blieb über eine Viertelstunde; dann verabschiedete er sich.
Wenige Minuten später fand sich ein zweiter Gast ein, Professor Richter. Auch er brachte der jungen Mutter Blumen, auch er küßte Bärbel die Hand, nannte sie ›gnädige Frau‹ und unterhielt sich mit ihr. Höher konnte Bärbel in der Achtung der Brüder jetzt nicht mehr steigen. Es war wohl doch richtig, wenn man ihr etwas respektvoller entgegentrat.
Die gleichen Gedanken beherrschten Martin. Beim Mittagessen schlug der Primaner an sein Glas und hielt eine wohlgelungene Rede, gespickt mit vielen lateinischen Worten auf die junge ›Mater‹ und den Stammhalter des Hauses Wendelin.
»Und so erhebe ich denn mein Glas und trinke auf den einzigen Wert in diesem Hause, auf den liebreizenden Buben, meinen Neffen Hermann Wendelin.«
Man lächelte über die Entgleisung, aber Martin hatte es gut gemeint, Bärbel fühlte sich unendlich glücklich, reichte Martin dankerfüllt die Hand, die dieser galant küßte.
Kuno aber verabredete noch in dieser Stunde mit seiner Schwester einen gemeinsamen Spaziergang für morgen vormittag.
Der Tag endete in schönster Harmonie. Beim Abschied bekam Bärbel von den Brüdern zwei feurige Handküsse, und Martin sagte liebenswürdig:
»Auch ich würde dir ohne weiteres den Titel ›gnädige Frau‹ zuerkennen, du hast eine fabelhafte Anmut und Würde. Manch eine Frau könnte dich darum beneiden. Du hast mir heute imponiert!«
Dann trennte man sich. Unterwegs zog Kuno mehrfach sein Zigarettenetui hervor und betrachtete es wohlgefällig. Es war bis auf den letzten Platz gefüllt. Herablassend bot er Martin eine Zigarette an.
»Nee,« sagte dieser verächtlich, »deine Drei-Pfennig-Dinger sind mir zu ordinär!«
»Hab' sie umgetauscht,« meinte Kuno, »habe ihm meinen Knaster dagelassen, bei ihm kommt es so genau nicht darauf an.«
Dann rauchten beide bis Dresden.
»Sollst 'mal sehen, was ich morgen für Aufsehen errege mit Bärbel. Donnerwetter, werden sich die Heidenauer nach uns umsehen!«
»Vielleicht wäre es gut, wenn ich mitkäme,« meinte Martin.
Energisch wehrte Kuno ab. Er wollte mit seiner hübschen Schwester allein ausgehen. –
Er fand sich auch pünktlich ein. – Bärbel sah entzückend aus. Sie trug ein dunkelblaues Samtkostüm, und voller Bewunderung gingen die Augen des Bruders über ihre zierliche Figur. Sie drückte den Hut auf die blonden Locken und sagte dann strahlend, im Bewußtsein ihrer guten Erscheinung:
»So, nun sind wir fertig. Grete ist schon unten.«
Kuno maß dieser Bemerkung weiter keinen Wert bei, aber als man aus dem Hause trat, stand unten das Mädchen mit einem entzückenden Kinderwagen.
»Unseren Pol nehmen wir mit.«
»W–a–s? – Das Kind kommt mit? Das geht mit spazieren?«
»Grete fährt es. Du denkst wohl, ich gehe ohne mein Bübchen spazieren? Bei diesem herrlichen Wetter fährt er immer aus.«
»Aber – aber das ist doch ganz unmöglich, – ich, als Primaner kann doch nicht neben dem Kinderwagen hergehen.«
»Das schadet dir doch nichts.«
»Na, Bärbel, du weißt aber auch nicht, was du einem jungen Herrn schuldig bist. – Nee, dein Mädchen kann den Wagen einen anderen Weg fahren.«
»Geh du nur lieber nach Dresden zurück, Kuno, ich sehe, es paßt dir wieder einmal nicht. Was sollte ich denn mit dir in Heidenau herumlaufen? Entweder du gehst mit uns, oder du läßt uns allein.«
Er kämpfte einen kurzen Kampf; dann erklärte er, er sei nicht Herr seiner Zeit und müsse nach Dresden zurück. Er habe ganz vergessen, daß er dort noch eine wichtige Verabredung habe.
Bärbel begann herzlich zu lachen. »Einmal brauchst du nicht zu schwindeln, lieber Kuno, – zum anderen bilde dir ja nicht ein, daß du in einen falschen Verdacht kommst. Dir sieht es doch ein jeder an, daß du noch die Schulbank drückst, kannst ja fast noch auf ein Kinderbillett fahren. – So, und nun auf Wiedersehen, gehe du ruhig zu deiner Verabredung.«
Sie reichte ihm fröhlich die Hand; doch diesmal küßte er sie nicht, sondern ging mit raschen Schritten davon.