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Pablo und Mariquita

Seit Menschengedenken war die Westküste des Landes nicht von einem solchen Sturm heimgesucht worden. Die ganze Nacht hatte er getobt und gewütet, die Uferwände zerrissen, Bäume entwurzelt, Fischerhütten wie Streichholzschachteln zerstampft, Boote ans Land geschleudert und das Land auf weite Strecken hin verwüstet.

Es war, als sei ein Ungeist über die Erde gegangen und habe sich, nachdem er seiner wilden Wut Lauf gelassen, wieder in seine finstere Sphäre zurückgezogen.

Don Antonio d'Irala, ein begüterter Haziendero, ritt mit seinem Majordomo an dem flachen, sandigen Meeresufer entlang; ein Vaquero folgte ihnen in einiger Entfernung. Friedlich und ruhig lag das Meer, als hätte es nicht erst vor Stunden in furchtbarer Wut gebrüllt, der Himmel war blau, und die Sonne, schon jetzt am frühen Morgen eine sengende Hitze ausstrahlend, schien friedlich auf das Bild der Zerstörung.

»Schlimm, Don Estevan«, sagte der Haziendero zu seinem Begleiter, »viel schlimmer, als ich erwartet hatte. Nur gut, daß wenigstens kein Menschenleben zu beklagen ist.« Sie hielten an einer Stelle, wo gestern noch einige Hütten gestanden hatten; nur die großen Feuerherde waren zurückgeblieben. In einiger Entfernung stand eine Gruppe von Menschen, die in stumpfer und gleichgültiger Haltung auf das Meer hinaussahen.

Die Reiter setzten sich wieder in Bewegung; als sie sich der Gruppe näherten, lüfteten die dort stehenden Männer die Hüte. Es waren ein Weißer und drei Indianer.

»Eine böse Nacht, Miguel«, sagte d'Irala, dem Weißen, der herangetreten war, die Hand reichend, »hoffentlich ist hier bei euch niemand verunglückt?«

»Nein, Señor, Gott sei Dank nicht«, entgegnete der Angeredete, ein stämmiger Mann in den Vierzigern. »Wir haben, sobald das Unwetter loszubrechen begann, Frauen und Kinder hinter die Felsen gebracht« – er deutete auf eine zerklüftete Felsgruppe, die das sandige Ufer nach Süden zu wie eine Kulisse abgrenzte. »Schließlich haben wir selber dort Schutz gesucht, als es zu schlimm wurde. Aber was wir hatten, ist hin.« Sein leerer Blick streifte über die verwüstete Fläche; es zuckte in seinem Gesicht.

»Nun, äußerer Verlust läßt sich immer ersetzen«, sagte Don Antonio. »Schickt die Euren zur Hazienda, bis Ihr Euch wieder ein Heim geschaffen habt.« Der Mann stammelte einen Dank, schien aber noch zu beeindruckt von dem plötzlich über ihn hereingebrochenen Unglück, um ganz zu erfassen, was ihm da geboten wurde.

Einer der Indios schob sich vor. »Unsere Boote und unsere Netze sind zerstört, Señor«, sagte er, »das Vieh ist ertrunken oder in die Wälder entlaufen; wir haben nichts als das Leben gerettet.«

»Sei froh, daß ihr lebt, Metyllo«, versetzte der Haziendero, »wir werden helfen, wo wir können. Bringt Frauen und Kinder in unsere Arbeiterhütten. Don Estevan wird für sie sorgen. Und dann fangt wieder an; das Leben geht weiter. Die Hauptsache, ihr laßt euch nicht unterkriegen.«

»Mil gracias, Señor«, murmelte der Indio und trat zurück. Don Antonio wandte sich dem Weißen zu. »Was habt ihr vorhin so eifrig aufs Meer hinausgeschaut, Miguel?« fragte er. »Gibt es da etwas Besonderes?«

Der Mann zuckte die Achseln. »Schiffstrümmer, Señor«, sagte er, »seht dort. Sie treiben.« D'Irala wandte den Blick; er sah das ziemlich große Bruchstück eines von den Wellen zertrümmerten Schiffes. Es trieb in nicht allzu weiter Entfernung auf dem kaum bewegten Wasser.

»Mein Gott!« stammelte er, »ein Schiff gestrandet. Und zweifellos alle ertrunken. Gott sei ihren Seelen gnädig.« Er nahm den Hut vom Kopf und sah starren Blicks auf das Meer hinaus.

Miguel trat neben ihn. »Die Indios hier behaupten, es lägen Menschen auf den treibenden Balken dort«, sagte er. »Ich kann nichts erkennen, aber die Braunen haben bessere Augen.«

D'Irala ergriff ihn am Arm. »Und Ihr zögert?« rief er empört, »rasch, rasch, bewegt euch doch! Habt ihr kein brauchbares Boot?«

Miguel verzog etwas unwillig sein Gesicht. »Sind wirklich Menschen auf den Trümmern dort, sind sie tot«, sagte er, »aber meinetwegen. Gefahr ist nicht dabei. Mein Boot ist noch brauchbar; ich hatte es rechtzeitig an Land gezogen.«

»Vorwärts! Vorwärts!« drängte d'Irala.

Die Leute machten sich, nicht besonders willig und auch nicht sonderlich eilig ans Werk. Immerhin schwamm das stabile Boot nach einigen Minuten auf dem Wasser. Don Antonio selbst, Miguel und zwei Indianer saßen darin. Eine Viertelstunde später stieß es auf die Schiffstrümmer. Sie zogen sich heran und kletterten hinüber. Sie sahen: es handelte sich um den abgerissenen Teil vom Hinterdeck eines größeren Schiffes. Und gleich darauf stießen sie auch auf Menschen. Eine ältere Indianerin umklammerte noch immer mit starren Händen die Reling; die Frau war zweifellos tot. Zwischen ihrem Körper und der Bordwand lagen, zusammengekrümmt, die Körper zweier Kinder. Ein weißes Mädchen und ein brauner Junge; sie hielten sich umklammert und schienen leblos wie die Frau, die sie mit ihrem Leib vor den Wellen geschützt haben mochte.

»Entsetzlich!« flüsterte Don Antonio. Die anderen bekreuzigten sich. Der Haziendero kniete sich auf den nassen, wasserüberfluteten Boden des Schiffsdecks und suchte die Kinder aus ihrer Lage zu lösen. Plötzlich stieß er einen Überraschungsruf aus. »Sie leben«, stammelte er. Er zog zunächst das Mädchen hervor, dem das nasse Kleidchen um die frostkalten Glieder klebte; er sah in ein blasses, zartes Kindergesicht, von braunen, jetzt vor Nässe glänzenden Locken umgeben. Die Augen waren geschlossen, es sah aus, als schliefe das Kind. Es mochte etwas über drei Jahre alt sein. Don Antonio fühlte nach dem Herzen der Kleinen und legte das Ohr an ihren Mund; kein Zweifel, das Kind lebte noch. Er rieb den kleinen, halb erstarrten Körper und bewegte die leblosen Ärmchen, um die Lungentätigkeit zu fördern.

Einer der Indianer war d'Irala nachgeklettert und hatte den braunen Jungen hervorgeholt; auch er zeigte noch Spuren von Leben, und der Indianer verfuhr mit ihm in der gleichen Weise wie Don Antonio mit dem weißen Mädchen. Die im Boot zurückgebliebenen Männer sahen den Bemühungen zu, die nach einiger Zeit von Erfolg gekrönt waren: sowohl das Mädchen als auch der kleine Indio schlugen die Augen auf. Die indianische Frau indessen war tot.

Don Antonio und der Indianer kletterten mit den Kindern ins Boot hinüber. »Zurück an Land«, befahl der Haziendero, »nehmt auch die tote Frau mit; sie war ein braves Weib und soll ein christliches Begräbnis haben.« Mit Mühe wurden die starren Finger der Toten von der Reling gelöst und der erstarrte Körper ins Boot geschafft. Antonio d'Irala hielt das kleine Mädchen fest an sich gedrückt, ihm zur Seite lag, in seinen Rock gehüllt, der kleine Indianerjunge. So trieben sie dem Ufer entgegen.

Dort hatten sich inzwischen einige indianische Frauen und Mädchen eingefunden. »Presto, Presto!« rief Antonio ihnen zu, »schafft Milch herbei; hoffentlich ist noch eine eurer Kühe am Leben.«

Das Boot stieß an Land, und die Männer sprangen mit den Kindern heraus. Staunenden Blickes sahen die Indianerinnen auf die kleinen Schiffbrüchigen; schon aber lief eine von ihnen nach den Felsen hinüber, um bald darauf mit einer Kürbisschale voll warmer Milch zurückzukehren. Eine ältere Indianerin nahm sich der Kinder an; sie atmeten, schienen aber zu schlafen. Sie tranken etwas von der warmen Milch, die man ihnen reichte, schliefen aber sogleich, offenbar völlig erschöpft, wieder ein.

»Nun, Madrecilla«, sagte d'Irala zu der Indianerin, »nimm dich deines kleinen Stammesgenossen an, das Mädchen will ich Doña Inez bringen. Ich denke, sie wird sich freuen. Und dann kommt alle nach der Hazienda, wir wollen überlegen, wie wir euch allen schnelle Hilfe schaffen können. Miguel«, wandte er sich dem weißen Manne zu, »suche doch den Namen des Schiffes zu ermitteln, das da untergegangen ist, vielleicht findet er sich auf einem der Schiffsteile.« Er winkte dem Majordomo. »Kommen Sie, Don Estevan, wir wollen nach Haus.« Er winkte den Leuten zu und sprengte, das kleine gerettete Mädchen im Arm, mit seinen Begleitern davon.

Nah hinter dem sandigen Meeresufer erhob sich ein Saum hochragender Bäume. Dahinter dehnte sich eine weite, bebaute Fläche, und in deren Mitte stand breit und wuchtig das im Landesstil erbaute Herrenhaus der Hazienda. Eine rauhe, wenig geebnete Straße führte darauf zu; auf ihr ritten Don Antonio und seine Begleiter. In dem schmalen Waldstück, das sie durchqueren mußten, hatte der Sturm zahllose gewaltige Bäume entwurzelt, in den Feldern und Kulturen hatte er blind gewütet, und auch das Herrenhaus selbst erwies sich als schwer beschädigt.

Auf der Veranda erschien eine junge Frau von schlanker, biegsamer Gestalt; sie sah den Reitern mit einem Lächeln entgegen. »Was bringst du denn da?« fragte sie, als d'Irala vom Pferde sprang.

»Du hast dir doch immer eine Tochter gewünscht«, lachte Don Antonio, »ich bringe dir eine. Ich habe sie buchstäblich dem Meer aus den Fängen gerissen.« Er betrat die Veranda und legte das Kind in den Arm der Frau. Die sah maßlos erstaunt in das feine, blasse Mädchengesicht. »Mein Gott«, stammelte sie, »was ist denn das?« D'Irala berichtete ihr in kurzen Worten, unter welchen Umständen er die Kinder gefunden hatte. Die Augen der Frau leuchteten auf. »Die Arme«, flüsterte sie, »die arme Kleine! Mein Gott, welch ein Unglück. Kann man denn einem Kind die Mutter ersetzen?« »Du wirst es können, Inez«; ein warmer Glanz stand in den Augen des Mannes, die Frau und Kind mit zärtlichem Blick streiften. »Ich will es versuchen«, flüsterte die Frau, »ja gewiß, ich will es versuchen.«

Das Kind in den Armen der Frau schlug die Augen auf; sie waren hell und schimmerten feucht; sie streiften das Gesicht der jungen Frau mit einem ängstlichen Blick. »Mama? Wo ist Mama?« flüsterte die Kleine; ihr Blick haftete an dem fremden Gesicht. Sie erkannte wohl die Güte und die Zärtlichkeit darin; sie schloß gleich wieder die Augen und stieß einen schwachen Seufzer aus. »Pablo«, flüsterte sie dann noch mit schon wieder geschlossenen Lidern, »wo ist Pablo?«

Die Señora trug das Mädchen ins Haus und in ihr Schlafzimmer, entkleidete es und legte es in ihr Bett. »Armes Kind«, murmelte sie, die kleine Schläferin betrachtend, »sie sucht ihre Mama, sie sucht einen Pablo. Ich fürchte, sie wird sie erst im Himmel wiedersehen.« In ihren Augen standen Tränen.

»Leise, sei leise«, sagte sie, als bald darauf Don Antonio ins Zimmer trat, »sie schläft, sie ist ganz erschöpft und muß viel schlafen.« Don Antonio lächelte. Er trat auf Zehenspitzen an das Bett und sah auf das kleine blasse Gesicht zwischen den feuchtglänzenden braunen Locken. »Wir wollen für sie sorgen«, sagte er, »wir wollen versuchen, ihr Vater und Mutter zu ersetzen.« Er griff nach der Hand seiner Frau.

»Ja«, sagte die, »ja, Antonio, das wollen wir.«

*

Der Junge öffnete die Augen, er sah die Indianerin an. Die überflutete ihn mit einem Schwall von Worten in ihrer Sprache; der Junge zuckte zusammen, und ein sonderbarer Zug kräuselte seine Lippen; seine Augen blickten finster und scheu wie in aufbegehrendem Trotz. Die umherstehenden Indianermädchen und Frauen hatten alle lachende Gesichter, aber das Antlitz des Jungen lockerte sich nicht auf. Dabei mochte der kleine Bursche eben vier Jahre alt sein. Eigenartigerweise trug er elegante Kleider aus gutem Stoff, ganz nach der Art weißer Kinder.

Er hat wohl Angst, er ist fremd, er sucht die Seinen, dachte die Indianerin; sie sprach in den weichen, melodiösen Lauten ihrer Sprache auf das Kind ein. Der Junge schien nichts zu verstehen, augenscheinlich achtete er auch gar nicht auf das, was die Indianerin sagte; seine Augen gingen suchend im Kreis.

»Wo ist Nina?« fragte er schließlich in spanischer Sprache. »Wo ist Maria?«

Die Indianerin fuhr zurück und sah erstaunt auf das kleine Gesicht. Aber als sei sie von dem Blick des Kleinen bezwungen, bediente nun auch sie sich des holprigen Spanisch, das sie konnte. »O Söhnchen, Söhnchen«, stammelte sie, »werden alle auf dem Grund des Meeres ruhen, die du suchst. Gott sei ihnen gnädig. Die Männer haben dich dem Wasser entrissen.«

Ein verstörter Zug glitt über das Antlitz des Jungen, er sah hilflos um sich. Dann zog seine kleine Stirn sich zusammen; er schien nachzudenken. Wieder sprach die Indianerin auf ihn ein, in ihrer Sprache wieder; sie sprach doch zu einem Kind ihrer Farbe; er mußte sie doch verstehen.

Aber er verstand sie offensichtlich nicht; sein Gesicht schloß sich zu, wie sich nur indianische Gesichter verschließen können.

»Man muß seine Kleider trocknen, er wird sonst Fieber bekommen«, sagte eine der jüngeren Frauen. Sie machten sich über den nur schwach Widerstrebenden her und entkleideten ihn, hüllten ihn dann in warme, trockene Tücher. Dabei bemerkte die Alte auf der Brust des Kindes eine Tätowierung blauer Linien, die sich in seltsamer Verschnörkelung durcheinanderzogen. Sie machte die anderen Frauen darauf aufmerksam, und die holten einige Männer herbei. Die Männer besahen sich die eigenartige Zeichnung, wußten aber keine Erklärung. Nur einer von ihnen meinte, das Zeichen habe Ähnlichkeit mit den Eingrabungen auf den Steinsäulen, die man hier und da in der Tiefe des Waldes antreffe.

Man bot dem Kinde Milch und Maisbrot, aber es wollte nicht essen und trinken. Es schob das Gebotene zurück und sagte wieder mit einer seltsamen Hartnäckigkeit: »Nina, Maria.« Die Frauen nahmen es auf und trugen es zu den Felsen hinüber, in denen sie vor Sturm und Flut Schutz und Zuflucht gefunden hatten.

Währenddessen begruben die Männer die auf den Schiffstrümmern zusammen mit den Kindern gefundene tote Indianerin am Rande des Waldes und errichteten ein aus zwei Holzstücken roh geformtes Kreuz über ihrem Grab.

Miguel fuhr, der Aufforderung Don Antonios nachkommend, noch einmal mit einem Boot zu dem schwimmenden Wrackteil hinaus, um wenn möglich den Namen des gesunkenen Schiffes festzustellen, doch vermochte er nichts darauf Hindeutendes zu entdecken.

Die Uferbewohner, bis auf Miguel und eine Familie sämtlich Indios, schickten sich nun an, mit den kärglichen Habseligkeiten, die sie gerettet hatten, den Weg nach der Hazienda anzutreten, um dort in den Arbeiterwohnungen vorläufige Unterkunft zu suchen. Den indianischen Jungen führten sie mit; er trug wieder seinen schönen Sommeranzug, der an der Sonne schnell getrocknet war. Sie trugen ihn abwechselnd und waren sehr stolz auf ihn, glaubten die Indianer doch, niemals ein so schönes und eigenartiges Kind ihrer Rasse gesehen zu haben.

*

»Mama! Nina! Pablo?« jammerte die Kleine. Sie rieb sich die Augen und sah Doña Inez aus tränennassen Wimpern heraus an. Vergeblich mühte die Señora sich, das Kind zu beruhigen; es schien keinem Schmeichelwort zugänglich.

»Wer ist Pablo?« fragte die Frau verzweifelt. »Sag doch, mein Herz, mein armes, wer ist Pablo?«

Die Kleine sah sie verständnislos an. »Pablo!« stammelte sie, und ihre Tränen liefen schon wieder. Die neue, gepflegte Umgebung des Zimmers schien keinerlei Eindruck auf sie zu machen.

Don Antonio trat ins Zimmer.

»Pablo, sie verlangt fortgesetzt nach einem Pablo«, sagte die Señora, »sollte sie etwa den kleinen Indio meinen, der gleichzeitig gerettet wurde?«

Der Haziendero runzelte ein wenig die Stirn. »Möglich«, versetzte er.

»Wo ist der Junge?«

»Ich hab ihn der alten Techpo zur Pflege übergeben.«

»Dann schick doch nach ihm. Laß ihn kommen«, bat die Frau.

Die Falten auf Don Antonios Gesicht vertieften sich. »Nicht gern«, sagte er, »gar nicht gern. Ich wünsche dem kleinen Burschen alles Gute, und ich werde für ihn sorgen. Aber ich mag keinen Indio hier im Hause haben.«

»Hole ihn trotzdem«, bat Doña Inez. »Wer weiß, wie lange wir die Kinder überhaupt haben. Wir müssen ja nach ihren Angehörigen forschen. Finden wir sie, werden wir das kleine Mädchen hergeben müssen, und mit ihr wird auch der kleine Indio gehen.«

Antonio d'Irala zögerte immer noch. Dem Enkel der Konquistadoren lag die abgründige Verachtung der roten Rasse im Blut; wie hätte er sie eines kleinen fremden Burschen wegen überwinden sollen? Aber gut, dachte er schließlich, es wird ohnehin nicht lange dauern. Er sah das bittende Gesicht seiner Frau, das ängstlich zerquälte, tränenüberströmte der kleinen Fremden und gab widerwillig Anordnung, den braunen Jungen ins Herrenhaus zu holen.

Die vom Sturm vertriebenen Fischer waren soeben auf der Hazienda eingetroffen, und so war der kleine Junge in wenigen Minuten zur Stelle. Er trat in das Zimmer und zeigte noch immer das ernste, fast widerwillig verschlossene Gesicht. In den Blicken, mit denen er die neue Umgebung musterte, lag ein Ausdruck des Stolzes, der einem vierjährigen Kinde weißer Farbe ganz unmöglich gewesen wäre.

Aber plötzlich flammte es in diesen dunklen Augen auf; ein helles Lächeln verschönte seine Züge. »Mariquita!« stammelte er und blieb anscheinend starr vor Staunen stehen.

Da jubelte auch schon das Mädchen auf. »Pablo!« rief sie, lief auf ihren strammen Beinchen auf den braunen Jungen zu und legte ihm die Ärmchen um den Hals; Bäche von Tränen liefen ihr über die Backen. »Pablo«, stammelte sie und schien ganz außer sich, »Pablo ist da.«

»Ja, Mariquita«, sagte der Junge auf spanisch, »Pablo ist da, und er geht auch nicht wieder weg.«

Doña Inez sah staunend auf die Kinder. Also Maria heißt sie, dachte sie, so weiß ich doch wenigstens ihren Vornamen.

Das Kind plapperte; es hatte den braunen Jungen losgelassen, stand vor ihm und sprach sprudelnd auf ihn ein. »Mama«, sagte sie, »wo ist Mama? Wo ist Nina? Wo ist der Papa, Pablo?«

Der Junge schüttelte den Kopf, senkte ihn dann. »Pablo weiß nicht«, sagte er leise, »fort. Alle fort. Pablo weiß nicht.«

»Sie kommen doch. Sie kommen bestimmt, Pablo. Sie lassen uns doch nicht allein«, stammelte das Mädchen.

»Kommen«, sagte der Junge, »kommen ganz bestimmt.« Sein Gesicht war wieder ernst, viel ernster, als ein weißes Kindergesicht hätte sein können.

Doña Inez, die das Gebaren der Kinder mit Staunen und Rührung betrachtet hatte, ließ ihnen nun Schokolade und Maisbrot bringen, und sie aßen, für den Augenblick allen Kummer vergessend, mit dem Appetit gesunder Kinder.

»Wer sie sein mögen?« wandte die Señora sich an ihren Mann, »die Wäsche Marias ist mit einem P gezeichnet. Ich habe sie ausgefragt, aber sie kennt nur die Vornamen der Eltern: Don Diego und Doña Mercedes.«

Don Antonio zuckte die Achseln. »Ich werde sofort Nachricht an die Regierung geben, die sie dann an allen Küstenplätzen verbreiten wird. Wir werden dann schon erfahren, welches Schiff hier zugrunde gegangen ist und wer die Eltern des kleinen Mädchens waren.«

Den Nachforschungen des Hazienderos war kein Erfolg beschieden. Der seit Jahren im Lande tobende Bürgerkrieg vereitelte alle Bemühungen. Was galt ein gesunkenes Schiff, was das Schicksal einer Familie in einer Zeit, da landauf, landab der Aufruhr die Straßen durchtobte und jede Sicherheit des Lebens von Grund auf erschütterte? Jahrelang ging das nun schon. Die der spanischen Herrschaft entrissenen Länder des mittelamerikanischen Kontinents vermochten nicht zur Ruhe zu kommen, Regierungen kamen und wurden gestürzt, Rebellen erhoben ihr Haupt und richteten ihre usurpatorische Herrschaft auf, um freilich bald wieder gestürzt zu werden; der Schrecken regierte.

Zwei Jahre lang hatte der wilde Mestize Carrera das Land Guatemala unter seiner brutalen Faust, jedes eigenwüchsige Leben, jeden Willen zu Freiheit und Fortschritt im Blut erstickend. Dann ermannte sich das geknechtete Volk und zog unter Führung des Generals de Lerma gegen den Usurpator zu Felde. Unter den Vornehmen des Landes, die der Fahne des Generals folgten, befand sich auch Don Antonio d'Irala. Der kleine Indio im Herrenhaus seiner heimatlichen Hazienda bereitete ihm einstweilen keine Sorgen. Jetzt ging es um das Land und seine Zukunft.


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