Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Stille Jahre

Die ersten Eisenbahnen und ihre Bedeutung

Und wie dürftig, eng, kleinstädtisch blieb noch immer die Industrie, trotz der besseren Zeiten. An Stahl erzeugte ganz Preußen im Jahre 1826 nur 62 000 Zentner, an Gußstahl 1832 gar nur 94 Zentner. Schienen und andere Eisenwaren, die nur mit Koks hergestellt werden konnten, kamen aus England, weil die deutschen Werke meist mit den Holzkohlen aus den nahen Waldungen heizten und die Fracht für die Steinkohlen nicht zu zahlen vermochten. Von Westfalens mächtigen Steinkohlenlagern wurde, wieder wegen der Frachtkosten, nur ein kleiner Teil ausgebeutet. Im Bochumer Revier waren 130 Gruben im Betrieb, 400 ruhten; so rechnete 1833 Friedrich Harkort, der beliebte Volksmann Westfalens. Harkort selbst leitete in Wetter an der Ruhr, Aston in Magdeburg eine große Maschinenfabrik. Jedoch im Jahre 1837 besaß Berlin erst 29 Dampfmaschinen mit 392 Pferdekräften, ganz Preußen ihrer 419 mit 7355 Pferdekräften; das Wagnis der kostspieligen Anschaffung erschien auch mutigen Gewerbtreibenden oft zu groß. Da und dort versuchte man schon eine Gewerbeausstellung zu veranstalten, aber wie schwach war die Teilnahme; viele Fabrikanten trauten dem neuen Wesen nicht recht, die meisten scheuten sich, ihre Werke dem rücksichtslosen öffentlichen Urteil auszusetzen. Die Breslauer Ausstellung von 1832 fand in einem Stockwerk eines mittelgroßen Hauses genügend Raum, und der Ausschuß bestimmte 100 Taler für den Ankauf der auserlesenen Prachtstücke. Bis gegen das Ende des Jahrzehntes merkte die Masse des Volkes noch sehr wenig von dem Nahen einer neuen Zeit. Der Bauer ging dreimal jährlich in die Stadt auf den Jahrmarkt, um neue Stiefel oder was an Werkzeug fehlte einzukaufen; in der Tabaksbude fand er den Bedarf für seine lange Pfeife, und nebenan hielt, mit der Schwammütze auf dem Kopfe, der vom Volksliede viel besungene »arme Schwammann« seine Zündwaren feil; dann gab es noch Pulsnitzer, Thorner oder Braunschweiger Pfefferkuchen für die Kinder, und wenn es hoch herging, zeigten eine starke Dame oder ein Affe auf dem Kamel ihre Künste. –

Erst die Eisenbahnen rissen die Nation aus ihrem wirtschaftlichen Stilleben, sie vollendeten erst, was der Zollverein nur begonnen hatte, sie griffen in alle Lebensgewohnheiten so gewaltig ein, daß Deutschland schon in den vierziger Jahren einen völlig veränderten Anblick darbot; und immer wird es eine frohe Erinnerung unseres Volkes bleiben, wie rasch, tatkräftig, entschlossen dies arme, politisch zersplitterte Geschlecht sich der weltumgestaltenden neuen Erfindung bemächtigte. Vieles traf zusammen, was den Deutschen den Entschluß erschwerte. Vor wenigen Jahren erst hatte man die neuen preußischen Schnellposten wie ein Wunderwerk angestaunt; der Chausseebau war überall erst im Gange; ganze Landesteile, selbst das reiche Vorpommern, entbehrten noch völlig der Steinstraßen. Dies neue Straßennetz auszubauen und mit Schnellposten auszustatten, erschien allen als die nächste Aufgabe; und sie war schwierig genug, da der Zollverein die Warenzüge vielfach verändert, eine Menge neuer Verkehrsbeziehungen geschaffen hatte. Wer hätte es nicht für tollkühn halten sollen, in einer solchen Zeit der wirtschaftlichen Umwälzung auch noch eine Erfindung einzuführen, welche den Postbetrieb völlig umzugestalten, die Chausseen zum alten Eisen zu werfen drohte?

Nach der Eröffnung der Bahn von Liverpool nach Manchester (1826) begannen in England wie in Nordamerika große Eisenbahnbauten. Das britische Parlament hielt sich aber noch lange mißtrauisch zurück: sein Komitee erklärte es für »unzulässig, der Eisenbahnen wegen Opfer zu bringen oder das Nationalvermögen zu verschleudern«. Auf dem Kontinente ging Belgien voran. Hier lagen die Verhältnisse sehr einfach. Der junge Staat bedurfte durchaus einer Bahn von Antwerpen nach dem Rheine, um seinen Scheldehafen gegen den Wettbewerb der feindseligen Holländer zu decken; da die reiche Bourgeoisie die Kammern vollständig beherrschte, die großen Städte allesamt nahe beieinander lagen, auch der Bau in der Ebene geringe Schwierigkeiten bot, so wurde schon 1834 ein Staatsbahnsystem für das ganze Land, nach Stephensons Plänen, beschlossen. Die Franzosen zauderten lange; selbst der sanguinische Thiers meinte noch im Jahre 1830, eine Eisenbahn könne höchstens zum Spielzeug für Großstädter dienen. Nachher übernahmen sie sich in kühnen Entwürfen, jedoch die Korruption ihres Parlamentarismus verhinderte rasches Gelingen. Die großen Gesellschaften, die allesamt von Paris aus nach den Grenzen zu ihre Bahnen bauen wollten, durften während langer Jahre keine Teilstrecken eröffnen, weil die Regierung aus Furcht vor den Wählern keinen Landesteil bevorzugen wollte. So geschah es, daß Frankreich noch in den vierziger Jahren nur eine Eisenbahn besaß, die kleine Lustbahn, welche die Pariser in die Versailler Gärten führte, und erst unter der Herrschaft des dritten Napoleon seine großen Bahnlinien eröffnen konnte, Zu einer Zeit, da die deutschen Hauptbahnen schon seit einem Jahrzehnte im Betriebe waren. Deutschland schritt in diesem friedlichen Wettkampfe allen Völkern des Festlandes, mit der einzigen Ausnahme Belgiens, weit voran, dem zentralisierten Frankreich so gut wie dem reichen Holland.

Schon im Jahre 1828 hatte Motz an eine Eisenbahn zwischen den Stromgebieten des Rheins und der Weser gedacht, um also die holländischen Rheinzölle zu umgehen; der noch gänzlich unreife Plan ward aber aufgegeben, sobald die Niederlande in dem Zollstreite zurückwichen. Aus demselben Grunde, um Holland zu bekämpfen, verlangte der westfälische Landtag 1831 eine Bahn von Lippstadt nach Minden. Zwei Jahre darauf forderte der Rheinische Landtag eine Bahn von der belgischen Grenze zum Rheine und zum Kohlenbecken der Ruhr, eine zweite von Elberfeld nach dem Rheine; die Stände wünschten, der Staat solle den Bau entweder selbst unternehmen oder einer Aktiengesellschaft eine Verzinsung von 4 % verbürgen. Größer gedacht war der Plan einer Bahn von Köln nach Minden, welchen Friedrich Harkort in einer Druckschrift begründete und den westfälischen Ständen vorlegte. Aber wie konnte der König in diesem Augenblicke, da die Verhandlungen über den Zollverein noch schwebten, sich auf so weit aussehende Entwürfe einlassen? Er erwiderte den Rheinländern, ihr Handelsstand würde, so hoffe er, selber die Mittel für jene Bauten zu finden wissen. Unterdessen hatte der rührige Unternehmer Gerstner in Böhmen die Budweis-Linzer Eisenbahn zustande gebracht (1828); sie diente jedoch lediglich der Abfuhr des Salzes aus dem Salzkammergute, wurde nur mit Pferden betrieben und konnte als große Verkehrsstraße nicht benutzt werden. Eine Menge von Projekten tauchten auf, alle noch so unklar und nebelhaft, daß selbst der unternehmende russische Finanzminister Cancrin zu Gerstner spöttisch sagte: in hundert Jahren werde für dergleichen wohl die Zeit kommen. Die Staatsmänner klagten sämtlich über die tolle »Eisenbahn-Manie«. Noch war man ja nicht einmal über die technischen Vorbedingungen einig. Hauptmann von Prittwitz in Posen, einer der tüchtigsten Ingenieure des deutschen Heeres, empfahl statt des Stephensonschen Systems die Anlage »schwebender Eisenbahnen« in der Art der Drahtseilbahnen, vornehmlich ward bezweifelt, ob große Bahnstrecken in dem armen Deutschland überhaupt einen Ertrag bringen könnten; die meisten glaubten, nur zwischen nahe benachbarten größeren Städten, wie Berlin und Potsdam, würde sich die Unternehmung lohnen.

Mit feuriger Begeisterung, wie er jeden neuen Gedanken ergriff, wendete sich König Ludwig von Bayern den Eisenbahnplänen zu. Er besaß an dem Bergrat Joseph von Baader, dem Bruder des Philosophen, einen geistreichen Sachverständigen, der gern in kühnen Plänen schwelgte und sich selbst den Veteran des deutschen Eisenbahnwesens nannte. Er ließ sich auch nicht beirren, als sein Obermedizinalkollegium ihm beweglich vorstellte, der Dampfbetrieb werde bei den Reisenden wie bei den Zuschauenden unfehlbar schwere Gehirnerkrankungen erzeugen, und damit wenigstens die Zuschauer Schutz fänden, müsse der Bahnkörper mit einem hohen Bretterzaune umgeben werden. Ludwig sendete seinen Architekten Klenze nach England, Belgien und Frankreich, um sich über das Eisenbahnwesen zu unterrichten, und hörte es gern, wenn ihm Feldmarschall Wrede von einem bayrischen Kriegsbahnnetze sprach, das in der Festung Ingolstadt seinen Mittelpunkt finden sollte. Am stärksten lockte ihn der Gedanke einer großen Bahn von Lindau nach Hof, die sich über Leipzig und Magdeburg bis Hamburg fortsetzen, den Zollverein zusammenhalten, Deutschlands Hauptverkehr in die Richtung vom Norden nach dem Süden, von der Elbe zum Bodensee ablenken sollte; so sollte sein Bayern die Vorhand im nationalen Handel erlangen. Er ließ deshalb schon in Berlin anfragen, empfing aber zur Antwort nur warmen Dank und die Versicherung, daß man den bayrischen Vorschlag reiflich erwägen werde, von einer Eisenbahn zwischen Ulm und Augsburg wollte er freilich nichts hören; sie konnte den schwäbischen Nachbarn bedenkliche Vorteile bringen. Auch einen Schienenweg zwischen Würzburg und Frankfurt fand er bedenklich: das würde den Verkehr mit den gefährlichen Franzosen zu sehr erleichtern. Nun gar der Plan einer Bahn zwischen dem Elsaß und der Pfalz, den ihm der französische Gesandte unablässig anempfahl, erweckte sein patriotisches Mißtrauen; so nahe an die Mainzer Bundesfestung wollte er die Straßburger Garnison nicht heranlassen. Wichtiger als alle Eisenbahnen erschien ihm doch der so lange geplante Ludwigskanal. Der große Gedanke, das Werk Karls des Großen zu vollenden, die Nordsee mit dem Schwarzen Meere zu verbinden, übte auf sein romantisches Gemüt einen unwiderstehlichen Zauber; und als nun Rothschild dienstbeflissen 8 Mill. fl. Kanalaktien an der Börse unterbrachte, auch der Landtag sich dem königlichen Lieblingsplänen willfährig zeigte, da wurden die Eisenbahnpläne über der fossa Carolina bald fast vergessen.

Gleichwohl erlebte er die Genugtuung, daß in seinem Bayern die erste deutsche Dampfbahn eröffnet wurde, die Bahn von Nürnberg nach Fürth, eine Strecke von einer Meile, die man mit Dampf in 15, mit Pferden in 25 Minuten durchlaufen konnte. Sie war das Werk des wackeren Nürnberger Bürgertums. Joh. Scharrer brachte das Unternehmen in Gang, Plattner verschaffte das Aktienkapital von 175 000 fl., der Ingenieur Paul Denis leitete den Bau. Die Behörden zeigten sich wenig günstig, weil sie für den Ludwigs-Kanal fürchteten; die Ansbacher Regierung kaufte nur zwei Aktien zu 100 fl. Erst als die Unternehmer auf den schlauen Gedanken kamen, ihren Schienenweg Ludwigsbahn zu nennen, wurde die amtliche Welt etwas freundlicher. Groß war der Jubel, als am 7. Dezember 1835 der erste Bahnzug unter Kanonendonner abfuhr; ein Denkstein und ein Geschichtstaler verherrlichten »Deutschlands erste Eisenbahn mit Dampfwagen«. Aber mit dieser kleinen, nur für Personen bestimmten Stadtbahn, die sich bald mit 6 % verzinste, war die Frage nach der Möglichkeit großer Eisenbahnen noch nicht beantwortet.

Alle diese wohlgemeinten Entwürfe waren doch nur auf das Wohl einzelner Städte oder Landschaften berechnet, und fast schien es, als sollten die Deutschen durch den Fluch ihres Partikularismus verhindert werden, die große Erfindung mit großem Sinne zu benutzen. Da trat Friedlich List hervor mit dem Plane eines zusammenhängenden, ganz Deutschland umfassenden Eisenbahnnetzes und zeigte durch die Tat, durch die glückliche Vollendung einer großen Bahnlinie, daß sein den Durchschnittsmenschen fast unfaßbares Ideal sich verwirklichen ließ. Als der Bahnbrecher des deutschen Eisenbahnwesens erwarb er sich sein größtes Verdienst um die Nation, seine Stellung in der vaterländischen Geschichte. Als er vor Jahren für die deutsche Zolleinheit gearbeitet, hatte er doch nur mutig ausgesprochen, was die Mehrzahl der Zeitgenossen schon ersehnte, und in der Wahl der Mittel vielfach fehlgegriffen; jetzt aber, mit seinen Eisenbahnplänen, eilte er allen Landsleuten weit voraus und bewährte überall die geniale Sicherheit seines Seherblicks. Nach seiner Flucht vom Hohenasperge hatte er mehrere Jahre in Nordamerika verbracht, und dort, in den glücklichsten Zeiten der jungen Union, ging ihm ein neues Licht auf; er sah das gewaltige Ringen des Menschengeistes mit der Macht der Elemente, eine Kühnheit der Unternehmungslust, wovon sein stilles Vaterland sich noch nichts träumen ließ; er sah die vornehmsten und höchstgebildeten Männer der Nation ihre beste Kraft der Volkswirtschaft widmen, was daheim im Lande der Gelehrten und Beamten ganz unmöglich war. Derweil er in den Blauen Bergen nach Kohlenminen suchte, träumte der arme Flüchtling von einem deutschen Eisenbahnsystem und sagte: »Im Hintergrunde aller meiner Pläne liegt Deutschland.«

Zur Zeit der Julirevolution kehrte er zurück, ungastlich empfangen von der alten Heimat. Der Hamburger Senat trug Bedenken, den verrufenen Demagogen als amerikanischen Konsul anzuerkennen, die Kaufherren aber zuckten die Achseln, als er von seinen Bahnplänen sprach; denn soeben hatte ihnen der Engländer Elliot bewiesen, in Deutschland sei nur eine einzige Eisenbahn möglich, die Bahn von Hamburg nach Hannover, und daß ein Deutscher gegen einen Briten unmöglich recht haben konnte, verstand sich in dieser Stadt der künstlichen Engländer ganz von selbst. Bei König Ludwig klopfte er ebenso vergeblich an; er suchte ihm zu beweisen, ein Kanal vermöge doch nur gegebene Punkte zu verbinden, während die Eisenbahnen ein zusammenhängendes Netz bilden könnten, auch sei die ersehnte Verbindung zwischen der Nordsee und dem Schwarzen Meere ja schon längst vorhanden, der beste Weg führe durch die Straße von Gibraltar. Zugleich arbeitete er unermüdlich für die Zeitungen und nannte sich selbst gern Dr. Möser den Jüngeren; seine Kunst, schwere volkswirtschaftliche Fragen leicht, lebendig, anschaulich zu behandeln, erinnerte in der Tat an Justus Mösers schalkhafte Weise, nur daß bei dem streitbaren Schwaben die Leidenschaft immer wieder durchbrach. Wenig gelehrt, aber reich gebildet und im Leben erfahren, überragte er alle andern volkswirtschaftlichen Publizisten so weit, wie sein Landsmann Paul Pfizer die politischen. Die herrschende abstrakte Freihandelsdoktrin, die sich gleich der Naturrechtslehre einen durch Naturgesetze bedingten Normalzustand der Volkswirtschaft konstruierte, ward ihm immer verhaßter. Er begann schon das wirtschaftliche Leben historisch zu betrachten, wie Savigny das Recht, und suchte die Gesetze der Volkswirtschaftspolitik aus den wechselnden sozialen Zuständen abzuleiten.

Ein gütiges Geschick führte ihn endlich nach Leipzig, eben in dem Augenblicke, da die Bürgerschaft dem Anschluß an den Zollverein entgegensah und, ohne Wasserstraßen wie sie war, ängstlich nach neuen Verkehrswegen suchte, hier oder nirgends, das sah er auf den ersten Blick, mußte der Grundstein des deutschen Eisenbahnnetzes gelegt werden; wenn hier mit den Kapitalien der bedrängten reichen Handelsstadt eine große Verkehrsbahn entstand, so konnte ihr in dem gewerbreichen Lande der Erfolg nicht fehlen, und der Anschluß neuer Bahnen nach dem Norden und Westen ergab sich dann fast von selbst aus Leipzigs zentraler Lage. Die wohlwollende sächsische Regierung gestattete ihm den Aufenthalt, unbekümmert um die Warnungen der Wiener Hofburg und des unversöhnlichen Königs von Württemberg. Sofort ließ er nun sein Büchlein »Über ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems« (1833) erscheinen. In großen Zügen entwarf er hier, mit wunderbarem Scharfblick fast überall das Rechte treffend, ein Bild von dem Eisenbahnwesen der Zukunft: Lindau und Basel, Bremen und Hamburg, Stettin, Danzig und Breslau sollten vorläufig die Endpunkte des deutschen Bahnnetzes bilden, ganz wie es sich nachher erfüllte. In Berlin, das er nur oberflächlich kannte, sah er doch schon den Mittelpunkt des deutschen Verkehrs; sechs große Bahnlinien, die allesamt späterhin gebaut worden sind, wollte er dort einmünden lassen. Sein Plan galt nur dem Zollvereine und dessen Vorlanden; Österreich ließ er, mit Ausnahme der einen Linie Dresden-Prag, vorläufig unberücksichtigt, weil er einsah, daß dort ganz eigenartige Verhältnisse vorlagen.

Durch diese Schrift wurden vier unternehmende junge Leipziger Kaufleute für den Plan der Leipzig-Dresdener Eisenbahn gewonnen: Wilhelm Seyfferth, A. Dufour-Feronce, C. Lampe und der Bruder des westfälischen Volkmannes, Gustav Harkort. Sie veranstalteten eine Versammlung, dann eine Eingabe an die Regierung, und König Friedrich August ging gütig und einsichtig auf die Pläne ein. Nun erließ List einen feurigen Aufruf zur Beteiligung an dieser »Nationalangelegenheit«. Mit der Begeisterung des Reichsstädters redete er von der neuen Blütezeit, die unsern alten Städten jetzt kommen werde; seit dem glücklich vollendeten Zollvereine bedürften die Deutschen nur noch des wohlfeilen und schnellen Transports, »um sich auf die Stufe der gewerbfleißigsten Nationen der Erde emporzuschwingen«. Für das Komitee, das sich nunmehr bildete, erstattete List dem Publikum fortlaufende Berichte, und hier sprach er schon zuversichtlich aus, was den meisten noch wie Wahnsinn klang: »Die Eisenbahnen müssen auf den großen Routen zum ordinären Transportmittel werden.« Er meinte sogar hoffnungsvoll, die Eisenbahnen würden die stehenden Heere beseitigen oder vermindern. Glücklicherweise unterschätzte man beträchtlich die Kosten, sonst wäre das Wagnis in der armen Zeit schwerlich begonnen worden. List, der wie alle Prophetennaturen von abenteuerlichem Leichtsinn nicht frei war, meinte mit einer halben, höchstens mit einer Million Taler auszukommen. Das vorsichtigere Komitee gab für 1½ Millionen Aktien aus und mußte sich bald überzeugen, daß man der dreifachen Summe bedurfte. Mittlerweile war aber das Unternehmen schon weit gefördert, niemand wollte mehr zurück, und auch »die Drillinge« fanden jetzt Abnehmer.

List empfahl den geraden Weg über Meißen durch das schöne volkreiche Bergland der Mulde; ein englischer Ingenieur J. Walker warnte jedoch vor den Schwierigkeiten einer Gebirgsbahn, und man wählte den Umweg durch die Ebene über Riesa, weil man der jugendlichen deutschen Technik nicht zu viel zumuten wollte. Dann begann das schwere Werk des Bodenankaufs, das der Staat durch ein verständiges, den Vorschlägen Lists entsprechendes Enteignungsgesetz erleichterte. Zahllose Prozesse mußten überstanden werden. Ein Windmüller klagte, weil ihm die Bahn den Wind abfange, ein anderer, weil sie die Ackerflur seiner Bauern und dadurch seinen Verdienst geschmälert habe; in einigen Dörfern leistete das Landvolk sogar tätlichen Widerstand. Unterdessen leitete Hauptmann Kunz den Bau umsichtig und tatkräftig. Eine Lokomotive, der Komet, wurde in England angekauft und eine Weile für Geld zur Schau gestellt; auch der Wagenbauer und der erste Lokomotivenführer kamen aus England. Im April 1837 konnte endlich die erste Strecke von Leipzig nach einem nahen Dorfe befahren werden; dicht gedrängt standen die Massen zu beiden Seiten der Bahn, kein lautes Wort ließ sich hören, so schreckhaft wirkte der unerhörte Anblick. Dann mußte »der Einschnitt« bei Machern ausgeschaufelt werden, durch eine Bodenwelle, welche der Reisende heute kaum bemerkt; von weither kamen die Fremden, auch der länderkundige Freiherr von Strombeck, um das Wunderwerk zu betrachten und gründlich zu beschreiben. Der schwierigste Kunstbau der Bahn, der Tunnel bei Oberau, wurde durch Freiberger Bergleute ganz nach Bergmannsbrauch wie ein Stollen von vier niedergesenkten Schachten aus in Angriff genommen; als alles beendet war, bildeten die Knappen in ihrem Paradeanzug, mit Fackeln in der Hand, im Tunnel Spalier, um den ersten durchbrausenden Zug mit dem alten Glückauf-Ruf des Erzgebirges zu begrüßen.

»Die Herrschaft des Geistes über die materielle Welt schreitet mit einer stets beschleunigten Kraft vorwärts«, so schrieb damals Babbage, der Theoretiker des englischen Maschinenwesens. Ein technischer Fortschritt folgte dem andern. Im Jahre 1839 brachte Hossauer das erste Daguerreotyp aus Paris in den Berliner Gewerbeverein; es war der bescheidene Anfang einer neuen kulturfördernden Industrie. Die eigentümliche Wagelust des Jahrhunderts trat immer zuversichtlicher auf, hoffnungsvoll sah das heranwachsende Geschlecht einer unermeßlichen Zukunft entgegen. Derweil die Deutschen sich noch an ihrer ersten großen Eisenbahn abmühten, versuchte schon eine andere folgenschwere Erfindung, die deutsche Erfindung der elektro-magnetischen Telegraphie, sich Raum zu schaffen. Das alte optische Telegraphenwesen hatte in Preußen während der jüngsten Jahre eine hohe Ausbildung erlangt. Auf eine Anfrage aus Berlin traf die Antwort aus Koblenz schon binnen vier Stunden ein, freilich nur bei hellem Wetter, wenn das hohe Balkengerüste auf dem Turmhause in der Dorotheenstraße einmal den ganzen Tag hindurch ununterbrochen seine rätselhaften Bewegungen ausführte, dann meinten die Berliner bedenklich, die Zeiten würden schlimm. Aus Petersburg konnten die Nachrichten durch den Telegraphen und durch Kuriere in fünfzig Stunden befördert werden, und man hoffte noch auf größere Beschleunigung, da der Zar soeben bei Fraunhofer in München 450 Fernrohre für die russischen Telegraphen bestellt hatte. Aber der optische Telegraph diente ausschließlich den Behörden. Ein rascher Nachrichtendienst für den allgemeinen Gebrauch ward erst möglich, als der junge Wilhelm Weber nach Göttingen kam und Gauß entzückt ausrief: der Stahl schlägt auf den Stein. Der Physiker und der Mathematiker verfolgten selbander die geniale Entdeckung Soemmerings weiter; sie verbanden den elektromagnetischen Apparat ihrer Sternwarte durch einen 3000 Fuß langen Draht, über den Turm der Johanniskirche hinweg, mit dem Physikalischen Kabinett (1833). Ein echt deutsches Bild: diese gewaltige Erfindung zuerst in einer stillen Gelehrtenstadt, deren behäbige Bürgerschaft sich vom Welthandel gar nichts träumen ließ! Die beiden Gelehrten behaupteten, ihr Telegraph müsse auch auf weite Entfernungen, Länder und Völker verbindend, mit der gleichen Sicherheit wirken, und Wilhelm Weber erbot sich (1836), neben der Leipzig-Dresdener Bahn, zunächst bis Wurzen, eine Drahtleitung anzulegen; die Kosten des Versuchs schätzte er auf 2000 Taler. Das sparsame Komitee wollte aber eine solche Summe nicht an einen zweifelhaften Erfolg wagen. So blieb die deutsche Erfindung liegen, bis die Amerikaner nach Jahren sich ihrer bemächtigten und sie dem Weltverkehre dienstbar machten.

Am 7. April 1839 wurde die ganze Bahn eröffnet, und noch lange erzählte sich das Volk von den Abenteuern dieser ersten Fahrten. Auf einer Station war ein Leipziger Student mitsamt einem unbezahlten Glase Bier dem Kellner hohnlachend davongefahren; in dem gefürchteten Tunnel pflegten die Damen reiferen Alters eine Stecknadel zwischen die Lippen zu nehmen, um sich gegen die Liebkosungen ausschweifender Jünglinge zu sichern. Vorsichtige Ärzte wollten von der Tunnelfahrt, die fast eine Minute währte, überhaupt nichts hören; sie befürchteten, bei dem plötzlichen Luftwechsel müsse ältliche Leute der Schlag rühren, und allerdings waren die Wagen der dritten Klasse noch unbedeckt, die der zweiten ohne Fenster. Daß die Schienen und die Räder durch die ungeheure Reibung notwendig in Brand geraten müßten, war die allgemeine Ansicht; erst die vollendete Tatsache schlug alle Befürchtungen zu Boden. Der Erfolg übertraf die kühnsten Erwartungen. Erstaunlich, wie diese erste große Eisenbahn auch auf den benachbarten Landstraßen Mitteldeutschlands sofort die Reiselust belebte; im Jahre 1828 beherbergten die Dresdener Gasthöfe 7000 Fremde, in den ersten drei Vierteljahren 1839 bereits 36 000. Schon in ihrem ersten Jahre beförderte die Bahn 412 000 Personen und 3,85 Millionen Meilenzentner. Im Zweiten Jahre sank der Personenverkehr um ein Geringes, weil sich die erste Neugierde etwas gelegt hatte – der Güterverkehr aber stieg mit einer ganz ungeahnten Schnelligkeit. Anfangs waren viele Frachtfuhrleute noch gemächlich auf der Landstraße neben dem Dampfwagen hingefahren, weil die Spediteure die Kosten des Umladens scheuten. Erst seit die Bahn Anschlüsse erhielt und die Anfuhr zu den Bahnhöfen erleichterte, riß sie auch den Güterverkehr an sich, und nach einer Reihe von Jahren ergab sich, daß sie von den Gütern mehr einnahm als von den Personen. Dies widersprach allen Vorhersagungen; hatte doch selbst der berühmte Arago versichert, eine Eisenbahn könne vielleicht Personen, doch unmöglich große Gütermassen befördern.

Leider erlebte List an diesem Triumphe seiner Idee wenig Freude. Es gibt einsame Genies, die wohl durch schöpferische Gedanken ihre Nation erwecken und erheben können, aber nicht fähig sind, mit ihrer vollsaftigen ursprünglichen Kraft in dem alltäglichen kleinen Getriebe des öffentlichen Lebens mitteninne zu wirken. Ihnen fällt meist ein tragisches Los. Wie einst seinen Genossen in der württembergischen Kammer, so wurde List auch dem Leipziger Eisenbahn-Komitee bald lästig. Die Männer des Komitees waren durchweg tüchtige und keineswegs engherzige Geschäftsleute, aber sie dachten zunächst an die Interessen ihrer guten Stadt, und wenn List in den Generalversammlungen von der großen Eisenbahn Prag-Hamburg zu reden begann, so befürchteten sie, nicht mit Unrecht, er werde die ängstlichen Philister abschrecken. Der frohmutige Mann bot, wenn er mit mächtigem Lachen seinen Löwenkopf schüttelte, ein Bild urkräftigen Behagens; doch zuweilen überfiel ihn eine furchtbare Hypochondrie, und dann war mit seiner unbändigen Grobheit kaum auszukommen. Also schob man ihn leise zur Seite und fand ihn ab mit einem Ehrengeschenke von etwa 4000 Talern, ohne ihm auch nur einen Anteil an den Aktien zu gewähren. Die braven Leipziger Kaufleute glaubten damit durchaus nicht kleinlich zu handeln; verfuhren sie doch selber höchst uneigennützig, ihre vier Direktoren bezogen 750 Taler Gehalt, ihr Präsident 1500. Jenem Engländer freilich, der ihnen den Weg durch die Ebene empfahl, zahlten sie für seine kurze Reise fast 7000 Taler; denn daß ein Brite höher gelohnt werden müsse als ein Deutscher, bezweifelte in diesen fremdbrüderlichen Tagen niemand. Wieviel Unfug stiftete doch die deutsche Ausländerei auch im Eisenbahnwesen an. Nur aus Nachahmungslust wurde die allzu schmale Spurweite der Stephensonschen Bahn von der Leipzig-Dresdener Gesellschaft und nachher, zum Schaden für die Nerven der Reisenden, auch von den andern deutschen Bahnen angenommen. Und welche Flut von französischen oder französisch klingenden Wortungetümen drang jetzt in unsere Sprache ein, die doch gerade hier ihre schöpferische Kraft erproben konnte. Die Deutschen hatten im Eisenbahnwesen von den Franzosen nichts zu lernen, sondern schritten ihnen voran; und doch redeten sie von der Compagnie, ihren Billet-Expeditionen und Conducteuren, von Perrons, Waggons, Coupés und Extra-Convois; es war leider die Zeit, da das Junge Deutschland die Zeitungssprache von Grund aus verfälscht hatte.

Unerbittert durch seine Leipziger Erfahrungen arbeitete List rastlos weiter. Er gründete ein Eisenbahn-Journal, das sich freilich nicht lange halten konnte, weil es in Österreich verboten wurde, und zwang durch sein Beispiel die Presse, auf die so lange vernachlässigten volkswirtschaftlichen Fragen gründlich einzugehen. Um seiner Bahn die Fortsetzung nach Norden zu sichern, begab sich List 1835 nach Magdeburg, und die Kaufmannschaft, die erst vor sechs Jahren alle Eisenbahnpläne abgewiesen hatte, nahm ihn jetzt mit offenen Armen auf; allen voran der wackere Oberbürgermeister Francke, einer der angesehensten Bürger der Monarchie, denn wie im Süden die Abgeordneten, so galten im Norden die Gemeindebeamten, Kospoth in Breslau, Bärensprung in Berlin, Demiani in Görlitz, als die eigentlichen Volksmänner. Die Magdeburger rühmten sich: unsere Eisenbahn nach Leipzig wird die erste Bahn der Welt sein, welche die Grenzen verschiedener Staaten durchschneidet! Francke trat an die Spitze eines Ausschusses und sendete nach Berlin eine Eingabe, welche das Ministerium zwang, die Eisenbahnfrage ernstlich ins Auge zu fassen. So brachte List auch in Preußen die Kugel ins Rollen.

Mehrere andere Anfragen lagen bereits vor, wegen der Bahnen Berlin-Potsdam, Köln-Aachen, Düsseldorf-Elberfeld, Düsseldorf-Minden, Berlin-Stettin, und es ließ sich jetzt schon erkennen, daß der preußische Verkehr vornehmlich einer rascheren Verbindung des Ostens mit dem Westen bedurfte; die von Bayern befürwortete nord-südliche Linie erschien zunächst noch minder dringend. Minister Rother aber konnte zu keinem der Entwürfe ein Zutrauen fassen, während fast jedermann noch glaubte, die Eisenbahnen seien Wege wie andere auch, für alle benutzbar, und könnten den Unternehmern nur ein hohes Wegegeld einbringen, erkannte der welterfahrene Bankdirektor sogleich, daß die Eisenbahngesellschaften das gesamte Transportgeschäft auf ihren Linien an sich reißen würden; ein solches Vorrecht wollte er Privatgenossenschaften nicht gewähren, er fürchtete den Mißbrauch des Monopols und einen schlimmen Aktienschwindel. Aber auch der Staatsbau schien ihm nicht ratsam, denn er bezweifelte noch die Einträglichkeit der Eisenbahnen und hielt den Staat für verpflichtet, weder die Post noch die bestehenden Land- und Wasserstraßen zu schädigen. Sogar politische Besorgnisse stiegen ihm auf: durch die Bahnen nach dem Rhein, nach Bayern, nach Belgien werde Preußen vom Auslande abhängig. Daher schloß er seinen Bericht an den König mit der Erklärung: »Die Staatsregierung hat jetzt noch keine Veranlassung, Eisenbahnen, welche als Handelsstraßen dienen sollen, auf eigene Kosten anzulegen, durch Beteiligung mit verhältnismäßig ansehnlichen Summen zu unterstützen oder ihnen andere namhafte Opfer zu bringen und Vorrechte einzuräumen.«

Verhielt sich Rother nur kühl zuwartend, so trat der Generalpostmeister Nagler als entschiedener Feind der Eisenbahnen auf. Er hatte seit Jahren das Postwesen mit glänzendem Erfolge ausgebildet und hoffte für Seiner Majestät Fahrpost noch Größeres zu erreichen; was konnte er in dieser neuen Erfindung anderes sehen als eine schnöde Gewerbsbeeinträchtigung? Auch das strenge Rechtsgefühl des Beamtentums erhob mannigfache Bedenken. Nach dem Gesetze sollte die Enteignung nur ausnahmsweise, um des öffentlichen Wohles willen, zugelassen werden; für die Chausseen und für solche Eisenbahnen, welche den Staatszwecken dienten, wie etwa für die Magdeburg-Leipziger, konnte man sie also mit gutem Gewissen benutzen, so meinten die alten gestrengen Richter. Aber war es statthaft, das Expropriationsrecht auch der geplanten Berlin-Potsdamer Bahn zu verleihen, die doch nur den frivolen Zweck verfolgte, den Berlinern das Lustwandeln in den Potsdamer Gärten zu erleichtern? Der König selbst zeigte sich den Eisenbahnen anfangs abgünstig; er war zu alt, um sich noch für eine Erfindung zu erwärmen, welche die Freude seiner letzten Jahre, den Chausseebau, zu stören drohte. Auch der durchaus demokratische Charakter dieses neuen Verkehrsmittels kam ihm ungelegen, seit Jahrtausenden hatte das schnelle Reisen für ein natürliches Vorrecht der Fürsten und der Aristokratie gegolten; und diese uralten Sitten sollten sich jetzt mit einem Schlage ändern! So schlicht bürgerlich er auch dachte: daß er mit seinen Berlinern zusammen in demselben Zuge nach Potsdam fahren sollte, schien ihm doch sehr unanständig.

Der Thronfolger dagegen schwärmte für die Eisenbahnen, noch weit feuriger sogar als sein Schwager König Ludwig. Er zählte zu den vielen Rätseln dieses so seltsam gemischten reichen Geistes, daß der Kronprinz die nüchternen Angelegenheiten der Volkswirtschaft, die seiner romantischen Weltanschauung so fernzuliegen schienen, immer mit besonderem Eifer verfolgte und überraschend richtig beurteilte. Wie er den Zollverein stets gegen die Sparsamkeit der Finanzpartei verteidigt hatte, so glaubte er auch fest an die große Zukunft der Eisenbahnen; er wollte die Bahnen am liebsten von Staats wegen bauen oder doch die Privatbahnen durch Zinsgarantien, durch die erleichterte Enteignung und andere Vorrechte, unterstützen. Da der Thronfolger so stürmisch drängte und die Anfragen der Eisenbahngesellschaften sich mehrten, so befahl der König eine gründliche Beratung über ein umfassendes Eisenbahngesetz, das die Stellung der Staatsgewalt zu der neuen Erfindung endgültig regeln sollte.

Die Verhandlungen währten sehr lange. Eine Kommission aus Räten aller Ministerien ward gebildet; der Kriegsminister sendete einen seiner besten Offiziere, den gelehrten Oberst Peucker. Dann beriet das Staatsministerium, endlich noch der Staatsrat. Der Streit ward sehr lebhaft; die alten Minister hegten Zweifel, die jüngeren, Rochow, Mühler, Alvensleben, hielten zu dem Kronprinzen, weil sie der Zukunft vertrauten. Es kam so weit, daß Rother nach einem heftigen Wortwechsel mit dem Thronfolger im April 1837 die Leitung der Handelspolitik niederlegte. Er beschränkte seine Tätigkeit fortan auf die Seehandlung und auf die Bank, die er seit Frieses Abgang übernommen hatte; das Handelsamt wurde wieder mit dem Finanzministerium vereinigt. Der Gegenstand war noch so neu, so unberechenbar, so gänzlich unerprobt, daß niemand sich einen Sachkenner nennen durfte und die tüchtigsten Männer in ihren Meinungen sehr weit auseinander gingen. Der geniale Beuth, der doch noch in seinen besten Jahren stand und sonst jeden technischen Fortschritt mit Feuereifer begünstigte, betrachtete die Eisenbahnen sehr mißtrauisch. Ihr erklärter Gegner aber war General Aster, der erste militärische Ingenieur des Zeitalters, obwohl er doch selbst bei seinen Festungsbauten schon oft kleine Eisenbahnen in Betrieb gesetzt hatte. Er meinte: »Die Eisenbahnen halten wegen der Kostbarkeit der Anlage und einer ziemlichen Ausschließlichkeit des Gebrauchs mit andern weit wohlfeileren und in ihrer Anwendung teilbaren Erfindungen, wie z. B. Buchdruck und Schießpulver, den Vergleich nicht aus.« Militärisch brauchbar seien sie nur dort, »wo zufällig die Wege für den Krieg mit denen für die Industrie angelegten Bahnen zusammenpassen«; ein Eisenbahnnetz nütze militärisch nichts, weil es von der leidenden Partei bald außer Betrieb gesetzt würde, auch der aktiven Partei zuwenig Sicherheit gewähre; und woher sollten die Mittel kommen, um die zerstörten Eisenbahnen nach dem Kriege wiederherzustellen? Savigny erwiderte dem General – wohl nicht ohne Zutun des Kronprinzen, der wieder von Kühne Ratschläge empfing: man beabsichtige lange, ununterbrochene Eisenbahnlinien, etwa von Berlin zum Rheine, und diese würden einem im Westen kämpfenden Heere sicherlich Vorteil bringen.

Mit der ganzen Feierlichkeit seiner Amtsmiene trat Nagler für sein bedrohtes Postwesen ein und versicherte: »Das gänzliche Lostrennen und Emanzipieren eines höchst beschränkten und untergeordneten Kommunikationsmittels – der Eisenbahnen – von einer Staatsinstitution wie der Post, welche die wichtigsten Zweige der Kommunikation für das Ganze leitet und fördert, kann nur höchst nachteilig sein und muß den richtigen Standpunkt ganz verrücken.« Noch einmal, in einer großen Denkschrift, legte er dem Könige ans Herz, »daß das Postinteresse den Eisenbahnunternehmungen nicht aufgeopfert werden dürfe«. Nach langen Kämpfen begannen sich die Meinungen doch zu klären. Den Staatsbau empfahl unter den hohen Beamten niemand, obgleich David Hansemann noch während der Beratungen in einer beredten Flugschrift dringend vor den Gefahren der Privateisenbahnen warnte. Ein solches Wagnis erschien zu groß für die beschränkten Finanzen. Darum ward auch die schwere Frage, ob die Krone ohne Reichsstände große Anleihen aufnehmen könne, für jetzt noch gar nicht erwogen. Andererseits wollte der König auch nicht den Privatgesellschaften ein gemeinschädliches Monopol gewähren; er erklärte ausdrücklich: »daß sie zu ewigen Zeiten im Genuß der ihnen eingeräumten Vorrechte verbleiben, ist weder beabsichtigt noch zulässig.«

Aus solchen Erwägungen entstand, noch bevor die erste große deutsche Eisenbahn vollendet war, das preußische Eisenbahngesetz vom 3. November 1838, eines der letzten denkwürdigen Werke des alten Beamtenstaates, ein Gesetz, das zur Regelung ganz unbekannter Verhältnisse bestimmt war und doch ein halbes Jahrhundert voll ungeahnter Wandlungen lebenskräftig überdauert hat. Seine Stärke lag darin, daß die Staatsgewalt sich ein sehr weit ausgedehntes Aufsichtsrecht über die Privatbahnen, auch die Möglichkeit eines künftigen Staatseisenbahnsystems vorbehielt und doch sich weislich hütete, durch gehäufte Einzelvorschriften einer noch nicht übersehbaren Entwicklung vorzugreifen. Alle Eisenbahnen unterlagen der königlichen Genehmigung, desgleichen im einzelnen die Bahnlinie, der Bau der Bahn und seine Fristen, die Einrichtung der Wagen und Maschinen; sie mußten jederzeit in sicherem und dem Zwecke entsprechendem Zustande erhalten werden. Der Staat erteilte ihnen das Recht der Enteignung, wie den Chausseen, er prüfte ihre Rechnungen und beaufsichtigte sie durch ständige Kommissäre. Er behielt sich vor, die Bahnen nach dreißig Jahren anzukaufen, und belegte sie mit einer noch näher zu bestimmenden Steuer, welche teils zur Amortisation des Aktienkapitals, teils zur Entschädigung der Post dienen sollte. Die Höhe dieser Entschädigung blieb auch noch vorbehalten; vorläufig schloß man mit den einzelnen Bahnen besondere Verträge und verpflichtete alle zur unentgeltlichen Beförderung der Postsendungen – eine wohlberechtigte Vorschrift, welche allein der Post ermöglichte, auch unter veränderten Verhältnissen ihre kulturfördernde Arbeit zu vollziehen, doch freilich in der Folge zahlreiche, noch heute nicht beendigte Zwistigkeiten hervorrufen sollte. Außerdem behielt die Krone das Recht, die Bestimmungen des Gesetzes nach freiem Ermessen abzuändern oder zu ergänzen, und die bestehenden Gesellschaften mußten sich im voraus solchen Änderungen unterwerfen. Also war dem Monopolgeiste ein starker Riegel vorgeschoben. Die Geschäftswelt klagte über die unmäßige Bevormundung; Hansemann veröffentlichte eine scharfe Kritik und beschwor die Regierung, die Kapitalien des In- und Auslandes nicht abzuschrecken. Aber die dehnbaren Vorschriften wurden verständig gehandhabt, und sie genügten für eine Reihe von Jahren, solange der Staat noch nicht in der Lage war, selber den Bahnbetrieb zu übernehmen.

Inzwischen hatte auch in Preußen der Bahnbau begonnen. Zuerst wurde die kleine Strecke von Düsseldorf nach Erkrath eröffnet; dann folgte, noch im Jahre 1838, die Berlin-Potsdamer Bahn, und groß war das Erstaunen, als dort täglich 2000, an Festtagen sogar 4000 Menschen verkehrten. Schon nach Jahresfrist mußte man dieser Gesellschaft gestatten, daß ihre Züge auch in der Dunkelheit fahren durften, natürlich langsam und unter mannigfachen Vorsichtsmaßregeln. Dem Könige war das neue Wesen noch immer nicht recht geheuer; er fuhr noch eine Zeitlang in seinem Wagen neben der Bahn her. Dann merkte er doch, daß selbst seine edlen Trakehner Rappen mit der Lokomotive nicht Schritt halten konnten, und eines Tages erfuhren die Berliner zu ihrer freudigen Überraschung, Seine Majestät sei heute früh mit dem Bahnzuge nach Potsdam gereist. Die Magdeburger Kaufmannschaft rührte sich kräftig. Derweil die Leipziger Bahn in Angriff genommen wurde, begannen schon erfolgreiche Vorarbeiten für eine zweite Linie über Köthen nach Berlin und zugleich Verhandlungen wegen einer dritten Bahn nach Hamburg. Dort freilich zeigte sich der Senat sehr ängstlich, er fürchtete die Abnahme der Elbschiffahrt und die Verarmung der Schiffer.

Sehr lange währten die Vorbereitungen für die wichtige Bahn von Köln zur belgischen Grenze. Da mußten sich erst zwei streitende Gesellschaften verschmelzen. Dazwischen hinein spielten widerwärtige Verhandlungen mit dem Brüsseler Hofe, der damals, aufgestachelt durch die Westmächte, dem preußischen Nachbarn eine wenig freundliche Gesinnung zeigte und, dem Geiste der Neutralität zuwider, schon an eine umfassende Befestigung seiner Ostgrenze dachte. Der König schrieb deshalb selbst an König Leopold und drohte mit dem Abbruch der diplomatischen Verbindungen (1837). Trotzdem ließ er, auf Werthers verständigen Rat und die dringenden Bitten König Ludwigs von Bayern, den Plan der Köln-Antwerpener Eisenbahn nicht fallen. Die Bahn war zu wertvoll, nicht bloß für den Handel der Rheinlande, sondern auch für die deutsche Politik: sie sollte Hollands allzeit unberechenbare Zölle umgehen und das belgische Land fester an Deutschland anschließen, da die Brüssel-Pariser Eisenbahn immer noch nicht fertig wurde. Endlich lenkte Belgien ein, und man ward handelseinig. Im August 1839, am Vorabend des königlichen Geburtstages, eröffnete Ammon, der Vorsitzende der neuen Gesellschaft, die erste Bahnstrecke. Er wußte, wie lebhaft Rother und mehrere der andern Minister die Abhängigkeit vom Auslande fürchteten, und sagte darum in seiner Festrede stolz: »Die deutsche Treue beruht auf festem Grunde, auf der angestammten Liebe zu König und Vaterland, auf der klaren Erkenntnis unserer nationalen Vorzüge, unserer sittlichen Volkswürde.« Unterdessen berieten die Kölner schon über die unentbehrliche große Eisenbahn nach dem Osten, nach Minden und Magdeburg.

Ungeheuer war der Umschwung. Die Eisenverzehrung des Zollvereins stieg in den Jahren 1834–1841 von 10,6 auf 18,1 Pfund für den Kopf der Bevölkerung, an Schienen, Roh-, Stab- und Schmiedeeisen wurden im Jahre 1834 erst 367 000 Ztr. eingeführt, 1840 schon 1,203 Mill.; denn leider mußte man die Schienen noch aus dem Auslande beziehen, wie die Welt sich verwandelte, das lehrte das tragikomische Beispiel des Generalpostmeisters Nagler. Dieser Todfeind der Eisenbahnen wollte jetzt, nach seiner Niederlage (1839), selber mit den Mitteln der königlichen Post eine Bahn von Halle durch die Goldene Aue nach Kassel bauen, mit Zweigbahnen nach Erfurt, Weimar, Gotha, und sie zum Besten des Postfiskus verwalten. Rother empfahl den Plan dem Könige aufs wärmste, da Post und Eisenbahnen eigentlich denselben Zweck verfolgten. Die andern Minister jedoch erklärten sich dawider. Sie wollten das Monopol der Post nicht noch erweitern; und welch eine partikularistische Torheit, die uralte Handelsstraße, die durch das innere Thüringen über Erfurt und Gotha führte, absichtlich zu umgehen, bloß weil der Weg durch die Goldene Aue mehr preußisches Gebiet berührte!

Als nunmehr auch Frankfurt in die Eisenbahnbewegung eintrat, da zeigten sich schon die dunklen Schattenseiten der neuen Erfindung. Eine Uneigennützigkeit, wie sie die Leipziger und die Magdeburger Kaufleute bewiesen hatten, ließ sich von der Residenzstadt Rothschilds nicht erwarten; dort wurde der Kaufmannsgeist nicht durch eine monarchische Gewalt gezähmt. Schon die Frage, auf welchem Ufer des Mains die geplante Frankfurt-Mainzer Eisenbahn angelegt werden sollte, verursachte ärgerlichen Zwist. Nassau verlangte den Bau auf dem dichter bevölkerten rechten Mainufer, Hessen begünstigte sein linkes Ufer; und der Bundestag erlaubte nicht, daß die Mainzer Festungsbehörden sich unmittelbar mit der Gesellschaft verständigten, obwohl der Festungsingenieur, der preußische Major Pientka, sogleich ein treffliches Gutachten abgegeben hatte. Nach langem Streite ward endlich beschlossen, die Bahn auf dem rechten Ufer zwischen Frankfurt und Kastel auszuführen (1838); denn eine Überbrückung des Rheins galt noch für unmöglich. Nun bot das gefällige Komitee dem hessischen Minister du Thil Aktien zum Kaufe an. Du Thil weigerte sich, und auch Großherzog Ludwig erklärte: »Ich weise das weit weg«, sobald ihn sein erfahrener Minister über die menschenfreundlichen Absichten der Unternehmer aufgeklärt hatte. Nur der Geh. Rat Knapp ging in die Falle und mußte dann, nach einer heftigen Interpellation in der Kammer, aus dem hessischen Ministerium ausscheiden. Nachher wollte Rothschild die hessische Regierung zwingen, den Plan binnen sechs Wochen zu genehmigen, weil er für seine Spekulationen den Zeitpunkt der Ausgabe der Aktien genau vorher wissen mußte. Auch diese Zumutung wies du Thil entrüstet zurück. So hielt sich Hessen die Frankfurter Börsenmänner tapfer vom Leibe. In Nassau aber war der Präsident Magdeburg »Komitee und Regierung in einer Person«, und der Frankfurter Senat erließ ein, wie du Thil sagte, »haarsträubendes« Expropriationsgesetz, das den Grundbesitzern eine viermal höhere Entschädigung gewährte als das hessische. Als die Taunusbahn endlich eröffnet war, wurde sie gut verwaltet; sie verlangte aber unbillige Preise, die höchsten in Deutschland. Umsonst versuchte du Thil den Unfug abzustellen. Er scheiterte an dem Widerspruche Frankfurts, »denn in dieser Republik«, so sagte er schwermütig, »ist es eingeführt, daß stets eine Hand die andere wäscht, und überdies waren zu viele Senatoren beteiligt«. Diese Frankfurter Erfahrungen blieben in Baden unvergessen. Dort berief die Regierung eine Notabelnversammlung, um über den Plan einer Eisenbahn von Mannheim nach Basel zu beraten. Der Gedanke fand Anklang, und Nebenius erwies den Notabeln in einer trefflichen Denkschrift, die auch den anfangs widerstrebenden Finanzminister Böckh überzeugte, daß der Staat, um den Aktienschwindel und den Einfluß der Börse fernzuhalten, die Bahn selber bauen müsse. Es war das erste Programm des deutschen Staatseisenbahnwesens.

Die Größe der beginnenden sozialen Umwälzung ließ sich am sichersten daran erkennen, daß schlechterdings niemand ihre Folgen genau vorhergesehen hatte. Nicht bloß der Gesamtverkehr wuchs über alle Vorhersagungen hinaus; hatten doch selbst mutige Männer höchstens gehofft, die Eisenbahnen würden den Chausseen etwa ebensoweit überlegen sein wie diese vormals den alten Landwegen. Auch im einzelnen kam fast alles anders als die klügsten Leute erwarteten. Der Betrieb der Eisenbahnen war unzweifelhaft ein Monopol, und jener Paragraph des preußischen Eisenbahngesetzes, welcher auch andern, nicht zur Gesellschaft Gehörigen den Transport gestatten wollte, erwies sich sogleich als ein toter Buchstabe. Die Güter brachten mehr ein als die Personen, der Lokalverkehr mehr als der große, die dritte Wagenklasse mehr als die beiden ersten zusammen; und wie verwundert hatte man noch vor kurzem dem wackeren Friedrich Harkort zugehört, als er voraussagte, der kleine Mann würde die Eisenbahnkassen füllen wie den Steuersäckel, schon um Arbeitslohn zu gewinnen das Fußwandern aufgeben. Die Gewerbsstraßen trennten sich nicht ab von den Kriegsstraßen, wie Aster fürchtete, sondern sie zwangen den Krieg, ihren Bahnen zu folgen. Auch der Pferdebestand nahm nicht ab, wie jedermann glaubte; sondern die Deutschen erfuhren, daß in einem fleißigen Volke jedes befriedigte Bedürfnis neue Bedürfnisse in unendlicher Folge weckt: die Nebenstraßen beschäftigten fortan mehr Pferde als früher die Hauptstraßen.

Nun da die Macht des Raumes überwunden ward, begann die Welt auch erst den Wert der Zeit zu schätzen, ja zu überschätzen. Ein hastiges, atemloses Treiben nahm überhand, eine fieberische Begehrlichkeit nach dem Neuen und Unbekannten, ein Drang nach Genuß und Gewinn, der von dem überspannten Idealismus des älteren Geschlechts unheimlich abstach. Die Geselligkeit verödete. Je mehr die Zahl der Briefe zunahm, um so dürftiger wurde ihr Inhalt, und seit die Zeitungen sich mehrten, schrieb der gebildete Mann fast nur noch Geschäftsbriefe. Der anschwellende Verkehr wirbelte alle Stände dermaßen durcheinander, daß der Kastendünkel sich kaum mehr halten konnte. Die Gesellschaft demokratisierte sich, die Umgangssprache ward kürzer, geschäftlicher, aber auch grob und ungemütlich. Der Durchschnittsmensch empfing eine Masse neuer Eindrücke und Kenntnisse, doch je mehr sie sich drängten, um so weniger hafteten sie. Das neue Geschlecht krankte an einer vielseitigen, oberflächlichen Bildung, an Übersättigung, Zerstreutheit, Anmaßung. Die großen Städte wuchsen unaufhaltsam, manche der kleinen sanken, eine krampfhafte Lust an den großstädtischen Genüssen verbreitete sich weithin im Volke, und mit der Macht der Massenkapitalien stieg auch das Massenelend.

Für das zerrissene Deutschland war der Segen dieser neuen Verhältnisse doch ungleich größer als ihre Nachteile. Der schreiende Widerspruch geistiger Größe und wirtschaftlicher Armseligkeit konnte nicht fortdauern, ohne den Charakter des Volkes zu gefährden. Die werdende politische Macht des neuen Deutschlands bedurfte des Wohlstandes und der kecken Unternehmungslust, das verhockte und verstockte Treiben der Kleinstädter einer kräftigen Aufrüttelung. Der unwürdige polizeiliche Druck, der auf dem deutschen Leben lag, konnte weder durch Kammerreden noch durch Zeitungsartikel überwunden werden, sondern nur durch die physische Macht eines aller Überwachung spottenden gewaltigen Verkehrs, seit man das engere Vaterland in drei Stunden durchfuhr, kam auch dem schlichten Manne die ganze verlogene Niedertracht der Kleinstaaterei zum Bewußtsein, und er begann zu ahnen, was es heiße, eine große Nation zu sein. Die Grenzen der Stämme und der Staaten verloren ihre trennende Macht, zahllose nachbarliche Vorurteile schliffen sich ab, und die Deutschen erlangten allmählich, was ihnen vor allem fehlte, das Glück, einander kennenzulernen. Darum nannte der deutsch-ungarische Poet Karl Beck, in dem Feuilletonstile der Zeit, die Eisenbahnaktien: »Wechsel ausgestellt auf Deutschlands Einheit«. Auch dem Auslande gegenüber bewährte sich dies erstarkende Selbstgefühl. Die ersten Eisenbahnen wurden noch zum guten Teile mit englischem Kapital erbaut. Nach und nach versuchte der deutsche Geldmarkt selbständiger zu werden, und, was unendlich mehr bedeutete, seit die deutschen Eisenwerke wohlfeilere Kohlen erhielten, begannen sie die englischen Schienen zu verdrängen. Erst durch die billigen Eisenbahnfrachten gelangte die Nation wirklich in Besitz ihrer Eisen- und Kohlenschätze, wieder einmal bewährte sich das alte heilsame Gesetz des historischen Undanks. Deutschland hatte von England gelernt und schob nun, rasch erstarkend, den Lehrer zur Seite. Große Fabriken entstanden, die den Bahnen ihre Wagen und Maschinen bauten. In Berlin gründete der junge Schlesier Borsig, nachdem er eine Zeitlang die Eisengießerei der Firma Egells geleitet, eine Maschinenfabrik für den Bau von Lokomotiven; mit fünfzig Arbeitern begann er, nach wenig Jahren beschäftigte er ihrer schon tausend; er wußte, daß dem Mutigen die Welt gehört. In Nürnberg erweiterte sich die kleine Wagenbauanstalt der Fürther Eisenbahn zu der großen Fabrik von Klett und Cramer. Ein neuer Stand von Ingenieuren und Eisenbahntechnikern kam empor, sehr reich an Talenten, unternehmend, stolz im Bewußtsein einer großen Kulturaufgabe. Es war eine schöne friedliche Arbeit nationaler Befreiung – erst im nächsten Jahrzehnt sollte sie ihre ganze Stärke offenbaren. (580–598.)


 << zurück weiter >>