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Gleichviel, überall wo die schwarzweißen Fahnen wehten, behauptete das Königtum noch sein altes Ansehen. Mit Erstaunen bemerkten Freund und Feind, wie treu das katholische Rheinland zu seinem Herrscher stand; die schwerste unter allen den schweren Aufgaben, welche der Wiener Kongreß diesem Staate gestellt, schien glücklich gelöst. Zahllose Sendboten aus Frankreich und Belgien trieben am Rhein ihr Wesen; überall fanden sie taube Ohren, überall wurden die vaterländischen Truppen, als sie zum Schütze der Westgrenze heranzogen, mit offenen Armen aufgenommen, und Prinz Wilhelm der Ältere, der als Gouverneur an den Rhein kam, gewann sich in Köln bald die allgemeine Verehrung. Nur die dreistere Sprache des Klerus ließ zuweilen schon erraten, daß die Nachbarschaft der belgischen Priesterherrlichkeit mit der Zeit vielleicht den Frieden der preußischen Rheinlande stören würde. Begreiflich also, daß die harmlosen preußischen Zeitungen im Selbstlobe schwelgten und der rheinische Pädagog Aldefeld in zweifelhaften Versen weissagte, das starke Preußen werde fortan das Land der Ruhe heißen. Aber auch einsichtige Beobachter erkannten an, wie überlegen dieses Volk mit seiner Zucht und Treue inmitten der aufgeregten Nachbarn stand. Selbst der Holste Rist, der sonst nach Landesbrauch auf Preußen tief herabgesehen hatte, pries jetzt, da er die westlichen Provinzen durchreiste, die glückliche Ordnung des wohlregierten Staates. Noch zuversichtlicher schrieb der junge Hauptmann Helmuth von Moltke in seinem geistreichen Buche über Polen: Der preußische Staat zeichnet sich aus durch sein unaufhaltsames ruhiges Fortschreiten, durch die stetige Entwicklung seiner inneren Verhältnisse, »welche Preußen an die Spitze der Reformen, der Aufklärung, der liberalen Institutionen und einer vernünftigen Freiheit – mindestens in Deutschland gestellt haben«.
Wieder wie in den Zeiten der ersten Revolution fühlten sich die Preußen stolz als Mannen ihres Königs, und begrüßten den alten Herrn, wo er sich zeigte, mit stürmischen Huldigungen. Und wie damals zur Antwort auf den Marseiller Marsch das Heil dir im Siegerkranz erklungen war, so machte jetzt das neue Preußenlied, gedichtet von Rektor Thiersch, dem Bruder des Münchener Philologen, und von Neithardt in Musik gesetzt, die Runde auf allen vaterländischen Festen. Mochten die Liberalen des Südens über den preußischen Hochmut schelten, sie fühlten doch mit stillem Neide, daß die stolzen Klänge ganz etwas anderes bedeuteten als alle jene läppischen Farbenlieder auf das Weiß der Unschuld und das Grün der guten Hoffnung, welche die kleinen Hofpoeten zum Preise ihrer geschichtslosen Landeskokarden anfertigten; sie ahnten die Wahrheit der Verse: »Daß für die Freiheit meine Väter starben, das deuten, merkt es, meine Farben an.« Die Erinnerungsfeiern der alten Landwehrmänner und Kriegskameraden verliefen meist anspruchslos und ohne Wortprunk, nur in Berlin pflegte Fouqué schmetternde Husarenreden zu halten; aber sie hielten unter den Versammelten das Gefühl der Staatseinheit wach. Als dem Prinzen Wilhelm 1831 am siegverheißenden Jahrestage der Leipziger Schlacht ein Sohn geboren wurde, der vermutliche Thronfolger, da erklang in allen Provinzen ein Freudenruf, der offenbar aus den Tiefen der Herzen kam. Und da man sich so stolz und sicher fühlte, so gewann auch der Traum der deutschen Einheit in einzelnen Kreisen der preußischen Jugend schon eine festere Gestalt. Die Bonner Burschenschafter schwärmten für das preußische Kaisertum, und es war ein Sohn des linken Rheinufers, der diesen Gedanken zuerst im Liede aussprach. Karl Simrock hatte soeben die Ängstlichkeit der Regierung am eigenen Leibe erfahren – denn die alte Furcht vor den Demagogen war noch immer nicht verschwunden, und das Justizministerium hielt für nötig, seinen Beamten alle absprechenden politischen Urteile an öffentlichen Orten zu untersagen; er hatte den Staatsdienst verlassen müssen wegen eines Gedichtes auf Frankreichs drei Tage und drei Farben, das ihm in der ersten Aufregung der Juliwochen entstanden war. Doch die Unbill focht den Treuen nicht an. Gleich darauf schilderte er in einem feurigen Liede, wie der Siegeswagen vom Brandenburger Tor durch Land und Volk dahinfuhr, – er sah »das Zepter Karls des Großen in Friedrich Wilhelms Hand« und hörte den alten Blücher sprechen:
Es möge sterben,
was nicht zu leben weiß.
Und fragt ihr nach dem Erben?
Das junge Preußen sei's!
Bei solcher Gesinnung vermochten die konstitutionellen Kämpfe der kleinen Staaten nur wenig Teilnahme zu erwecken, und die Süddeutschen klagten bitterlich über die politische Unreife der preußischen Nachbarn. Allerdings nahm die Sorge um Haus und Wirtschaft in dem langsam wiederaufblühenden verarmten Lande noch immer die besten Kräfte der Männer in Anspruch, die praktischen Fragen der Steuerverteilung und der Ortsverwaltung standen diesem hart arbeitenden Geschlechte weit näher als der Gedanke an die verheißenen Reichsstände. Der eigentliche Grund der unwandelbar ruhigen Haltung des Landes lag jedoch in der kräftigen Staatsgesinnung, welche dies Volk vor den andern Deutschen voraus hatte. Zwei Jahre lang blieben die Preußen in der Erwartung eines Weltkrieges; sie wußten, daß sie fast allein diesen Kampf würden entscheiden müssen, denn auf die Kriegsmacht ihrer kleinen deutschen Bundesgenossen blickten sie mit wohlberechtigter Geringschätzung. Sie trugen ohne Murren die schwere Einquartierung und alle die andern drückenden Lasten des bewaffneten Friedens. Wie hätte ein kriegerisch erzogenes Volk den Gedanken fassen sollen, in so drangvoller Zeit, gleichsam im Angesichte des Feindes, die Krone mit Bitten zu bestürmen, welche doch nicht durch drängende Not geboten waren?
Fast kindlich harmlos zeigte sich diese Königstreue auf dem Westfälischen Landtage. Dort war unter Steins Leitung das ständische Leben immer rege geblieben, und im Dezember 1830 beschloß der Landtag den König um die Berufung des Reichstages zu bitten, der »die verschiedenen Provinzen mit einem neuen geistigen Bande umschlingen«, die erkaltete Teilnahme an den Landständen allenthalben beleben werde. Aber Stein selbst, der Landtagsmarschall, hegte jetzt Zweifel, ob der Antrag in solchen Tagen der Gärung und der Kriegsgefahr nicht unzart oder unzeitgemäß erscheinen werde; er übernahm es endlich, den Gouverneur um seine Vermittlung zu bitten, und als Prinz Wilhelm, auf einen Wink aus Berlin, sich bedenklich äußerte, gaben die Stände gehorsam ihr Vorhaben auf. Stein erwähnte des Antrags im Landtagsberichte und erinnerte den König an »das schöne Lob seines Ahnherrn Adolf von Cleve: sein Wort, das war sein Siegel«; doch auf die Vorstellungen des Oberpräsidenten Vincke strich er diese Sätze wieder, und des ganzen Vorfalls, der bei Hofe lebhafte Besorgnisse erregt hatte, wurd amtlich mit keinem Worte mehr gedacht. In den übrigen Provinziallandtagen war von den verheißenen Reichsständen gar nicht die Rede. Selbst die Altpreußen hielten sich still, obgleich ihr ständischer Ausschuß schon vorm Jahre erklärt hatte, Preußen bedürfe einer reichsständischen Verfassung, da die Nachbarstaaten durch ihre Institutionen allmählich ein Übergewicht gewännen; der Landtag wagte nur in aller Ehrfurcht um die Öffentlichkeit der provinzialständischen Verhandlungen zu bitten.
Auch in den zahlreichen Flugschriften der Preußen wurde das Verlangen nach einer Verfassung nirgends laut; kaum daß einmal ein stiller Gelehrter, wie der Schlesier Thilo in seiner Schrift »Was ist Verfassung« den theoretischen Beweis führte: Der Fürst vertrete den Staat doch nur nach außen, folglich müsse das Volk im inneren Staatsleben seine eigene Vertretung erhalten. Nur ein Mann wagte in diesen Jahren den König unumwunden an die alte Verheißung zu erinnern: Der rheinische Kaufmann David Hansemann, ein evangelischer Predigerssohn aus dem Hamburgischen, der in jungen Jahren die französische Verwaltung gründlich kennen und leider auch überschätzen gelernt, dann in Aachen die große Feuerversicherungs-Gesellschaft gegründet und durch seine glänzende geschäftliche Begabung in der strengkatholischen Stadt ein unbestrittenes Ansehen errungen hatte. In einer »Denkschrift über Preußens Lage und Politik«, die er im Dezember 1830 dem König einsendete, sprach er durchaus als treuer preußischer Patriot; er erkannte dankbar an, wie stark sein Staat in dem zerfahrenen Treiben der deutschen Kleinstaaterei dastehe, und hoffte die Zeit noch zu erleben, da die undeutschen Länder dereinst aus dem Bunde ausscheiden, Preußen aber die Führung eines Bundesrats und eines deutschen Reichstags übernehmen würde. Doch mit der ganzen Rücksichtslosigkeit, welche alle neuen sozialen Mächte auszeichnet, vertrat er zugleich die Interessen seines jungen rheinischen Bürgertums. Ihm war unzweifelhaft, daß »die bei dem lebendigsten und mitteilendsten Volke Europas herrschenden Prinzipien« sich überall in der Welt verbreiten müßten, daß jede vernünftige Regierung sich auf die Mehrheit des Vermögens und der Bildung – gleichviel woher diese stammten – zu stützen habe, und Preußen jetzt im Begriff stehe, aus der Feudalzeit durch den Beamtenstaat zu dieser Mehrheitsherrschaft überzugehen. Die ständische Gliederung der Provinziallandtage verwarf er gänzlich, weil jeder Abgeordnete von Köln oder Aachen hundertundzwanzigmal mehr Köpfe, vierunddreißigmal mehr Steuerkraft vertrete als ein Mitglied der rheinischen Ritterschaft. Er glaubte zu wissen, daß die Städte durch Kenntnisse und politische Bildung weit mehr bedeuteten als das flache Land, daß der Thron an den großen Kaufleuten und Fabrikanten, die bei Krieg oder bürgerlichen Unruhen alles zu verlieren hätten, mindestens eine ebenso feste Stütze fände wie an dem Grundadel, und forderte darum außer einem Oberhause, das aus Majoratsbesitzern und aus Vertrauensmännern der Krone bestehen sollte, eine von den Höchstbesteuerten gewählte zweite Kammer.
Also traten die neuen Anschauungen, welche sich in den großen Städten des Rheinlandes unter der Herrschaft des Napoleonischen Gesetzbuchs und der beständigen Einwirkung französischer Ideen gebildet hatten, zum ersten Male freimütig vor den Thron. Dieser neue Mittelstand hielt sich in seinem jugendlichen Selbstgefühle für den Staat selber; er ließ in der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt nur noch den einen Unterschied gelten, der im Mittelstande vorherrscht, den Unterschied des Geldes und des Wissens. Der König nahm die Denkschrift nicht unfreundlich auf, doch weder er noch seine Räte erkannten, welch eine starke, zukunftssichere soziale Macht hinter den Vorschlägen des rheinischen Kaufmanns stand. Die Versöhnung zwischen dem Westen und dem Osten, die man in Berlin schon beendet glaubte, hatte in Wahrheit noch kaum begonnen; zwischen dem abstrakten Staatsbürgertum der rheinischen Städter und der altständischen Gesinnung der brandenburgischen Grundherren lag eine Kluft, die nur durch die Arbeit langer Jahre überbrückt werden konnte.
Auch im Osten war die Zufriedenheit bei weitem nicht so ungetrübt, wie man aus der allgemeinen Stille wohl schließen mochte. Es konnte nicht fehlen, daß die Gelehrten und Beamten aus den eifrig gelesenen ausländischen Zeitungen neue Gedanken einsogen, und wenngleich die Zahl der Konstitutionellen noch sehr gering blieb, so bekundete sich doch der altpreußische Widerspruchsgeist oft in scharfer Kritik, und die österreichischen wie die kleinfürstlichen Diplomaten vermochten sich über die liberale Gesinnung dieser Bureaukratie nicht genug zu wundern. Im Volke aber mußte die Beamtenherrschaft, wie Tüchtiges sie auch leistete, zuletzt manches Mißtrauen erregen, weil sie unbeschränkt schaltete. Selbst Reaubes »Jahrbücher der preußischen Provinzialstände« – die einzige Zeitschrift, die sich mit dem Stilleben der Provinziallandtage befaßte – brachten unter einem Wuste stillvergnügter Philisterbetrachtungen zuweilen schon einen heftigen Ausfall wider dies ungeheure Beamtenheer, das sich stets nur aus sich selbst ergänze, während in England und Frankreich auch ein Kaufmann oder Grundbesitzer Minister werden könne; in Preußen müssen immer 49 Menschen arbeiten, um einen Beamten zu ernähren!
Noch bitterer äußerte sich der Adelshaß der bürgerlichen Kreise. Der einzige der altgermanischen Geburtsstände, der sich inmitten der Berufsstände der neuen Gesellschaft noch erhalten hatte, konnte der in sich selbst verliebten modernen Bildung nur widerwärtig erscheinen. Da der Adel zudem auf den Provinzial- und Kreistagen ein ganz unbilliges Übergewicht behauptete, so klagte alle Welt über die Macht des Junkertums und zählte mit widerwärtigem Kleinsinn nach, wie viele Edelleute in den hohen Staatsämtern säßen. Die vorletzten Minister der Justiz und der Finanzen, Kircheisen und Klewitz, waren bürgerlich geboren, ihnen folgten die Edelleute Danckelmann und Motz; als diese starben und jetzt wieder zwei Bürgerliche, Mühler und Maatzen, eintraten, da jubelte die gesamte Presse, wie liberal Preußen geworden sei. Und doch war unter den drei Finanzministern der Edelmann unzweifelhaft der freieste Kopf, und bei allen diesen Ernennungen hatte der König die Frage der Geburt gar nicht in Betracht gezogen. Ja, sogar als Ancillon nachher ins Ministerium berufen wurde, erhoben die Zeitungen ein Freudengeschrei über den bürgerlichen Minister, dessen reaktionäre Gesinnung man doch kannte. Vornehmlich im Heere sollte der Adel ungebührlich bevorzugt sein; aber auch bei dieser landläufigen und nicht ganz grundlosen Klage spielten gehässige Übertreibung und Unkenntnis mit. Unter den Generalen und Obersten des stehenden Heeres konnten sich nur vereinzelte Bürgerliche befinden, weil erst Scharnhorst die alten Vorrechte des Adels beseitigt, erst der Befreiungskrieg eine größere Anzahl bürgerlicher Offiziere in die Regimenter der Infanterie und der Reiterei eingeführt hatte. In den mittleren Stellen hingegen war der Adel schwächer vertreten als in den untersten; von den Stabsoffizieren war fast ein Fünftel, von den Hauptleuten und Rittmeistern beinahe die Hälfte bürgerlich, von den Sekondeleutnants nur ein Zwanzigstel, weil der Kriegsdienst in diesen stillen Friedensjahren nichts Verlockendes hatte und der junge Nachwuchs mithin ganz überwiegend von jenen alten Soldatengeschlechtern gestellt wurde, welche das Waffenhandwerk als den Beruf ihres Hauses betrachteten.
All dieser kleine Groll blieb für jetzt noch halb verborgen; wer aber die stille tiefe Leidenschaft der norddeutschen Stämme kannte, der mußte einsehen, daß es nun endlich an der Zeit war, den Gegensätzen der Landschaften, der Stände, der politischen Gesinnungen einen freien Kampfplatz zu eröffnen. Ein aus den Provinzialständen hervorgegangener beratender Reichstag, wie er versprochen war, konnte jetzt, da niemand ihn ungestüm forderte, von dem treuen Volke nur mit Dank begrüßt werden, er konnte nicht die Macht des gerade in diesen Tagen unbeschreiblich geliebten Königshauses erschüttern, sondern nur die Staatseinheit befestigen und die Preußen daran gewöhnen, daß sie in gemeinsamer politischer Arbeit einander verstehen und ertragen lernten.
Sehr nachdrücklich mahnte auch der Zustand des Staatshaushalts an die Einlösung des alten Versprechens, während die andern Bundesstaaten gar nichts leisteten, verwendete Preußen für die Beschützung der deutschen Grenzen binnen anderthalb Jahren 39,28 Millionen Taler, vier Fünftel seiner regelmäßigen Jahreseinnahmen. Da förmliche Anleihen nur noch unter der Bürgschaft der Reichsstände erfolgen durften und der gutmütige König zu einer Steuererhöhung sich auch nicht entschließen wollte, so wurden diese Ausgaben vorläufig gedeckt durch Zahlungen aus dem Staatsschatze, durch kurze Darlehen der Seehandlung, durch die Einziehung der entbehrlichen Kapitalbestände der Staatsverwaltung, ja sogar der hinterlegten Kautionen der Beamten, und dann nach und nach aus dem wachsenden Ertrage der neuen Abgaben zurückgezahlt. Das alles ward mit altpreußischer Genauigkeit abgewickelt; doch wohin sollte dies geheime Treiben führen, wenn der Zustand des bewaffneten Friedens sich verlängerte oder gar der Weltkrieg ausbrach? Und war es eines stolzen Staates würdig, wenn die veröffentlichten Jahresbudgets in solcher Zeit immer nur von dem vollkommenen Gleichgewichte der regelmäßigen Einnahmen und Ausgaben fälschlich berichteten? Jene schweren Aufwendungen für Deutschlands Sicherheit wurden ängstlich geheimgehalten, wie die Schulden eines leichtsinnigen Jünglings; und doch gereichten sie der preußischen Staatskunst zu hoher Ehre, und doch mußten sie, wenn man sie offen eingestand, dem Volke der Kleinstaaten, soweit es nicht durch die Polenschwärmerei verdorben war, handgreiflich beweisen, daß Preußen allein für das große Vaterland Opfer brachte.
Aber die Not des Augenblicks ging vorüber, und fester denn je war der König jetzt überzeugt, mit der Einrichtung der Provinzialstände das Rechte getroffen zu haben. Er hatte einst, als ihm die Verordnung vom Mai 1815 vorgelegt wurde, das Steuerbewilligungsrecht des Reichstags eigenhändig ausgestrichen und dem Reichstage nur beratende Befugnisse gewährt; er hatte fünf Jahre darauf den künftigen Reichsständen nur darum die Mitwirkung bei Staatsanleihen zugestanden, weil er bestimmt hoffte, daß die Monarchie neuer Schulden nicht mehr bedürfe, bei augenblicklichen Verlegenheiten aber die Seehandlung eintreten könne; er hatte damals nachdrücklich ausgesprochen: »Repräsentanten der Nation, Repräsentation des Volks, Landesrepräsentanten, das verbitte ich mir; Reichsstände liebe ich auch nicht, aber ich habe auch nichts dagegen.« Nun sah er sein Volk zufrieden, unvergleichlich zufriedener als die Bewohner der benachbarten konstitutionellen Staaten. Nichts drängte zu einer entscheidenden Änderung, und wer das enge, schwunglose Wesen des Königs durchschaute, mußte voraussehen, daß die Reichsstände bei seinen Lebzeiten niemals zustande kommen würden. Und wie schwer, ja unmöglich erschien ein solcher Entschluß angesichts der allgemeinen Lage Europas! Dahin war es doch gekommen durch die brutale Schroffheit Lord Palmerstons und des Zaren Nikolaus, daß die Welt in die zwei großen Heerlager der konstitutionellen Staaten und der absoluten Monarchien zerfiel. Wie die Dinge lagen, hatte Preußen zunächst nur einen Feind zu fürchten: das revolutionäre Frankreich, das seine frechen Anschläge auf die Rheingrenze mit unbelehrbarer Verblendung kundgab. Wer durfte dem deutschen Staate zumuten, die sichere Bundesgenossenschaft der Ostmächte mit der treulosen Freundschaft der Freiheitsheuchler Westeuropas zu vertauschen?
Im übrigen ward der mildere und freiere Geist, der seit dem Ende der zwanziger Jahre in der Regierung vorherrschte, durch die Julirevolution nicht erschüttert. Während Bernstorff die Kriegspläne des Zaren vereitelte, die konstitutionelle Bewegung in den norddeutschen Nachbarstaaten mit wohlwollender Zurückhaltung gewähren ließ, die Erhebung der Braunschweiger sogar selbst zum glücklichen Abschluß brachte, führte Maaßen die von Motz eingeleiteten Zollvereinsverhandlungen fort, und der Staatsrat arbeitete weiter an den Reformgesetzen. Die seit Jahren mit den Provinzialständen besprochene Landgemeindeordnung kam freilich noch immer nicht zustande, da das unabsehbare Gewirr der örtlichen Interessen sich jeder Neuerung entgegenstemmte. Aber am 17. März 1831 wurde die revidierte Städteordnung veröffentlicht. Stein selbst begrüßte diesen Umbau seines eigenen Werkes mit Freuden, weil das neue Gesetz an den bewährten Grundsätzen der Selbstverwaltung nichts änderte, sondern nur einige durch die Erfahrung erwiesene Übelstände behutsam hinwegräumte; und Savigny erwies in einer geistreichen Abhandlung, daß die Neuerungen in der Tat meist Verbesserungen waren. Die Städte erhielten fortan eine erhöhte Selbständigkeit, indem sie durch Ortsstatute das allgemeine Gesetz ergänzen, zum Teil selbst abändern durften; die Befugnisse des Magistrats, der bisher von den Stadtverordneten ganz abhängig gewesen, wurden etwas erweitert; die Regierungen sollten bei Streitigkeiten zwischen Magistrat und Stadtverordneten entscheiden und überhaupt ein schärferes Aufsichtsrecht ausüben, was dringend nötig war, da in einzelnen heruntergekommenen kleinen Städten sich arge Mißbräuche eingenistet hatten. Dazu einige neue Bestimmungen über das Bürgerrecht, die sich von selbst ergaben, seit die neue Gewerbefreiheit den Bürgern das Vorrecht des Gewerbebetriebs genommen hatte. Bedenklich war nur, daß die Grundherren der Mediatstädte ihre alten Kommunalrechte behalten sollten.
Bei der Einführung des Gesetzes verfuhr die Krone mit einer zarten Schonung, welche von der scharfen Zentralisation der meisten konstitutionellen Staaten seltsam abstach. Alle Städte, die schon unter Steins Gesetze standen, verblieben bei dieser Ordnung, falls sie nicht ausdrücklich die Verleihung des neuen Gesetzes beantragten. In den andern sollte das revidierte Gesetz provinzenweise nach und nach eingeführt werden; die Oberpräsidenten erhielten aber den Auftrag, zuvor mit den Landtagsabgeordneten des Standes der Städte zu beratschlagen. Wie wohlgemeint die Reform auch war, die Macht des Beharrens, die im Gemeindeleben so unwiderstehlich waltet, und das stille Mißtrauen gegen das Beamtentum bewirkten doch, daß von allen Städten, welche die alte Städteordnung besaßen, nur drei die Einführung des neuen Gesetzes verlangten: das schöne alte Königsberg in der Neumark und zwei brandenburgische Landstädtchen.
In den neuen Provinzen dagegen bewährte sich wieder einmal die zähe Widerstandskraft des Partikularismus. Die Stände der Provinz Sachsen freilich nahmen das neue Gesetz sofort dankbar an, sie freuten sich, der alten kursächsischen Vetternherrschaft entledigt zu werden. Die Westfalen, die sich um Vincke versammelten, wünschten das alte Gesetz ihres Landtagsmarschalls, doch da sie an dem neuen Gesetze nur wenige Bestimmungen anstößig fanden, so begannen langwierige Verhandlungen mit den einzelnen Kommunen, bis endlich im Jahre 1841 die revidierte Städteordnung in allen größeren Städten der Provinz eingeführt war. Um dieselbe Zeit ward die Reform auch in Posen beendigt. Die Neuvorpommern aber wollten weder das alte noch das neue Gesetz, sie bestanden hartnäckig auf ihren durch die schwedischen Freiheitsbriefe verbürgten Städteverfassungen, fanden an dem romantischen Kronprinzen einen warmen Fürsprecher und setzten schließlich ihren Willen durch; nur einzelne unvermeidliche Änderungen sollten noch mit den Bürgerversammlungen von Stralsund, Greifswald, Barth vereinbart werden. Ebenso hartnäckig hielten die rheinischen Stände an ihrer Napoleonschen Gemeindeordnung fest, weil die Trennung von Stadt und Land in dem hochentwickelten wirtschaftlichen Leben des Rheinlands schwer durchzuführen war, aber auch weil dies Volk mit seiner bureaukratischen Gewöhnung den Segen deutscher Selbstverwaltung nicht verstehen wollte. Auch sie erreichten, daß die französischen Gesetze vorläufig fortbestanden; nur drei Städte der Provinz nahmen die neue Städteordnung freiwillig an. Diese Nachgiebigkeit der Krone erregte in der reaktionären Partei am Hofe schwere Besorgnis. Herzog Karl von Mecklenburg beschwor den König, das Zugeständnis zurückzuziehen: selbst in konstitutionellen Staaten werde den Untertanen nie erlaubt, zwischen verschiedenen Gesetzen zu wählen. Wie so oft schon, drohte er wieder den Vorsitz im Staatsrate niederzulegen. Friedrich Wilhelm aber erwiderte: die revidierte Städteordnung sei kein neues, sondern nur ein verbessertes Gesetz; also müsse den Städten die Wahl frei bleiben, damit das Volk zufriedengestellt und die Mannigfaltigkeit der örtlichen Verhältnisse berücksichtigt würde. (184–192.)