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Marian Edmundowitsch!
Ihren Brief habe ich erhalten und beeilte mich, Ihre Abhandlung im »Nordischen Boten« zu lesen. Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, daß Sie mich darauf hingewiesen haben. Die Abhandlung ist vorzüglich, ich habe daraus viel gelernt, was mir sehr erfreulich ist. Ich wußte von Mickiewitsch und Tobjanski. Aber ich schrieb ihre religiöse Stimmung ausschließlich den Eigenheiten dieser beiden Menschen zu. Aus Ihrer Abhandlung habe ich aber gesehen, daß sie nur die Schöpfer einer durch den Patriotismus hervorgerufenen, durch seine Erhabenheit und Aufrichtigkeit tief rührenden, wirklich echt christlichen Bewegung waren, welche noch jetzt fortdauert. Mein Aufsatz »Patriotismus und Christentum« hat sehr viele Erwiderungen hervorgerufen, sowohl von Philosophen als Publizisten, sowohl russischen und französischen, als deutschen und österreichischen. Auch Sie geben eine Erwiderung darauf. Und alle Erwiderungen, auch die Ihrige, laufen darauf hinaus, daß meine Verurteilung des Patriotismus gerechtfertigt sei in Beziehung auf den schlechten Patriotismus, – aber keine Begründung habe, wenn man sie auf den guten und nützlichen Patriotismus anwenden wolle. Das aber, worin der gute und nützliche Patriotismus bestehe und durch was er sich von dem schlechten unterscheide, hat bis jetzt niemand aufzuklären sich die Mühe gegeben.
Sie schreiben in Ihrem Brief, »daß außer dem kriegerischen, menschenhassenden Patriotismus mächtiger Völker noch ein ganz entgegengesetzter Patriotismus der unterdrückten Völker bestehe, welcher nur danach strebt, den angestammten Glauben und die Muttersprache gegen die Feinde zu verteidigen.« Und durch diese Lage der Unterdrückung wird der gute Patriotismus bestimmt, aber die Unterdrückung oder die Mächtigkeit der Völker macht keinen Unterschied im Wesen dessen, was man Patriotismus nennt. Das Feuer wird immer dasselbe brennende und gefährliche Feuer sein, ob man einen Scheiterhaufen oder ein Zündholz entzündet.
Unter Patriotismus versteht man gewöhnlich die Bevorzugung und die Liebe des eigenen Volkes vor anderen Völkern, ganz ebenso wie man unter Egoismus die bevorzugende Vorliebe für die eigene Persönlichkeit versteht. Und es ist schwer, sich vorzustellen, auf welche Weise eine solche Bevorzugung eines Volkes vor anderen eine gute und daher wünschenswerte Eigenschaft genannt werden kann. Wenn Sie sagen, der Patriotismus sei mehr zu entschuldigen bei einem Unterdrückten als bei einem Unterdrücker, ebenso wie die Erscheinung des Egoismus mehr zu entschuldigen ist bei einem Menschen, den man erwürgt, als bei einem solchen, der durch nichts beunruhigt wird, so kann man nicht umhin, mit Ihnen übereinzustimmen. Aber seine Eigenheit kann der Patriotismus deshalb nicht abändern, weil er entweder als Unterdrückter oder als Unterdrücker erscheint. Und diese Eigenheit der Bevorzugung eines Volkes vor allen anderen kann ebensowenig als der Egoismus gut sein.
Aber außerdem, daß der Patriotismus eine schlimme Eigenschaft ist, ist er auch eine unvernünftige Lehre.
Unter dem Worte Patriotismus versteht man nicht nur die unmittelbare, unwillkürliche Liebe zum eigenen Volk und die Bevorzugung desselben vor anderen Völkern, sondern auch die Lehre, daß eine solche Bevorzugung gut und nützlich sei. Und diese Lehre ist besonders unvernünftig inmitten der christlichen Völker.
Unvernünftig ist sie nicht nur deshalb, weil sie den Grundwahrheiten der Lehre Christi widerspricht, sondern auch deshalb, weil das Christentum auf seinem eigenen Wege alles das erreicht, nach dem der Patriotismus strebt und daher den Patriotismus überflüssig macht, wie eine Lampe bei Tageslicht.
Ein Mensch, wie Krasinski, welcher daran glaubt, »daß die Kirche Gottes nicht dieser oder jener Ort, nicht dieser oder jener Gebrauch ist, sondern alle Planeten umfaßt und alle überhaupt möglichen Beziehungen der Persönlichkeiten und Völker unter sich«, kann kein Patriot sein, weil er im Namen des Christentums alles das vollbringt, was der Patriotismus von ihm verlangen kann. Der Patriotismus verlangt zum Beispiel von seinem Anhänger das Opfer seines Lebens zum Wohl seiner Landsleute, das Christentum aber verlangt das Opfer zum Wohl aller Menschen, und darum selbstverständlich auch für die Angehörigen seines Volkes.
Sie schreiben über jene Gewaltthaten, welche von den wilden, dummen, grausamen, russischen Gewalthabern an dem Glauben und der Sprache der Polen verübt werden, und bezeichnen das als Veranlassung der patriotischen Bestrebungen, aber ich kann das nicht einsehen. Um über diese Gewaltthaten empört zu sein und ihnen aus allen Kräften entgegenzuarbeiten, hat man nicht nötig, ein Pole noch ein Patriot zu sein, es genügt dazu ein Christ zu sein.
Im vorliegenden Fall zum Beispiel wetteifere auch ich, ohne selbst Pole zu sein, mit jedem Polen in dem Abscheu vor den wilden und dummen Maßregeln russischer Staatsmänner, die sie gegen den Glauben und die Sprache der Polen in Anwendung bringen, und sympathisiere auch mit Ihnen in dem Wunsch, diese Maßregeln zu bekämpfen, und nicht, weil ich den Katholizismus mehr liebe als einen anderen Glauben, oder weil ich die polnische Sprache mehr liebe als irgend eine andere, sondern deshalb, weil ich mich bemühe, Christ zu sein. Und damit solche Vorkommnisse weder in Polen, noch im Elsaß, noch in Tschechien sich ereignen, ist nicht eine Ausbreitung des Patriotismus, sondern die Verbreitung des wahren Christentums notwendig.
Man kann sagen, daß wir das Christentum nicht kennen wollen und dann kann man den Patriotismus rühmen. Sobald wir uns aber zum Christentum bekennen, oder wenigstens zu der daraus hervorgehenden Anerkennung der Gleichheit der Menschen oder der Achtung der Menschenwürde, so findet der Patriotismus keine Stelle. Mich wundert dabei hauptsächlich, wie wenig die Verteidiger des Patriotismus unterdrückter Völker (wie vervollkommnet und verfeinert sie ihn sich auch vorstellen mögen) einsehen, wie schädlich der Patriotismus gerade ihren Zwecken ist.
In wessen Namen wurden und werden alle Gewaltthaten gegen die Sprache und den Glauben in Polen, den Ostseeprovinzen, im Elsaß, Tschechien und gegen die Juden in Rußland verübt? Nur im Namen desselben Patriotismus, den sie verteidigen.
Fragen Sie unsere wilden Russifikatoren in Polen, in den Ostseeprovinzen und die Verfolger der Juden, warum sie so handeln. Sie werden Ihnen sagen, das geschehe zur Verteidigung des angestammten Glaubens und der Muttersprache, sie werden Ihnen sagen, wenn sie das nicht thun würden, so würde der angestammte Glauben und die Muttersprache darunter leiden, die Russen würden sich polonisieren, germanisieren oder judaisieren.
Wenn nicht gelehrt würde, der Patriotismus sei etwas Gutes, so würden sich keine abscheulichen Menschen finden, welche am Ende des neunzehnten Jahrhunderts solche Ungeheuerlichkeiten verüben, wie es jetzt vorkommt.
Jetzt widmen sich auch Gelehrte – (bei uns ist der wildeste Verfolger des Glaubens ein früherer Professor) – dem Kampf für den Patriotismus. Sie kennen alle die nutzlosen Greuel der Verfolgung von Sprache und Glauben, aber die Lehre des Patriotismus rechtfertigt sie.
Der Patriotismus giebt ihnen den Standpunkt des Kampfes, das Christentum aber nimmt ihnen denselben unter den Füßen weg und darum müssen die unterjochten Völker, welche unter der Unterdrückung leiden, den Patriotismus vernichten, die theoretischen Grundlagen zerstören, ihn verlachen, aber nicht rühmen.
Zu Gunsten des Patriotismus spricht man auch von der Individualität der Völkerschaften, sowie davon, der Patriotismus habe den Zweck, die Individualität der Völker zu retten. Die Individualität der Völker aber hält man für eine notwendige Vorbedingung zum Fortschritt. Wer aber hat gesagt, daß die Individualität eine notwendige Vorbedingung des Fortschrittes sei? Das ist durch nichts bewiesen, und wir haben nicht das Recht, dies als einen feststehenden Satz, als ein Axiom anzusehen. Zweitens wenn wir auch zugeben würden, es sei so, so besteht auch dann für ein Volk das Mittel, seine Individualität zu äußern, nicht darin, sich Mühe zu geben, sie an den Tag zu legen, sondern im Gegenteil darin, die eigene Individualität zu vergessen und dann mit allen Kräften das zu thun, wozu das Volk sich am meisten befähigt und daher berufen fühlt, – ganz ebenso wie ein einzelner Mensch nicht dadurch seine Individualität äußert, daß er sich um dieselbe bemüht, sondern dadurch, daß er sie vergißt, und dann nach dem Maß seiner Kräfte und Fähigkeiten das thut, wozu ihn seine Natur hinzieht. Das ist ganz dasselbe, wie die Sorge darum, daß die Menschen, welche zur Erhaltung ihrer Gemeinde arbeiten, verschiedenartige Arbeiten vollbringen und an verschiedenen Stellen. Wenn nur jeder nach dem Maß seiner Kräfte und Fähigkeiten das für die Gemeinde Nötigste thut und es aus allen seinen Kräften thut, so werden sie alle unwillkürlich verschieden mit gleichen Werkzeugen und an verschiedenen Orten arbeiten.
Einer der gewöhnlichen Sophismen, welcher zur Verteidigung des Unsittlichen angewendet wird, besteht darin, daß man absichtlich das, was ist, mit dem, was sein soll, vermischt, daß man von dem einen spricht und das andere meint. Und dieser selbe Sophismus wird am meisten auch in Bezug auf den Patriotismus angewendet. Jedem Polen ist ein Pole am teuersten, dem Deutschen ein Deutscher, dem Juden ein Jude, dem Russen ein Russe. Es ist sogar oft der Fall, daß infolge historischer Veranlassungen und einer anderen Erziehung die Leute eines Volkes unbewußt einen Widerwillen und Abneigung für Menschen aus dem anderen Volk empfinden. Alles das ist so, aber die Erkenntnis, daß das so ist, sowie auch die Nichterkenntnis dessen, daß jeder Mensch seine Person mehr liebt als die anderer Menschen, können keineswegs beweisen, daß das so sein müsse, im Gegenteil: Die Aufgabe der ganzen Menschheit und jedes einzelnen Menschen besteht hier nur darin, diese Bevorzugung und diesen Widerwillen zu beseitigen, sie zu bekämpfen und mit Bewußtsein in Bezug auf andere Völker ganz ebenso zu verfahren, wie man in Bezug auf das eigene Volk und die eigenen Landsleute verfährt. Es ist vollständig überflüssig, den Patriotismus als ein Gefühl zu behandeln, dessen Erregung in jedem Menschen wünschenswert sei. Gott oder die Natur sorgen schon ohne unser Zuthun für dieses Gefühl, so daß es in jedem Menschen vorhanden ist, und wir uns um die Entwicklung desselben in uns und anderen nicht zu bemühen brauchen. Nicht um den Patriotismus haben wir uns zu bemühen, sondern darum, daß wir dieses Licht, das in uns ist, ins Leben einführen, es abändern und dem Ideal nähern, das vor uns steht. Das Ideal aber, das in jetziger Zeit vor jedem Menschen steht, welcher mit dem wirklichen Licht Christi erleuchtet ist, besteht nicht in der Wiederherstellung Polens, Böhmens, Irlands, Armeniens und nicht in der Erhaltung der Einheit und Größe Rußlands und Englands, Deutschlands und Österreichs, sondern im Gegenteil in der Vernichtung dieser Einheit und Größe Rußlands, Englands, Deutschlands und Österreichs, in der Vernichtung dieser gewaltsamen, unchristlichen Vereinigungen, die man Reiche nennt und welche jedem wahren Fortschritt im Wege stehen, den unterdrückten und unterworfenen Völkern Leiden verursachen und alles Übel, an welchem die heutige Menschheit krankt. Diese Vernichtung aber ist nur durch die wahre Aufklärung möglich: Durch die Erkenntnis dessen, daß wir nicht in erster Reihe Russen, Polen, Deutsche sind, sondern Menschen, Schüler eines Lehrers, Söhne eines Vaters und Bruders untereinander, und das haben die besten Vertreter des polnischen Volks begriffen, wie Sie das in Ihrer Abhandlung so schön darlegten. Und das begreift mit jedem Tag eine größere Menge von Menschen auf der ganzen Welt, daher sind die Tage des Reiches der Gewalt schon gezählt und die Befreiung, nicht nur der unterdrückten Völker, sondern auch der unterdrückten Arbeiter ist nahe, wenn wir selbst nicht das Herankommen dieser Befreiung dadurch verzögern, daß wir durch Wort und That an den Handlungen der Gewaltthat der Regierung teilnehmen. Die Anerkennung des Patriotismus in irgend einer Form als eine gute Eigenschaft und die Erregung desselben im Volk ist eines der hauptsächlichsten Hindernisse der Erreichung der vor uns stehenden Ideale.
Ich danke Ihnen sehr, geehrter Herr, für Ihren vortrefflichen Brief, für die schöne Abhandlung und für die Gelegenheit, die Sie mir dadurch gegeben haben, meine Gedanken über den Patriotismus noch einmal zu berichtigen, zu überlegen und auszusprechen.
Genehmigen Sie die Versicherung meiner Hochachtung.
10. September 1895.