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Meine ersten Eindrücke vermag ich nicht mehr in die richtige Reihenfolge zu bringen. Ich weiß nicht mehr, was früher, was später war, und von einigen weiß ich nicht mehr, ob ich sie geträumt oder in Wirklichkeit empfangen habe.
Meine frühesten Erinnerungen sind die folgenden: Ich bin gebunden. Ich will die Arme freimachen und kann es nicht. Ich schreie und weine, und mein Geschrei ist mir selbst unangenehm, aber ich kann es nicht zurückhalten. Vor mir steht jemand und bückt sich zu mir herab, aber ich erinnere mich nicht, wer. Es war im Halbdunkel, aber ich erinnere mich, daß es zwei Personen waren. Mein Geschrei wirkt auf sie ein, sie sind in Sorge, binden mich aber nicht los, wie ich wünsche, und ich schreie noch lauter. Sie glauben, es müsse so sein, ich müsse gebunden sein, während ich weiß, daß das nicht nötig ist und ihnen das beweisen will. Und ich breche in lautes Geschrei aus, das mir selbst widerlich, aber nicht zurückzuhalten ist. Ich fühle die Ungerechtigkeit und Grausamkeit des Schicksals, nicht der Menschen, denn sie bedauern mich, sondern des Schicksals, und empfinde Mitleid mit mir selber. Ich weiß nicht und werde es niemals erfahren, was das war, ob man mich eingewickelt hat, als ich noch ein Säugling war, und ob ich dann meine Arme losgerissen habe, oder ob man mich erst in späteren Jahren einwickelte, damit ich mir nicht das Gesicht zerkratze, oder ob ich in dieser einen Erinnerung so viele Eindrücke angesammelt habe, wie das im Schlaf vorkommt, – aber das weiß ich, daß dies mein erster und stärkster Eindruck im Leben war. Ich verlange nach Freiheit, sie stört niemand, aber ich, der Kraft nötig hat, ich bin schwach, und sie sind stark.
Eine andere Erinnerung ist freudiger Art. Ich sitze in einer Wanne und bemerke einen nicht unangenehmen Geruch von etwas Neuem, mit dem man meinen kleinen Körper abreibt. Wahrscheinlich war es Kleie, und wahrscheinlich amüsierte mich die Neuheit der Situation in der Wanne und im Wasser, und ich bemerkte zum ersten Mal mit Wohlgefallen meinen kleinen Körper, die Brust und die darunter sichtbaren Rippen und die glatte, dunkle Wanne, die vertrockneten Hände der Wärterin, das warme, dampfende, plätschernde Wasser und besonders das Gefühl der Glätte der nassen Ränder der Wanne, wenn ich mit den Händchen darüber hinfuhr.
Es ist sonderbar und eigentlich schrecklich zu denken, daß ich in der Zeit von meiner Geburt bis zum dritten Jahr, also in der Zeit, wo ich an der Brust genährt, darauf entwöhnt wurde, wo ich anfing zu kriechen, zu gehen und zu sprechen, nicht eine einzige weitere Erinnerung, außer diesen beiden, finden kann.
Wann begann mein Dasein? Wann begann ich zu leben? Warum macht es mir Vergnügen, mich mir in meinem damaligen Zustand vorzustellen, und warum war es mir schrecklich, wie es jetzt noch vielen schrecklich ist, an den Augenblick zu denken, wo ich wieder in den Zustand des Todes eintrete, aus welchem wir keine in Worten auszudrückende Erinnerung mitbringen?
Habe ich etwa damals nicht gelebt, als ich lernte, zu sehen, zu hören, zu begreifen, zu sprechen, als ich schlief, als ich an der Brust sog, lachend die Brust küßte und das Herz meiner Mutter erfreute? Gewiß habe ich damals gelebt, und es war ein fröhliches Leben! Habe ich etwa nicht damals das alles erworben, wovon ich jetzt lebe, und habe ich nicht so viel und so schnell erworben, daß ich während meines ganzen übrigen Lebens nicht mehr den hundertsten Teil davon erworben habe? Von dem fünfjährigen Kind bis zu mir ist nur ein Schritt. Zwischen dem Neugeborenen und dem Fünfjährigen liegt eine weite Entfernung, zwischen dem Embryo und dem Neugeborenen – ein Abgrund. Zwischen dem Nichtsein und dem Embryo aber liegt nicht nur ein Abgrund, sondern – das Unbegreifliche.
Entfernung, Zeit und Ursache sind Formen der Vorstellung und das Wesen des Lebens liegt außerhalb dieser Formen, unser ganzes Leben aber ist eine immer weiter gehende Unterwerfung unter diese Formen und dann wieder die Befreiung von ihnen.
Meine späteren Erinnerungen beziehen sich auf das vierte und fünfte Jahr, aber ihre Zahl ist auch sehr gering, und keine einzige betrifft das Leben außerhalb der Wände des Hauses. Vor dem fünften Jahr existierte die Natur nicht für mich. Alle Vorgänge, deren ich mich erinnere, erlebte ich in meinem Bettchen, im Zimmer. Weder Gräser, noch Blätter, weder Himmel, noch Sonne gab es für mich. Es kann nicht sein, daß man mich nicht mit Blumen, mit Blättern spielen ließ, daß ich keine Gräser gesehen habe, daß man mich nicht gegen die Sonne schützte, aber bis zum fünften, sechsten Jahr habe ich nicht eine einzige Erinnerung von dem, was man Natur nennt. Wahrscheinlich muß man außerhalb der Natur stehen, um sie zu sehen, ich aber war ein Teil der Natur.
Die auf die Badewanne folgende Erinnerung ist die an »Jereméjewna«. Mit diesem Wort erschreckte man uns Kinder und wahrscheinlich auch schon früher, aber meine Erinnerung daran zeigt nur folgendes Bild. Ich liege im Bett, heiter und vergnügt wie immer und deshalb würde ich mich dessen auch nicht erinnern, aber plötzlich sagt die Wärterin oder sonst jemand aus dem, was meinen Lebenskreis bildete, etwas mit einer mir neuen Stimme und geht hinaus. Ich aber empfinde neben meiner Heiterkeit auch etwas Angst. Ich erinnere mich, daß ich nicht allein bin, sondern noch etwas Ähnliches da ist. (Das war wahrscheinlich meine um ein Jahr jüngere Schwester Maschenka,»Maschenka« ist ein schmeichelndes Diminutiv von »Marie«. deren Bettchen in demselben Zimmer stand.) Wir beide freuen uns und ängstigen uns über das Ungewöhnliche, das mit uns vorgegangen. Ich verberge mich unter dem Kissen und sehe darunter hervor nach der Thüre, durch welche ich etwas Neues und Heiteres erwarte. Und wir lachen, verstecken uns und warten. Da erscheint jemand mit einem Tuch und einer Haube, wie ich sie nie zuvor gesehen habe, aber ich erkenne, daß das dieselbe Wärterin (oder Tante, ich weiß es nicht) ist, welche immer bei mir ist, und sagt mit einer rauhen Stimme, die ich erkenne, etwas Schreckliches von bösen Kindern und von Jereméjewna. Ich schreie vor Angst und Vergnügen, und wirklich, ich fürchte und freue mich zugleich darüber, daß ich Angst habe und will es diejenige, die mich erschreckt hat, nicht merken lassen, daß ich sie erkannt habe. Wir liegen still, dann aber beginnen wir absichtlich wieder, miteinander zu flüstern, um Jereméjewna wieder herauszufordern.
Eine ähnliche Erinnerung ist wahrscheinlich aus späterer Zeit, denn sie ist klarer, blieb mir aber immer unbegreiflich. Die Hauptrolle in dieser Erinnerung spielt ein Deutscher, Namens Fedor Iwanowitsch,Der Hauslehrer hieß also Theodor (russisch Fedor) und sein Vater Johann (russisch Iwan). (Der Übers.) unser Hauslehrer. Ich weiß, daß ich mich noch nicht unter seiner Aufsicht befand, folglich war das vor meinem fünften Jahr. Und das ist mein erster Eindruck von Fedor Iwanowitsch. Das war früher, als meine früheste Erinnerung an meine Brüder, meinen Vater, oder sonst jemand. Nur von einer einzigen gesonderten Person habe ich eine Vorstellung, nämlich von meiner Schwester und nur deshalb, weil sie sich mit mir zusammen vor Jereméjewna gefürchtet hat.
Mit dieser Erinnerung verbindet sich bei mir auch die erste Vorstellung davon, daß unser Haus einen oberen Stock hatte. Wie ich dahin gelangt bin, ob ich selbst gegangen oder dahin geführt worden war, davon weiß ich nichts. Ich erinnere mich nur, daß wir unserer viele waren und uns an den Händen hielten. Unter uns ist auch eine fremde Frau (ich weiß nicht mehr, warum ich mich erinnere, daß das eine Waschfrau ist) und wir alle fangen an, uns zu drehen und zu springen, und Fedor Iwanowitsch springt sehr hoch mit heftigen Gebärden und sehr lärmend. Ich hatte das Gefühl, daß das nicht schön und unanständig sei, und in demselben Augenblick bemerke ich auch ihn. Ich glaube, ich brach in Thränen aus und alles war zu Ende.
Das ist alles, dessen ich mich bis zu meinem fünften Jahr erinnern kann. Weder meiner Wärterinnen, Tanten, Brüder, Schwestern, noch des Vaters, der Spielsachen, der Zimmer, noch sonst an (irgend) etwas Damaliges kann ich mich erinnern. Bestimmtere Erinnerungen beginnen bei mir mit der Zeit, wo ich hinabgeführt wurde zu Fedor Iwanowitsch und meinen älteren Brüdern.
Als man mich hinabführte zu Fedor Iwanowitsch und den Knaben, empfand ich zum ersten Mal und daher stärker, als jemals später, jenes Gefühl, das man Pflichtgefühl nennt. Ich war traurig darüber, daß ich das Gewohnte, das von Ewigkeit her Gewohnte verlassen sollte, eine poetische Traurigkeit befiel mich über die Trennung von den Menschen, von meiner Schwester, meiner Wärterin, meiner Tante und noch mehr von meinem Bett, meinem Kissen, und schrecklich erschien mir das neue Leben, in das ich eintrat.
Ich suchte das mir bevorstehende Leben heiter zu finden und bemühte mich, an die freundlichen Reden zu glauben, mit denen mich Fedor Iwanowitsch empfing, und die Geringschätzung nicht zu bemerken, mit der die Knaben mich, den Jüngsten, aufnahmen. Ich zwang mich, daran zu glauben, daß es für einen großen Knaben eine Schande sei, mit Mädchen umzugehen und daß an diesem Leben oben mit der Wärterin nichts Schönes sei. Innerlich aber war ich schrecklich traurig und wußte, daß ich die Unschuld und das Glück unwiederbringlich verlor. Nur das Gefühl der eigenen Würde und das Bewußtsein, daß ich meine Pflicht erfüllte, hielt mich aufrecht.
Noch oft hatte ich im späteren Leben an den Scheidewegen des Lebens solche Augenblicke zu durchleben, wenn ich einen neuen Weg betrat. Dann empfand ich stillen Kummer über die Unwiederbringlichkeit des Verlorenen und konnte nur schwer daran glauben, daß es so sein müsse. Wenn man mir auch zuredete, ich werde zu den Knaben gebracht, – der Kittel mit den im Rücken angenähten Hosenträgern, den man mir umlegte, trennte mich für immer vom oberen Stock, und hier fand ich zum ersten Mal nicht alle diejenigen, mit denen ich oben gelebt hatte, und dagegen eine Person, die ich früher nicht gekannt hatte. Das war Tantchen F. A. Ich erinnere mich der ziemlich kleinen, stämmigen, schwarzhaarigen, gutherzigen, freundlichen, mitleidigen Dame. Sie legte mir das Kleidungsstück um, indem sie mich umarmte, umgürtete und küßte mich, und ich sah, daß sie dasselbe empfand wie ich. Sie war betrübt, schrecklich betrübt, aber es mußte sein.
Zum ersten Mal fühlte ich, daß das Leben kein Spiel ist, sondern eine schwere Sache. Werde ich dasselbe empfinden, wenn ich sterben werde? Ich begreife, daß der Tod oder das zukünftige Leben kein Spiel ist, sondern eine schwere Sache.