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Zwölftes Kapitel

Am Tage, nachdem er Katuscha auf der Anklagebank wiedergesehen, hatte Nechludoff den Entschluß gefaßt, seine Lebensweise zu ändern; er hatte beschlossen, sein Haus zu vermieten, seine Dienerschaft zu entlasten und wie ein Student in einem möblierten Zimmer zu wohnen.

Doch Agrippina Petrowna bewies ihm, es wäre eine Thorheit von ihm, seine Lebensweise vor dem Winter zu ändern, denn niemand würde das Haus im Sommer mieten, niemand die Möbel kaufen, und er müßte dieselben bis zum Winter irgendwo unterstellen. Daher blieben die Bemühungen Nechludoffs in diesem Punkte und seine schönen Entschlüsse wirkungslos.

Es ging nicht nur alles in seinem Hause genau so wie vorher weiter, nein, man begann sogar die Möbel, Pelze, Kleidungsstücke und Wollsachen zu bürsten, abzustäuben und auszubessern; eine Arbeit, an der der Portier und sein Gehilfe, die Köchin und der Wiener Kornej teilnahmen. Nechludoff sah, wie eine Menge Röcke, Uniformhosen, Pelze, die niemand mehr gebrauchen konnte, aus den Schränken genommen und auf Stricke gehängt wurden; er sah, wie man die Teppiche fortnahm und die Möbel von einem Zimmer ins andere schleppte; er wohnte unzähligen Reinigungen bei und mußte den Naphtalingeruch ertragen, der sich durch sämtliche Stuben verbreitete. Mit Erstaunen entdeckte er, welche ungeheure Menge unnützer Gegenstände er bis dahin in seinem Hause behalten hatte. Das alles hatte jedenfalls keine weitere Daseinsberechtigung und Bestimmung, als Agrippina Petrowna, Kornej, dem Portier, seinem Gehilfen und der Köchin Gelegenheit zu geben, ihre Zeit totzuschlagen, dachte er.

»Doch übrigens,« sagte er sich weiter, »es ist wahr: ich kann nicht daran denken, meine Lebensweise zu ändern, so lange das Schicksal der Maslow nicht entschieden ist. Alles hängt davon ab, was man mit ihr anfängt; ob man ihr die Freiheit wiedergiebt oder sie nach Sibirien schickt; denn in diesem Falle gehe ich mit ihr mit!«

Am festgesetzten Tage begab sich Nechludoff zu dem Advokaten Fajnitzin, der ein großes, prachtvolles Haus bewohnte, das mit seltenen Pflanzen geschmückt, mit prächtigen Vorhängen an den Fenstern und einem teuren und geschmacklosen Mobiliar ausgestattet war, wie man es nur bei Leuten sieht, die ohne Mühe und niedrige Mittel allzu schnell reich geworden sind. In dem Wartezimmer fand Nechludoff zehn Klienten, die wie bei einem Zahnarzt traurig an den Tischen saßen, darauf warteten, bis sie an die Reihe kamen, und in der Lektüre alter illustrierter Zeitungen einigen Trost suchten. Doch der Sekretär des Advokaten, der im Hintergründe des Salons an einem imposanten Schreibtisch thronte, erkannte Nechludoff sofort, trat auf ihn zu und sagte ihm, er würde seinen Chef von seiner Anwesenheit unterrichten.

In demselben Augenblick öffnete sich die Thür von Fajnitzins Zimmer, und man sah den Advokaten heraustreten, der eine äußerst lebhafte Unterhaltung mit einem vierschrötigen jungen Manne mit einem dicken, roten Gesicht fortsetzte, der einen sehr schönen neuen Anzug trug. Seine und Fajnitzins Gesichtszüge zeigten den eigentümlichen Ausdruck, den man auf den Zügen von Männern liest, die eben ein ausgezeichnetes, allerdings nicht sehr sauberes, aber doch ausgezeichnetes Geschäft beendet haben.

»Das ist Ihre Schuld, Väterchen!« sagte Fajnitzin lächelnd, »Ich möchte gern ins Paradies kommen, aber meine Sünden lassen es nicht zu!«

»Das ist gut, das ist gut, alter Spaßvogel; man weiß schon, wie es damit steht.«

Dabei fingen beide affektiert zu lachen an.

»Ah, Fürst, haben Sie die Güte, einzutreten,« sagte Fajnitzin, als er Nechludoff bemerkte, und führte ihn in sein Arbeitszimmer, das im Gegensatz zu seinem Salon mit strenger Einfachheit ausgestattet war.

»Legen Sie sich bitte keinen Zwang auf; rauchen Sie ganz nach Belieben,« sagte er, indem er Nechludoff gegenüber Platz nahm und sich bemühte, das Lächeln zu verbergen, das der Gedanke an das eben abgeschlossene gute Geschäft in ihm hervorrief.

»Ich danke!« versetzte Nechludoff; »ich komme wegen des Falles Maslow ...«

»Ja, ja, ganz recht! Ach, was sind diese reichen Bürger doch für Hallunken! Sie haben doch eben den Kerl gesehen, der vorhin fortging? Denken Sie sich, er hat zwölf Millionen Kapital! Aber wenn er Ihnen einen Fünfundzwanzigrubelschein abknüpfen kann, dann wird er ihn Ihnen eher mit den Zähnen fortreißen, ehe er ihn Ihnen läßt!«

Der Advokat sagte das in vertraulichem, scherzhaftem Tone, als wollte er Nechludoff daran erinnern, daß er mit ihm auf gleicher Stufe stand, während er weder mit seinem vorigen Besucher, noch mit denen, die im Salon auf ihn warteten, etwas gemein hatte.

»Ich bitte Sie um Verzeihung, aber der Kerl hat mich wirklich zu sehr geärgert; ich mußte mein Herz ein bißchen ausschütten,« fuhr er fort, als wollte er sich wegen der Abschweifung entschuldigen. – »Kommen wir jetzt zu unserer Sache! Ich habe die Akten genau studiert. Dieses verdammte Verteidigerchen war ja unter der Kanone! Er hatte sich alle Annullierungsgründe entgehen lassen!«

»Und was beschließen Sie?«

»Ich stehe in einer Minute ganz zu Ihrer Verfügung,« – »Sagen Sie ihm,« erklärte er seinem Sekretär, der eben eingetreten war und ihm eine Karte übergeben hatte, »sagen Sie ihm, es wird so geschehen, wie ich gesagt habe; wenn er die Mittel hat, so ist es gut; wenn nicht, geschieht nichts!«

»Aber er meint, er könne auf Ihre Bedingungen nicht eingehen!«

»Dann geschieht also nichts,« entgegnete Fajnitzin, und sein so fröhliches und liebenswürdiges Gesicht wurde für einen Augenblick düster und bösartig.

»Man behauptet, die Advokaten verdienten Geld, ohne etwas zu thun,« sagte er, sich wieder zu Nechludoff wendend, mit diensteifrigem Lächeln, »Denken Sie sich, ich habe einen bösen Schuldner von einem schlimmen Prozeß befreit, den zu verlieren er alle Chancen hatte, und jetzt wenden sich alle seine »Gesinnungsgenossen« an mich! Und wenn Sie wüßten, was mir das für Mühe macht! Ich muß mir doch meinen Lebensunterhalt verdienen! Um aber auf Ihre Sache zurückzukommen, oder vielmehr auf die Sache, die Sie interessiert, so ist sie, wie ich Ihnen sagte, ganz liederlich geführt worden. Gute Gründe zur Annullierung des Urteils habe ich nicht gefunden, aber man kann schließlich immerhin den Versuch machen, welche zu entdecken. Sehen Sie, da habe ich einen Entwurf der Berufung für Sie fertiggestellt.«

Er nahm ein Papier vom Tische und begann laut zu lesen, wobei er über die juristischen Formeln sehr schnell hinwegging und dafür andere Stellen betonte.

»Berufung vor der Kassations-Kriminalkammer des Senats u.s.w. u.s.w. ... gegen das Urteil des Schwurgerichtshofes u.s.w. verurteilt die unverehelichte Katharina Maslow zur Strafe von u.s.w. u.s.w. ... Zwangsarbeit ... wegen Mordes begangen an der Person des ... u.s.w. ... auf Grund des Paragraphen u.s.w.«

Hier hielt der Advokat inne und richtete die Augen auf Nechludoff. Trotz seiner langen Gewohnheit hörte er mit offenbarem Wohlgefallen das schöne Dokument, das er da zu stande gebracht.

»Dieses Urteil,« fuhr er fort, »scheint aus so schweren gesetzlichen Irrtümern und Fehlern hervorgegangen zu sein, daß es nicht aufrecht erhalten bleiben darf. Erstens ist die Verlesung des Protokolls über den Leichenbefund des Kaufmanns Smjelkoff vor dem Schlusse vom Präsidenten unterbrochen worden.«

»Aber der Staatsanwalt hat ja diese Verlesung gefordert!« sagte Nechludoff ganz überrascht.

»O, das thut nichts! Die Verteidigung konnte sich darauf auch stützen.«

»Aber dieses Dokument hatte doch für einen andern keinen Nutzen.«

»Gleichviel; es ist immer ein Annullierungsgrund! Fahren wir fort: zweitens ist der Verteidiger der Maslow im Augenblick vom Präsidenten unterbrochen worden, als er die Personalien der Angeklagten charakterisieren wollte und die intimen Gründe ihres Falles auseinandersetzte, die nach Ansicht des Präsidenten mit der Sache nichts zu thun hätten; doch in Kriminalfällen ist, wie der Senat erst kürzlich festgestellt hat, die psychologische Erklärung des Charakters für die Abschätzung des Grades der Kriminalität von größter Wichtigkeit. Das ist der zweite Punkt!« sagte der Advokat, indem er die Augen von neuem auf Nechludoff richtete.

»Der Verteidiger sprach sehr schlecht,« sagte dieser; »man konnte von dem, was er sprach, nichts verstehen.«

»Das hatte ich geahnt; solch kleiner Schafskopf konnte nur dummes Zeug schwätzen. Aber schließlich kann man darin immerhin einen Grund zur Annullierung finden. Aber hören Sie die Fortsetzung: drittens hat der Präsident, im Gegensatz zu dem Artikel ... des Kriminalstrafverfahrens den Geschworenen nicht auseinandergesetzt, daß sie erklären konnten, die Maslow hätte, als sie dem Kaufmann Smjelkoff das Gift ins Glas schüttete, nicht die Absicht zu töten gehabt. Deshalb konnte das Urteil der Geschworenen zu stande kommen; hätte sie der Präsident dagegen von der Möglichkeit einer solchen Einschränkung unterrichtet, so hätte die von der Maslow begangene Handlung nicht als Mord, sondern als fahrlässige Tötung aufgefaßt werden können; das ist sehr wichtig!«

»Aber das hätten wir ja selbst begreifen können, ohne daß man es uns zu erklären brauchte! Denn wir allein sind für den begangenen Irrtum verantwortlich!«

»Endlich, viertens: ist die Antwort der Geschworenen in einer Form abgefaßt, die einen Widerspruch in sich schließt. Die Geschworenen haben anerkannt, daß die Maslow nicht schuldig ist, sich das Geld des Kaufmanns Smjelkoff angeeignet zu haben, während sie sie andererseits schuldig fanden, ihn vergiftet zu haben; daraus geht hervor, daß die Angeklagte nach Ansicht der Geschworenen wohl den Kaufmann Smjelkoff getötet hat, doch ohne die Absicht dazu zu haben, denn nur der Wunsch, ihn zu bestehlen, könnte eine solche Absicht bei ihr erklären. Infolgedessen fiel diese Antwort der Geschworenen unter den Artikel 817 und folgende, und der Präsident hätte die Pflicht gehabt, die Geschworenen auf den begangenen Irrtum aufmerksam zu machen und sie zur Fertigstellung einer neuen Antwort in ihr Beratungszimmer zurückzuschicken.«

»Aber warum hat der Präsident das nicht gethan?«

»Ja, das ist seine Sache,« versetzte Fajnitzin fröhlich.

»Und glauben Sie, daß der Senat den Irrtum berichtigen wird?«

»Das hängt von den Senatoren ab, in deren Hände die Berufung fällt. Hören Sie jetzt die Schlußfolgerung!«

Nun las der Advokat Nechludoff noch einen langen Abschnitt vor, in welchem er sich auf zahlreiche Artikel des Strafgesetzbuches und verschiedene Präcedenzfälle stützte; zum Schluß verlangte er, das Urteil solle kassiert und der Fall einem neuen Gericht vorgelegt werden.

»So!« sagte der Advokat schließlich. »Alles, was man thun konnte, habe ich gethan; doch ich will Ihnen aufrichtig meine Ansicht sagen, wir haben fast keine Chancen, durchzudringen. Übrigens hängt alles von den Senatoren ab, die in der Kassationskammer sitzen. Wenn es Ihnen möglich ist, suchen Sie die Sache nach dieser Seite hin zu günstigem Ende zu führen.«

»Ja, ich habe einige Verbindungen im Senat.«

»Und beeilen Sie sich, denn diese ehrwürdigen Beamten dürften bald ihre Hämorrhoiden pflegen, und dann müssen Sie drei Monate warten. Im Fall des Nichterfolges haben wir dann noch das Mittel eines Gnadengesuchs. Alles hängt von der Arbeit hinter den Kulissen ab, und ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß ich auch in diesem Fall zu Ihrer Verfügung stehe, sowohl um hinter den Kulissen zu arbeiten, wie auch um das Gesuch aufzusetzen.«

»Ich danke Ihnen herzlich ... Und was das Honorar betrifft ...«

»Mein Sekretär wird Ihnen eine Kopie des Dokumentes mit allen Angaben über die noch zu machenden Schritte geben.«

»Noch um eins möchte ich Sie bitten. Der Staatsanwalt hat mir einen Erlaubnisschein gegeben, die Verurteilte in ihrem Gefängnis zu sprechen; doch ich möchte sie auch außer den Besuchstagen und anderswo als in dem gemeinsamen Sprechzimmer sehen. An wen habe ich mich zu wenden, um die Erlaubnis zu erhalten?«

»An den Gouverneur! Doch er ist augenblicklich abwesend, und der Vizegouverneur vertritt ihn. Ein Idiot sondergleichen; ich zweifle, daß Sie bei dem etwas durchsetzen.«

»Maslinnikoff, nicht wahr? Den kenne ich genau,« sagte Nechludoff und stand auf, um sich zu verabschieden.

Während Nechludoffs Unterredung mit dem Advokaten war eine kleine, schrecklich häßliche, gelbliche und knochige Frau schnellen Schrittes in das Wartezimmer getreten. Das war Fajnitzins Frau. Ohne sich von ihrer Häßlichkeit entmutigen zu lassen, war sie mit größtem Luxus gekleidet. Sie hatte Spitzen, Sammet und Seide auf dem Leibe, und ihre aschfahlen Haare waren in der auffallendsten Weise frisiert. Sie war in den Salon gestürzt, wo ihr ein großer, magerer Mann mit erdfahlem Teint entgegeneilte, der einen Gehrock mit seidenen Aufschlägen trug. Es war ein Schriftsteller; Nechludoff kannte ihn von Ansehen.

»Anatole!« sagte die Dame zu ihrem Gatten und öffnete die Thür seines Arbeitszimmers; »Simon Iwanowitsch ist da! Wir erwarten dich im kleinen Salon! Er bringt sein Gedicht mit, und du wirst uns deinen Aufsatz über Garschin vorlesen!«

Nechludoff wollte sich verabschieden, doch die Dame wandte sich zu ihm:

»Fürst Nechludoff, nicht wahr? Ich kenne Sie schon seit langer Zeit dem Namen nach. Machen Sie uns doch das Vergnügen, unserer literarischen Matinee beizuwohnen. Es wird sehr interessant, Anatole liest vollendet vor.«

»Sie sehen, was für verschiedenartige Beschäftigungen ich habe!« sagte Anatole lächelnd und deutete mit einer Handbewegung auf seine Frau, als wolle er sagen, einem so verführerischen Weibe könne man nichts abschlagen.

Doch Nechludoff dankte sehr höflich, allerdings mit etwas kühlem Gesicht, Frau Fajnitzin für die Ehre, die sie ihm erwies, und sagte ihr, er könne zu seinem großen Bedauern nicht annehmen.

»Was ist das für ein Grimassenschneider!« sagte die Dame von ihm, als er sich entfernt hatte.

Im Salon übergab der Sekretär Nechludoff eine Abschrift der Berufung und antwortete auf seine Frage wegen des Honorars, Anatole Petrowitsch habe dasselbe auf tausend Rubel festgesetzt, wobei er erklärend hinzufügte, Anatole Petrowitsch befasse sich nie mit Geschäften dieser Art und habe diese Sache nur aus reiner Gefälligkeit übernommen.

»Und wer muß dieses Papier unterzeichnen?« fragte Nechludoff.

»Die Angeklagte kann es selbst unterzeichnen, wenn sie dazu im stande ist, sonst wird es Anatole Petrowitsch für sie unterzeichnen.«

»Nein, ich werde der Verurteilten das Papier bringen und es von ihr unterzeichnen lassen,« rief Nechludoff, glücklich, einen Vorwand zu haben, um sich schon am nächsten Morgen mit Katuscha wieder aussprechen zu können.


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