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Der Kapellmeister war in Verzweiflung. Es war ganz so gekommen, wie er gefürchtet hatte. Die erste Sängerin zeigte sich mehr als empfindlich, sie fühlte sich beleidiget, und sogleich war auf einen Wink von ihr eine recht schwere Krankheit da, die ihr es unmöglich machte, einen Ton zu singen, ja nur ihr Zimmer zu verlassen. Der Enthusiast wandelte und rannte hin und her, aber seine Vermittlung machte die Sache eher ärger als besser, denn da er treuherzig wiedererzählte, was jede der Parteien geäußert hatte, so wurde der Kapellmeister immer mehr erbittert, und die Sängerin ging am Ende so weit, daß sie verlangte, statt der beiden Hauptarien sollten zwei ganz neue gesetzt werden, und das Duo im letzten Akte müsse in den ersten und zwar gleich in den Anfang verlegt sein, auch forderte sie noch für sich die große Arie der zweiten Sängerin, ohne welche Bewilligungen an keinen Friedensschluß zu denken sei. Über diese ungeheuren Forderungen geriet der Kapellmeister so außer sich, daß er schwur, sie solle nun in seiner Oper gar nicht singen, ob er gleich noch nicht wußte, wie er seiner Verlegenheit abhelfen sollte. »Wenn nur meine cara noch lebte!« rief der alte Italiener aus, der an den Beratschlagungen teilnahm und jetzt die Verzweiflung des Kapellmeisters sah. »Ach! wie brillant könnte die Selige zum Theater wieder auferstehn! Die Rolle ist ganz und gar für sie geschrieben.«

»Könnt Ihr sie nicht vielleicht selbst übernehmen?« fragte der Kapellmeister in tragischer Bosheit.

» Signor, siHerr, ja! rief der Alte, »wenn Ihr kein ander Subjekt findet, ich kann zum Entsetzen einen hohen Sopran durch die Fistel singen.«

»Es kommt wirklich fast auf eins hinaus«, rief der Komponist in seiner Verzweiflung, »ob man so oder so parodiert wird; wenigstens würde doch kein Liebhaber bei einer unpassenden Gelegenheit klatschen, und kein Eifersüchtiger oder der Bewunderer der zweiten Dame aus Neid pochen und zischen. Unternehmt Ihr, Alter, aber auch liebenswürdig zu erscheinen?«

»Was der Mensch leisten kann«, antwortete jener, der es für Ernst hielt, »vor dreißig Jahren war ich zum Malen hübsch, und wenn ich mal auf Karneval in Weibskleidern ging, lief mir alles junge Mannsvolk nach.«

»Die Primadonna hätten wir also«, sagte der Enthusiast, »und wenn die Oper nur Nacht und Verfinsterung des Theaters erforderte und kein Mensch die Sache erführe, so käme es wohl auf den Versuch an, welche Wirkung der alte Freund machen würde.«

»Wenn ich nicht vor der Aufführung tot bin«, warf der Italiener ein, »so wie das andere Subjekt krank ist, so möchte ich wohl in das Sterben geraten.«

»Ich sehe schon«, beschloß der Kapellmeister, »ich bin vergeblich hergereist, ich habe umsonst alle Anstalten getroffen. So lange es unmöglich bleibt, von Obrigkeits wegen einen solchen Eigensinn zu bestrafen und zu hindern, so lange das Publikum selbst nicht eine solche Frechheit und Verachtung seiner so ahndet, daß kein zweiter dieselbe Vergehung wieder wagt, so lange bleiben wir das Opfer dieser Kaprice von unwissenden Menschen, die für ihr mäßiges Talent viel zu sehr belohnt und von den Direktionen und allen Zuhörern verzogen werden. Ich werde wieder einpacken.«

Der Enthusiast weinte vor Schmerz, der Italiener aber sagte: »Ihr habt ganz recht; nicht wahr, das Leben mit all den Mühseligkeiten ist nicht die Rede wert?«

»Ich bin es wenigstens völlig satt«, antwortete der Komponist.

»Nun, so kommt mit mich, leistet mir Gesellschaft«, sagte der Alte sehr freundlich, indem er sich an ihn schmiegte.

»Wohin?«

»Nach jenseit, nach dem weiten, großen Raum, wo man Ellenbogenfreiheit nach Herzenslust hat. Sagt, Mann, wollen wir uns lieber ins Wasser schmeißen oder frisch den Kopf abschießen, wie dem Vogel von der Stange?«

»Geht«, rief der Musiker, »Ihr seid schon am frühen Morgen trunken.«

»Nein«, sagte jener, »ich habe einmal einen heiligen Schwur gethan, mir aus dieser Welt hier fortzuschaffen, wenn ich nicht etwa den lieben Signor Hortensio wieder antreffen thäte: das würde natürlich die ganze Sache verändern. Aber wenn mir die Freude nicht arriviert, sagt nur selbst, was ist denn das für ein lumpiges Leben hier unten? Da sitzt Ihr immer, närrischer Maestro, und klimpert auf das Klavier und schreibt Eure Eingebungen auf und ängstigt Euch um Invention, Charakter, Melodie, Stil, Originalität und wie man Kunstwesen alles nennt: und wer dankt es Euch? Wer merkt es nur ein bissel? Laßt uns doch mal als vernünftige Männer in Tag hinein reden: ist es denn nicht spaßhafter, sich aus dem Staub zu machen? Ja, Ruhm, Nachwelt! Wollen der lieben Nachwelt ein bissel entgegengehn und mal hinter den Vorhang gucken, ob es solches Getier überhaupt nur gibt. Übermorgen, Freundchen, seid von der Partie, ich bring' auch Pistol mit: Ihr müßtet denn lieber baumeln wollen; ist aber jetzt windiges und garstiges Wetter.«

»Laßt die Narrenspossen«, sagte der Musikus sehr ernst, »es wird noch dahin kommen, alter Thor, daß Ihr nach dem Tollhause wandert.«

»Und wohnen da nicht auch Leute?« sagte der Italiener grinsend; »Ihr habt Vernunft noch nicht vielgebraucht, junger Mann, da ist sie noch ein bissel frisch! Wer sie aber so wie ich strapaziert hat, da ist sie mürbe und matt; mir kommt's gar nicht so sehr auf Ambition an, daß mich Euresgleichen für vernünftig oder Weisen aus Griechenland hält. Ich habe wohl andern Umgang gehabt, als Ihr, Ihr armer, gegenwärtiger, kurzsichtiger Mensch! Und wenn Nestor oder Phidias und Praxiteles, mit die ich so oft konversiert habe, mich so etwas gesagt hätten, so hätte ich jeden einen Schlag an die Gegend von das Ohr gegeben.«

Er lief wütend fort, und der Kapellmeister setzte sich melancholisch nieder; auch der geschwätzige Enthusiast mußte ihn verlassen, damit er seinem Kummer recht ungestört nachhängen könne.

*

»Nein«, sagte am Abend der Laie zum Baron Fernow, »ich habe dazumal einen Schwur gethan, niemals eine Geige wieder anzurühren, und darum verschonen Sie mich.« Der Vater und die Tochter wünschten nämlich, er möchte ihnen nur etwas, das kleinste Liedchen Vorspielen, um zu sehen, wie er sich in der Jugend mit seinem Instrumente ausgenommen habe.

»Man sollte wohl nichts verschwören«, sagte der Baron, »am wenigsten die Ausübung einer so edeln Kunst.«

Der Kapellmeister trat herein und erzählte eine sonderbare Anmutung, die ihm vom Grafen geschehen sei. Dieser habe ihn nämlich besucht und gebeten, am heutigen Abend mit ihm und dem alten Italiener in den Wald vor die Stadt zu gehn, wo sich der Sänger erschießen wolle; der Graf wünsche wenigstens einen rechtlichen Mann zum Zeugen, der es nachher bewähren könne, daß der alte Thor sich selber umgebracht habe. Der Baron war der Meinung, man müsse den alten Verrückten sogleich festnehmen und einstecken; die übrigen fielen bei, nur der Laie äußerte den Zweifel, ob nicht jedem das Recht zustehen müsse, über sein Leben zu entscheiden, wie es ihm am besten dünkte. Hierüber entspann sich ein Streit, ob es dem Staate oder den übrigen Menschen erlaubt sei, über irgendwen eine solche beschränkende Aufsicht zu führen, welches der Baron uneingeschränkt behauptete, da ein solcher durchaus, der einen so unklugen Vorsatz fasse, als ein Wahnsinniger zu betrachten sei.

»So muß man erst ermitteln, was Wahnsinn ist«, warf der Laie ein; »denn wir sehn es in der Geschichte, wie die Gesetze und ihre Vollstrecker nach den Umständen und herrschenden Gesinnungen bald dieses, bald jenes zum todeswürdigen Verbrechen gestempelt haben, welches andere Zeitalter zu Tugenden erhoben oder gleichgültig ansahen, ja selbst verlachten. Frei zu denken, von gewissen Meinungen abzuweichen, hat ehemals manchen auf den Scheiterhaufen geführt; wegen Zauberei, wegen angeschuldigter Künste ist manchem der Stab gebrochen worden, und jetzt, wo wir in diesen Punkten Freiheit gestatten und es doch dulden müssen, wie viele durch Übermaß und Ausschweifung sich vorsätzlich und sichtlich zu Grunde richten, begreife ich nicht, wie man es den Elenden und Verstörten mit Recht verwehren kann, das Leben wegzuwerfen, wenn sie diesen Entschluß wirklich ergreifen.«

»Sie sind paradox«, rief der Baron; »ich bin nicht Philosoph genug, um Sie widerlegen zu können, allein aus den Überzeugungen der Religion müssen Sie es selber schon wissen, daß Sie eine böse Sache verteidigen.«

»Ich habe versprochen, mit auszuwandern«, sagte der Kapellmeister, »denn ich kann mir nimmermehr vorstellen, daß der alte Thor Ernst machen wird. Übrigens wäre es wahrlich nicht zu verwundern, wenn ein armer geplagter Kapellmeister diese Gelegenheit benutzte und ihm Gesellschaft leistete.«

Der Graf trat wie verstört und tiefsinnig herein. Man fragte ihn, ob etwas Neues begegnet sei; er äußerte aber, die Erinnerung an jene Stimme, die ihm durch die neuliche Erzählung wieder mit frischer Lebhaftigkeit in das Gedächtnis gekommen sei, sein rastloses Suchen, die Qual dieser Spannung und die Unruhe, die es seinem ganzen Wesen mitteile, mache ihn völlig elend, und er habe beschlossen, wenn sich der Italiener erst erschossen habe, weiter zu reisen.

»So halten Sie es denn für Ernst?« fragte der Baron erstaunt.

»Wenn er nicht wirklich dazu thut«, antwortete der Graf, »so nehme ich den Narren wieder auf die Reise mit.«

Der Italiener trat herein und schien aufgeräumter, als man ihn noch je gesehen hatte. Alle betrachteten ihn mit einer gewissen Scheu, er aber nahm keine Notiz von diesem veränderten Betragen, und als jetzt der Enthusiast und der Sänger die Gesellschaft vermehrten, wurden alle in heitern Gesprächen von einer vergnüglichen Laune beherrscht, den Grafen ausgenommen, der seine trübe Miene nicht veränderte. »Lassen Sie uns«, sagte der Kapellmeister endlich, »einiges von unsern neulichen Erzählungen aufnehmen. Wie ist es möglich (indem er sich zum Laien wandte), daß Sie nach Ihren neuerlichen komischen Bekenntnissen ein so großer Freund der Musik haben werden können?«   »Vielleicht dadurch um so mehr«, erwiderte dieser, »weil das Gefühl, als es reif in mir war, durch sich selbst und stark erwachte, daß ich nichts Angelerntes, Nachgesprochenes in meine Liebhaberei hinübernahm. Ich hatte es endlich dahin gebracht, daß ich kleine, einfache Lieder begriff, die mir auch wohl im Gedächtnis hängen blieben, die trefflichen von Schulz Die »Lieder im Volkston« von Johann Abraham Peter Schulz erschienen 1779 90). zum Beispiel, in denen uns, ohne daß sie uns eben poetisch aufregen, so behaglich und wohl wird, die uns so klar blauen Himmel, grüne Landschaften, leichte Figuren und anmutige Empfindungen hinmalen, waren mir oft gegenwärtig und verständlich. Nur die größeren Kompositionen, am meisten aber die dramatische Musik, waren mir zuwider, wenn ich auch in der letztem manchmal mit Wohlgefallen eine kleine Arie hörte, die sich dem Ohr einschmeichelte. Auch der Harthörigste lernt am Ende die kleinen melodischen Sachen fühlen, wenn ihm auch der Zusammenhang großer musikalischer Dichtungen unverständlich bleibt. Als das erste Mal »Don Juan« von Mozart gegeben wurde, In Berlin zum erstenmal am 20. Dezember 1790 aufgeführt; komponiert 1787. Der »hochgeachtete Musiker« ist Reichardt, der anfangs gegen Mozarts Musik eine heftige Abneigung hatte. ließ ich mich bereden, das Theater zu besuchen. Es war unlängst komponiert und des großen Mannes Ruhm noch in Deutschland nicht so begründet wie bald nachher, welches ich besonders an einem hochgeachteten Musiker wahrnahm, der während und nach der Aufführung nicht genug über den falschen Geschmack des Werkes reden konnte. Mir aber war, als fiele mir schon während der Ouvertüre eine Binde von allen Sinnen. Ich kann die Empfindung nicht beschreiben, die mich zum erstenmal überraschte, daß ich wahre Musik hörte und verstand. Mit dem Verlauf des Werkes steigerte sich mein Entzücken, die Absichten des Komponisten wurden mir klar, und der große Geist, der unendliche Wohllaut, der Zauber des Wundervollen, die Mannigfaltigkeit der widersprechendsten Töne, die sich doch zu einem schöngeordneten Ganzen verbinden, der tiefe Ausdruck des Gefühls, das Bizarre und Grauenhafte, Freche und Liebevolle, Heitere und Tragische, alles dieses, was dieses Werk zu dem einzigen seiner Art macht, ging mir durch das Ohr in meiner Seele auf. Daß es so plötzlich geschah, vermehrte meine Begeisterung, und ich konnte nun kaum den »Belmont« »Belmonte und Konstanze oder die Entführung aus dem Serail«, komponiert 1781; erste Aufführung in Berlin am 16. Oktober 1788. desselben Meisters erwarten, dessen Leidenschaftlichkeit mich nicht weniger entzückte. Auch andere Komponisten suchte ich zu begreifen, und Glucks Christoph Wilibald Ritter von Gluck (1714-87), der große Reformator der dramatischen Musik. großer Stil, seine edle Rhetorik, sein tiefes Gemüt rissen mich hin, ich erfreute mich an Paisiello und Martini, Cimarosa's Giovanni Paisiello (1741 1816), Opernkomponist (»Die schöne Müllerin«, »Der Barbier von Sevilla« u. a.); Vicente Martin y Solar aus Valencia (1754 1810), von den Italiern Martini lo Spagnuolo (der Spanier) genannt, Komponist einst beliebter Opern (»La cosa rara«, »Lilla» u. a.); Domenico Cimarosa (1749 1801), schrieb vortreffliche, namentlich komische Opern (am berühmtesten »Die heimliche Ehe«, 1792). heller Geist leuchtete mir ein, und ich bestrebte mich, die Verschiedenheiten des musikalischen Stils sowie verschiedenartige Dichter zu erfassen und mir anzueignen. Während meiner Universitätsjahre verlor ich diese Kunst wieder aus dem Gesichte, doch zurückgekehrt, war mein Eifer für sie um so brennender, vorzüglich da einige vertraute Freunde mein Urteil und Gefühl läuterten. Jetzt wurde ich mit dem wundervollen Genius des großen Sebastian Bach Seine gewaltigen Schöpfungen   auf welche E. T. A. Hoffmann zuerst wieder hingewiesen hatte   waren damals in weitern Kreisen so gut wie vergessen; die erste Aufführung der Matthäuspassion durch Mendelssohn fand erst 1829, sieben Jahre, nachdem Tieck dies schrieb, statt. bekannt, in dem vielleicht alle Folgezeit der entwickelten Musik ruhte, der alles kannte und alles vermochte, und dessen Werke ich etwa nur mit den altdeutschen tiefsinnigen Münstern vergleichen möchte, wo Zier, Liebe und Ernst, das Mannigfaltige und Reizende in der höchsten Notwendigkeit sich vereinigt und in der Erhabenheit uns am faßlichsten das Bild ewiger und unerschöpflicher Kräfte vergegenwärtigt.«

Der Komponist sagte: »Gewiß, es könnte Schwindel erregen, wenn man überschaut, was alles vorangehen mußte, bevor Bach seine Werke schreiben konnte; aber es gehört auch wahrlich viel dazu, einer solchen Fuge oder einem vielstimmigen Satz auf die rechte Weise zu folgen und ihn zu verstehn, es ist gleichsam eine Allgegenwart des Geistes, die ich einem solchen Laien am wenigsten zugetraut hätte.«

»Nach mehreren Jahren«, fing der Laie wieder an, »wurde mir es so gut, in eine edle Familie Das Folgende enthält wohl eine Huldigung für die Familie Finkenstein, insbesondere für Tiecks edelmütige Freundin, die Gräfin Henriette, die allerdings nicht die älteste, sondern die jüngste Tochter war. eingeführt zu werden, deren Mitglieder, vorzüglich die weiblichen, auf eine entzückende Art die Musik ausübten. Die älteste Tochter sang einen Sopran, so voll und lieblich, so himmlisch klar, daß ich bei Ihrer neulichen Beschreibung des Gesangs Ihrer Unbekannten, werter Graf, an diese unvergleichliche Stimme denken mußte. Hier vernahm ich nun neben manchem Weltlichen vorzüglich die großen und ewigen Gedichte des erhabenen Palestrina, die herrlichen Kompositionen eines Leo und Durante, die Zaubermelodieen des Pergolese, Leonardo Leo (1694 1744), Mitbegründer, Giovanni Battista Pergolese (1710 36), ausgezeichneter Vertreter der neapolitanischen Schule. Von letzterem z. B. ein berühmtes stabat mater, das Tieck zu mehreren Gedichten begeisterte (s. das chronologische Verzeichnis der Gedichte unter 1802). den ich mit den Lichtspielen des Correggio S. Anmerkung zu S. 154. Tieck denkt hier besonders an des Meisters »Heilige Nacht« in Dresden. vergleichen mußte, die trefflichen Psalme Marcellos, die großartige Heiterkeit unsers Hasse und das dramatische Requiem Jomellis. Benedetto Marcello (1686 1739), Dichter und ausgezeichneter Komponist; am berühmtesten seine »Psalmen« (1724 27); Tieck hat ihn in einem Gedicht gefeiert (1802), Nicola Jomelli (1714 74), Mitglied der neapolitanischen Schule, bedeutend in Kirchen- und Opernmusik.. Manches von Feo, die Miserere von Bai und Allegri Francesco Feo (1699 1752), berühmter Komponist und Gesanglehrer in Neapel; Tommaso Bai (1680-1714), schrieb vor allem ein berühmtes Miserere, das alljährlich in der Karwoche in der päpstlichen Kapelle zu Rom gesungen wird, abwechselnd mit denen von Baini und von Gregorio Allegri (159(?) bis 1652). Tieck hörte diese Kompositionen in Rom selbst. ungerechnet. So rein, ungeziert, im großen, einfachen Stil, ohne alle Manier vorgetragen, wird man schwerlich je wieder die Meisterwerke hören. Diese glückliche Zeit versetzte meinen Geist in eine so erhöhte Stimmung, daß sie eine Epoche in meinem Leben macht. Nur in wenigen schwachen Gedichten Tiecks Gedichte über Musik sind 1802 geschrieben. habe ich versucht, meine Dankbarkeit auszusprechen. Meine Seele war so ganz in diesen göttlichen Tönen aufgegangen, daß ich dazumal nichts von weltlicher Musik wisse» Wollte, es schien mir eine Entadlung der Göttlichen, daß sie sich zu den menschlichen Leidenschaften erniedrigen sollte. Ich glaubte, es sei nur ihre wahre Bestimmung, sich zum Himmel aufzuschwingen, das Göttliche und den Glauben an ihn zu verkündigen.«

»Ein Beweis«, sagte der Kapellmeister, »daß Ihr ganzes Herz damals von der Glorie dieser Erscheinung durchdrungen war. Man thut auch Unrecht, dergleichen wahre Begeisterung Einseitigkeit zu schelten, denn unsre Seele, wenn sie wirklich auf so große Art ergriffen und erschüttert wird, fühlt dann in diesem ihr neuen Element die ganze Kraft und Ewigkeit ihres Wesens; sie findet dann die Schönheit, von der sie früher gerührt wurde, erhöht und vollendet in der neuen Erscheinung und sieht mit Recht auf ihre frühern Zustände als auf etwas Geringeres hinab. In wessen Herz eine solche Vision nicht steigen und es ganz ausfüllen kann, der weiß überhaupt nicht, was echte Begeisterung ist. Und gewiß ist die Kirchenmusik, welche freilich die Neueren meist auch so tief herabgezogen haben, die erhabenste und schönste Aufgabe unsrer Kunst. Ich bin aber überzeugt, daß Sie späterhin von selbst eben aus Ihrem Enthusiasmus wieder den Weg zu Ihrem geliebten Mozart und andern gefunden haben.«

»Natürlich«, fuhr der Laie fort, »denn die Liebe kann sich doch niemals in Haß umwandeln. Ich habe immer die Menschen gefürchtet, die mit ihren Gefühlen in den Extremen schwärmen und heut übertrieben verehren, was sie in einiger Zeit mit Füßen treten. Unsre Bildung kann und soll nur eine Modifikation einer und derselben Kraft, einer und derselben Wahrheit sein, kein unruhiger Austausch und Wechsel und kein hungerndes Verlangen nach Neuem und Unerhörtem, welches doch niemals befriedigend gesättigt werden kann. Als es mir nachher so gut ward, in Rom von der päpstlichen Kapelle viele derselben Sachen vortragen zu hören, so fühlte ich wohl, daß hier ein eigener traditioneller Vortrag des alten Canto fermo Die altertümlich einfache und gemessen einherschreitende, choralartige Gesangsmelodie. manches anders und noch einfacher gestalte, aber weder dort noch in den Theatern habe ich je diesen unbeschreiblichen Diskant wieder vernommen, und Pergolese oder andere neuere Kirchenmusik ist mir auch niemals in dieser Vollendung wieder vorgetragen worden.«

»Aus Ihren Beschreibungen«, fing der Sänger Damit kann hier nur der Kapellmeister oder der Komponist gemeint sein, nicht der Italiener; vielleicht Schreibfehler des Dichters. an, »muß ich wohl abnehmen, daß Sie mit der neuen Sängermanier wohl selten zufrieden sein mögen. Ich gestehe Ihnen aber, daß ich hierin nicht ganz Ihrer Meinung sein kann: zu große, zu schlichte Einfalt würde mich zurückstoßen, ich will den Virtuosen vernehmen, der die Musik und seine Stimme beherrscht. Wie der Deklamator nicht bloß ruhig ablesen soll, sondern durch Erhöhung und Senkung der Stimme, durch kleine Pausen, durch rollende Töne erst zum Schauspieler wird und das zur Kunst erhöht, was der ganz gute Vorleser doch in der niedrigen Region stehen lassen muß.«

»Sie haben gewiß recht«, erwiderte der Laie, »vorausgesetzt, daß es wirklich das sei, was ich Deklamation im Schauspiel oder Vortrag des Gesanges nennen kann. Was uns der Graf aber neulich als falschen und schlechten Ausdruck schilderte, muß ich freilich auch als meine Meinung unterschreiben. Und ist es denn in unsern Schauspielen anders? Wie denn überhaupt wohl nie Gebrechen und Vorzüge eines Zeitalters einzeln stehn können, sondern jede Kunst wird eine Abspiegelung der andern sein, und selbst Staat und Geschichte müssen ebenfalls alle Gesundheits- oder Krankheitsstoffe wieder in ihrem großen, verschlungenen Gewebe nachweisen. Ebenso wie der Sänger schreit und seufzt und selten das Gefühl im ganzen ausspricht, welches die Arie oder das Duo von ihm fordert, so auch der Schauspieler; dieser hilft sich auch durch einzelne übertriebene Accente, herausgehobene Worte, stark unterstrichene Stellen und muß darüber den Sinn des Ganzen fallen lassen, wodurch die Szene wie die einzelnen Stellen für den Kenner nüchtern und trivial werden. Denn wo gibt es jetzt wohl noch Schauspieler, an deren Leidenschaft man glaubt, die uns täuschen und in ihrem hohlen, abgepufften Ton nur irgend Wahrheit sprechen? Ja, unser Freund Wolf sowie seine Gattin Pius Alexander Wolf (1781-1828), ausgezeichneter Schauspieler der weimarschen (Goetheschen) Schule, Verfasser der »Preciosa«. Seine Frau Amalie Wolf, geb. Malcolmi (1780-1851). Ein Gastspiel des Ehepaars zu Dresden im Entstehungsjahr der Novelle (1822). Vgl. auch »Briefe an Tieck« 4, 312 ff. machen hievon eine ehrenvolle Ausnahme, so sehr, daß sie fast schon einzeln in Deutschland dastehn, wenn auch hie und da ein Talent sich zeigt, das aber immer nur zuzeiten jener Manier widersteht, die unser Theater beinah' schon völlig zerstört hat. Nicht, daß sich nicht viele Schauspieler bemühten, aber es ist hier ebensowohl wie im Gesange eine falsche Schule entstanden, die Ausdruck, Empfindung durch Einzelheiten, die nicht in der Sache selbst liegen, erregen will und darüber das Ganze verdunkelt und, wenn wir uns strenge ausdrücken wollen, die Absicht der Kunst, ja diese selber vernichtet.«

»Sie haben vollkommen recht«, rief der Kapellmeister; »aber machen es denn meine Handwerksgenossen, die Komponisten selbst, anders? Kaum ein Lied wissen sie mehr zu setzen, wo sie nicht jede Strophe neu komponieren, gewaltsam accentuieren, innehalten, abbrechen und in gesuchte und fernliegende Tonarten übergehn, um nur, wo sie die Empfindung wahrnehmen, so starke Schlagschatten hinzumalen, daß man diese Stellen nun zwar nicht übersieht, aber auch gewissermaßen mehr Schwärze als Farbe gewahr wird. Als wenn es dem Sänger nicht müßte überlassen bleiben, auch im wiederkehrend Einfachen eine leise Variation anzubringen, oder als wenn das nicht eben das musikalische Gefühl in unserer Natur wäre, in diesen sich wiederholenden Klängen ohne weiteres vermöge unsrer Liebe zu ihnen das Mannigfaltige zu empfinden.«

»Sehr wahr«, fügte der Laie hinzu, »aus demselben Unglauben fürchtet auch mancher geniale Musiker, wie der herrliche Beethoven, nicht neue Gedanken genug anbringen zu können, deshalb läßt er so selten einen zu unsrer Freude ruhig auswachsen, sondern reißt uns, ehe wir kaum den ersten vernommen, schon zum zweiten und dritten hin und zerstört so, wie oft, selbst seine schönsten Wirkungen. Sehn wir sogar auf die Goetheschen Lieder, die er gesetzt hat: Ludwig van Beethoven (1770 1827) hat folgende Goethesche Lieder komponiert: »Mailied«, »Marmotte«, »Mignon«, »Neue Liebe, neues Leben«, »Es war einmal ein König« (»Faust«), »Wonne der Wehmut«, »Was zieht mir das Herz so«, »Mit einem gemalten Bande«, Die beiden Klärchen-Lieder (»Egmont«), »Nur wer die Sehnsucht kennt« und (mehrstimmig) »Bundeslied«. welche Unruhe, welche scharfe Deklamation, welches Überspringen. Ich möchte diesem trefflichen Manne sowie manchem andern nicht gerne Unrecht thun, aber die Reichardschen Melodieen Johann Friedrich Reichardt (1722 1814), der Schwager von Tiecks Frau, hat etwa 60 Goethesche Lieder gesetzt; seine einfachen Kompositionen waren sehr beliebt, bis sie durch die Beethovens und Schuberts verdrängt wurden. zu den meisten dieser herrlichen Gesänge haben sich mir so eingewohnt, daß ich mir diese Gedichte, vorzüglich die frühern, nicht anders denken und singen kann.«

»Wenn Sie so gesinnt«, nahm die Tochter das Wort, »und die übertriebene falsche Gelehrsamkeit verwerfen, den Ausdruck schelten, der sich vordrängt und darüber Melodie und eigentlichen Gesang verdunkelt, so hätten Sie ja nun selbst meinen geliebten Rossini gerechtfertigt.«

»O divino maestro! O pui che divino Rossini!« O göttlicher Meister! o mehr als göttlicher Rossini!   Giacchino Rossini (1792 1868); sein Kultus stand schon damals (1822) in höchster Blüte; »Tancred«, »Italienerin in Algier«, »Barbier von Sevilla«, »Otello«, »Diebische Elster« etc. wurden überall bejubelt. rief begeistert und mit verzerrtem Gesicht der alte Italiener. »Eccolo il vero! Das ist der Wahre! den ausgemachten Wunderdoktor des Jahrhunderts, der uns verirrte Schafe wieder auf die rechte Straße bringt, der alle die falsche deutsche Bestrebunge maustot schlagt, der mit himmlische, unerschöpfliche Genie Oper über Oper, Kunstwerk auf Kunstwerk häuft und sich Pyramid oder Mausoleum erbaut, worunter nachher alle die ausdrucksvolle, gedankenreiche und seelenmäßige Klimperlinge auf ewig begraben liegen.«

»O wie wahr!« rief der Enthusiast, »ich habe mir schon oft vorgenommen, keinen andern Komponisten mehr anzuhören, so entzückt hat mich jedes seiner Werke, es kam mir nur unbillig vor, da ich doch selber ein Deutscher bin, mich so feindlich meinen Landsleuten gegenüberzustellen.«

»Was hat die Landsmannschaft damit zu thun?« sagte der Laie. »Manche Italiener, die gern eine Partei formieren möchten, haben es freilich bequem, wenn sie den Mozart oder gar Gluck zu den Ihrigen rechnen und so gegen Bestrebungen zu Felde ziehn wollen, die ihnen im Wege stehn. Gibt es aber eine wahrhaft deutsche Oper, eine Musik, die wir uns als national durchaus aneignen müssen, so ist es eben die Mozartsche, und es ist sehr gleichgültig, daß der »Don Juan« ursprünglich für italienische Sänger geschrieben wurde. Italien hat auch deutlich g'nug bewiesen, daß es diesen großen und reichen Geist nicht fassen und lieben konnte. Mozart, Gluck, Bach, Händel und Haydn sind echte Deutsche, die wir uns niemals dürfen abdisputieren lassen, und ihre Kompositionen sind, recht im Gegensatz gegen die italienischen, wahrhaft deutsche zu nennen.«

»Und dann«, fügte der Kapellmeister hinzu, »kann man gern dem Rossini Talent und Melodie zugestehen, wenn der Lobpreisende auch uns zugibt, daß ihm in seiner Eile alles das abgehe, was den Komponisten erst zu einem dramatischen macht. Regellos, willkürlich ist er durchaus und achtet weder Zusammenhang noch Charakter, ja ich fürchte, in diesem leichten und wilden Spiel bestehe sein Talent, sowie das mancher dramatischen Schriftsteller, und ihn zwingen wollen, konsequent zu sein, dem Charakter und Inhalt gemäß zu komponieren, hieße nur, ihm das Komponieren selbst untersagen.«

»Sein schneller Ruhm«, sagte der Laie, »ist wohl nur entstanden, weil eben der echte Sinn für Musik unterzugehen droht. Denn wie kann man sich doch nur mit diesem völligen Mangel an Stil vertragen, der allen seinen Melodieen einen so niedrigen, geringen Charakter aufdrückt? Seine Sangstücke sind großenteils sangbar, ja recht bequem für unsere jetzigen Sänger geschrieben, aber sehr häufig setzt er auch nur, so vielen andern ähnlich, wie für Instrumente, und wenn sein Beifall noch lange währt, so wird er auch noch dazu beitragen, die Sänger völlig zu verderben, ja auch wohl den guten und edlen Vortrag der Instrumente, weil er alles so kleinlich und geringe behandelt. Der Sinn für Musik erwachte bei uns auf eine schöne Weise, er kräftigte sich, und es war uns vergönnt, Gluck zu verstehn und uns völlig anzueignen, eine so große Erscheinung, wie Mozart, entstand und vollendete sich vor unsern Augen, Haydns tiefsinniger Humor in seinen Instrumentalkompositionen ergriff alle Freunde der Kunst, des großen Händels Werte wurden wieder studirt, und selbst die Dilettanten fühlten sich von seiner Kunst entzückt, die das Mächtige, Gewaltige erstrebt, jeden kleinlichen Reiz verschmähend; wir sahen Anstalten gedeihen, die auch die alte Kirchenmusik, die herrlichen Werke der verstorbenen großen Meister wieder ertönen ließen, es schien, daß auf immer der Geschmack am Großen und Edeln gerettet sei. Nur hatte sich indessen die Menge auch mit der Musik scheinbar vertraut gemacht, und diese kann, wenn sie sich eine edle Sache aneignet, immer nur bis auf eine gewisse Weite mitgehn, dann wird sie notwendig das Ergriffene in etwas Geringeres verwandeln, das ihr zusagt. Ehemals hatten wir nur Kenner und oberflächliche Liebhaber in Deutschland, jetzt aber entstand eine Halbkennerschaft statt der Freunde, die sich unschuldig ergötzten. Diese anmaßlichen Kenner haben mit lauter schreienden Stimmen nach und nach das Wort der wahren Musikfreunde verdrängt, ja diese gelten den neuem Enthusiasten wohl gar für eigensinnige oder gefühllose Kritiker, die aus Neid und Mißlaune die glänzenden Erscheinungen der neuesten Zeit nicht anerkennen wollen. Darum hat auch in meiner Vaterstadt, in Berlin, Rossini am meisten Widerspruch gefunden, weil durch des unvergeßlichen Fasch herrlichen Eifer dort die treffliche Musikakademie gegründet wurde, die unser Freund, der wackre Zelter, Karl Friedlich Christian Fasch (1736-1800) begründete 1792 die Berliner Singakademie, sein Nachfolger Karl Friedrich Zelter (1758 1832), Goethes Freund, die Berliner Liedertafel und das königliche Institut für Kirchenmusik nach dessen Tode in demselben Sinne fortgeführt hat. Durch die Vergegenwärtigung der alten Meisterwerke, durch den einfachen, edlen Gesang, der dort bekannter ist als anderswo, sind die zahlreichen Mitglieder zum Bessern verwöhnt und können sich unmöglich dem zierlich Nüchternen hingeben.«

»Sie werden es mit meiner Tochter völlig verderben«, sagte der Baron lächelnd, »denn sie meint, wo nur Effekt sei, da wäre es lächerlich, zu fragen, ob die Wirkung auch stattfinden dürfe.«

»Sie hat vollkommen recht«, antwortete der Laie, »ich aber auch, wenn ich behaupte, die Wirkung müsse gar nicht eintreten. Um diesen Punkt dreht sich die Kritik in allen Künsten.«

»Darum ist es ein Glück zu nennen«, antwortete der Baron, »ja gewissermaßen eine weise Lenkung des Kunstgenius, daß ein großer Komponist sich diesem kleinlichen Unwesen so mächtig gegenüberstellt und das so ausgezeichnet besitzt, Stil nämlich, was jenem ganz abgeht. Ich spreche von dem nicht genug zu lobenden Spontini. Gasparo Spontini (1774 1851), seit 1820 Generalmusikdirektor in Berlin, Komponist der Opern: »Die Vestalin«, »Ferdinand Cortez«, »Olympia« Es läßt sich hoffen, daß von dieser Seite durch mächtige Wirkungen der Sinn der Deutschen wieder gehoben und ihr Wohlgefallen an diesem Melodieenkitzel beseitigt werden.« Der Laie schien so in Eifer geraten zu sein, daß er allein das Wort führen wollte. »Gewiß«, sagte er lebhaft, »wäre es lächerlich, wenn man diesem Manne ein ausgezeichnetes Talent absprechen wollte, und über die Verdienste seiner ›Vestalin‹ läßt sich vieles sagen und streiten. Aber daß er im ›Cortez‹ und nachher noch gewaltiger ein Brausen und Lärmen der Instrumente, ein Überschreien der Stimmen, ein Aufkreischen, ein wildes Getümmel uns hat für Musik geben wollen, scheint mir ebenfalls ausgemacht. Man kann schwerlich im voraus bestimmen, wie viel oder wenig unser Ohr von Instrumentalmusik vertragen soll, denn Mozart hat die meisten seiner Vorgänger überboten, und es gab früherhin auch Kunstfreunde, die bei ihm über zu große Fülle klagen; und schon lange vor diesem hat der große Händel außerordentlich viele Instrumente in Anspruch genommen, um seine erhabenen Gedanken auszusprechen. Aber bei diesen war die Fülle der Töne doch Musik, ein Anschwellen, ein Heranbrausen, ein Abdämpfen und Zurücksinken in eine gewisse Stille und Ruhe, aber nicht dieses ununterbrochene, nie rastende Wüten aller Kräfte ohne Vorbereitung, Inhalt und Bedeutung, welches nur betäuben kann, und dessen Macht und Gewaltsamkeit mehr erschreckt und ermüdet als erhebt und erschüttert. Geht der berühmte neuere Komponist hiebei nur gar zu oft auf leeren Effekt und Schreckschuß aus, so wie manche Schauspieler und Schauspieldichter, wirkt er nur einzig und allein durch große Massen, so ist er zwar wohl nicht der Wandnachbar Rossinis, aber sie reichen sich denn doch aus einer gewissen Entfernung befreundet die Hände und stehn sich nicht als feindliche Kräfte einander gegenüber. Wohl uns, daß unser hochgeehrter Maria Weber Karl Maria von Weber (1786-1826), seit 1816 Direktor der von ihm begründeten Deutschen Oper in Dresden. »Der Freischütz« wurde in Berlin am 18. Juni 1821, in Dresden am 28. Januar 1822 zum erstenmal aufgeführt, »Preciosa« in Berlin am 14. März 1821, in Dresden am 27. Juni 1822; »Euryanthe« erschien erst 1823. uns zu den schönsten Erwartungen berechtigt, der in dem, was er schon trefflich geleistet hat, so glänzend zeigt, wieviel er in Zukunft noch vermag.«

Nun erhob sich die Tochter mit allen Tönen, und der Vater stand ihr bei, um den Laien in die Enge zu treiben, der ihre Lieblinge so keck angegriffen hatte, ohne doch vom Metier zu sein, da er sein ehemaliges Violinspielen selber nicht in Anschlag zu bringen wage. Unter lautem Lachen wurde disputiert und behauptet, der Teufel sei ein für allemal unmusikalisch, die Kugelgießerei und der Lärmen In der Wolfschluchtszene im »Freischütz«. dabei schlimmer, als was je auf dem Theater getobt, und der Musik, die ganz Deutschland wie verwirrt gemacht, fehle die Mannigfaltigkeit, ein heiteres Element, ja auch jene Ironie, wodurch Mozart erst seine ungeheure Dichtung des »Don Juan« zu diesem einzigen Werke gebildet habe, so daß bei diesem durch Gegensätze sich Inhalt und Behandlung rechtfertigen, was dort ganz aus der Acht gelassen sei.

Der Kapellmeister nahm sich des armen Laien, der hierauf wenig zu erwidern wußte, oder den man vielmehr nicht zu Worte kommen ließ, freundlichst an und meinte, eine Vergleichung auf diese Weise anzustellen, sei unbillig, weil das neue Kunstwerk gar nicht die Absicht habe, sich neben jenes ungeheure zu stellen. »Überschreitet auch die angefochtene Szene«, fuhr er fort, »welche gerade die Menge herbeigelockt hat, die Grenzen der Musik, so ist doch übrigens des Vortrefflichen, des echten Gesanges, des Neuen und Genialischen, vorzüglich aber des wahrhaft Deutschen im besten Sinne so viel, daß ich vollkommen in das Lob unsers unmusikalischen violinspielenden Laien einstimmen muß, der manches wohl eben deswegen bestimmter empfindet und kecker ausspricht, weil er niemals vom Handwerk gewesen ist und selbst nicht als Dilettant hineingepfuscht hat, da er sich doch bescheidet, Versagt, nicht begnügt. in die eigentlich grammatische Kritik einzugehn. Sollte keiner als nur Musiker mitsprechen dürfen, so würde ja auch für diese nur komponiert, und das werden wir uns doch wohl sowie alle Künstler verbitten, nur für die Zunftgenossen zu arbeiten, um von ihnen empfunden und verstanden zu werden.«

»Könnte ich nur«, fing der Laie wieder an, »den sanften Genuß wieder haben, den mir ehemals die ›Lila‹ des Martini gewährte. Diese idyllische, reine und heitere Musik wäre nach so manchem Ungetüm unsrer Theater eine wahre Erquickung. Wie würde ich mich freuen, Paisiellos ›Barbier von Sevilla‹ wieder zu vernehmen, und es kränkt mich innig, daß man eine solche Komposition nicht als eine klassische verehrt, die nun einmal für allemal fertig ist, und an die sich keiner von neuem wagen dürfte. Denn ist bei Rossini Rossinis »Barbier von Sevilla« in Berlin 1822, in Dresden erst 1825 aufgeführt. auch hier und da vielleicht ein Moment brillanter, so ist doch der dramatische Sinn des Ganzen, die Bedeutung untergegangen und nichts gegeben, was sich dem Humor in der Rolle des Alten, nur irgend vergleichen dürfte. Die Verwöhnung der gehäuften Instrumente läßt aber befürchten, daß man, wenn man auch einmal diese trefflichen alten Sachen geben möchte, Zusätze zur Begleitung macht, oder diese wenigstens verstärkt. Hier und da habe ich schon murmeln hören, daß Gluck dergleichen bedürfe. Mozarts ›Figaro‹ Am 14. September 1790 zum erstenmal in Berlin aufgeführt ist schon in Violinen und andern Instrumenten doppelt so stark besetzt worden, als es der Komponist vorgeschrieben hat, bei dieser heitern Musik um so unpassender, weil dadurch der Witz, das wundersam Leichte und Heitere des Gesanges gestört wird. Es ist, als wollte man treffliche Brillanten aus ihrer leichten Fassung nehmen und sie, um sie zu ehren, in schweres Gold schmieden. Oder als riefe man sich witzige und launige Einfälle durch ein Sprachrohr zu.«

Man sang zum Beschluß noch einiges, und die Gesellschaft trennte sich. Beim Abschiede sagte der Baron zum alten Italiener: »Auf Wiedersehn!« Doch dieser schüttelte den Kopf und wies mit dem Finger nach oben. Der Laie ging nach seinem Hause, weil es schon spät war und er in der kalten Nacht an einem Abenteuer, an welches er nicht glauben mochte, nicht teilnehmen wollte. Der Kapellmeister und der Graf wandelten aber mit dem wunderlichen Alten durch die ruhige Stadt, ließen sich das Thor öffnen und begaben sich nun nach dem Tannenwalde, wo der Lebensüberdrüssige seine Laufbahn eigenmächtig zu vollenden drohte. Als sie unter den finstern Bäumen standen, sagte der Graf: »Nun, Alter, seid Ihr wieder gescheit geworden, wollt Ihr nun nicht lieber zu Bette gehn?«

»In die Ewigkeit thu' ich mich hineinlegen«, sagte der Italiener, »und das liebe Vergessen, Ruhe, tiefer, tiefer Schlaf werden wie Flaumen eines Daunenbetts um mich zusammenschlagen. Adieu, Eccellenza! lebt wohl, thörichter Kapellmeister, der Ihr die schöne Gelegenheit nicht benutzt, allen Euren Jammer, Partituren, Noten, Pausen, Tonarten, Sänger und Sängerinnen los zu werden. Nun laßt mir ein bissel noch über meinen Zustand nachdenken, und dann rufe ich euch wieder; Kapellmeister kommandiert Eins, Zwei, Drei, und beim Worte Drei, deutlich ausgesprochen, langsam, feierlich, laut, daß liebe Echo auch etwas davon abkriegt und mitspricht, schieß' ich mich die ganze Pistole in meinen dummen Kopf hinein.«

»Ihr werdet doch nicht«, sagte der Kapellmeister, »so abgeschmackt wie der Hanswurst in der Kreuzerkomödie Komödie, für die der Eintritt einen Kreuzer kostet; hier das Puppentheater. sterben wollen?«

»Gerade so muß es geschehen«, sagte der Alte und legte sich in einen Sandgraben nieder. Die beiden Begleiter gingen tiefer in den Wald, die Nacht war still, kein Wind wehte, ein ganz leiser Hauch rührte zuweilen die Zweige an, so daß die Nadeln der Tannen in sanften Tönen lispelten, das Flüstern fortlief und, indem sich dann der Wald in allen Stämmen bewegte, wie ferner Orgelton verhallte. »Feierlich genug ist die Stunde«, sagte der Musiker. »Eine wundersame Empfindung«, erwiderte leise der Graf, »hat den ganzen Abend in mir fortgeklungen: vielleicht bin ich dem Tode näher als jener alte Wahnsinnige, denn noch nie war mir mein Dasein so abgestanden und leer, so jedes Reizes entkleidet. Ich glaube nun auch, daß jenes himmlische Wesen, welches ich schon lange suche, gestorben ist.«   »Still!« rief jener, »hörten Sie nicht Musik?   »Vielleicht die fernen Glocken.«

»Nein«, sagte der Kapellmeister gehend, »ich höre es deutlicher; und nun erinnere ich mich, hier wohnt der unkluge Alte nicht fern, in dessen Häuschen ich bei meiner Ankunft schon morgens um fünf Uhr einen herrlichen Diskant vernahm.«

Der Graf war tief bewegt. »Jetzt kommt! kommt!« schrie der Italiener, »mein Ermorden soll ein bißchen seinen Anfang nehmen!«   »Schießt Euch tot oder hängt Euch!« rief der Graf zurück, »wir haben jetzt etwas Besseres zu thun, als Eure Possen anzuhören.«

Sie gingen weiter, drängten sich durch Baum und Strauch, und der neugierige Italiener hatte sich zu ihnen gesellt. Jetzt tönte ihnen schon bestimmter der Gesang entgegen, und der Graf zerriß sich Hände und Gesicht, um nur aus den Gesträuchen zu kommen, in denen er sich aus Eifer immer tiefer verwickelte. Er drängte endlich hindurch und stand in der Nähe des Häuschens, dessen kleine Fenster erleuchtet waren. Der treffliche Psalm Marcellos: »Qual anhelante« Vgl. S. 357, Anmerkung 3. »Qual anelante corvo etc.«, Anfang des 42. (41.) Psalms: »Wie der Hirsch schreit« u.s.w. Marcellos Komposition der Paraphrase ist für 2 Stimmen in 7 Sätzen eingerichtet. tönte ihnen voll und rein entgegen, so einfach, so edel vorgetragen, daß der Kapellmeister erstaunt und hingerissen kaum atmete. »Sie ist es! sie ist es! meine Einzige!« rief der Graf in der größten Erschütterung aus und wollte sich dem Hause nähern, aber der Kapellmeister hielt ihn fest, klemmte sich an ihn und warf sich dann zu seinen Füßen nieder, die er umarmte, und rief: »O bester, glücklichster Graf! Heiraten Sie sie also, wie Sie gelobt haben; aber gönnen Sie mir vorher das einzige Glück, daß sie erst die Geliebte in meiner ruinierten Oper singt; dann will ich gern sterben, denn eine solche Stimme gibt es auf Erden nicht mehr.«

Der Graf strebte zum Hause hin, und der Kapellmeister ließ endlich sein ungeduldiges Bein los. Sowie er auf die Wohnung losstürzte und an die kleine Thür klopfte, verstummte der Gesang. »Macht nicht so viel Umstände«, sagte der Italiener, »der Singsang ist nicht der Mühe wert, man sieht wohl, daß Ihr meine Selige nicht gekannt habt.« Der Kapellmeister, der jetzt ebenso außer sich war, wie der Graf selbst, klopfte mit diesem wetteifernd an die Thür, und da sich beide in den Kräften überboten und das Tempo immer schneller nahmen, so entstand dadurch ein sonderbares Konzert in der ruhigen Nacht. Im Hause war alles still, endlich aber schien man drinnen doch die Geduld verloren zu haben, denn ein Fenster öffnete sich, und eine leise, heisere Stimme sagte: »Was gibt's da? Seid ihr betrunken?«   »Laßt uns ein!« rief der Graf. »Hinein müssen wir!« schrie der Kapellmeister; »wo ist die Sängerin?« der Graf; »ich habe sie schon am Morgen neulich gehört«, der Kapellmeister, »als Ihr mir sagtet, es sei des Teufels Großmutter.«   »Aber hinein müssen wir!« vereinigten sich nun beide. »Seid ihr rasend?« rief die erhöhte Stimme des Alten, und in diesem Augenblick schrie der Italiener lauter als alle: »Hortensio! Hortensio! haben wir Euch endlich erwischt? Nun bleib' ich am Leben! Mag sich umbringen, wer Lust hat, ich halte mich an Euch, altes Fell!«

»Ich bin der Graf Alten«, schrie der Liebhaber; »ich der Kapellmeister!« rief sein Begleiter, »laßt uns nur hinein, daß wir die Sängerin sehn!«   »Kommt herab!« rief der Italiener, »daß wir beide unsre Bekanntschaft erneuern können.«

»Mein Himmel!« ächzte der Greis, »so nach tiefer Mitternacht? Meine guten Herren, wenn Sie bei mir was zu suchen haben, so kommen Sie doch morgen, wenn der Tag scheint.«

»Gut«, sagte der Graf beruhigter, »morgen früh!« Der Kapellmeister fand sich auch in den Vorschlag, und als sie friedlich wieder fortgingen, sagte der Italiener: »Ich bleibe die Nacht hier draußen und passe ihm auf. Morgen früh machen wir alle unsern Besuch.«  

Wie erstaunten, erschraken am folgenden Tage der Graf und der Musiker, als sie das Haus verlassen und öde fanden; noch vor Tage, sagte die alte Aufwärterin, seien die beiden Bewohner ausgezogen und haben in größter Eil' alle Sachen fortschaffen lassen. Auch der Italiener zeigte sich nirgend.


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