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Ist Edmund noch nicht nach Hause gekommen?« fragte der Vater den Diener, indem er im großen Vorsaale des Landhauses auf und nieder ging.
»Nein, mein gnädiger Herr«, sagte der Alte, »und es wäre doch gut, er käme noch vor Abend zurück; denn drüben vom Gebirge her ist ein Gewitter im Anzuge, das uns auch nichts Gutes bringen wird.«
Indem kam die kleine Tochter mit ihrem Spielzeuge herein und setzte sich an den großen Tisch der Halle. »Da oben braust es wieder so schrecklich«, sagte sie schmeichelnd, »ich bleibe bei dir, mein liebes Väterchen. Ich kann die Wetter nicht leiden; wozu muß nur so fürchterliches Lärmen und Donnern in der Welt sein?«
»Jawohl«, sagte der Diener Franz, »und all das Elend, das uns nun schon seit Jahren gedrückt, und wovon kein Ende abzusehen ist?«
»Das weiß nur der«, sagte der Vater seufzend, »der es uns auferlegt, er wird es auch zu seinem Endzweck hinausführen.«
»Väterchen!« rief das Kind vom Spiele auf, »unser guter Eustach, der Kohlenbrenner, der mir immer so hübsche Steinchen aus dem Walde herunterbrachte und neulich mal den großen wilden Vogel, den er für eine Drossel ausgab, der schwarze freundliche Mann ist nun auch ein Satan geworden.«
»Was schwatzest du da!« rief der Vater unwillig aus; »wer hat dir das gesagt?«
»Marthe, meine Amme«, sagte die Kleine; »denn er rebelliert nun gegen Gott und den König, bis sie ihn auch einfangen und verbrennen oder sonst totmachen müssen, denn er will kein Christ mehr sein; so hat mir Marthe heut morgen beim Ankleiden erzählt; sie will auch in der andern Woche zur Stadt hinein und die andern Satans und armen Sünder umbringen sehn. Erlaube ihr das doch, lieber Vater; sie meint, es soll sie besonders erbauen und in ihrem Glauben stärken, denn sie ist auch schon ein paarmal irre gegangen und fast in des Bösen Stricke geraten; der Böse ist hier in der Gegend gar mächtig, besonders droben in den Bergen, da ist er am liebsten zu Hause; wir haben es hier unten schon besser. Väterchen, die Feigen fangen schon an im Garten reif zu werden.«
»Du schwatzest!« sagte der Vater unwillig; »ich werde sorgen, daß du nicht so viel mit der Alten allein bleibst.«
»Die Sache an sich«, wandte der Diener ein, »hat seine Richtigkeit; Eustach ist hinauf ins Gebirge zu Roland und hat sich zum KamisardSo nannte man die hugenottischen Landleute in den Cevennen nach ihrer Tracht; camisa = chemise, Bluse. gemacht, Frau und Kinder sitzen in der öden Hütte und heulen; sie haben kein Brot und fürchten noch wegen des Mannes eingezogen, wohl hingerichtet zu werden.«
»Ich glaube«, sagte der Herr von Beauvais, »du hast sie schon unterstützt, guter Franz, sonst thu es noch; gib ihnen das Nötige, was sie brauchen, und mit Vorsicht, damit wir nicht in die gleiche Verantwortung kommen. Denn in diesem Drangsal der allgemeinen Not und Verwirrung ist alles verdächtig, man mag handeln, wie man will, wenn man nicht selbst sich zum Tyrannen aufwerfen und zum Henkersknecht erniedrigen mag.«
»Wie unser Marschall«Nicolas Auguste de la Baume, Marquis de Montrevel (1630–1716), 1703 Anführer der königlichen Truppen gegen die Kamisarden., rief der Alte heftig aus, »wie unser Intendant,Herr von Basville (Bâville), aus dem Hause Lamoignon, Intendant (bürgerlicher Präfekt) von Languedoc, unbarmherziger Gegner der Protestanten. wie die Herren dort in Nismes,Nîmes, Hauptstadt des Departements Gard in Niederlanguedoc, an der Vistre, im 13. Jahrhundert Hauptsitz der Albigenser, im 16. der Hugenotten, hatte seit der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) viel wegen seiner protestantischen Gesinnung zu leiden. die um Gotteswillen ihre Brüder martern. Ich habe schon den Leuten hingeschickt und will es ferner; es ist zwar nur ein Tropfen im Meere, aber doch werden ein paar Herzen in dieser Trübsal beruhigter sein.«
Er ging hinaus, und als der Vater nach den Bergen mit einem wehmütigen Blicke hinaufsah, drängte sich das Kind schmeichelnd an ihn, küßte seine Hand und sagte: »Väterchen, werde du und Franz nur nicht auch noch gottlos und Rebellen, sonst komme ich mit Bruder Edmund ganz allein in den Himmel, und das möchte ich nicht; denn mit Edmund kann ich mich gar nicht vertragen, so schrecklich fromm er auch ist, und du bist viel besser, wenn auch dein Glaube nicht im besten Zustande sein mag.«
»Jawohl, schrecklich fromm«, rief der alte Mann aus; »o Himmel, wann wird es dir doch gefallen, diese Verwirrung zu lösen?«
»Da kommt Edmund den Garten herunter«, rief die Kleine; »sage es ihm lieber nicht von dem gottlosen Eustach, sonst haben wir wieder Lärmen und Zank; er kann dergleichen gar nicht vertragen.«
Edmund kam herein, grüßte, stellte sein Gewehr in die Ecke und legte die Jagdtasche ab; der große Hund machte sich zum Kinde, das mit ihm tändelte und ihm dann die aufgehobenen Brocken zusteckte.
»Wo warst du heute mittag, mein Sohn?« fragte der Vater.
»Beim Intendanten, dem Herrn von Basville«, antwortete Edmund, ohne aufzusehen, »drüben in Alais,Hauptstadt des gleichnamigen Arrondissements im Departement Gard, am Fuße der Cevennen und am linken Ufer des Gardon. wo er sich noch einige Tage aufhalten wird, wegen des Verhörs der Rebellen. Er läßt Sie grüßen, aber er wundert sich, daß Sie die angebotene Stelle ausgeschlagen haben, und er meinte, der Marschall würde es noch weniger begreifen können.«
»Der Marschall, mein Sohn«, fing der Vater nicht ohne Bewegung an, »mag manches nicht begreifen können. Ich danke Gott, daß ich mich schon seit länger als zehn Jahren in diese Einsamkeit zurückgezogen habe; denn wäre ich noch im Amte, so würde mein Gewissen mich zwingen, es jetzt abzugeben, und das möchte den beiden wackern Herrn dann noch unbegreiflicher sein. Ich beneide ihnen weder, noch bewundre ich ihren Patriotismus, und Gott soll unsre Familie vor dem Schicksal bewahren, dem Könige auf diese Art Dienste zu thun. Darum, mein teurer, mein geliebter Sohn, wiederhole ich noch einmal meine väterliche Warnung, dich mit diesen Menschen einzulassen, es würde mich zum Grabe führen, dich auf diese Weise thätig zu sehn. Denn was verlangt man von uns? Keinen offenen, geraden Dienst, keine Hülfleistung, wie sie dem Bürger ziemt, wie sie den edeln Menschen ehrt: sondern wir sollen uns zu Spionen hergeben, unsere eigenen Unterthanen und Landsleute verraten und auf die Folter und den Scheiterhaufen liefern, uns dieser Unmenschlichkeit freuen, das Land entvölkern, den Haß Gottes und der Menschen auf uns laden, und wenn wir es genau betrachten, an unserm Vaterlande und Könige zu Verrätern werden.«
»Darf der Unterthan je fragen?« fiel Edmund heftig ein; »ich kenne diese Gesinnung an Ihnen, mein Vater, ich kenne und betraure sie; aber darf der Unterthan so fragen? Wo bleibt der Gehorsam, wo sind dann noch die Bande des Staates, wo das Heiligste, Höchste, Frommste und Ehrenvollste, wodurch wir eben nur Menschen und Bürger sind, worauf alle unsre Tugend, unser Dasein ruht, wenn ich sagen darf: hier kündige ich dir meinen Gehorsam auf, dies darfst du nicht befehlen, obgleich du mein König bist, obgleich das Vaterland, der Himmel selbst durch deinen geheiligten Mund zu mir spricht.«
»Du hast nicht unrecht, mein Sohn«, antwortete der Alte, »und weil du, wenn du so fragst, immer im Recht sein wirst, sollte der Herrscher mit frommer Scheu, mit Gottesfurcht diese Schranken achten, das Gewissen seiner Unterthanen ehren, die Versprechungen und Schwüre, die edle Vorfahren gethan und er nach ihnen wiederholt hat, heilig halten und nicht selbst die Mordfackel in seine Scheuren werfen, als Kläger, Richter und Verfolger zugleich auftreten – und wehe denen, die sein schwaches AlterLudwig XIV. (1642–1715 König) war damals 65 Jahre alt. sein verletzbares Gewissen und ihren Einfluß so mißbrauchen! Und wehe jedem, der sich zu diesen Diensten gebrauchen läßt, gute und fromme Menschen zu schlachten; am wehesten aber dem rechtlichen Manne, der aus Ehrgeiz oder mißverstandener Pflicht ebenfalls hinzutritt und den Scheiterhaufen anschürt und die Folter noch grimmiger spannt.«
»Es thut mir weh, mein Vater«, sagte Edmund mit unterdrücktem Zorn, »und immer wieder bewältigt mich der ungeheure Schmerz, daß ich im Liebsten, Heiligsten, was meinem Herzen das Nächste und Eigenste ist, so durch Welten von Ihnen getrennt mich fühlen muß! Seit ich denke und mich empfinde, ist mir diese unsre alte heilige Religion das Höchste und Göttlichste, nur in ihr lebt mein Herz, und alles, was ich wünsche und ahnde, spiegelt sich glänzend in diesem hellen Kristall. Dies, was die Liebe selbst verkündigt hat, dies, was die Liebe selbst ist, die ewige, unsichtbare, uns Armen, Verlornen sichtbar geworden, als Kind, als Mitbruder zu uns niedergestiegen, als unser nächster Freund und Nachbar, und dann für unsre Verirrung so schmerzhaft gelitten und in liebevollster Aufopferung nur unser und aller unserer Schwächen und Verderbnisse gedacht, nur unser im Leben und Tode – dies sollte ich je vergessen, verschmähen können, dies mein Herz, das in Dankbarkeit vergehn möchte, sollte es dulden, daß man diese Welt von Wunder und Liebe vernichtete, in den Staub träte und hohnlachend frech das Heiligste in Trümmer schlüge, um es dem Niedrigsten zu verbrüdern?«
»Wer will das, mein Sohn?« rief der Alte, »selbst Türken und Heiden wollen und können es nicht, geschweige unsre Brüder, die nur in einfacher, schlichter Weise sich jenem unbegreiflichen Wesen nähern wollen, das uns allen trotz seiner Unermeßlichkeit in Liebe und Demut unsers Herzens so nah' befreundet und bekannt vertraulich wird.«
»In dieser Schilderung«, sagte der Sohn, »wird man freilich diejenigen nicht erkennen, die unsre Priester morden, die Heiligtümer verbrennen, den Landmann berauben und, wenn sie den Sieg davontrügen, was Gott verhüten wird, ihre Ketzerei mit Feuer und Schwert über das Land ausbreiten würden.«
»Du siehst es, mein Sohn«, sagte der Alte, »weil du es so sehen willst; wir mißverstehen uns immerdar in dieser Sache, weil du dem Verständnis widerstrebst, und freilich, solange du in dieser Leidenschaft bist, wird dir nie jener stille ruhige Sinn beiwohnen, der nach meinem Ermessen nötig ist, um der Religion fähig zu werden, und der recht eigen der Geist des Christentumes selbst ist, für welches du zwar mit Schwärmerei streiten, aber nicht in wahrer, hingebender Liebe leben kannst.«
Der Sohn stand unwillig auf und ging mit Heftigkeit im Saale auf und ab, dann faßte er die Hand seines Vaters, sah ihm scharf ins Auge und sagte: »Also Schwärmerei? Mit diesem Worte also, mit diesem toten Laute haben Sie sich genug gethan und meinem trauernden Geiste Rede gestanden? Das ist es freilich, was die Welt will, was die Verzweiflung meint, deren Herz erstorben ist. Nicht wahr, die Märtyrer und Helden der christlichen Kirche waren auch nur Schwärmer? Wenn sie lächelnd unter Martern ihr Blut vergossen für den, dem sie nicht Schmerz und Liebe genug opfern konnten, so faselten sie, weil es ihnen an Vernunft und Ruhe gebrach? Alle jene Wunder der Liebe sind nur unreife Verirrungen aberwitziger Leidenschaft, die jene überirdischen Geister nicht mit Rührung und Freude, sondern nur mit mitleidigem Lächeln von oben gesehen haben und den in Verzückung Verschiedenen wohl alsbald mit Kopfschütteln und zurechtweisendem Tadel entgegengetreten sind? O, ehe ich mein schlagendes Herz auf dergleichen Überklugheit und niedrige Zweifelsucht abrichten möchte, möchte ich es mir lebend aus der Brust reißen und mit Füßen treten und den Bestien zum Fraß hinwerfen.«
»Wir wollen aufhören«, sagte der Vater halb zürnend, halb gerührt, indem er ein großes Buch vom Kamin herunternahm. »Dein Gefühl tadle ich nicht, fern sei es von mir, das Heilige zu lästern, aber du weißt es nicht, du mußt es noch erfahren, daß das Große, daß die Wahrheit nur auf der Grenze, auf dem Übergangspunkte dieses Affektes liegt; wie wir sie in der Entzückung gesehen haben, müssen wir auch wieder scheu und mit Ehrfurcht zurücktreten; lockt uns aber in geistiger Schwelgerei zu höherer Entzückung und Vision der Lügengeist hinüber, so gehn wir in Geisteswollust unter, und Truggebilde, furchtbarer Wahn nimmt Seel' und Herz gefangen, die Liebe stirbt uns ab, und durch diese traurige Schule wirst du gehn müssen, mein Sohn, und Gott weiß, ob nicht vielleicht mit zertrümmertem leeren Herzen oder als Heuchler jenseit heraustreten. Denn leicht und eben wird die Bahn deines Lebens nicht sein.«
Mit diesen Worten setzte sich der Herr von Beauvais zum Lesen nieder, der Sohn nahm seine Hand und sagte in sanftem Ton: »Nein, mein Vater, sprechen wir noch über diesen Gegenstand, der einmal mein ganzes Leben ausfüllt. Kann Sie denn wirklich diese Lektüre jetzt, dies Hin- und Herfragen des Platon interessieren? Darf ich denn empfinden wie Sie, muß ich denn nicht blind gehorchen, wenn dieser Gehorsam überdies mit meinem Gemüte selbst in Einklang ist?«
»Hetz! hetz!« rief spielend die kleine Tochter, und der Jagdhund fuhr bellend gegen die Thür und ließ sich nur durch ein Pfeifen seines Herrn beruhigen. »Nicht wahr«, sagte Eveline, »der Hektor ist ganz rechtgläubig, den könnte man so recht in die Karmisards hineinhetzen?«
»Einfältige Dirne!« rief Edmund mit glühendem Gesicht, der Vater sah sie kopfschüttelnd an, das Kind aber sprach: »Edmund hat ja selber sein Herz dem Hektor zu essen geben wollen, so kann ich ihn ja wohl für einen besondern Hund halten. Komm, Hektor, sie thun uns immer Unrecht.« Mit diesen Worten faßte sie den Hund beim Halsbande, und beide gingen in den Garten.
»Ich verstehe Sie nicht, mein Vater«, fing Edmund nach einer Pause an; »Sie sind fromm, Sie besuchen mit Andacht die Kirche, ich muß Sie für einen Freund derselben halten, so oft mir auch der Verdacht des Gegenteils kommt, und doch können Sie es gelassen mit ansehn, daß dieser unserer Kirche der Untergang droht? Und erfüllt sie denn nicht auf die holdseligste Art alle Ahndungen und Wünsche unsers Herzens? Ich zürne immer, wenn manche Priester so sehr auf den Wandel, auf Tugend und Moral dringen, was uns die Heiden lehren konnten, und was die Vernunft von uns fordert; so sehr dies geehrt werden muß, so ist es denn doch die zunehmende Entwickelung und Gestaltung des Wundervollen, welche ich in der Geschichte wahrnehme, die mein Herz immer am schönsten bewegt. In der Ferne liegt dunkel und unkenntlich, aber ganz mit Liebe umhüllt, das erste Wunder; nach den Aposteln verstummt die Gabe der Prophezeiung nicht, Heilige und Märtyrer reihen sich an die Verschiedenen und erfüllen, was die Früheren geahndet; das Geheimnis der Liebe ist ein Unendliches und kann immer nur wieder durch ein neues Geheimnis verstanden werden. Daß die Erklärung des Liebes- und Abendmahles durch kirchliche Beschlüsse sanktioniert wurde,Die Lehre vom Abendmahl wurde 1215 zum kirchlichen Dogma erhoben. stört mich gar nicht, indem es den Weltlichen nur als zeitliche Begebenheit erscheint, denn im unscheinbaren Keime liegt ja doch schon die Blüte und die Süßigkeit der Frucht, die nur durch das gereift wird, was wir Zeit nennen; so mußte es geschehn, daß erst späterhin die Ahndung der Seele erfüllt wurde und die Gottesgebärerin als Himmlische verehrt und durch Feste gefeiert: ja so geht ein Prophetenmund mit seinem wahrsagenden Gesang durch alle Jahrhunderte und verstummet nie und auch in Zukunft nicht; Fest reiht sich an Fest, Tempel an Tempel und Gebilde an Bild, die Nachwelt sieht mit gerührtem Auge nach der Liebe der Gegenwart her, wie wir entzückt auf die Vorzeit hinblicken, und nur durch diesen Wechsel, durch dieses Forttönen des ewigen Wortes ist es mir wahrhaft, nur dadurch weiß ich, daß es ehemals klang, dadurch, daß es scheinbar wandelt, wie Blatt in Blüte und Blume in Frucht, und Frucht den Samen der Blüte wieder ausstreut, ist es eine stetige, ewige Wahrheit, durch diese unendliche Fülle, durch diese Unerschöpflichkeit, wie ein Weltmeer von Liebe, dadurch, daß es jedem Sinne, auch dem verschiedensten, entgegenkommt, jede Sehnsucht tränkt, jeden Hungrigen sättigt, nur dadurch ist es ein Einfaches, ein Wahrhaftiges und Selbständiges, und ich hasse jene Wortdeutungen dieser Neuerer, die diese Wunderbegebenheit wie eine Geschichte behandeln wollen, die unsre Messe, Bild, Licht, Tempel, Pomp und Musik Götzendienst zu lästern wagen, und indem sie so das Heiligste verfolgen, verfolgen sie nach den Gefühlen meines Herzens Gott selbst, und man muß sie wie schädliches und giftiges Gewürm ausrotten und vertilgen.«
»Ich verstehe dich, mein Sohn«, sagte der Vater, »und möchte dir gern ganz recht geben können, so wie du in der Sache selbst nur meine eigene Empfindung angedeutet hast. Fühlst du so und bist du dieses Glaubens, so sollte eigentlich weder Streit unter uns, noch mit andern sein. Fühlst du, daß das Christentum in seiner vielseitigen Gestaltung kein Bedürfnis und keine Sehnsucht von sich abweist, daß es jedem Sinn erlaubt und möglich ist, die ewige Liebe auf seine Weise und doch im Geiste der Wahrheit anzubeten, so dürfen auch jene stillen Herzen nicht aus der Gemeine ausgeschlossen werden, die vor jenem Prunk und Gesang, vor jenem Glanz der Tempel, vor jener kunstgemäßen vielseitigen Ausbildung des religiösen Geheimnisses erschrecken. Diejenigen, die wie die Jünger Johannis und Jesu Apostel die Wüste des Jordan besuchen und dort in den Schauern der Berge und in heiliger Einsamkeit das ewige Wort hören möchten und ihre Kirche wie die Hütte zu Bethlehem zu bauen wünschen, um mit ihrer erregten Phantasie nicht in Kunst und Bilderpracht unterzugehen und darüber des Heils und Gottes zu vergessen: diese, mein Sohn, sind ebenfalls echte Christen, und der Vater wird sie nicht von sich weisen, was auch unsre Priester hier dir darüber sagen mögen. Schon früh entstand in unsern Cevennen und in den Thälern der AlbigenserDer von der Stadt Albi (Departement Tarn in Languedoc) abgeleitete Name einer religiösen Sekte, die seit dem von Innocenz III. (1161–1216) gepredigten Kreuzzug gegen sie (1208) blutig verfolgt, aber erst im 14. Jahrhundert von der Inquisition völlig ausgerottet wurde. ein einfacher Glaube, ein stilles Zurückziehn von dem Glanz und der Vieldeutigkeit der bischöflichen und päpstlichen Kirche. Es kann wohl sein, daß für das Wohl des Menschengeschlechts, für Religion, Bildung und Freiheit es in frühem Jahrhunderten gut war, daß der Bischof von Rom sich zum ersten Hirten erklärte und ein geistliches Reich gründete. Daß aber späterhin die christliche Kirche daran verfallen ist, leidet wohl keinen Zweifel. Der Bischof und Priester war nun nicht mehr ein schlichter Lehrer des Worts und Nachahmer der Apostel, sondern er war zuerst Diener seines geistlichen Oberherrn, der im Kampf der Zeiten vorerst nur sich bedenken mußte und seine Gewalt, indem er der Religion nur zukommen ließ, was jener nicht hinderlich sein mochte. So geschah es, daß, als die stillen Leute in Alby sich in ihren waldigen Thälern versammelten und sich den Mißbräuchen und willkürlichen Satzungen sowie der Verderbnis der Pfaffen entziehen wollten, man sie als Ketzer verfolgte, die den römischen Stuhl und also das Christentum stürzen wollten. Gab es damals noch die freie unabhängige Kirche der Bischöfe, so fanden diese erleuchteten Gemüter Schutz und Frieden; man ließ sie auf ihre Weise in Bethäusern mit ihren Priestern Gott dienen, statt daß man jetzt einen Kreuzzug gegen sie predigte und noch das unschuldige, gräßlich vergossene Blut von dort zum Himmel schreit. Wäre nicht damals schon die päpstliche Hierarchie und Christentum ein und dasselbe gewesen, so wären wohl aus diesen Gebirgen Reiniger der Kirche und große Priester hervorgegangen. Schon damals verbreitete sich auch in unsern Bergen jene Lehre, und als die päpstliche Herrschaft zusammenbrach, fanden CalvinsJohannes Calvin (Caulvin, 1509–1564), der berühmt« Schweizer Reformator. Schüler schon seit lange alle Gemüter unterrichtet und vorbereitet. Diese Glaubensweise ist hier so naturgemäß und heilig, wie es die deinige in andern Gegenden sein mag, und sie zerstören wollen durch Verfolgung, ist nur dem möglich, der den schönen und mannigfaltigen Sinn des Christentums verkennt, ja er erscheint mir selbst wie ein Empörer gegen diese Religion der Liebe. Seit Luther und Calvin wütete fast ein hundertjähriger Bürgerkrieg in allen Provinzen; teuer sollte diese kostbare Freiheit bezahlt werden, die Päpste und Bischöfe widerrechtlich dem Menschengeschlecht entrissen hatten. Aus dieser Nacht leuchtete endlich unser Heinrich der VierteHeinrich IV. (1553–1610), der erste König von Frankreich aus dem Hause Bourbon. hervor und senkte die Palme des Friedens auf seine Länder. Durch das Edikt von NantesErlassen am 13. April 1598; von Ludwig XIV. den 22. Okt. 1685 widerrufen. ward endlich die Glaubensfreiheit durch den königlichen Eid, durch das Einstimmen des Parlaments, durch die Einwilligung aller Stände und Provinzen gesichert, sein Nachfolger erneuerte diesen Schwur, und unser Herrscher, der vierzehnte Ludwig, konnte nur unser König sein, indem er über katholische und auch evangelische Unterthanen herrschen wollte: so versicherte uns auch sein Eid, den er für sich und seine Nachkommen wiederholte. Lange Jahre herrschte er mit Ruhm und Glück, nun aber, im Alter, von abergläubischen und herrschsüchtigen Gemütern umgeben, nun, da sein glänzender Stern längst untergegangen ist, jetzt, da das Land erschöpft und arm, da seine Heere geschlagen sind, da die Feinde die Grenze, ja selbst die Hauptstadt bedrohen, da Deutschland, England und Holland, hier in der Nähe Savoyen uns mit dem schlimmsten Unheil dräuenIm spanischen Erbfolgekrieg (1701–14). – nun erwacht sein Gewissen, er meint, den Himmel und das Glück zwingen zu können, wenn nur katholische Unterthanen ihn König nennen, er sendet – unbegreiflich verblendet – Bekehrungsapostel in die Gebirge, und Drohung, Zwang, Mord und Raub sind die Ermahnungen, die an die Armen ergehen. Nun, wir haben ja in unsrer Nähe diese Schrecken gesehn, und so begeistert du für deine Partei bist, mein Sohn, so weiß ich doch, daß dein menschliches Herz mehr wie einmal davon zerrissen war. Plötzlich – und konnte er es, frage dich selbst, ob er es durfte? – nimmt der König jenes Edikt zurück und löst willkürlich seinen Schwur, ohne zu fragen, zugleich den Schwur der Vorfahren und der Parlamente, aller Landesstände. Er selbst zerreißt im frommen Wahnsinn, was ihn an den Bürger bindet, den Unterthan ihm verknüpft; das heilige Palladium, das Unantastbare, ist entweiht, vernichtet, und der Wut, dem Morde, der fürchterlichsten Raserei des Blutdurstes sind die armen Gebirgsbewohner preisgegeben. Der stille Weber, der Hirt, der fromme Ackerbauer, der noch gestern ein ehrbarer Christ, ein geachteter Bürger, ein guter Unterthan war, ist durch die Zurücknahme des Ediktes, ohne daß er nur etwas gefehlt hätte, heut ein Empörer, ein Geächteter, den Rad und Scheiterhaufen erwarten, gegen den alles, auch die wildeste, verworfenste Grausamkeit erlaubt ist. Seine Tempel werden verschlossen und geschleift, seine Priester vertrieben und ermordet; er begreift sein Unrecht nicht und fühlt nur sein Unglück; es erhebt sich in der Seele Tiefe jener Geist, der sich seiner ewigen, unverlierbaren Rechte erinnert, und wieder ist Krieg da und gegenseitiger Mord; nun hetzt sich Grimm an Grimm, das Leben wird wohlfeil, Marter wird Lust, und wenn es böse Feinde gibt, so müssen sie von den Zinnen der Gebirge schadenfroh in dies unselige Gemetzel hohnlachen, wo von Liebe, Gottesfurcht, Demut wohl auch die letzte Spur mit rauchendem Blute verdeckt ist. Meinst du nun, ich müsse so Christ sein, um die Greuel meiner Partei zu rechtfertigen, oder so Unterthan, um diesen Henkersknechten des Marschalls meine Hand zu bieten: so ist unsre Ehrfurcht vor dem Könige sowie unsre Anbetung Gottes freilich unendlich verschieden.«
Edmund hatte ohne Zeichen der Unruhe dieser langen Rede seines Vaters zugehört, endlich sagte er tiefseufzend: »Wir stehen also an zwei verschiedenen Ufern, ein breiter Strom zwischen uns; ich fasse Ihre Gesinnung so wenig, daß ich davor erschrecke, denn sonach möchte unsere heilige Religion nur immerhin in leeren Wahn eines jeden Thoren verschwinden, der frech genug ist, sich zum Lehrer aufzuwerfen, und geschickt genug, den unwissenden, neuerungssüchtigen Pöbel zu verführen: so möchte denn das heilige Gebäude des Staates mit seinem vom Himmel selbst geweihten Stellvertreter nur immerhin in den Staub sinken, wenn jeder Unzufriedene es wagen darf, grade die Rechte, wegen welcher der König König ist, ihm wegzustreiten und, wenn er Gelegenheit findet, zu rauben. So komme denn Chaos und Anarchie, und bringen sie die grimmigen Hunde des Mordes, der Rachsucht und Schwert und Feuer mit sich, um die Freunde der Krone, um den Adel und die Priester zerfleischend zu morden. O, mein Vater, nur dahin führet Ihre Lehre. Kann mein König mir nicht mehr mein sichtbarer Gott auf Erden sein, dem ich mein ganzes Herz mit allen seinen Trieben blind und unbedingt unterworfen, kann ich nicht glauben, daß ihm die Verantwortung einzig obliegt, so kann ich weder handeln noch denken. Soll meine Kirche, für welche unzählige Wunder und Tausende der erhabensten Geister sprechen und sie bewähren, irgendwo einer aus dem Winkel gekrochenen armseligen Gemeinde von gestern, die mit grobem Trug und Aberwitz das gemeine Elend ihrer Verächtlichkeit decken und putzen will, weichen – nein, so möchte ich so gut zu den blödsinnigen Heiden am Nordpol flüchten und mich ihnen in dumpfer Gläubigkeit anschließen.«
»Wunder?« rief der Alte aus, »und was nennst du denn Wunder? Das blöde Auge sieht sie nicht, eben weil sie zu groß und zu gewaltsam sind. Daß dieses arme Volk, das schon zufrieden war, wenn es oft nur sein kümmerliches trocknes Brot hatte, das hinter seinen Bergen jeden Beamten und Offizier wie eine Gottheit verehrte – daß dieses es wagte, dem Intendanten, dem Marschall mit seinem Heere und dem Könige selbst Trotz zu bieten – daß es dieser gemeine arme Mann vermag, für seine Lehre Weib, Kind, Leben zu opfern und unter Martern zu sterben: ist denn dieses kein Wunder? Eine arme Rotte, ohne Erziehung und Waffen, ohne je den Krieg gesehn zu haben, von Burschen geführt, die kaum wissen, was ein Schwert sei, schlagen regulierte Truppen und bekannte Anführer in mehr als einem Gefechte, und zuweilen einer gegen vier – ist das kein Wunder? – Wie, wenn diese Empörer, wie sie freilich sind, nun auch darauf die Wahrheit ihrer Lehre begründen wollten, was könntest du ihnen entgegensetzen?«
»Nennen Sie doch lieber«, sagte Edmund mit Bitterkeit, »auch ihre Propheten, ihre Verzuckungen, ihre abgeschmackten, krampfhaften Verzerrungen, die die Kinder schon von den Alten lernen und mit dem Namen Gottes im Munde so plump lügen und betrügen.«
»Mein Sohn«, sagte der Vater seufzend, indem er dem Jüngling mit Rührung in die dunkeln Augen schaute, »in aller aufgespannten Leidenschaft wird der Mensch in ein unerklärliches, aber meist schreckliches Wunder verwandelt; dann wird leider oft wahr und sein eigenstes Wesen, was die wildeste Phantasie selbst nicht rasender ersinnen könnte. Hüte sich jeder vor diesen Zuständen, noch weniger suche er sie, wie du thust, Edmund; dein Feuer wird dich verzehren. Geh nicht so oft zum Fräulein von Castelnau hinüber; dies nährt deine Schwärmerei und richtet dich zu Grunde.«
Edmund verließ schnell und ohne ein Wort zu sagen den Saal. Der Alte sah ihm seufzend nach und sprach zu sich: »Leidenschaftliche Liebe und Bigotterie, von einem enthusiastischen Weibe genährt, was können sie noch in dieser Jugend und in unsern Tagen aus dem Armen machen? Wer weiß, welch Elend mir noch bevorsteht.«
»Um Gotteswillen, gnädiger Herr«, stürzte der alte Franz herein, »was ist es doch mit unserm Sohn? Da rennt er ohne Hut drüben den Weinberg hinauf, und das Gewitter ist ganz nahe. Ach, wenn Sie ihn doch lieber nicht ausgescholten hätten! Er läßt doch nun einmal von der Frauensperson nicht!«
»Woher weißt du«, fragte der Vater, »daß von der die Rede gewesen ist?«
»Er lief an mir vorüber«, erzählte Franz, »und sah mich mit dem ganz eigenen grimmigen Blick an, den er immer nur hat, wenn man von Fräulein Christine etwas sagt; so stampft er auch nur alsdann mit den Füßen; er hat dort den Apfelbaum umgerissen und seinen Hektor, der ihm nachlief, mit dem Fuß zurückgestoßen, was er sonst nie thut; unser Edmund thut sich noch einmal ein Leid an.«
»Gott wird über ihn wachen«, sagte der Vater; da fuhr aus der finstern Wetterwolke ein roter Blitz nieder und erleuchtete seltsam die Weingebirge umher, gleich darauf erkrachte ein so ungeheurer Schlag, daß das ganze große Haus zitternd erdröhnte. Hektor schmiegte sich an Franz, und die kleine Eveline rannte mit nachflatternden blonden Locken zur Saalthür herein, indem gleich hinter ihr ein Platzregen rauschend niederstürzte.
Man sah mit großer Eil' allenthalben die Herden zusammentreiben; die Hirten schrieen, die Hunde bellten, und zwischen den Schlägen des Ungewitters brausten die Bäume; die Bäche liefen laut rieselnd die Hügel herunter, und auf das Dach des Hauses schlug der Regen mit starkem Gerassel. Martha fing aus dem obern Stockwerk an laut zu singen; bald darauf hörte man Pferdegetrappel und eilige Fußtritte. Die Thür öffnete sich, und herein traten drei Männer, von denen der vordere, welcher vom Pferde gestiegen war, sich mit diesen Worten an den Eigentümer des Hauses wandte: »Not kennt kein Gebot! Das Sprichwort, Herr Parlamentsrat, hat wohl recht, denn sonst hätte ich nicht gewagt, eine ehemalige Bekanntschaft so ungestüm zu erneuern: ich bin der Pfarrer von St.-Sulpice, hinter St.-Hippolite,Stadt an der Vidourle im Departement Gard, Arrondissement Le Vigan. Einen Ort Namens St.-Sulpice gibt es in jener Gegend nicht. und bin so dreist, bei dem gräßlichen Unwetter hier in der einsamen Gegend Ihr Obdach auf ein Stündchen anzusprechen,«
»Sie sind mir willkommen, mein Freund«, sagte der Parlamentsrat, »sowie die übrigen Herren. Ein Feuer soll Sie erwärmen und trocknen, und Sie thun besser, heut' abend hier zu bleiben, denn das Unwetter wird gewiß bis zur Nacht währen, wie es in hiesiger Gegend gewöhnlich geschieht.«
Franz und ein andrer Diener hatten schon ein Feuer in dem großen Kamin angezündet, und die Fremden näherten sich der wohlthätigen Flamme, um ihre Kleider zu trocknen, indes der Pfarrer den Diener bat, für seinen Klepper Sorge zu tragen. Die beiden andern Fremden hatten nur durch stumme Verbeugungen ihre Verehrung dem Parlamentsrate bezeigt und ihre Bitte vorgetragen, während die kleine blonde Tochter die augenblickliche Verwirrung benutzte, um sich den Gästen zu nähern und sie neugierig zu prüfen. Der eine schien ein Jäger, denn er trug grüne Kleidung, einen Hirschfänger und Büchse, die er sorgfältig, weil sie geladen war, auf den Kamin legte. Indes alle diese verschiedenen Anordnungen getroffen wurden, hatte Eveline schon mit dem dritten Fremden, der ihr der liebste schien, auf ihre Weise eine Bekanntschaft angeknüpft; sie reichte ihm ihr Tuch, sich den Regen vom Gesichte zu trocknen, sie bot ihm einige Früchte, die er lächelnd ausschlug, und nachdem sie ihn lange angesehen hatte, sagte sie zu ihm: »Wo hast du denn deinen Hut gelassen?« – »Den hat mir draußen auf dem Felde der Sturm genommen«, sagte der fremde junge Mensch, »und ihn weit, weit hinweggejagt, so daß ich ihn nicht wieder fangen konnte.«
»Das muß lustig gewesen sein«, sagte Eveline lachend; »du hinter dem Hut her, der Sturm hinter dir, der Regen hinter dem Sturm; den Hut hast du nicht bekommen, aber Regen und Sturm haben dich eingeholt.«
Herr von Beauvais näherte sich und fragte: »Du unterhältst schon den Fremden?« – »Sieht er nicht«, rief das Kind, »so gut und freundlich aus wie der Schulmeister im Dorf, der mich lesen lehrt, der aber schon mit den jungen dünnen Beinen so früh hinken muß?«
»Sei recht artig, mein Kind«, sagte der Rat freundlich, indem er ihr die blonden Locken aus der Stirn strich. Er betrachtete unter Begrüßungen ebenfalls seinen Gast, der wirklich kaum noch sechzehn oder siebzehn Jahre zu haben schien, er war etwas unter der gewöhnlichen Größe, von schwächlichem Körperbau, aber, wie die Tochter gesagt hatte, in Blick und Ausdruck des Gesichts die Freundlichkeit selbst; ein leichtes Rot färbte die schmalen Wangen, das Auge war hellblau und bekam durch einen Flecken auf dem rechten Augenlide einen sonderbaren Ausdruck, kurze blonde Haare lagen schlicht und dicht an der hellweißen, glänzenden Stirn, seine Stimme hatte etwas Mädchenhaftes durch ihre Höhe, und nach seinen Gebärden und dem verschämten Wesen hätte man ihn leicht für eine verkleidete Jungfrau halten können.
»Ich komme heut' vom Pont du GardDie berühmte Brücke über den Gard nordöstlich von Nimes, ursprünglich eine großartige altrömische Wasserleitung. herüber und wollte noch nach MontpellierHauptstadt des Departements Hérault, südwestlich von Nîmes., als mich dieses Unwetter zum Glück dicht vor Ihrer Thür überraschte, Herr Parlamentsrat«, sagte der Pfarrer, indem er sich wieder näherte. »Ich muß gestehn, daß ich nicht geglaubt hätte, ein solcher Bau, wie diese Wasserleitung, sei möglich, wenn mich nicht jetzt meine Augen überzeugt hätten. Ich zweifle, daß das Coliseum in Rom oder die ungeheure Peterskirche dort so großen Eindruck auf mein Gemüt machen könnten wie diese majestätisch übereinander gewölbten Bogen und Säulen, die so kühn und leicht zwei entfernte Berge miteinander verbinden.«
»Wer dieses Wunderwerk alter Zeiten noch nicht sah«, sagte der Parlamentsrat, »muß jede Erzählung davon für übertrieben halten; und so werden Sie es, Herr Pfarrer, vielleicht auch nicht glauben, daß es immer größer wird, je öfter man es sieht, daß man sich nie daran gewöhnt, ohngeachtet gleich der erste Anblick so wohlthuend befriedigt und im Gefühle des Erhabenen die schönste Behaglichkeit uns umfängt. So muß es aber wohl mit allem echten Großen sein.«
»Diese heidnischen Römer«, sagte der Pfarrer, »haben darin viel geleistet und müssen uns immer noch zu Lehrern dienen. Auf dem Wege hieher habe ich aber vor dem Gewitter rechtschaffen schießen hören.«
»Sie liegen sich heut' wieder in den Haaren«, sagte der Jäger, »die Kamisards und die königlichen Truppen; heute aber sollen die Hugenotten ganz und gar verspielt haben.«
»Wie das?« fragte der Rat.
»Ich hörte jenseit dem Wasser – gottlob, daß ich herüber bin! – sie hätten CatinatAbdias Morel (Maurel) aus Caylar bei Lodève (Departement Hérault), hervorragender Kamisardenführer, nannte sich Catinat nach dem Marschall Nicolas de Catinat (1627–1712), unter dem er gedient hatte. Er wurde am 22. April 1705 zu Nîmes verbrannt. und CavalierJean Cavalier (1685 [1679] – 1740), der bedeutendste Anführer der Kamisarden, geboren in Ribaute bei Anduze (Departement Gard), war als Knabe Viehhüter, dann Bäckergehilfe, 1702–1704 die Seele des Aufstandes. Er schloß friedlichen Vertrag mit der Regierung, zog sich ins Ausland zurück, wurde Oberst in savoyischen und 1706 in holländischen Diensten, später englischer Generalmajor und Befehlshaber von Jersey und starb im Mai 1740 zu Chelsea bei London gefangen, und nun würde es wohl mit dem ganzen Kriege aus sein. Schade um Herrn Cavalier, sag' ich, wenn sie ihn auch so tot machen thäten wie manchen andern.«
»Warum schade?« fuhr der Pfarrer auf. »Was verdient der Rebell denn anderes? Ihr seid wohl auch ein Anhänger der neuen Lehre?«
»Nein, Herr Pfarrer«, fügte der Jäger, »ich war im Lande einer der allerersten, die sich von den Herrn Dragonern bekehren ließen. Sie kamen in des Königs Namen, und – des Brot ich esse, des Lied ich singe – freundlich waren sie nicht sonderlich; dreißig im Dorfe wurden totgeschlagen: ›Hund!‹ hieß es, ›den reinen Glauben oder krepiere!‹ – ›Warum denn so barsch?‹, sagte ich, ›ich bin gar nicht gegen den Glauben eingenommen, nur könnt ihr's doch wohl ein bisse! freundlich von euch geben.‹ So schlug ich denn in mich, wie ich die greuliche Wirtschaft sah, und diene jetzt bei einem echt katholischen Herrn, dem Intendanten von Basville. Ich meine nur, um den Cavalier sei es schade, denn der ist gut und hat schon manchem braven Offizier was auf zu raten gegeben.«
»Das muß wahr sein«, sagte der Pfarrer begütigt, »er ist der einzige unter den Rebellen, der es versteht, die Sache zu führen; unerschrocken wie ein Löwe, großmütig, immer kaltes Blut, weiß vortreffliche Dispositionen zu machen, ist menschlich gegen die Gefangenen, ist zum Helden und Anführer geboren und um so mehr zu bewundern, weil er hinter den Schweinen groß geworden ist. Durch ihn bin ich um meine Pfarre gekommen und treibe mich jetzt hier in der CamargueInsel in der Provençe, Arrondissement Arles, von den beiden Hauptmündungsarmen des Rhône und dem Meere gebildet., Nismes und Montpellier herum, um eine andre Stelle zu erlangen.«
»Wie ist das, mein Herr?« fragte der Rat.
»Was deines Amtes nicht ist, da laß deinen Vorwitz! pflegt man zu sagen; aber nicht immer folgt man den weisen Lehren«, erwiderte jener, »denn Blut und Leidenschaft bemeistern nur zu oft unsre Vernunft. Sie wissen, daß schon seit geraumer Zeit gegen die Kamisards in den Cevennen eine Art Kreuzzug gepredigt ist; die jungen Leute in Nismes und auf dem Lande umher haben sich zu Freiwilligen gemacht und lauern den Rebellen auf, wo sie nur können; der Einsiedler bei Saumière,La Fayolle, damals etwa 60 Jahre alt, ein Edelmann aus Crest in der Dauphiné, früher Hauptmann in königlichen Diensten, zog sich in eine Einöde bei Sommières (Tieck stets Saumière), an der Bidourie, Departement Gard, Arrondissement Nîmes, zurück, wo er als Einsiedler unter dem Namen »Bruder Franz Gabriel« bekannt war. ein alter Hauptmann, hat sich mit einem Trupp verzweifelt tollkühner Bursche auf die Beine gemacht und ficht wie ein Simson; nur sagt man ihm nach, daß er es so genau nicht nimmt, sondern nach Gelegenheit Freund wie Feind behandelt und schon manchen Altkatholischen geplündert oder ins Gras gestreckt hat. Je nun freilich, kommt es erst so mit allen Gemütseigenschaften zum Handgemenge, so ist nicht mehr so genau acht zu geben, ob auch zu viel geschieht; er hat gewiß seinen Rosenkranz vorsichtiger abgebetet, als er jetzt das Totschlagen abzählen kann. Kurios genug, daß ein Einsiedler, der ganz der Welt hat absterben wollen, wieder auf derlei Abenteuer zieht. Das alte Soldatenblut ist wohl wieder in ihm aufgewacht. Wie ich also in meinem einsamen Dorfe hinten im Gebirge von diesen Dingen hörte, so wurde ich davon auch befeuert oder begeistert und nahm mir vor, Gott und dem Könige ebenfalls meinen kleinen Dienst zu thun. Meine Pfarrkinder wollten von der Geschichte nichts wissen: lieber Himmel, es ist kein Heroismus in ihnen, sie haben eine Antipathie gegen Blessur und Tod oder halten es gar heimlich mit den Kamisarden, wie ich der Satansbrut immer zugetraut habe; denn soviel ich auch in der Kirche schrie und tobte, haben sie unter meiner Predigt meist immer geschlafen, und da sie das bei meiner lauten Stimme so wacker können, beweiset dies schon allein, daß sie so ziemlich vom Teufel besessen sein müssen. Wie gesagt, ich schaffte einiges Volk zusammen, ein paar spanische Deserteurs, drei Savoyarden, fünf Kerle, die dem Gefängnis entsprungen waren, und zwei ungeheuer verwegene Kesselflicker. Es war dazumal, als Cavalier so unbegreiflich die Stadt SauveStadt an der Bidourle, Departement Gard, Arrondissement Le Bigan. mitten im Gebirge eingenommen und gebrandschatzt hatte. Marsch ging's ihnen entgegen, neben St.-Hippolite weg, denn ich hatte Wind, daß dieser Hauptrebell mit einem kleinen Trupp sein Korps verlassen hatte. Richtig treffen wir ihn, als wir hinter einer Bergschlucht hervorkommen. Ich rief ihm zu, sich zu ergeben; er will nicht; bauz! schieß' ich einen Kerl nieder, der neben ihm steht, mit Säbel und Gewehr vor, hau' auf sie ein, durch sie hindurch – Herr, es war ein Augenblick in meinem Leben, als wenn drei Regimenter in meinem Leibe wären – es wird geschossen, ich seh' zurück – da liegt meine ganze Armee hinter mir von den paar Kerlen zusammengehauen – meine Kourage verläßt mich, ich reite, was mein Pferd vermag – es ist noch derselbe Wallach, gnädiger Herr, draußen in Ihrem Stall – ich bin gerettet. Cavalier, hör' ich, war ein vernünftiger Mann; aber der Spitzbube, der sich nach dem vormaligen Marschall Catinat nennt, wiegelt die anderen auf; sie ziehen in mein Dorf, machen mit meinen Beichtkindern gemeine Sache, stecken mir das Haus und sogar die liebe baufällige Kirche an und verschwören sich, wenn ich mich dort wieder sehen ließe, mich in zehntausend Stücke zu hauen. Da ich nun das alles um des Vaterlandes willen erlitten habe, so ist es auch billig, daß man mir meinen Verlust vergütet, und ich soll auch binnen kurzem hier in der Nähe von Nismes eine bessere Stelle mit einer guten christkatholischen Gemeine erhalten. So war mein Ritterzug geendigt, aber ich habe geschworen, wo ich nur einen dieser Mordhunde seh' und treffe oder mehr – und wären es hundert – sie meine Rache fühlen zu lassen.«
Der Parlamentsrat entfernte sich mit Unwillen von diesem Geistlichen und sah erfreut auf, als Edmund jetzt umgekleidet hereintrat. »Das ist ein Hexenwetter!« sagte dieser und küßte die Hand des Vaters, die dieser ihm freundlich hinreichte. Dann mischte er sich unter die Gesellschaft und hatte bald mit dem redseligen Geistlichen ein Gespräch angeknüpft.
»Wie ich sage«, fing dieser wieder in seiner schreienden Weise an, »es ist mit diesen Mopsköpfen ein eigenes und unbegreifliches Wesen. Daß Kinder, die kleinsten Krabben von drei Jahren, sich mit Ermahnen und Bußepredigen abgeben und so vertraut von allen Sünden sprechen, als hätten sie schon längst das ganze Register davon durchgemacht, ist eine weltbekannte Sache; oft wollen die Blitzkröten noch obenein prophezeien, sprechen meist in gutem, klarem Französisch, was sie oft wohl zeit ihres Lebens noch nicht gehört haben – das erklär' mal einer alles, wer seine Lust am Erklären hat. Einige sagen, es sind Krämpfe, andere, sie sind vom Teufel besessen, die von ihrer Partei halten es für Inspiration. Drüben in Alais sitzen einige Hundert, groß und klein, alt und jung, das prophezeit durcheinander, daß die Mauern des Gefängnisses brechen möchten. Nun hat sich das Collegium medicum von Montpellier hinüber gemacht, jeder Doktor hat Kappe und Mantel mitgenommen, ja ich glaube, sie haben auch den uralten Mantel des RabelaisFrançois Rabelais (1483–1553), Verfasser des berühmten satirisch-phantastischen Romans »Gargantua und Pantagruel«, bedeutender Mediziner und in allen Fächern des Wissens erstaunlich beschlagen, daher im Volksglauben zum Zauberer geworden. mitgeschleppt, um ihrer Kunst recht gewiß zu sein. Da haben sie nun observiert, diskurriert, disputiert, kalkuliert, spekuliert, deduciert – und was ist das Ende vom Liede? Daß wir so klug sind wie zuvor. Für göttliche Eingebung, sagen die weisen Herren, können sie es nicht halten, weil König und Geistlichkeit so sehr dagegen sind; weil aber die Leute doch lauter geistliche Dinge sprechen und singen, für Besitzung des Teufels ebensowenig, auch kennten sie die Art und Weise dieses Herrn noch nicht, Krämpfe und körperliche Gebrechen seien es auch nicht, sondern es sei ihnen etwas ganz Unerhörtes und Neues, was man auch wohl neu benamen und daher wohl am besten Fanatismus und diese Leute Fanatiker nennen müßte.«
»Es gibt aber auch viele Dinge«, sagte der Jäger lebhaft, »die nicht zu erklären sind; ich halte die Leute einmal alle für verhext, mit Ihrer Gnaden Erlaubnis. Denn, wenn Sie nichts dagegen haben, so ist das die allerleichteste Erklärung. Drum thut man auch nicht so sehr unrecht, sie zu verbrennen – immer den Herrn Kavalier ausgenommen, um den es mir leid thun sollte – und das geschieht wohl hauptsächlich, damit sie nicht nach und nach die ganze Gemeinde anstecken, denn man sieht ja, wie das Übel täglich um sich greift, und wie einer die Bosheit vom andern lernt. Das Hexen aber ist ebensowohl etwas Körperliches wie Geistiges, etwas Sichtbares wie Unsichtbares; und nicht bloß Menschen, auch Häuser, Berge, Flüsse können verzaubert sein; und das habe ich selbst in meinem Leben erfahren.«
»Und wie«?« fragte der Rat.
»Kennen Sie nicht die große Esche, die da so weit und breit auf dem Felde zwischen dem Schlosse CastelnauSüdöstlich von Alais im Kanton Bezenobres. und der Stadt Alais steht? Nicht weit davon ist der alte ungeheure Ölbaum, von dem sie sagen, er zähle schon drei- oder vierhundert Jahre, aber soviel ist gewiß, die beiden Bäume, besonders aber die Esche, kann man meilenweit in der Ebene und von den Bergen sehn.«
»Ich kenne beide Bäume sehr gut«, sagte Edmund.
»Nun«, fuhr der Jäger fort, »unter dieser Esche ist es nicht geheuer. Als ich noch als ein junger Bursche bei dem Vater des jetzigen Fräuleins von Castelnau diente, die fast immer in der Stadt Alais lebt, weil das Schloß ihr wohl zu einsam sein mag – da ging ich auch, wie ich natürlich oft that, einmal aus, um Hasen zu schießen; es war gegen Abend, und ein Wetter wie das heutige überraschte mich. So tret' ich unter die große Esche, um nicht naß zu werden, und kaum hab' ich mich etwas an den Stamm gelehnt, gnädiger Herr, so fühl' ich solche Angst und Bangigkeit, solch Herzklopfen, ein Zittern befällt mich, mir grauset's – ich muß fort – ich werde naß – ich kehr' wieder um, und wieder dieselbe Angst unter dem Baum. Es litt mich nicht dort, ich mußte ins Freie, in den Regen, der so goß, als wenn der Himmel einfallen wollte. Am andern Tage, es war heller Mittag und Sommerwetter, sag' ich zu mir: ›Narr! hast dich geängstet, weil es schon dunkel wurde, hast dich vielleicht vor dem Einschlagen gefürchtet, wirst ein herrlicher Jägersmann werden, wenn du so wenig Herz hast –‹ und geh' so halb lachend unter den Baum, bildete mir ein, im Schatten zu schlafen – aber nichts! Noch gräßlichere Angst und Graus, Zahnklappen und Frost befällt mich – ich muß fort! – Da erzähl' ich einem altern Förster das Ding: ›Narr‹, sagt der zu mir, ›haben dir das die Jäger nicht gesagt? Der Baum leidet keinen unter sich, das ist eine alte Geschichte.‹ Er konnte mir auch nicht sagen, weshalb, warnte mich aber, keinen Mutwillen damit zu treiben. Ließ es doch nicht, sondern ging mal wieder mit einem jungen Burschen hin. Dem bekam es aber übel, denn er wurde tödlich krank nach der Angst. Seitdem vermeide ich den Baum, und so thut jeder, der ihn kennt. Er muß auch irgend einmal verhext worden sein.«
»Weiß der Himmel, was das alles mag zu bedeuten haben«, fing der Pfarrer von neuem an, »aber wir leben wenigstens in Zeiten, in denen so vieles geschieht, was man ehemals für unmöglich gehalten hat. So ist es mit diesen weissagenden Kindern eine unbegreifliche Sache. Schon vor einigen Jahren hörte man, daß es hie und dort, in den Cevennen, in Dauphiné, im benachbarten VivaraisDauphiné, Landschaft zwischen Rhône, Provence und Alpen; Vivarais, Landschaft am Ardèche und rechts des Rhône mit der Hauptstadt Viviers. dergleichen gebe, man reisete aus, um sie zu hören und zu sehn. Jetzt sind ganze Dörfer davon voll, man sieht sie auf den Märkten, in den Schenken, und wie die ehemaligen Kinderkrankheiten, scheint es, daß alle Kinder diese Gabe der Prophezeiung überstehen müssen. Die Regierung hat es so scharf verpönt und die Eltern dafür verantwortlich gemacht, diese in die Gefängnisse gesteckt, die Väter auf die Galeeren gesandt, weil man glaubte, daß von diesen nur der Betrug herrühre. So kam auch ein Bauer meiner Gemeine zu mir und sagte: ›Herr, um Gotteswillen, helft! Mein kleines Mädchen von sechs Jahren hat gestern angefangen zu prophezeien, ich bin ein geschlagener Mann, wenn das Ding auskommt; ich und meine Frau sind gewiß rechtgläubig, wie Ihr es bezeugen könnt, aber man nimmt uns als Rebellen fest, wie es so vielen geschehen ist.‹ – ›Braucht nur die Rute‹, sagt' ich, ›laßt die Dirne hungern, so wird ihr das Wahrsagen schon vergehen.‹ – ›Ist alles geschehen, ehrwürdiger Herr‹, heulte der Alte, ›und mehr als ich vor meinem Gewissen verantworten kann; das Kind ist krank von meinen Mißhandlungen, denn sowie es anfängt zu wahrsagen oder die Psalmen zu singen, die es bei mir niemals gehört hat, so wird es grausam gezüchtigt; seit drei Tagen habe ich ihm keinen Bissen Brot gegeben, aber es läßt nicht nach, und treibt das Ding immer ärger. Kommt doch nach meinem Hause und seht selbst; ist es Besessenheit, so könnt Ihr beschwören, ist es was anders, so könnt Ihr ermahnen.‹ – Ich hatte solche prophezeiende Kreatur damals noch nicht gesehn und ging also aus Neugier mit dem Alten. Wie wir in das Haus traten, saß das Kind bei der Spindel, es war blaß und mager und sah einfältig aus. Es klagte über Hunger und Schmerz, ›An dem Kinde ist ja nichts zu sehn‹, rief ich. – ›Ach! wenn es immer so vernünftig wäre‹, sagte der Bauer. Indem bekam das Wurm ein Schluchzen im Halse. ›Da haben wir die Bescherung‹, rief der Alte, ›nun geht das Unwesen los – beschwört, Herr Pfarrer!‹ – Wie die Kleine sich so würgte, fing ihr an der Leib aufzuschwellen, sie fiel auf die Erde, die Brust klopfte und hob sich, und plötzlich hörten wir wie einen ganz fremden Ton, der dem Kinde gar nicht eigen war: ›Ich sage dir, mein Kind, wenn deine Eltern Buße thun und dem Geiste folgen, so wird alles gut und herrlich sein, und ihr werdet an der Freiheit und meinem Worte teilnehmen.‹ – Ich war erschrocken, besonders darüber, daß das Gewürm so reines Französisch sprach wie vornehmer Leute Kind; ich besprengte sie mit dem Weihwasser, ich beschwor mit Macht, um den Teufel, wenn es einer war, auszutreiben. Alles umsonst, die Kleine rief: ›Ich sage dir, die Götzendiener werden euch nichts anhaben können, und dieser Böse wird seinen Lohn für seine Missethaten finden.‹ – Damit meinte sie mich, die Unglückliche, weil ich in meinem Berufe so eifrig war. Nun ging das Reden und Singen fort, und lauter Gottesfurcht und Ermahnung zur Buße, wie ich es kaum besser hätte machen können, bis sie denn wieder aufwachte und so elend und einfältig war wie vorher. ›Ich kann nicht helfen‹, sagte ich zu meinem Beichtkinde, ›Ihr seht, Gottes Wort und Weihwasser schlägt nicht an, Hunger und Prügel ebensowenig, Euer Zureden auch nicht, die Furcht, Euch unglücklich zu machen, wirkt nichts, überlaßt die Sache sich selbst‹. Kurz, das Kind aß und trank wieder und wurde im Bußepredigen immer eifriger, so daß es den Vater bekehrte; wenigstens lief er ins Gebirge zu den Kamisarden und sagte, wenn er gestraft oder hingerichtet werde, so wolle er wenigstens wissen, wofür. Seht, so habe ich im vorigen Jahre manche Beichtkinder verloren, denn wenn sie einmal erst Verdacht auf sich gezogen hatten, so wurden sie lieber geradezu Rebellen, um nicht Angst, Mißhandlung, wohl gar den Tod, sozusagen ohne Ursach', zu erleiden. Noch sonderbarer ging es mir mit dem Hirten aus meinem Filialdorf. Das war ein wilder, ruchloser Kerl, aber so rechtgläubig, als man sich nur wünschen konnte; er hatte schon mehr als einen Kamisarden und Verdächtigen an das Messer geliefert. Der kommt eines Morgens in aller Frühe zu mir gerannt und schreit: ›Helft, helft, Herr Pfarrer!‹ – ›Nun, was gibt's‹, sprech' ich, ›haben Euch die Kamisards das Haus angesteckt, wie sie Euch immer wegen Eures Eifers gedroht haben?« – »Ach, viel schlimmer, viel schlimmer«, schreit der Kerl und ringt die braunen, knochigen Hände. – »Nun, sprecht's los vom Herzen, Schäfer«, sag' ich. – »Ihr kennt doch«, fängt er an, »meinen Sohn, den großen Michel.« – »Wer soll den langen Bengel nicht kennen? Kennt ihn doch fast das ganze Gebirge; das ist ja Euer Hauskreuz, daß der Blödsinnige zu nichts zu brauchen ist, daß er weder arbeiten, noch Vieh hüten kann, daß er so dumm ist, daß er kaum zur Kirche zuzulassen war, er auch die Gemeine noch oft stört; der bloß zum Lasttragen taugt und am liebsten mit den Hunden lebt, die fast wie mit ihresgleichen mit ihm umgehn. Ist der aus dieser Zeitlichkeit gegangen, so seid froh, Ihr habt eine Last weniger.« – »Das ist es ja nicht«, schreit der Mann wie besessen, »ach! darüber würd' ich nicht klagen; aber denkt, wer hätte um alle Welt geglaubt, daß der lange Besenstiel zum Propheten werden würde?« – »Wie?« ruf' ich, und der Mund und die Augen stehn mir starr offen vor Erstaunen; »also, wer so zu gar nichts auf Erden zu brauchen ist vor Dummheit, kann immer noch einer von diesen Propheten werden?« So ging ich mit dem Alten, aber die Sache kam noch wunderlicher. Wie wir ins Haus treten, ist der dürre Knochenmann eben im Wahrsagen, spricht in einer reinen Sprache von der Befreiung Frankreichs, von Freiheit des Glaubens, von bessern Zeiten, ermuntert zum Kampf. Ich versuche zu beten und zu beschwören; der Vater aber erwischt seinen großen Hirtenstock, und damit über ihn her, so daß ich glaube, er hätte ihn erschlagen, wenn ich ihm nicht in den Arm gefallen wäre. Drauf hören wir dann ein wenig zu, und was geschieht? Plötzlich gurgelt's dem Alten im Halse; er seufzt, verdreht die Augen, stürzt gegen die Wand und dann zur Erde, und nachdem sich die Brust ein paarmal mächtig gehoben und gesenkt hatte, fängt er ebenfalls an und singt Psalmen, ermahnt zur Buße, prophezeit vom Fall Babels; so daß hier nicht paßte: so wie die Alten sungen, zwitscherten die Jungen. Ich denke, ich bin verzaubert, mir fällt mein Priestergewand aus den Händen, ich kann den beiden Rasenden nur zuhören, die lauter Frömmigkeit und Bibelsprüche daher heulen, und wie ich noch dem blauen Wunder in Angst und Schrecken zuschaue, geschieht mir wie ein Ruck in allen Gebeinen, und, Herr! so wahr der Himmel über uns ist, ich fühle auch die Lust in mir, so Krämpfe zu kriegen und das unglückselige Ding mitzumachen. Ich renne hinaus unter Gottes freien Himmel, ich denke an alles Ehrwürdige, an meinen Bischof, an die große Kirche und Orgel in Montpellier, an den Brief, den ich von dem ermordeten Abt von ChailaFrançois de Langlade, Abbé du Chaila (1647–1702), seit 1687 Erzpriester der Cevennen, grausamer Verfolger der Kamisarden, am 28. Juli 1702 in Pont de Montvert (Departement Lozère, Arrondissement Florac) von einem Trupp der letztern erschlagen. besitze, an unsern erlauchten Marschall von Montrevel und seine Paradeuniform und dergleichen – und Gottlob! das Knurren geht mir wieder aus dem Leibe, und ich bin wieder ein vernünftiger Mann und christlicher Priester. Seitdem seh' ich das Zeug mit Graus an, und sei es nun Hexerei, Besessenheit, körperliche ansteckende Krankheit oder der unbekannte neue Fanatismus der Herren Ärzte, ich habe wenigstens erfahren, daß der Mensch leicht überschnappen kann, und daß der Spanier mit dem Sprichworte recht hat: kein Mensch kann sagen, von diesem Wasser werde ich nicht trinken. Die beiden Schäferkerle sind nun auch in die Wildnis zum Cavalier gelaufen und große Glaubenshelden geworden.«
Der alte Parlamentsrat war während dieser Erzählungen mehr als einmal hinausgegangen, den Dienern Befehle zu geben; diese hatten indessen still die Tafel bereitet und das Abendessen aufgetragen. »Meine unbekannten Freunde«, sagte der alte Mann mit liebenswürdiger Laune, »die mir der Zufall und das böse Wetter so unvermutet beschert hat, und die mir – den Herrn Pfarrer ausgenommen – gänzlich fremd sind, laßt uns gesellig und ohne Umstände an dieser Tafel Platz nehmen, eßt und trinkt, und möge euch nachher ein wohlthätiger Schlaf in meinen Betten erquicken.« Edmund sah hoch auf und glaubte erst nicht, daß sein Vater Ernst machen könne; der Pfarrer maß den Jäger und noch mehr das junge Bürschchen mit einem langen Blicke, sah ihm dann lächelnd ins Auge, um ihm dadurch einen Wink zu geben, sich auf jeden Fall aus dieser vornehmen Gesellschaft zu entfernen, auf welche nur er Ansprüche machen könne; aber die kleine Eveline hing sich dem jungen Menschen an den Arm und zog ihn neben sich an den Tisch, wo er sich auch gleich, ohne etwas anderes abzuwarten, mit ihr zuerst niedersetzte. »So recht«, rief der Rat, »ohne alle Umstände, wenn man mir Freude machen will! Hier ist keine geladene Gesellschaft, wir kommen gerade wie auf einem Schiff oder im Walde zusammen; ich bin Ihnen allen ohne Unterschied diese Gastfreundschaft schuldig.« Edmund setzt sich errötend zu oberst neben seinem Vater, diesem gegenüber pflanzte sich der Geistliche auf, neben diesen setzte sich der Jäger, der aber zwischen sich und seinem Nachbar einen großen Raum ließ, und dann folgte Eveline mit ihrem Spielkameraden, wie er fast das Ansehn hatte.
»Recht patriarchalisch«, sagte der Pfarrer; »die Menschen dort, gnädiger Herr, werden im Lande Ihre Menschenfreundlichkeit und das Hinwegsetzen über Vorurteile zu rühmen wissen.«
In diesem Augenblicke riß unten am Horizonte die Wolkendecke, und im Sinken warf die Sonne plötzlich eine Purpurglut in den schwarzen Himmel über sich, ein rotes Feuer goß sich über die Weingebirge, Baum und Busch und Rebe funkelten im Brand, dahinter glänzten die Wälder, und wie der Blick sich erhob, standen im Rosenlicht die Gipfel der fernen Cevennen; wie Blut sprang der Wasserfall vom steilen Felsen links, und der ganze Saal, die Tafel und die Gäste, war alles wie in Blut getaucht, so daß in diesem Moment die Lichter nur dunkel brannten und das Feuer im Kamin wie bläulich flackerte. Der Regen hatte nachgelassen, ein heiliges Schweigen war in der weiten Natur, kein Blatt rührte sich, nur die roten Bäche plätscherten, und der glühende Wasserfall brauste seine Melodie. Der Alte sah auf, als wenn er innerlich betete, und eine Thräne trat ihm in das große Auge; der junge blonde Mensch legte Messer und Gabel hin und faltete die Hände; der Jäger sah scheu unter seinen großen Augenbraunen hervor; der Pfarrer suchte eine Miene von Salbung hervorzubringen; das Kind klatschte freudig in die Hände, und Edmund verlor sich in ein stummes Sinnen. Ebenso schnell, wie er aufgezogen war, fiel der Vorhang wieder zu, und der Glanz erlosch. worauf der Rat sagte: »War dies nicht wie ein Bild von unserm Lande und unserm Unglück, wie Rot uns alle vereinigt und zusammenführt, und wie das Elend, das uns bedrängt, sich, daß ich so sage, bis zu einer Art von Heiligkeit gesteigert hat? Alle unsre Landsleute gehn durch diese Bluttaufe; möge der Himmel Erbarmen mit uns tragen.«
Edmund sah seinen Vater scharf an und dann leicht auf den Jäger und den Burschen hin, als dürfe dergleichen in ihrer Gegenwart nicht gesprochen werden. Der Alte lächelte dem Sohne freundlich zu und suchte seine Bewegung nicht zu verbergen. »Väterchen«, rief Eveline hinüber, »das war, als wenn der Himmel mit uns Versteckens spielen wollte, wie wenn das dicke kleine Dorchen mich so recht rot und voll anlacht und dann wieder husch! unter das Tuch kriecht.«
»Es war wie eine große Blutwunde der ganzen Welt, die nach Hülfe schreit«, sagte der junge blonde Bursche. Edmund sah ihn mit einem schrägen Blick an und rief: »Es ist vielleicht das Verscheiden der verruchten Empörung!«
»Kann sein«, erwiderte der junge Mensch und erhob sein blaues Kinderauge grade auf Edmund hin; »ich denke aber, alles ruht in der Hand des Höchsten.«
»Mehr als gewiß«, sagte Edmund scharf, »und das Unheil wäre längst vorüber, wenn unter dem gemeinen Volke nicht Übelwollen nur zu sehr herrschte, heimlicher Vorschub und Schadenfreude über das Unglück des Königs.«
»Der Billige«, sagte der Bursche mit wehmütigem Lächeln, »muß doch gestehen, daß vom Volke das Unheil nicht anhob; es war ruhig, und wenn auch die andern leiden, so ist sein Erdulden doch ganz unaussprechlich.«
Der Priester hörte vor Erstaunen auf zu essen, daß der kleine, unansehnliche Mensch dem Herrn des Hauses gegenüber das letzte Wort behalten wollte; er zog die Augen auf und nieder, als wenn er wundervolle Strafworte suchte; die Kleine drückte dem neuen Freunde die Hände, daß er mit Edmund anband, und dieser, als der Vater schon anfing, um die Heftigkeit des Sohnes besorgt zu werden, wandte sich mit dem Ausdruck der größten Verachtung abwärts, indem er sagte: »Ich weiß nicht, mit wem ich spreche, aber Ihr kommt mir etwas bekannt vor; seid Ihr nicht der Sohn des ehemaligen hugenottischen Küsters aus BesereEinen Ort dieses Namens gibt es nicht, vielleicht ist das Dörfchen Boissière südwestlich von Nîmes und östlich von Sommières gemeint. hier nahe bei?«
»Nein, mein gnädiger Herr«, antwortete der Jüngling ganz unbefangen, »ich habe nicht die Ehre, von Euch gekannt zu sein; ich bin eines Einkaufes wegen zum erstenmal in dieser Gegend; ich heiße Montan, oder Wilhelm schlechtweg, wie mich die Nachbarn nennen und mein Vater, der die Mühle in dem tiefen Thale hinter Saumière hat.«
»Also ein löblicher Müllerbursch!« sagte der Pfarrer. »Das ist Euch nicht an der Wiege gesungen, daß Ihr einmal in solcher Gesellschaft speisen solltet.«
»Nein, wahrlich nicht«, sagte der Müller bewegt, »als ich hier vor dem Hause stand, dacht' ich nicht, eine solche Aufnahme zu finden, wie man wohl in der Heiligen Schrift von den ehrwürdigen Erzvätern liest; ich glaubte nicht, einen solchen Edelmann kennen zu lernen, der in meinen Geist und Sinn das hohe Bild von Abraham oder Jakob ausmalt.« Er trocknete seine Augen, und da man vom Tische aufstand, erhob er noch sein Glas Wein und sprach: »Nein, meine verehrten Herren, erlaubt mir noch dies Glas zur herzlichsten Danksagung und auf das schönste Glück unsers verehrten Wirtes und das dauernde Wohlsein seines edlen Hauses zu leeren.« Er trank, und der Alte verneigte sich nicht ohne Rührung, indes sich Edmund und der Pfarrer mit einem langen fragenden Blicke ansahen; der Jäger scharrte hinten aus und schmunzelte, und der Priester vergaß in seinem Erstaunen zu trinken.
Man war aufgestanden, und Eveline saß schon wieder neben ihrem Günstling im Winkel, zu dem sie sagte: »So ist es recht, man muß dem Edmund immer etwas abgeben, er ist zu hochmütig, wenn man ihn aufkommen läßt.« Der Vater näherte sich den beiden und sagte: »Meine Tochter, jetzt wird wohl deine Schlafzeit da sein.« – »Ja, Väterchen«, antwortete sie, ihm die Hand küssend, »ich bliebe gern noch hier, aber Ordnung muß sein, wie du immer sagst. Nicht wahr, ich bin artig und werde dir Freude machen? Das wäre gewiß recht unartig und würde dich kränken, wenn ich wie so viele Kinder im Lande auch zum Propheten würde.«
»Gott segne dich, mein Herz«, sagte der Alte und legte die Hand auf ihre Stirn; »geh schlafen, und Ihr, mein Freund, setzt Euch und ruht noch«, indem er dem Müllerburschen die Hand drückte. Eveline, als sie diese Freundlichkeit ihres Vaters sah, kehrte schnell um und fiel dem Jüngling um den Hals, indem sie ihm einige Küsse gab; dann trat sie zwei Schritte zurück, verneigte sich zierlich vor ihm wie eine Dame, winkte mit der Hand und sagte: »Auf Wiedersehen!« Nun folgte sie dem Bedienten, der sie der Wärterin übergab.
»Da Ihr aus der Gegend von Saumière seid«, wandte sich der Pfarrer zum jungen Müller, »so ist Euch gewiß der Einsiedler bekannt, der jetzt Anführer eines Trupps gegen die Kamisards ist.«
»Jawohl«, sagte der Jüngling, »seine Klause steht in einem Felsenthale, das nur durch eine hohe Steinwand von unserer Mühle geschieden ist. Wir besuchten ihn manchmal an Feiertagen, wenn das Thal von unserer Seite zugänglich war. Er ist ein großer starker Mann mit greisem Bart und großen grauen Augen; er schien fromm und still, bis ihn der Krieg jetzt wieder zum Soldaten gemacht hat. Man erzählt unerhörte Grausamkeiten von ihm; er soll das Mitleid nicht kennen und seine Freude am Würgen haben; aber jetzt haben sie ihm das Handwerk gelegt.«
»Ist er tot?« fragte der Parlamentsrat.
»Das nicht«, fuhr der junge Mensch fort, »aber ich habe mir drüben an der VidourlaVidourle, Fluß im Departement Gard, Arrondissement Le Vigan und Nîmes, mündet westlich vom Rhône in den Golf du Lion. sagen lassen, daß er gestern von Cavalier total geschlagen sei, und daß, wenn er irgend seinen Vorteil versteht, er wohl wieder in eine Zelle hineinkriechen muß, denn das gemeine Volk wird sich ihm nun wohl nicht wieder vertrauen, da sie sehn, daß er das Handwerk nicht versteht.«
»Ist doch Kapitän gewesen«, sagte der Jäger.
»Der Streit mit den Rebellen«, sagte der Pfarrer, »ist aber eine schwierige Sache, da reicht der Mut und die gewöhnliche Disziplin eines Soldaten nicht hin. Unser Marschall Montrevel möchte sich vielleicht lieber mit Eugen und MarlboroughPrinz Eugen von Savoyen (1663–1730), kaiserlicher Feldherr, und Marlborough (1650–1722), Feldherr der Engländer, berühmt durch ihre Siege über die Heere Ludwigs XIV. als mit diesem Lumpengesindel schlagen.«
Das Feuer wurde von neuem aufgeschürt; der Vater setzte sich in einen Sessel, indes Edmund im Saale unruhig auf und nieder ging; der Pfarrer rückte seinen Stuhl dem Parlamentsrat näher und sagte: »Der gnädige Herr leiden wohl zuweilen am Podagra im linken Fuße?«
»Woher schließen Sie das?« fragte der Alte; »mir scheint das Bein eben nicht geschwollen, obgleich Sie richtig geraten haben.«
»Die Geschwulst«, fuhr der Prediger fort, »ist freilich fast unmerklich, aber dadurch, daß Sie oft mit diesem Fuße sanfter und leichter auftreten, wahrscheinlich, ohne es zu wissen, immerdar, hat sich im Verhältnis zum rechten dieser Knöchel etwas mehr eingezogen und hat also auch notwendig die Kraft des andern nicht.«
»Das ist sehr fein beobachtet«, sagte der Rat.
»Mein gnädiger Herr«, erwiderte der Pfarrer, »es ist unglaublich, wie die Natur in allen ihren Hervorbringungen konsequent und verständig ist. Auch im geringsten Teil sie beobachten, ist lehrreich, wenn es auch dem Ungeübten lächerlich erscheinen mag. Vor mehr als hundert Jahren hat der Neapolitaner della PortaGiambattista della Porta aus Neapel (1540–1615) berühmter Physiker und Polyhistor, Forscher in der »natürlichen Magie«, Vorläufer der Lavater und Gall, suchte die innere Beschaffenheit des Menschen aus seinem Äußern zu beurteilen. Hauptwerke: »Magia naturalis«, »De humana physignomia« und 8 Bücher »Phytognomonica«. ein gutes Buch über die Physiognomien geschrieben und die menschlichen mit den tierischen verglichen; man hat schon im frühen Altertum versucht, aus dem Antlitz die Tugenden oder Laster und die Eigenschaften des Gemütes zu lesen. Glauben Sie mir, wenn ich meine ganze Muße darauf wenden könnte, ich traute mir, es dahin zu bringen, aus einem Schuh oder Stiefel, der eine Zeitlang getragen ist, viele Fehler oder Besonderheiten des Eigentümers zu entziffern.«
»In der That?« rief Herr von Beauvais lachend.
»Es verrät sich in dem Kleidungsstücke, wenn man es genauer betrachtet, der hastige oder stockende Gang; das Einknicken, das Schieftreten bei Frauenzimmern ist gewiß sehr bedeutend; ein gewisses Ablatschen, ein hoffärtiges Niedertreten der Ferse, ein affektiertes und eitles Wegschleifen der Spitze, ein charakterloses Zittern und ZwinkelnZucken des Fußes, wodurch der Schuh alle Form verliert; die Eigenschaften abgerechnet, die sich schon aus dem hohen und niedern Spann oder aus den Plattfüßen prognostizieren lassen. Aber nun gar die Beine! Hat man diese in Natura vor sich, da kann man kaum irren, um Stand und Gewerbe oder Lebensweise zu finden; so gibt es Schneider- und Bäckerbeine, die unverkenntlich sind, Infanteristen- und Kavalleristenbeine, Weber- und Tischlerbeine und dergleichen mehr.«
»Das sind höchst interessante Beobachtungen«, sagte der Rat; »doch wagten Sie es wohl zum Beispiel von der frühern Lebensweise meines Franz etwas aus seinen Beinen herauszudeuten?«
»Aus meinen Beinen?« rief der alte Diener, der noch mit Abräumen beschäftigt war. »Hier sind dieselben, Herr Pfarrer.«
»Bückt Euch ein wenig – nun geht dort hin – kommt wieder – stellt Euch ganz aufrecht – Herr Parlamentsrat, ich möchte darauf schwören, daß Ihr Franz in der Jugend und noch wohl tief ins Mannesalter hinein ein Seemann gewesen ist.«
Der Diener sah den Geistlichen verblüfft an, und der Herr von Beauvais sagte: »Sie haben es getroffen, geistlicher Herr, aber woran erkennen Sie es?«
»Kein Seemann«, sagte dieser, »verliert jemals ganz den gespreizten und etwas gebückten Gang, den er sich auf dem Schiffe angewöhnt; er senkt im Gehn das Kreuz und behält zeitlebens ein gelindes Taumeln.«
Als der zweite Diener sich näherte, rief der Geistliche sogleich: »Bemüht Euch nicht weiter, man sieht auf einen Büchsenschuß weit sogleich, daß der gute Mann in seiner Jugend ein Schneider gewesen ist, ja daß er gewiß noch jetzt die Beschäftigung treibt, denn die zurückgeschlagenen Schienbeine geben es deutlich kund. – Ihr seid also ein Weidmann (indem er sich zum stehenden Jäger wandte), es muß wohl so sein, obgleich ich Euch eher für einen Soldaten und dem Auge nach für einen ContrebandierSchmuggler. genommen hätte. Indessen – was ist denn das mit dem rechten Knie? Vom Messedienen habt Ihr es gewiß nicht, woher kommt denn hier die kleine Erhöhung? Solltet Ihr denn wohl gar die seltsame Gewohnheit angenommen haben, beim Schießen aufs rechte Knie zu fallen?«
»Herr Pfarrer«, rief der Jäger aus, »Sie mögen wohl selber ein Stück von einem Hexenmeister sein, so haben Sie's getroffen. Von Jugend auf hab' ich nie anders schießen können als knieend; läuft mir ein Hase auch vor der Nase vorbei, im Stehen treffe ich gewiß nicht, ich muß mich erst niederwerfen. Hab' ich doch von meinen Kameraden in allen Zeiten so viel deshalb leiden müssen.«
»Übrigens habt Ihr«, fuhr der Pfarrer fort, »Bergbeine und müßt aus den hohen Cevennen oder den Pyrenäen gebürtig sein; auch hat Euer Auge den Charakter eines Bergbewohners, der an das Fernsehen gewöhnt ist.«
»Richtig«, sagte der Jäger, »ich bin da oben aus Lozère,Montagne de la Lozère mit dem Pic de Finiels, einer der rauhesten und höchsten Teile der Cevennen, zwischen dem obern Tarn einerseits und dem obern Lot und dem Altier anderseits. aus dem wildesten Gebirge.«
»Nun, mein junger Freund«, wandte sich der Beinforscher an den jungen Burschen – »Ihr wollt ein Müller sein und habt keine Müllerbeine, wie geht denn das zu? Seht, von dem Tragen der Säcke senkt sich früh des Müllers Rücken und wird breit und rund, die Hauptlast aber drückt auf die stützenden Waden, diese und die Sehnen der Kniekehle werden unverhältnismäßig stark; dies sind aber bei Euch grade die schwächsten Teile; ebenfalls sind die Knöchel nicht groß genug: hier fehlt Summa Summarum der Müllercharakter, denn meine Wissenschaft kann nicht trügen.«
»Da kann ich Ihnen nicht helfen, mein Herr«, sagte der Jüngling verdrüßlich, »denn ich bin und bleibe doch nun einmal, was ich bin.«
»Meinethalb«, eiferte der Kritiker, »ich will Eurer Müllerehre auch gar nicht zu nahe treten, Ihr mögt wohl so ein weichliches verzogenes Muttersöhnchen sein, dem sie nie viel haben aufsacken dürfen; auch habt Ihr in Blick, Wange, Haar ganz den Mehlcharakter, die Stimme klingt auch nach der MehlglockeIn alten Mühlen zwei mit ihren Spitzen aneinander stoßende, glockenförmige Hohlgefäße, aus deren oberem das Mehl beim Mahlen langsam in das untere sickert. und dem Aufschütter; aber wenn ich Eure Kniee betrachte, so sind es Bäckerknie, die werden so innen zusammengedrückt vom Ausholen und Einschieben des Brotes, wo der Mensch sich in der Arbeit und bei der Ofenhitze spreizt und auf die Knie stützt. Den sonderbarsten Widerspruch finde ich aber in Euern Schenkeln, denn es sind die eines Reiters, und der viel zu Pferde sitzt; so hat auch Euer Auge den Soldatencharakter, es blitzt schnell hin und her und steht nicht ruhig, wie es beim Müller muß, der sein Geschäft abwartet. Kurz, Ihr seid mir in Beinen und im ganzen Wesen ein konfuser junger Mensch.«
Der junge Müller wurde rot vor Verdruß, und der Parlamentsrat suchte mit Scherz und Lächeln die Sache völlig zu beseitigen – als alle heftig durch ein so gewaltsames Schlagen an das vordere Thor des Hauses erschreckt wurden, daß selbst Edmund aus seinen Träumereien auffuhr. »Um Gotteswillen laßt ein«, brüllte eine Stimme von außen; »macht auf, im Namen des Himmels!« Auf einen Wink des Rates, der sich schnell gefaßt hatte, stürzten die Diener hinaus, alle sahen sich schweigend an, die Riegel des Hauses klirrten zurück, und nach dem Saale polterten und trabten gewaltige Schritte. Die Thüren gingen auf, und zwischen den Kerzen der Diener schritt eine gewaltige, hohe und breite Figur herein, mit greisem Haupthaar und langem greisen Zwickelbart, einen so gewaltigen Stab in der Hand, daß man ihn wohl ohne Übertreibung eine Keule nennen mochte; ein langes, breites Schwert schleppte ihm klirrend nach, und in einem schwarzen ledernen Gurt hatte er vier Pistolen. Im Hereintreten näherte er sich dem Wirte und sprach mit einer tiefen, aber wohlklingenden Stimme: »Verzeihen Sie, Herr Baron, den Schrecken, den ich Ihnen machen mußte; die finstere Nacht hat mich überrascht, ich war verfolgt und in Gefahr, und so wagte ich, Ihr Haus, etwas ungestüm zwar, um ein Obdach anzusprechen.« – »O, Herr mein Gott, das ist ja der entsetzliche Eremit!« rief der Müller mit heiserer Stimme. – »Jawohl bin ich der«, antwortete die Riesengestalt, »aber warum entsetzlich, mein junger Gimpel? Ich darf mein Gesicht allenthalben zeigen, naseweiser Bursche! Und hab' es andern Physiognomien als der Eurigen schon entgegengehalten, – Verzeihung! Herr Baron, wenn mich bei dem Benehmen dieses geringen Knechtes der Unwillen überraschte. Ja, mein geehrter Herr, ich bin derjenige, der unter dem Namen des Eremiten in diesen Gegenden nicht unbekannt ist. Auch in dieser Gestalt wollt' ich meinem Gotte Dienste thun, aber ein neidisches Geschick ist mir entgegen. Heut' ist mein Trupp gänzlich zerstreut worden, nur durch die größte Anstrengung habe ich mein Leben retten können, und noch in der Finsternis waren meine Verfolger hinter mir; sie können nicht weit sein, mein Leben ist verloren, wenn Sie mir Ihren Schutz versagen.«
»Was ich vermag«, sagte der Parlamentsrat, »ist zu Ihren Diensten; mein Haus, meine Dienerschaft und ich werden Sie schützen, soviel wir vermögen, denn das fordert, außer den Pflichten der Menschlichkeit, zugleich meine Schuldigkeit gegen König und Land.«
»Sie sind ein Mann von Ehre«, sagte der riesenhafte Mann, »wie ich es auch nicht anders erwarten konnte.« – Auf die Einladung setzte er sich zum Hausherrn und nahm von dem Wein und den Erfrischungen, welche ihm die Diener boten. »Ich hoffe«, sagte der Eremit, »das Gewitter und die plötzlich einbrechende Finsternis haben ihnen meine Spur genommen, aber jede Minute des heutigen Tages war eine Lebensgefahr für mich. Drüben rechts bei NagesDorf zwischen Sommières und Nîmes. ist das Korps der Kamisards völlig aufs Haupt geschlagen worden, ich kam von der Vidourla herüber, um meinen Feinden den Garaus zu machen; ich treffe auf ein Korps von ihnen, das auf der Flucht begriffen ist, sie sammeln sich, statt zu erschrecken, und mir alle wie ebenso viele Teufel entgegen; ihre Zahl war nicht groß, aber wie ein Zauber geht mit ihnen; meine Leute ergreift ein panischer Schrecken, sie drängen sich, sie kommen an die Vidourla, hinter ihnen der wütende Feind; nun bricht das Gewitter herein, von allen Bergen stürzen Wasser, der reißende Bergstrom schwillt zu einer furchtbaren Höhe, er durchbricht seine Ufer, und Tote, Verwundete und Lebende seh' ich sich in den Fluten wälzen; ich schwinge mich einen Baum hinauf, von da einen kahlen Fels hinan; hundert und mehr Röhre sind nach mir gerichtet, meine Doppelflinte hilft mir, soviel es möglich ist, mein Schwert ist mir unnütz, der Sturm droht mich hinunterzuschleudern; ich klimme dem Winde und den Wasserbächen entgegen, das Gestein ist so glatt wie Eis gewaschen, doch gelingt es mir endlich, in dem herunterschwimmenden Gerülle Fuß zu fassen; ich tappe mich höher, indem Blitze und Kugeln mir nachspringen und mir leuchten und mich blenden. So komme ich in einen Weingarten, jenseit muß ich die Mauer erklettern; hier finde ich zwei Wagehälse, die mir vorgeklimmt waren, sie sinken von meinem Degen, ein Wald nimmt mich auf; aber bald spur- und pfadlos steh' ich auf einer Felsenplatte, und nirgend Weg und Steg, Abgründe unter mir: soll ich zurück, soll ich hinab? Ich gleite nieder, das Dunkel ließ mich nichts unterscheiden; nach ziemlichem Sturz fühl' ich Gesträuch unter mir, ein großer Schäferhund von der grimmigsten Art will mich niederreißen, kein Hirt zu sehn und zu errufen, ich muß mit der grimmigen Bestie wieder kämpfen; nun ist es völlig Nacht, da ist mir, ich höre Glockenton, ich tappe mich dem Schalle nach; bald darauf vernehme ich Menschenstimmen: sind es Feinde oder Freunde? Indessen ich drauf zu, die Pistolen gespannt, das Schwert gezogen – ›Wer da?‹ klingt es mir plötzlich fürchterlich am Ohr; ich erkenne: es sind die Kamisards; da ich nicht Antwort gebe, wird gefeuert, und beim Blitz seh' ich wohl zehn von meinen Feinden am Eingang eines Hohlweges stehen. Mir blieb keine Wahl, ich gehe auf sie zu, einer stürzt vom Pistol getroffen, den zweiten wirft mein Säbel nieder, die Dunkelheit des Hohlweges nimmt mich auf, und mir bleibt nichts als Flucht, so schnell, als mein Alter und meine Erschöpfung gestatten wollen, sie schießend und schreiend hinter mir; so endlich gerate ich, wie ich merke, auf eine Heerstraße, beim Wetterleuchten seh' ich einen Kreuzweg, es schimmert fern herüber wie Scheunen und Gebäude, ich renne nach dieser Richtung und gerate endlich an das Thor Ihres Hauses.«
»Mein Herr Kapitän«, sagte der Rat, »Ihrem Alter wird nach dieser Erschöpfung Ruhe nötig sein, legen Sie sich nieder, mein Herr, und die Sicherheit, die Ihnen mein Haus gewähren kann, verspreche ich Ihnen noch einmal.«
»Der Himmel lohne Ihnen«, sagte der Kapitän; »ich sehe diesen Unfall für einen Wink des Schicksals an, daß ich die Waffen wieder niederlegen soll. Ich werd' es thun und in eine Klause oder ein Kloster zurückkehren. Wäre Cavalier bei dem Trupp gewesen, so wär' ich ihm nicht entronnen, denn er ist der Besonnenste, Kühnste und wahrhaft Soldatenmäßige unter den Rebellen.«
»Er soll gefangen sein«, sagte der Jäger.
»Dann ist der Krieg auch aus«, rief der Eremit, »denn ohne ihn können sie nichts vornehmen: dieser gewaltige Mann ist allein die Seele ihrer gewagten Unternehmung, Die andern verstehn wohl zu morden und zu sterben, aber nicht den Krieg zu führen. Ich wollte, er wäre gestorben, denn wenn sie ihn gefangen haben, so wird sein Schicksal ein erbarmungswürdiges sein.«
Während dieser Reden stand der Geistliche, der sich bis dahin so wichtig gedünkt hatte, wie verloren und vernichtet in dem Anblick des so viel größern Abenteurers; er hätte ihm gern durch eine Umarmung, wenigstens durch einen Händedruck seine Verehrung kundgethan, aber er wagte nicht, dem leicht Erzürnten durch irgend eine Vertraulichkeit zu nahen.
Der große Mann schritt musternd durch den Saal und betrachtete die Anwesenden. »Zwei Bediente, vielleicht noch ein Kammerdiener und Jäger,« murmelte er vor sich, doch laut genug, »werden freilich keinen großen Widerstand leisten können, fest ist das Haus auf keine Weise, im Fall man uns überfiele, dann noch der junge Herr, hier noch eine Art Jäger, der Schwarze scheint auch in der Not seinen Mann zu stehen, doch das junge Fäntchen (indem er prüfend den Müllerburschen betrachtete), das Milchbärtchen, ist ganz überflüssig. Gott wird es fügen, daß wir keinen so harten Stand haben.«
Er nahm hierauf von dem Hausherrn Abschied, auch die übrigen begrüßten den Rat, um sich zur Ruhe zu begeben, die Diener leuchteten, und nur Edmund blieb mit dem Vater im Saale zurück. Der Regen hatte aufgehört, aber die Nacht war finster und der Himmel ganz mit Wolken bedeckt. Vater und Sohn gingen lange schweigend auf und ab; endlich sagte der Rat: »Willst du dich nicht auch niederlegen, mein Sohn?« – »Ich bin noch zu aufgeregt«, antwortete dieser; »und haben Sie nicht gehört, wie unser letzter Gast befürchtete, wir könnten wohl gar noch unvermuteten Besuch erhalten?« – Man schwieg wieder, aber nach einer Pause fing Edmund an: »Verzeihen Sie, mein Vater, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich Sie heut' nicht verstanden, daß ich Sie nicht als den Ehemaligen erkannt habe. Daß Sie diese Leute aufnahmen und gegen das Unwetter schützten, war wohl sehr natürlich, aber wie Sie zu der Laune kamen (oder wie soll ich es nennen?), sie ohne Ausnahme an Ihrem eigenen Tische essen zu lassen, weiß ich mir nicht zu deuten. Schon oft haben unsere Leute Domestiken bewirtet; und welch Gesicht ich machen soll, wenn dieser schielende Jäger mir einmal wieder am Tisch des Herrn von Basville aufwartet, weiß ich nicht; und was wird der Intendant, was der Marschall, die es doch gewiß erfahren, dazu denken oder sagen? Wie soll ich's nur erklären, daß Sie solchem Müllerjungen nicht nur mit Güte und Herablassung, sondern selbst mit herzlicher Vertraulichkeit begegneten, der zu geringe zu Ihrem Aufwärter ist? daß Sie es duldeten, daß meine Schwester, die sich freilich immer ungezogen zeigt, mit ihm so auffallend tändeln und spielen durfte?«
»Mein Sohn«, sagte der Alte mit einiger Empfindlichkeit, »es scheint wohl, daß, je älter ich werde, ich immer weniger die Art finde, es dir recht zu machen: ich könnte sagen, gewöhne dich an meine Weise, so wie ich ja auch die deinige mit Liebe ertragen muß, wenn ich sie oft genug nicht begreife. Daß ich mich gegen dich gewissermaßen entschuldigen muß, hättest du mir heut' wohl am ersten erlassen können, da mich an diesem Tage unser Gespräch in eine Bewegung versetzt hat, die ich lange nicht empfunden habe. In dieser tiefen Rührung kam es mir nicht darauf an, die gewöhnliche Etikette des Lebens zu beobachten, und da ich nicht vermeiden konnte, den Geistlichen am eigenen Tisch zu bewirten, so nahm ich die andern beiden Armen zu meinem Troste noch hinzu, um mich nicht erniedrigt zu fühlen; und was jenen Müller betrifft, der sich vor allen deinen Haß und deine Verachtung zugezogen hat, so war mir sein kindliches Gesicht und herzliches Wesen lieber und ehrte meinen Tisch mehr, als es dein Marschall Montrevel nach meinem Gefühle jemals könnte. Der Zufall, das Wetter führten uns zusammen; die Zeit ist auch so gestaltet, daß wir noch nicht wissen, wo wir einmal bei den Elendesten Zuflucht suchen müssen. Wenn du aber jenen Jüngling so verachtest, so begreife ich das am wenigsten, daß du ihn so hoch würdigen konntest, mit ihm zu streiten, ja den Streit zu suchen. Laß mir also in Zukunft meine Weise.«
Man setzte sich, und da Edmund schwieg, sagte nach einer Pause der Rat: »Was dünkt dir denn von diesem Geistlichen und seiner Weise? Diese, siehst du, sollen das Volk lenken und veredeln; das arme Volk! Diese werfen sich zu Streitern und Mördern auf, so wie dieser unglückliche Koloß. Daß mein Haus diese aufnehmen muß, das ist es, was mich gedemütigt hat.«
»Nicht alle Streiter für eine gute Sache können selber gut sein«, sagte Edmund.
»Nun lege dich nieder, mein Sohn«, sagte begütigend der Rat. »Ich bleibe noch auf, ich bin zu bewegt, um schlafen zu können, ich lese noch ein Weilchen, dann wird sich mit abgekühltem Blute die Ruhe wohl finden.«
Edmund umarmte seinen Vater und ging dann zu seinem Zimmer hinauf. Sorgend sah der Alte ihm nach und überdachte die Zukunft des Sohnes; er versank in Trauer und tiefes Sinnen, nirgend schien ihm Hoffnung oder Hülfe entgegenzukommen. Er nahm das Buch vor, um seine Lebensgeister zu beruhigen, er suchte sich zu sammeln; er dachte über den sonderbaren Trieb der Seele nach, sich zu zerstreuen am Tiefsinnigsten, um sich aus seinen eigensten und nächsten Gefühlen zu entfliehen und sich selbst im innersten Heiligtum des Geistes wiederzufinden. So, ohne den Platon zu lesen, den er vor sich aufgeschlagen hielt, versank er immer mehr in ein beschauliches Grübeln über die wunderbare Doppelheit der Seele und über den Geist, der sich selbst beobachtet und seine Art und Eigenschaft begreift, der im Denken zugleich diesem Denken zusieht und es prüfend erwägt, Schauspieler und Zuschauer zugleich ist und nur in diesen Momenten sich recht wahrhaft seiner bewußt wird.
Er wußte nicht, wie lange er in diesem verlorenen Sinnen zugebracht hatte, als er aufsah und mit Erstaunen seinen Sohn wieder neben sich bemerkte. »Du bist noch hier, Edmund?« sagte er verwundernd. – »Nein, mein Vater«, flüsterte der Sohn, »ich habe wohl zwei Stunden geruht, aber als ich jetzt aufwache, höre ich unter meinem Fenster ein leises Sprechen und Bewegen, wie von vielen Menschen; ich nähere mich, aber kann nichts verstehen, doch scheint es mir, als versammele man sich von allen Seiten um unsre Wohnung. Ich habe in Eil' alle unsre Gewehre geladen und im stillen die Bedienten geweckt; die Fremden schlafen noch, sie müssen aber auch zur Verteidigung helfen.«
»Wenn es so ist und du irrst dich nicht«, sagte der Vater, »so versprich mir nur, dich nicht zu übereilen; laß uns gefaßt und ruhig bleiben, denn dadurch ist man oft imstande, selbst dem Ärgsten vorzubeugen; aber ich habe wohl erlebt, daß aus Lust an der Gefahr, aus heftiger Tapferkeit, die ebenso leicht wie die Feigheit den Kopf verliert, man sich Unheil und Vernichtung zuziehn kann. Wir wagen uns nicht allein, du mußt an deine unmündige Schwester denken. Jetzt wünsche ich, daß ich Soldat gewesen wäre, um der Verwirrung, wenn sie einbrechen sollte, noch sichrer entgegentreten zu können. Aber wir werden thun, was die Ehre fordert; doch mehr als die Gefahr selbst fürcht' ich deine übertriebene Heftigkeit.«
Indem kam ein Murmeln und zugleich Fußtritte näher; man hörte unterschiedliche Stimmen, man vernahm ein Getöse von der Seite der Straße und des Gartens, so daß es schien, man wolle alle Ausgänge besetzen. Gleich darauf erscholl ein Klopfen an der Thür. Die Diener kamen herbei, aber auf ein stilles Zeichen des Hausherrn hielten sie sich ruhig; sogleich wurde das Getümmel lauter, und verschiedene Stimmen erhoben ein unverständliches Geschrei; Edmund wurde heftig, aber der Vater winkte; doch bald erscholl bestimmter und deutlich der Name des Eremiten aus dem verwirrten Getöse. »Sie fordern ihn!« rief Edmund; »es sind die Kamisards!« Das Geschrei wiederholte sich, man klopfte lauter, oben wurde es unruhig, man hörte schon in der Verwirrung das Geschrei von Weibern und das Weinen des Kindes; der Vater ließ alle Gewehre herbeibringen, er verteilte sie eilig unter die Diener, als zitternd und geisterbleich die große Figur des Einsiedlers hereinwankte, nur halb bekleidet, ihm folgte der Pfarrer, verwirrt und stotternd; beide faßten die Hand ihres Wirts, und indem man draußen Gewehre abschoß, heftiger gegen das Haus schlug und gewaltsamer den Einsiedler forderte, schrie dieser: »O Himmel! Barmherzigkeit! du hast meine Gelübde gehört, daß ich mich künftig des Blutes enthalten will, aber es ist zu spät, ich bin ein Opfer ihrer Rache!« Mit diesen Worten stürzte die ungeheure Figur zu Boden, ganz ohne Fassung und verzweifelt; das Kind flog mit der Wärterin herein und schmiegte sich laut weinend und verstört an den Vater; dieser suchte zu trösten, aber man sah in seinem blassen Antlitz, wie er selber nur wenig Hoffnung hatte. »Ich schütze Sie, solange ich vermag«, rief er, »aber die Menge scheint zu groß, mein Haus ist nicht zu verteidigen.« – »Feuer! Feuer!« riefen von draußen hundert Stimmen zugleich, und durch die Fenster sah man Brände leuchten; zugleich fühlte man das Thor des Hauses von großen Bäumen erschüttern, die wie Mauerbrecher dagegengeworfen wurden. »O Himmel!« rief der Pfarrer, mit den Zähnen klappernd, »hätt' ich doch nur den zehnten Teil von meinem damaligen Mut – aber ich bin darauf gar nicht vorbereitet, ich habe schon etwas geschlafen, da ist der Geist völlig abgespannt,« Er nahm den Hut vom Kopf: »Wie bin ich doch so unhöflich!« seufzte er; es war aber fast lächerlich, selbst in diesem Augenblick, daß er unter diesem noch die Schlafmütze trug, ohne es zu wissen, und in dieser nach allen Winkeln des Saales umherirrte, den Hut in der Hand. Jetzt schlich der Jäger herein, nahm seine geladene Flinte vom Gesims und stellte sie leise in den Kamin. »Wohin?« schrie ihn Edmund an; »heraus mit der Büchse, ihr alle müßt euch wehren!« – »Unmöglich«, stotterte der Mensch, »geben Sie den alten Bösewicht heraus, sonst ist das ganze Haus verloren, ich kenne die Kamisards.« – »Schurke!« tobte der Jüngling, »wo ist der Müller? Noch im Bett? Ihr alle, ihr Elenden, sollt euch mit mir verteidigen, selbst der weichliche, ohnmächtige Bube soll mit uns gemeine Sache machen.« Der Eremit betete am Boden, alles schrie im Saale durcheinander, aber kein Wort vernehmlich; alles ging in dem Sturm unter, der sich von draußen immer gräßlicher erhob. Jetzt brachen Scheiben, das Thor krachte und schien nachzugeben, als mit fast sorgloser Miene der junge Müllerbursche hereintrat, indem er sein Halstuch unbefangen zuknüpfte und rief: »Lassen Sie mich hier zur Hinterthür hinaus, ich will mit den Rasenden sprechen; – den Schlüssel her, schnell!« Dies Letzte sprach er wie im gebietenden Tone. Der Alte sah ihn an, nahm den Schlüssel von der Wand und eröffnete ihm selber die Thür. Der Jüngling ging um das Haus, nach der andern Seite. Edmund hatte sich mit angelegter Büchse dem Thor gegenübergestellt, um in den Haufen zu feuern, sowie es diesem gelänge einzudringen. Plötzlich erhob man ein ungeheures Geschrei, das wie ein Freudejubeln erklang und, sich wiederholend, durch alle Scharen rund um das Haus lief. Hierauf ward alles plötzlich still; doch nach einer Weile rief eine tiefe Stimme: »Er muß heraus, der Mordknecht, hier auf dieser Stelle soll er zerrissen werden!« – »Barmherziger Gott«, schrie der Eremit vom Boden auf, »das ist der entsetzliche Catinat, der kein Erbarmen kennt!« – Man hörte nach einigem Wortwechsel die hohe und fast heisere Stimme des Jünglings: »Schweigt alle!« rief er in großer Heftigkeit; mehr konnte man nicht verstehen, weil sich ein undeutliches Gemurmel erhob. Das Kind sagte, indem es unter den ganz aufgelösten, blonden, langen Haaren herausblickte: »Gebt acht, mein Davidchen wird den großen Goliath da noch erretten.« Die Scharen draußen ordneten sich und zogen ab, der Jüngling kam erhitzt und fast atemlos wieder zur Gartenthür herein; er ging zum Eremiten, der noch immer am Boden lag, sah ihm starr ins Auge, faßte ihn dann an der Brust und sagte: »Steht auf, Gott hat Euch heut' noch verschont, Ihr seid sicher, begebt Euch zur Stadt oder nach Hause.« Dann ging er zum Jäger und sagte ihm einige Worte ins Ohr, worauf dieser plötzlich entsetzt in die Knie stürzte und: »Barmherzigkeit!« rief. »Du schweigst!« sagte der junge Müller heftig. Der Pfarrer machte Miene, als wenn er die Kniee des wunderbaren Jünglings umfassen wollte. Dieser wandte sich jetzt zu dem Herrn des Hauses und sagte im weichen Ton: »Ehrwürdiger Mann, ich schätze mich glücklich, daß ich Sie habe schützen können; allerdings waren es einige Kamisards, hauptsächlich aber ein Haufen von trunkenen Müllerknechten aus meiner Gegend, die sich mit anderm rohen und berauschten Volke zusammengefunden hatten; es war ein Glück, daß ich viele von ihnen kannte, so ließen sich die wenigen Kamisards auch beschwichtigen. Scheint es doch fast mehr wilde Lust als Bosheit gewesen zu sein. Empfangen Sie meinen Dank für Ihre edle Gastfreiheit, würdiger, verehrter Mann.« Er neigte sich, der Alte schien fragen, schien ihn umarmen zu wollen, so zweifelnd ging der Augenblick vorüber, und der Fremde war schon in der Thür. – »Adieu, David!« schrie das Kind; da sah er noch einmal zurück, ernst, fragend, und erhob dann Augen und Hände wie betend, indem er den Saal verließ.
Die Zurückgebliebenen sahen sich an, als wenn sie ein Wunder erlebt hätten. Das erste Morgenlicht dämmerte schon, und man sah nun den dunkeln Haufen über den Berg hinwegziehen. Edmund stand tiefsinnig, und der Alte gab sein Gewehr dem Diener, um es fortzubringen, nachdem er vorher das Schloß in Ruhe gesetzt hatte. Beschämt nahte sich der Eremit, es war, als wäre er viel kleiner, als er gestern erschien. »Ich verlasse Ihr Haus, Herr Baron«, sagte er kaum vernehmlich, »mit zerknirschtem Herzen; fast hätte ich den Unsegen meiner Verirrung über Ihr ehrwürdiges Haupt gezogen, aber der Herr hat es abgelenkt.« Er ging hinaus auf den Weg nach Nismes; der Jäger hatte sich schon fortgeschlichen. »Herr Parlamentsrat«, rief der Pfarrer, »Sie haben uns heute nicht im besten Lichte gesehen; nun alles glücklich vorüber ist, bin ich wieder ein Mann, der Mut sammelt sich wieder bei mir; ich könnte Ihnen jetzt zeigen, daß ich keine Memme bin, wenn ein Paar der verruchten Kerle zurückkehren wollten. Empfangen Sie meinen Dank, verehrter Herr, sowie Sie, mein junger – aber, was seh' ich?« Jetzt wurde er erst gewahr, daß er mit dem Hut in der Hand höflichen Abschied nahm und noch die Schlafmütze auf dem Kopfe trug – er riß diese beschämt herunter und steckte sie in die Tasche – »das ist noch das Ärgste von allem!« sagte er, im ganzen Gesichte rot, »da sieht man, wohin der vernünftige Mann in diesen verwirrten Zeiten kommen kann.« Er verbeugte sich noch einmal kurz und ging hinaus.
»Wer war dieser Jüngling?« rief der Alte. – »Wohl einer von den Verruchten«, sprach Edmund im heftigsten Zorn; »ich hätte vielleicht Gott und dem Könige einen Dienst geleistet, ihm noch diese Kugel nachzusenden!« – »Vater«, sagte das Kind, »glaube mir, der Engel Gabriel ist er gewesen, und Bruder Edmund wird sich noch bekehren und ihn ebenso liebgewinnen, wie ich ihn habe.« – »Geh wieder schlafen, Kleine«, sagte der Vater, »du bedarfst der Ruhe, armes Kind.« – »Das war keine gute Nacht«, rief Eveline; »nun, guten Morgen, Vater, sieh, es wird so schön hell.« Sie ging mit den weiblichen Dienstboten, und nur Edmund und der Vater blieben im Saale zurück. Lange waren sie stumm, endlich nahm Edmund sein Gewehr und sagte: »Was denken Sie von diesem allen und namentlich von diesem rätselhaften Burschen, der sich so unschuldig, so unbefangen anstellen kann?« – »Ich mag meine Gedanken nicht aussprechen«, antwortete der Vater, »sie möchten vielleicht zu abenteuerlich klingen. Du willst uns wieder verlassen, mein Sohn? Und kommst auch wohl nicht zu Mittage zurück?«
»Sie kennen«, versetzte Edmund, »meine Leidenschaft zur Jagd, meine Freude an den Bergen und Wäldern, die Natur erhebt uns über alle Leiden, sie stärkt unsre Gefühle, sie begeistert und gibt uns jene herrliche Kraft, die im gewöhnlichen Leben und in der Gesellschaft nur zu oft erlahmen will. Nach dem Gewitter bekommen wir heut' einen herrlichen Tag, ich will alles vergessen, was ich hier erlebt habe.«
»Bringen wir einen frommen, geläuterten Sinn«, sagte der Vater, »der Natur entgegen, so wird sie uns der heiligste Tempel, Psalmen und Lobgesänge tönen dann unsrer frommen Begeisterung. Aber ihre dunkeln Felsen und Wasserfälle, ihre wüste Einsamkeit, mit den schwarzen Wolkenmassen drüber brütend, ihr wildes Echo kann auch verstörte Sinne noch unruhiger aufregen, den tobenden Geist noch mehr reizen, denn sie antwortet nur in der Weise, wie man sie fragt.«
»Ich werde sie also auf meine Art zur Rede stellen«, antwortete Edmund halb trotzig, »Wald und Berge werden mich doch vielleicht eher als die Menschen verstehn.« Er verbeugte sich und ging durch den Garten, indem schon das Morgenrot hinter den Weinreben herabfunkelte. »Er geht doch wieder nach Alais hinüber«, seufzte der Alte, »und die wilde Begeisterung für Natur endet dann bei Lichtern im Saal, unter Kartenspiel und frivolem Gespräch und Witz. Wehe mir, daß ich so in ihm die Züge meiner Jugend entstellt und übertrieben verzeichnet wieder erkennen muß!«
Die Lichter brannten schon, als Edmund vor einem großen Hause stand, unschlüssig, ob er hineingehen sollte. »Sie hat wieder Gesellschaft, wie immer«, sagte er zu sich selbst, »und wie werde ich mich unter den geputzten Damen mit meinem bestäubten Jagdanzuge ausnehmen? Indessen sie ist gütig und nachsichtig, mein Weg ist weit, die Fremden sind es auch schon an mir gewohnt.« Er stieg hinauf und legte im Vorsaal Büchse und Jagdtasche ab. Der Diener eröffnete ihm das Zimmer, und er fand nur wenige Gesellschaft, die beiden alten Tanten des Fräuleins und einige jüngere Damen der Stadt an zwei Spieltischen festgehalten und auf ihre gewöhnliche Weise von einem alten Kapitän unterhalten. Man erzählte sich von der gestrigen Niederlage der Kamisards, und wie sie sich doch wieder gesammelt hätten, und ihre Hauptanführer entronnen seien. – »Wo ist das Fräulein?« fragte Edmund die Frau von Courtenai. – »Meine Nichte«, erwiderte diese, »ist drinnen, nicht wohl, wie sie sagt: sie hat einmal wieder ihre Launen, und kein Mensch kann mit ihr fertig werden; vielleicht können Sie sie erheitern, oder vielleicht ist sie auch verdrüßlich, daß der Herr Marschall nicht gekommen ist.«
Edmund ging durch das offenstehende Nebenzimmer in das erleuchtete Kabinett, wo Christine mit verweinten Augen auf dem Sofa saß; sie hatte nachlässig die Laute im Arm, als wenn sie spielen wollte, aber sie war so tief in Gedanken, daß sie geschreckt auffuhr, als Edmund sie begrüßte und sich nach ihrem Befinden erkundigte.
»Mein Fräulein, meine Teuerste«, rief dieser aus, »was ist Ihnen? So hab' ich Sie noch nie gesehen!«
»Nicht?« sagte Christine mit einem wilden Ausdruck und bitterem Lächeln, »und warum nicht? So sollt' ich wohl immer sein. Sie kennen mich nur nicht und verstehn mich nicht. Sie wollen mich nicht verstehn!«
Edmund trat verwirrt zurück. »Wie soll ich nur diese Worte deuten?«
»Wie Sie wollen, oder wie Sie können vielmehr.«
»Enträtseln Sie sich«, sagte der junge Mann; »Sie haben geweint, Sie scheinen krank.«
»Das alles ist wohl sehr wichtig, nicht wahr?« fuhr sie mit heftiger Bewegung auf.
»Habe ich Sie beleidigt?« fragte Edmund teilnehmend, »fast scheint es so. Sind Sie von mir gekränkt? Ich weiß mich nichts schuldig; wodurch, im Namen aller Heiligen?«
»Daß Sie ein Mensch sind!« sagte Christine, indem ihre blassen Wangen plötzlich mit dunkler Röte erglühten.
»Nun wahrlich«, sagte Edmund empfindlich, »dies Vergehn ist so neu, daß ich nichts darauf zu antworten weiß. Ist dies die liebenswürdige Christine von Castelnau, die so den Freund begrüßt, der –«
»Liebenswürdig!« rief sie mit großem Eifer – »was nennt ihr denn so, ihr Freunde? Das Schlechte, Armselige, Nichtsnutzige dieser Welt, womit wir unsern nackten Jammer wie mit zerrissenen Purpurlappen bedecken, von einer abgetragenen verblaßten Garderobe der Vorzeit, als es noch Kleider und Schmuck und Menschen gab. – Oder ist denn die Welt vielleicht immer so jämmerlich bestellt gewesen?« – Sie warf die Laute von sich, als wenn sie an ihr erschrecke. – »Das ist auch eine der kläglichen Angewöhnungen«, sagte sie, »daß wir klimpern und trillern und Gesichter ziehn, wenn uns das Herz brechen sollte, im Fall nur noch ein Stück von Herz in uns schlägt.«
»Sie sind krank«, rief Edmund aus, »so krank, daß ich sogleich zu unserm Freunde Vila laufen will –«
»Bleiben Sie«, sagte Christine, und indem sie noch stritten, fuhr schnell und mit großem Geräusch eine Equipage vor; im ersten Zimmer erhob sich alles, es war der Marschall von Montrevel, der in seiner Staatsuniform leicht und mit Grazie aus dem Wagen hüpfte, die Treppe hinaufsprang, und indem sich die Flügelthüren öffneten und im Zimmer Damen und Herren eine ehrfurchtsvolle Linie bildeten, sie alle mit herablassendem Anstande begrüßte. »Guten Abend, meine Damen«, sprach er gütig, »ich freue mich, Sie alle wohl zu sehen; mein Kapitän, Herr Rat, Ihr Diener; ach, mein junger Freund«, indem er sich zu Edmund wandte, »man sieht Sie fleißig hier; doch wo ist unsere liebe Wirtin?«
»Sie ist ebenfalls nicht weit«, sagte Christine, hervortretend. »Und wohl?« fragte der Marschall; »gewiß, diese schöne Heiterkeit und Grazie, diese himmlischen Talente, wie könnten sie anders? – Bitte sehr, sich nicht zu derangieren, Mesdames; wir setzen uns alle und spielen oder sprechen, wie es gut dünkt.«
Er legte Degen und Federhut ab und stellte mit verbindlicher Eile dem Fräulein selbst einen Lehnstuhl an das Kamin; er nahm ein Taburett und setzte sich zu ihren Füßen, Edmund lehnte hinter ihnen, und die übrige Gesellschaft begab sich wieder zum Spiel. »Zu Ihren Füßen, mein schönstes Fräulein«, fing der Marschall an, »muß ich die Ruhe und Heiterkeit wiederfinden, die mir heute entflohen ist: ja, dieser Tag ist einer der unglückseligsten meines Lebens!«
»Sind die Kamisards in Nismes eingedrungen?« fragte Christine.
»Das werden sie nie«, sagte der Marschall lächelnd, »dafür ist gesorgt; bald werden die Elenden ihr letztes Lied gesungen haben. Gestern sind sie so gut wie vernichtet worden, und wir hätten ihnen auch hier nahe bei Nages den Garaus gemacht, wenn nicht, wie immer, Verräterei und Bosheit unsere besten Bemühungen vereitelten.«
»Gewiß«, sagte Edmund, »wäre das Volk nur einig, sie zu vertilgen, so wäre das meiste geschehen.«
»Junger Mann«, fuhr der Marschall fort, »ich werde sie vernichten, auch ohne Beistand des Volkes; denn diese Kompanien, die sich von Bürgern und Bauern gegen sie gebildet haben, schaden mehr, als sie nützen, die Menschen verstehen den Dienst und den Krieg nicht, sie machen die Empörer stark und übermütig, nur der Soldat kann sie dämpfen. Wie schlecht ist es dem guten Einsiedler von Saumière bekommen, er soll völlig geschlagen worden und ertrunken sein.«
Edmund erzählte, was er von der Sache wußte, und der Marschall sagte lächelnd: »Ich kann mir die Angst des alten Burschen denken. Doch, um fortzufahren, wir hatten einen alten Kamisard bekommen, einen schielenden, glatzköpfigen Menschen, der zu uns übergegangen war, er kannte und wußte alle Schliche des Gebirges: ich denke, er nennt sich Favart; dieser versprach, uns den Anführer Cavalier und seinen vornehmsten Trupp zugleich mit dem Catinat in die Hände zu liefern; wir finden auch die Sache so, wie er sie angegeben hat, der Herr von Basville hatte aus einer Art von Gutherzigkeit den Elenden als Jäger bei sich in Dienst genommen, und sei es nun, daß er seine alte Anhänglichkeit an die Rebellen nicht hat überwinden können, sei es, daß er selbst nicht alles genau wußte: die Haupträdelsführer sind uns doch wieder mit einem großen Trupp entronnen, und Cavalier hat nicht fern von St.-Hippolite in den Bergen wieder einen bedeutenden Trupp unserer Leute geschlagen, wie ich soeben durch einen Kurier erfahren habe.«
»Den Favart kenn' ich«, sagte Christine, »er war lange in unsern Diensten, ein wilder, aber sonst ein braver Mensch; mich wundert nur, daß er seine Glaubensgenossen wieder hat verlassen können. Aber ist dies das Unglück, Herr Marschall, das Sie so beklagen?«
»Nein, schönes Kind«, sagte Herr von Montrevel, »dergleichen Dinge, die für einen echten Soldaten nur Kleinigkeiten sind, können mich nicht aus der Fassung bringen; ich würde mich vor mir selbst schämen, wenn die gemeinen Unfälle des Lebens oder des Feldes meine Laune trübten.«
»So ist Ihnen wohl eine Geliebte untreu geworden? Trösten Sie sich, es bleiben Ihnen noch genug«, sagte das Mädchen mit ganz trockner Stimme.
»Schalk!« drohte der Marschall mit dem Finger; »ja, Reizende, wenn Sie meine Flamme fühlen, erwidern, ja nur daran glauben wollten, so würde ich diesen schwarzen Tag für den glückseligsten meines Lebens halten, und es sollte für mich das ganze Geschlecht der Frauen auf Erden ausgestorben sein.« – Er schlug jede Erfrischung ab, die ihm die Diener anboten: »Ich habe heute Fasttag«, fuhr er fort, »und habe schon diesen Mittag nicht speisen dürfen.«
»Sie sind zu streng«, sagte Christine, »zu rechtgläubig, allzu fromm, ich entsinne mich auch nicht, daß heut' ein Fasttag sei,«
»Es ist nicht das«, sagte der General mit feierlicher Miene, »denn man darf wohl zuzeiten, ohne große Gewissensqual, diese Fasten brechen; aber es gibt Dinge, die zwar nicht mit der Kirche und ihren Satzungen zusammenhängen, die aber in der Natur selbst liegen, und darum um so tiefer in unsern Herzen gegründet sind, Dinge, die viele Denker sowie die Geistlichen Vorurteile und Aberglaube schelten wollen, und die dennoch schon aus uralter Zeit uns durch den festen Glauben von Millionen überliefert sind und dadurch ein ehrwürdiges, ja, ich mag sagen, ein heiliges Ansehen erhalten haben. Diese Winke und Fingerzeige aus einer dunkeln Zukunft heraus, gleichsam unmittelbar die Stimme des Schicksals, reden uns um so erschütternder an, als sie dem blöden Auge nur lächerlich oder wenigstens unbedeutend erscheinen, und wie jeder Mensch seinen schützenden Genius hat, so hat auch jeder Vorzeichen, die ihm besonders zustehen, und die ihm von der höchsten Wichtigkeit sind, wenn er sie achtet und sich ihren Sinn anzueignen weiß,«
»Vortrefflich!« rief das Fräulein, »so hör' ich Sie gern, denn wenn der Held zugleich Philosoph ist, ist er mir um so lieber.«
»Reizendste Ihres Geschlechts!« sagte Montrevel, indem er die Hand küssen wollte, die sich schnellzuckend seinen Lippen entzog, »Da ich also dieses Glaubens bin«, sagte der Marschall, »so fühlen Sie mein Entsetzen, als ich mich heut' mittag bei der Tafel befinde – der Herr von Nasville, dem ich seiner Stelle wegen, wenn auch nicht ihm, diese Aufmerksamkeit schuldig bin, saß neben mir, meine Adjutanten und noch einige Offiziere – es ist serviert, man wechselt die Teller – aber, es wird mir noch schwarz vor den Augen, wenn ich daran denke.«
»Um des Himmels willen«, sagte Edmund, »was war es? Gewiß wieder eine schreckliche Bosheit der Rebellen, Brand und Mord oder Gift –«
»Nein, junger Mann«, fuhr der Marschall etwas beruhigter fort, »gegen dergleichen Dinge sind wir gesichert – mein Fleury, der unglückselige Mensch, mein Kammerdiener, der sonst die Feinheit und Geschicklichkeit selbst ist, dieser, indem ich ihm einen Wink gebe (denn er ist eigens nur zu meiner Bedienung hinter meinem Stuhl, und die Sache daher um so unbegreiflicher), dieser will mir das Salz reichen, und indem ich es nehme, schüttet er das Gefäß ganz und gar vor mir aus. Mir ward schwarz vor den Augen, ich mußte mich zu Bett legen, den Kammerdiener verabschieden, und komme her, um hier Trost und Beruhigung zu finden.«
Edmund, der sich mit desto größerer Beschämung abwandte, je mehr er durch die Erzählung gespannt gewesen war, konnte den feurigen Blick des Marschalls nicht aushalten, der abwechselnd, Teilnahme suchend, ihn und Christinen fixierte. Diese lachte ohne alle Verlegenheit laut und heftig auf, indem sie Edmund fast schadenfroh betrachtete. »Nun wahrlich, mein Fräulein«, fing der Marschall wieder an, »diese Begegnung ist mir ebenso unerwartet, wie ich ihrer nicht gewohnt bin. Wenn dergleichen Sie lustig machen kann, so denken Sie vom Glück oder Unglück Ihres Freundes zu geringe.«
»Wahrlich nicht«, sagte Christine, »ich bin auch weiter nicht sonderlich lustig, ich finde die Geschichte erbaulich und möchte schwören, daß das Weib und die Kinder, die Sie heut' früh so wohlgemut haben erschießen lassen, auch das Salzfaß gestern abend in ihrer Hütte umgestoßen haben. Sind sie doch nun aller dieser Unfälle los. Nicht wahr, Herr Marschall?«
»Ist es erlaubt, zu fragen«, nahm Edmund bescheiden das Wort, »wie es damit zusammenhängt?«
»Ich mußte heut' früh«, sagte der Marschall gelassener, »einige Unglückliche dem Gesetz aufopfern, weil sie den Rebellen im Gebirge Proviant zuführen wollten.«
»Die Untersuchung ging etwas rasch«, sagte Christine, »man nahm auf das Leugnen der Ergriffenen nicht große Rücksicht; zwar hatte es einige Wahrscheinlichkeit, weil die Mutter einen Sohn bei den Rebellen hat, der oft genug Hunger mag erleiden. Es war eine Frau von vierzig Jahren mit zwei Töchtern, die eine zwölf, die jüngste acht Jahre alt. Sie wurden durch diese Straße geführt.«
»Aber die Kinder doch nicht?« sagte Edmund erblassend.
Der Marschall zuckte die Achseln und erwiderte leicht: »Wir müssen unsere selbstgegebenen Gesetze strenge aufrecht halten, um zu schrecken. Sie konnten sich nicht ausweisen, warum sie auf der Nebenstraße waren; denn daß sie noch hatten Früchte sammeln wollen, war unglaublich.«
»Diese Mutter«, fing das Fräulein wieder an, »mit den unmündigen Kindern hatten sich einige Bohnen gesucht; Soldaten finden sie im Felde, im Schreck sind sie mit der Antwort saumselig – und dieser edle Marschall, dieser feine, artige, liebenswürdige Mann, dieser große Geist, der Verse machen, Feinde schlagen und Filet stricken kann, dieses weiche Herz, das Thränen vergießt, wenn ich an Kopfschmerz leide, dieses grinsende Ungeheuer läßt Kinder und Mutter erschießen, indem er sich mit Anmut ein Federchen von der Uniform bläst.«
»Fräulein!« schrie der Marschall aufspringend; Edmund fuhr zurück, das Taburett ward umgeworfen, und die ganze Gesellschaft fuhr bei diesem plötzlichen Geräusch von ihren Spieltischen auf.
»Nicht wahr«, sprach Christine, mitten im Saale stehend, heftig weiter; »dergleichen ist groß, heroisch und edel? Dazu haben unsere erleuchteten Zeiten kommen müssen, damit wir dergleichen erleben können? O du Unmensch, du wagst es, die Worte Freundschaft und Liebe zu nennen? Du hast die Frechheit, nach Achtung und Wohlwollen auszugehn? Ja, du bist auch ein bedürftiges Wesen, wie deine armen Mitbrüder, du mußt es ja doch gefühlt, gesehn oder im Traum wenigstens einmal geahnet haben, was das dunkle Los des Lebens, was Armut, Schmerz, Not und das heilige Mitleiden ist. Diese darbenden Eltern, diese hungernden Kinder, die Mutter, die mit wenigem, mit kleinem Labsal in die Hütte tritt, wie die Augen ihr suchend und bittend entgegengehn, wie ihr Strahl tröstend in den Blick der Kinder scheint, wie die kleine Habseligkeit nun den Himmel im stillen Genuß gegenseitiger Liebe verbreitet! Hättest du nur das Auge einer gefangenen Schwalbe, nur deines Hundes verstanden, wenn er den Brocken von dir bettelt, so hättest du eher dein Ordenskreuz mit Füßen getreten, als diese That gethan. Nur der Mensch kann so tief sinken; das Vieh, welches sich zerfleischt, ist noch fromm und unschuldig, noch mehr leuchtet in seine Verworfenheit ein Funke des alten Himmels, als in uns Entarteten. Man hat Märchen für Kinder, wo ein zagendes Mädchen einen schuppigen Drachen küssen muß, um ihn zu entzaubern – aber – dem Tiger könnt' ich liebkosen, der scheußlichen Hyäne Hand und Lippe reichen, ehe ich mich so besudelte, dir freundlich zu sein, denn ich müßte fürchten, aus einem Weibe in einen Drachen entstellt zu werden. Und doch – als sie hier vorübergingen, sich die letzten Blicke zuwarfen, diese Kinder, die das Leben noch nicht kannten und mit dieser Jugend in den Tod gerissen wurden – war es doch, als wenn das jüngste Gericht mit allen seinen Schrecknissen durch mein Herz bräche – sieh, auf offener Straße hätt' ich dir dennoch und deinen Henkersknechten den Staub von den Schuhen küssen können, um sie nur zu retten! Ich lief zu dir, ich fand dich nicht. Ja gewiß, alles, alles, was ihre armen Seelen in dieser bittern Stunde fühlten, muß sich ihnen dort in Wonne, in Ruhe und Seligkeit verwandelt haben; ja, sie haben dies Leben und dich vergessen, wenn wir nicht wahnsinnig zu einem Tyrannen, statt zum Gott der Liebe beten.«
»Wahnsinnig sind Sie, Elende«, rief der Marschall in der größten Heftigkeit; »sich so zu vergessen – bei Gott! man sollte Sie ins Hospital sperren. Aber mich sehn Sie nie wieder, bei meiner Ehre!«
»Nie! nie!« rief Christine mit leuchtenden Blicken, »o, schon dies ist Glück und Gewinn! Nein, großer Held, nie, oder wenn Sie sich gelüsten ließen, zu kommen, so soll ein großes Gefäß mit Salz zu Ihren Füßen ausgeschüttet werden, wie man Salz über die Stellen streut, wo Verfluchte gehaust haben.«
Der Marschall zitterte so vor Wut, daß er nicht fähig war, den Degen anzustecken; er nahm ihn unter den Arm und verließ das Haus, ohne noch ein Wort zu sagen. Der Kapitän hatte sich schon früher fortgeschlichen, als das Gespräch diese unerwartete Wendung nahm; die Tanten verbeugten sich einigemal verlegen und gingen auch, als ihre Nichte nicht darauf achtete; diese winkte darauf die Diener hinaus, und aufgelöst und erschöpft ließ sie sich nun der ganzen Länge nach auf den Boden fallen, indem ein Thränenstrom aus ihren Augen brach, so unaufhaltsam, als wollte sie so weinend vergehn und sterben.
Edmund näherte sich verlegen. Sie sah ihn nicht; er sprach einige Worte, aber sie vernahm ihn nicht. »Teuerste«, rief Edmund endlich, »Sie bringen mich, Sie bringen sich um! Diese gewaltsame Erschütterung muß Ihre Organe vernichten.«
»Und wär' es nicht gut?« sagte sie mit matter Stimme, ohne ihren Thränen Einhalt zu thun. »Setz' dich zu mir, hier auf den Boden, weine mit mir; alle guten Menschen sollten jetzt sterben.«
»Stehn Sie auf, Fräulein«, sagte Edmund, indem er ihr half, »wenn ich nicht glauben soll, daß Ihr Verstand wirklich gelitten hat.«
»Gewiß hat er gelitten«, sagte sie etwas beruhigter, indem sie neben ihm stand und ging, »sonst würde ich ja diese Dinge sehn und ertragen, wie es die andern thun: das ist es ja eben, ich habe einen Blick in den Schmerz der Welt und in die Abscheulichkeit der Menschen gethan, nun kann ich mit diesen nicht mehr spielen und lachen wie sonst; ich bin erwacht von dem Gaukelwesen, und so müssen sie mich für wahnsinnig halten; aber du, Edmund, du unter so vielen solltest mich doch etwas besser kennen!«
»Ich bin noch wie im Traume«, sagte Edmund, »wie konnten Sie nur Ihrem Schmerze so folgen, wie nur den Marschall so herbe verletzen, wenn Sie auch vielleicht im Recht waren? Ich erkenne Sie nicht wieder, da ich Sie doch schon seit länger als einem Jahre kenne. So waren Sie nie.«
»Immer, Edmund«, schluchzte sie, »nie anders; dieser Schmerz hat nur zu heftig die Funken herausgeschlagen. Warum verstehst du mich denn nicht? Welch ein Erz hat denn deinen Busen umschlossen, daß kein Gefühl hineindringen kann? Glaubtest du denn nicht, daß ich nur darum keine Messe und Vesper versäume, um zum Gott der Liebe zu stehen, daß er diese Verruchten erleuchten, daß er den armen Verfolgten helfen, daß er mich selber stärken möge? Sieh, Edmund, obwohl ich nicht zur Gemeinschaft der Hugenotten gehöre, aber wenn ein ungeheurer Schlag alle diese Mörder vertilgte, in einer Sekunde wegraffte, so sollte unsere Kirche ein Dankfest anstellen, daß diese Schmach von ihr genommen ist und ihr heiliges Banner nicht mehr geschändet wird.«
»Nun verstehe ich Sie«, sagte Edmund. – Sie waren auf den Vorsaal getreten. »Bei Gott, bald werde ich ganz einsam stehen und lieber mit Steinen als mit Menschen Gespräche führen.« Er nahm sein Gewehr unwillig von der Wand.
»Wie wild, Edmund, wie eigensinnig«, sagte sie sanft; »darf es denn nicht sein, daß die Menschen ihre verwirrte Babelsprache nicht wenigstens in der Liebe verstehen? Die Geister sind es ja doch, die lieben – und du sagst ja, daß ich in deinem Herzen bin.«
»Liebe!« rief Edmund aus, »verfluchtes Wort! Verfluchter Doppelsinn und Unsinn des Menschengeschlechts! Dies alte Mißverständnis, Liebe, dies verruchte Rätsel der Sphinx, das keiner auflöst, und an dem Tausende verbluten – verdammt!« Er biß die Zähne aufeinander und stieß das Gewehr gegen den Boden, daß es losging und der Schuß krachend durch die Decke fuhr. Die Weiber und Diener des Fräuleins stürzten herbei; er sah sie an, sie war nicht beschädigt und lächelte ihm schmerzlich nach, indem er zur Thür hinausstürzte; auf seinen scheidenden Gruß erwiderte sie ihm nur mit einem seltsamen Schütteln des Hauptes, so daß sich die langen schwarzen Locken auflösten und ihr Gesicht beschatteten. Sie drückte sie in die weinenden Augen und ging schweigend in den Garten und die kühle Nacht hinab.
Der Herr von Beauvais ging mit seinem Freunde im Garten, vielerlei Gespräche wechselnd, auf und ab; so oft sie an dem kleinen, offen stehenden Gartenhause vorübergingen, rief Eveline sie an und machte sie auf die Gebäude aufmerksam, die sie mit Karten aufzuführen bemüht war. Der Parlamentsrat war heftig bewegt, und der Freund bemühte sich vergeblich, ihn zu beruhigen. »So halsstarrig«, sagte dieser endlich, fast ungeduldig, »hab' ich dich noch nicht gesehen; was ist es denn nun endlich? Edmund ist ein junger Mensch, wie so viele; laß ihn ausrasen, Alter, und du wirst deine Freude an ihm haben, denn Kraft, Charakter, edles Herz sind denn doch nicht bei ihm zu verkennen, und daraus wird sich in Zukunft gewiß etwas Gutes bilden.«
»Ich spreche nur zu dir so«, antwortete der Vater, »ich bezwinge sonst meine Ungeduld, und ihm gegenüber am meisten, aber in deine Hoffnungen kann ich nicht einstimmen, so sehr ich ihn auch als meinen Sohn lieben muß. Wär' er nur heftig und unbesonnen, das möchte hingehen, denn ich bin es auch gewesen; ja ich würde selbst seinen übertriebenen Glaubenseifer und alles, was mit diesem zusammenhängt, in einem heitern Lichte sehn, denn auch in diesen Gefühlen hat mein eignes Gemüt früher wunderbare Erfahrungen gemacht; wenn er mit allen diesen schroffen Eigenheiten, mit diesen heftigen Übertreibungen aller Art nur einen Trieb zur Thätigkeit verbände, wenn er sich unterrichtete, wenn er an irgend ein Geschäft Hand anlegen wollte. Ich fühle aber nur zu deutlich, daß er so, wie er zum Teil das Bild meiner eigenen Jugend, aber wie verzerrt mir darstellt, er doch im Innersten mir ganz ungleich, gewissermaßen feindselig gegenübersteht; und so rächt sich denn leider die verwahrloste Erziehung und die Verweichlichung seiner Kindheit. Du weißt es ja, mein alter Freund, wie sehr, fast unnatürlich, er der Liebling meiner verstorbenen Gattin war, wie übertrieben sie jeden Einfall und Trieb, jede Eigenheit des Kindes bewunderte; dazu jener Abbé als Hofmeister, der nur seine Imagination aufreizte und mit Legenden und Wundern nährte; dies blendete das Auge seines jungen Geistes und nahm ihm die Fähigkeit, das Wirkliche und die Wahrheit sehen zu lernen, es gewöhnte ihn, in Rührungen des Herzens zu schwelgen und diese für untrüglich und für das Höchste zu halten. Unvermerkt schlich sich eine Geringschätzung gegen alle, die anders dachten, in seine Seele, denn er hielt sie nun für kalt und verstockt und glaubte, sie in seinem hassenden Eifer weit zu übersehn. Ich war zu schwach, zu unentschlossen, zur rechten Zeit dem Übel zu steuern, ich schmeichelte mir, daß es nicht so tief Wurzel fassen sollte; und als nun endlich meine kränkelnde Gattin, die ich nie verletzen mochte, an der Geburt meines jüngsten Kindes starb, war es zu spät.«
»Alles nicht unwahr«, fing der Freund an, »aber darum doch nicht so schlimm, wie du es ansiehst. Nur Stumpfheit, Aberwitz sind unverbesserlich; in allen wahrhaft aufgeregten Gemütern schlägt die gute Ader, und das Leben dieser reizbaren und heftigen Menschen besteht ja nur darin, sich durchzukämpfen, in mannigfaltigen Explosionen das Böse und Trübe niederzuschlagen, damit sich das Bessere scheide und verklärt aufsteige.«
»Du sprichst«, sagte der Rat, »als Arzt und Chemiker und willst mir leugnen, daß die Seele sich unwandelbare Verkehrtheiten aneignen könne, die nachher ihr Leben ausmachen.«
»Solange der Mensch noch jung ist«, sagte jener, »verzweifl' ich an nichts, und bei deinem Sohne am wenigsten, weil er sich nie den Ausschweifungen ergeben hat. Nur diese und die schlechte Gesellschaft höhlen den Menschen gänzlich aus, und die Erschöpfung trifft nicht nur den Körper, sondern macht auch den Geist leer, ernüchtert das Herz, so daß am Ende weder Verstand noch Begreifen, weder Gefühl für Religion und Sitte noch für Ehre übrigbleibt. Diese sind die Unheilbaren. Du machst dir der weichlichen Erziehung wegen Vorwürfe, das ist es ja aber nicht allein, alter Freund, worin du es versehn hast; du klagst über Mangel an Thätigkeit bei deinem Sohn, aber du selbst hast ihm ja alle Wege dazu versperrt. Als er nun erwachsen war, sollte er durchaus sich deinem Stande widmen; er haßte es aber, ein Advokat zu werden, und schwur damals, sich lieber zum Mönch scheren zu lassen. Ich kann ihm nicht unrecht geben, verzeih, wenn ich so aufrichtig bin. Er wollte zur See gehen, du warst unbeugsam dagegen; er wollte dann im Militär sein Glück machen, wir konnten dazu deine Einwilligung ebensowenig dir abdringen. Der Junge dauert mich; es ist schrecklich, wenn ein Wildfang durchaus nur ruhig hinter dem Tisch Akten und Prozesse durchstöbern soll. Warst du früher zu weichlich gegen ihn, so bist du späterhin nur gar zu strenge gewesen.«
»Du thust mir Unrecht, eigensinniger Mann«, rief der Rat im Eifer aus; »es war nicht zu viel gefordert, daß er den Stand ergreifen sollte, in welchem ich selber nützlich gewesen war; er ist ehrenvoll und wohlthätig für die Menschheit und verträgt sich mit aller Freiheit und Adel der Gesinnung; ihm blieb noch Zeit genug, umzuschweifen, zu schwärmen, zu lesen und zu dichten und seiner Leidenschaft für die Jagd genugzuthun. Ich war aber damals überzeugt, daß Seedienst und Soldatenstand nur von ihm gewählt wurden, um meinem väterlichen Auge auf immer zu entfliehen; ich konnte mich nicht überzeugen, daß er sie als Beruf, mit Einsicht und vernünftigem Willen wähle, es schmerzte mich, ihn gänzlich zu verlieren; und nur zu oft suchen ungeratene Jünglinge diesen Ausweg, um in einem geschäftigen Müßiggange unterzugehen; denn was ist der Soldat im Frieden? Damals hatten wir keinen Krieg. Ich gebe dir recht in dem, was du über das ausschweifende Leben unserer jungen Leute sagst: aber du lächelst vielleicht, wenn ich dir gestehe, daß diese Jagdleidenschaft mir ebenso unerträglich ist. Als ich diese in ihm entstehen sah, gab ich ihn fast verloren, denn alle junge Leute, die ich noch sich dieser Beschäftigung widmen gesehen, sind Müßiggänger, die sich keiner Arbeit wieder fügen können; dies scheinbare Geschäft mit seinen Anstrengungen und Aufopferungen lehrt sie die Zeit geringe schätzen, sie verträumen ihr Leben, bis die Stunde sie wieder gegen den Hafen oder die Schnepfen aufruft. – Und bei ihm nun noch der Hang, im Gebirge herumzustreifen, oft in drei oder vier Tagen nicht wiederzukommen; dann im Hause ohne Ruhe und Rast herumzufahren, zehn Bücher aufzuschlagen, einen Brief oder ein Gedichtchen anzufangen, mit den Bedienten zu zanken, um dann wieder fortzustürzen; und so einen Tag wie den andern, eine Woche wie die andere.«
Der Arzt sah ihn lächelnd an, dann sagte er nach einer Pause: »Laß ihn, er wird schon zahm werden, darum ist mir nicht bange, und was ängstest du dich denn, Alter? Du bist ja reich genug; wenn er nun auch nichts erwirbt, wenn er nur lernt, sein Vermögen verwalten, sein Einkommen anständig genießen und andern wohlzuthun, denn es ist so oft mit den nützlichen Beschäftigungen doch eine mißliche Sache. Alles, was du mir da schilderst, versteh' ich sehr gut, und mich wundert nur, daß du es selber nicht besser begreifst. Gib ihm das Fräulein von Castelnau, und beide werden vernünftig, du wirst Großvater und bekommst auch wieder ein Spielwerk, das dich zerstreut,«
»Nimmermehr!« rief der Parlamentsrat mit der größten Heftigkeit, »das geschieht nicht, solange ich lebe; sie ist es, durch die er verwildert, die ihn quält und doch alle seine Vorurteile nährt. Sprechen wir davon niemals wieder,«
»Man thut auch dem Mädchen Unrecht«, sagte der Arzt, »toll ist sie, ja – aber gut, und aus den beiden Tollheiten würde sich eine leidliche Vernunft ergeben.«
Die Gartenthür wurde indem heftig zugeschlagen, Edmund trat herein, und das Gespräch war zu Ende. Sie begrüßten und setzten sich in das Gartenhaus zur kleinen Tochter nieder. »Bruder!« rief Eveline aus, »da bist du nun schuld, daß mein schönes Haus einfällt. Er kann doch nichts als Unglück anrichten.«
Edmund war freundlich gestimmt und sagte scherzend: »Bau' wieder auf, Schwester, so hast du um so mehr zu thun.« – »Ja«, antwortete sie, »wenn ich so müßig sein dürfte wie du, so hätte es nichts zu bedeuten, aber ich muß heute noch nähen und nachher schreiben und rechnen. Aber du hast für gar nichts zu sorgen, und darum thust du den Menschen auch allen Verdruß,«
»Was hab' ich denn noch sonst gethan, als dein herrliches Kartenhaus umgestoßen?« fragte Edmund.
»Sieh, Vater«, rief die Kleine aus, »er hat es schon vergessen, daß er vorgestern seine Liebste totgeschossen hat; o, er wird uns noch alle totmachen, so wie wir da sind, und dann wird er zufrieden sein.«
Edmund runzelte die Stirn; der Vater verwies der Kleinen ihre Unart, und der Arzt fing ein anderes Gespräch an. »Nun, Edmundchen«, indem er sich zu dem jungen Menschen wandte, »was sagst du zu der Neuigkeit, daß die Kamisards trotz ihrer letzten Niederlage immer wieder den Truppen des Königs die Spitze bieten, daß sie von neuem die Ebene beherrschen, daß eine englische Flotte in CetteSeestadt und Kriegshafen südwestlich von Montpellier. landen wird, daß eine Schlacht in Deutschland verloren sein soll, und daß also, wenn von allen diesen Nachrichten nur die Hälfte wahr ist, wir darauf denken können, wie wir mit den Rebellen gut Freund sein wollen, damit sie uns nicht den Garaus machen?«
»Scherzen Sie nicht«, sagte Edmund, »unser Vaterland ist noch nie in solcher Gefahr gewesen; und solange man so gelinde mit diesen Rebellen verfährt, so stehen wir wirklich am Abgrunde, wenn es den auswärtigen Feinden gelingt, auch nur ein kleines Heer zu landen und sich mit ihnen in Verbindung zu setzen,«
»Gelinde nennst du diese Behandlung?« fragte der Rat.
»Ich rede nicht«, fuhr der Sohn fort, »von den Hinrichtungen, von den Mißhandlungen, von allen diesen Grausamkeiten gegen die Einzelnen, die hart genug sind, so daß man selbst Weiber und Kinder nicht verschont, und die Menschheit sich wohl davor entsetzen darf. Ich meine, die schlechte Art, den Krieg zu führen, so daß schon eine königliche Armee zu Grunde ist gerichtet worden, ohne daß man dem Übel selbst hat an die Wurzel gelangen können. Man schlägt sich immer im kleinen Kriege, oft in den Bergen, wo der unbekannte Soldat fast immer den kürzern zieht; das Gebirge steht den Rebellen bei und versorgt sie immer von neuem mit Mannschaft und Lebensmitteln, durch den Krieg lernen die rohen Menschen den Krieg, und gelingt es nicht, diese Angriffe im großen und von allen Punkten zugleich klug und militärisch verbunden zu wiederholen, so läßt sich voraussehn, daß das Unheil noch lange toben und am Ende wohl Sieger werden kann.«
»Du scheinst jetzt über deinen Marschall anders zu denken«, sagte der Herr von Beauvais.
»Meinen Marschall?« nahm der Sohn das Wort auf, »er ist des Königs Marschall, und unter diesem Titel gilt er uns allen für den Stellvertreter der Majestät, obgleich die Bessern alle wünschen, daß es nicht so wäre.«
»Wollte der Himmel«, sagte der Arzt, »er gehörte bloß einem von uns; ich wenigstens wollte ihm mit Pillen und Rhabarber so zusetzen, daß er uns bald Platz machte. Noch nie hab' ich einen Brotneid als gegen diesen Menschen empfunden! Hat er nicht in einem Zeitraum von acht Monaten mehr Menschen zum Tode befördert, als es alle Ärzte in der ganzen Provinz vermocht hätten? Alle dort oben in den Bergen, Cavalier und RolandEiner der tüchtigsten Kamisardenführer, Neffe La Portes, geboren zu Mialet bei Anduze, früher Dragoner, gefallen am 14. August 1704 in der Nähe des Schlosses Castelnau zwischen Alais und Uzès. eingerechnet, hält er nur für seine zukünftigen Patienten, und für die verschiedensten Konstitutionen hat er als ein roher Empiriker auch immer nur ein und dasselbe Rezept bereit. Gestern hat er wieder zwölf Propheten hängen lassen, die alle bis zum letzten Atem behaupteten, es würde mit seiner Macht bald zu Ende sein. Wie denkst du denn, Edmundchen, über diese Gabe des Wahrsagens, über diese Verzückungen und Krämpfe?«
»Man wird es im Auslande nicht glauben«, sagte dieser, »daß dergleichen im Schwange geht, daß mancher vernünftige Mann davon wie von einem Geheimnisse spricht, und daß unser Kalender 1703 schreibt!«
»Laß ihn schreiben!« sagte Vila; »es scheint also, Kind, du begreifst die Sache; unterrichte mich etwas darüber, denn ich begreife sie gar nicht, oder wenigstens kann ich mir das nicht in vernünftige und anständige Worte übersetzen, was mir darüber wohl manchmal durchs Gemüt gefahren ist.«
»Was ist da zu begreifen?« sagte der Jüngling heftig, »der gröbste und einfachste Betrug, der es noch je gewagt hat, sich den Sinnen darzustellen.«
»Wohl nicht in dem Verstande, in welchem du es nimmst«, sagte der Arzt; »ich habe viele in den Gefängnissen beobachtet, sie sind sich sehr ungleich und verdienen wohl eine ernsthafte Betrachtung. Ich bin noch nie in einer ihrer Versammlungen gewesen, im Freien oder einer Scheune; ich bin aber entschlossen, noch heute droben bei St.-HilaireEin in Frankreich sehr häufiger Ortsname; wahrscheinlich ist St.-Hilaire de Lavit am obern Gardon, Departement Lozère, Arrondissement Florac, gemeint ihrem Gottesdienste beizuwohnen, und wenn du mir ein gutes Wort gibst, Edmundchen, so darfst du mitgehn; ich habe zwei Bauernanzüge in meinem Wagen mitgebracht, so daß uns kein Mensch erkennen soll.«
»Ich gehe mit, alter Herr, um Sie zu beschämen«, sagte Edmund, »daß Sie dieses Gesindel noch irgend so wichtig nehmen. Wir werden nachher über die abgeschmackte Täuschung um so mehr eines Sinnes sein können,«
»Du sollst nicht hingehn, mein Sohn«, sagte der Alte, »was kann dergleichen Vorwitz nützen? Ich verstehe dich nicht, alter Freund: sind diese Unglücklichen nicht schon elend genug? Soll armselige Neugier und Mutwille auch noch ihrer spotten? Und wenn die Bedrängten nun verraten und überfallen werden, wie es schon so oft geschehen ist, und alle ohne Unterschied niedergemetzelt, wer ist dann der Thor gewesen, sich ihnen schleichend aufzudrängen? Oder wenn sie euch erkennen oder nur Verdacht haben?«
»Spricht der alte Patron nicht schon selber wie ein Kamisard«, sagte der Arzt lachend; »am Ende glaubst du noch gar, ihre Propheten werden uns erkennen und als Gottlose dem Haufen denunzieren. Sei nur ruhig, du Vorsorglicher, es steht ja ein Trupp der Rebellen hier in der Nähe, da wagen sich die Soldaten nicht in die Berge, wenn sie diese guten Freunde im Rücken wissen. Ich will auch einmal recht haben, und dein Edmund soll etwas lernen; es gibt gar absonderliche Arten von Schulen, man holt sich die Weisheit mit Beschwer tütchenweise über Berge und Felsen herüber; alle Menschen können nicht so Handelsleute im großen sein wie du. Eigentlich hat mich mein SohnEin Kamisard Namens Bilas, Sohn eines Arztes in St.-Hippolyte, Offizier in englischen Diensten, tritt in der spätern Zeit des Aufruhrs mehrfach bedeutsam hervor. Er wurde am 22. April 1705 zu Nîmes zugleich mit Ravanel und Catinat hingerichtet. auf diesen Gedanken gebracht, und ihm habe ich versprechen müssen, deinen Edmund mitzubringen.«
»Ihr Sohn?« rief Edmund mit großer Lebhaftigkeit aus; »mein Jugendfreund? Ist er wieder da?«
»Und davon«, sprach der Herr von Beauvais, »sagst du uns das erste Wort?«
»Ihr erfahrt es ja nun noch zeitig genug«, antwortete der Arzt in seiner phlegmatischen Laune; »ja, der Vagabunde ist nach manchem Jahre zurückgekommen. Der hat sich was versucht, der Wildfang. Er hat nun auf ausländischen Universitäten studiert, hat Holland, England und Schottland gesehn, hat sich in Ostindien unter allerhand Völkerschaften herumgetrieben und ist nun endlich plötzlich und, zu meiner Freude, noch ebenso toll und wild, aber unterrichtet zurückgekommen. Der hat sich nun Wunder von unsern Propheten hierzulande erzählen lassen. Er hat in Asien allerhand Kraut und Getiere dieser Art gesehn und fällt aus den Wolken, daß, wie er den Rücken gewandt hat, in seinem Vaterlande hinter seinem väterlichen Ofen beinahe ein viel wunderbareres Gewächs soll aufgeschossen sein, als er in den tropischen Ländern observiert hat. Da hat er mir nun keine Ruhe gelassen, ich mußte ihm versprechen, mit ihm auszuziehen und auch dich abzuholen.«
»Aber warum kam er nicht gleich mit Ihnen?« rief Edmund.
»Die Mutter, die Basen, die Bekannten«, antwortete Vila, »die ganze Stadt St.-Hippolite wollte ihn nicht so schnell gehen lassen. Er muß erzählen, bis ihm der Hals trocken ist. Er will dich nun in der Waldschenke umarmen und mit dir den Ritterzug machen. – Nun, Alter, mach' keine Umstände, gönne den jungen Leuten die Lust.«
»So seid denn thöricht«, rief der Parlamentsrat, »aber es ist etwas in meiner Brust, das diesen Schritt mißbilligt. Mag der Himmel dich geleiten, mein Sohn!« – Sie nahmen Abschied, der Wagen fuhr vor, sie stiegen ein, um die ersten Meilen mit diesem zurückzulegen.
Sie hatten sich kaum entfernt, als der Diener eilig in den Garten trat: »Es kommt eine ansehnliche Equipage auf der Straße von Nismes; ich glaube, daß Ihnen der Besuch gilt, gnädiger Herr.«
Der Parlamentsrat eilte in den Saal: »Wie!« rief er erstaunt, »es ist der Intendant selbst, der Herr von Basville!« – Die Kutsche hielt, und heraus stieg ein ernster, langer Mann, schon ziemlich hoch in Jahren, der mit feierlichem Schritte sich dem Herrn des Hauses näherte. Man begrüßte sich, und nach einer kleinen Pause fing der Intendant an: »Gewiß, Herr Rat, sind Sie verwundert, mich hier bei sich zu sehn, aber eine wichtige Veranlassung führt mich zu Ihnen, und mir schien es anständiger, selber bei Ihnen vorzufahren, als Sie deshalb nach Nismes zu laden, wo unser Gespräch vielleicht nicht so ungestört und vertraut hätte ausfallen dürfen.«
Der Rat, über diesen Eingang verwundert, bat, nachdem man sich gesetzt hatte, ihm sogleich mitzuteilen, was ihm die Ehre dieses Besuchs verschafft habe.
»Sie sind verleumdet, mein Herr«, sagte der Intendant, indem er ihm starr ins Auge sah; »ich bin nicht so glücklich, einer Ihrer Freunde zu sein, aber ich sage dennoch dreist und sicher, daß es abscheuliche Verleumdungen sind, die man gegen Sie vorbringt, die aber dennoch, wenn man alle Umstände zusammenreiht, für den Leichtgläubigen einen Schein von Wahrheit gewinnen können.«
»Wer wagt es«, sagte der Parlamentsrat, »meinen Namen anzutasten?«
»Viele, gar viele«, sagte der Intendant mit nachdrücklicher Stimme, »und unter diesen sind Männer von Gewicht und Ansehn. Ich sagte Ihnen vor sieben Monaten, es würde Sie einst gereuen, daß Sie so bestimmt und unerbittlich Ihrem Sohne die Erlaubnis verweigerten, auch eine Kompanie Freiwilliger zu organisieren, um gegen die Rebellen zu streiten und sie in ihren Schlupfwinkeln aufzusuchen.«
»Es gereut mich noch immer nicht, Herr Intendant«, sagte der Rat; »erlauben Sie mir, über diesen Gegenstand anders zu denken.«
»Hätten wir«, fuhr der Intendant fort, »die Hülfe von Bürgern und Bauern, hauptsächlich von dem Adel auf dem Lande erhalten, auf welche wir wohl mit Sicherheit sollten rechnen dürfen, so war unser König ermüßigt, ein Heer zu senden und einen Marschall, welche den Krieg erzeugt haben, den sie vertilgen sollten; dann war es die Landschaft selbst, die die Bösewichter vernichtete, und viele scheinbare Rechtfertigungen jener Boshaften waren unmöglich. Sie haben, wie so manche andere würdige Männer, dazu die Hand nicht geboten, Sie haben es vorgezogen, mit Ihrem Sohne, der ein heftiger junger Mann und Enthusiast für die gute Sache ist, in Unfrieden zu leben. Es könnte bei alledem für väterliche Liebe und Ansehn des Hausherrn gelten, die gewiß niemals eingeschränkt werden dürfen. Aber, erlauben Sie«, fuhr er etwas schneller fort, als er die Ungeduld des Rates bemerkte, »dies, mit den Gesinnungen verbunden, die Sie mehr als einmal, auch in Gegenwart von Fremden, haben laut werden lassen, gab im Lande Veranlassung zu mancherlei Gesprächen, und was sich nun seit einigen Tagen zugetragen hat, macht selbst diejenigen irre, welche Sie verehren, und ist die Ursache, daß ich Ihnen lästig falle.«
»Ich erkenne mit Rührung, daß ich Achtung besitze; sprechen Sie aus«, sagte Herr von Beauvais.
»Sie haben, so sagte man«, fuhr der Intendant mit der größten Kälte fort, »Rebellen beherbergt. Sie haben flüchtige Kamisards aufgenommen; diese Bösewichter haben Ihnen hier vor Ihrem Hause ein Vivat gerufen; Sie haben das Gesindel an Ihrem Tische essen lassen, Sie haben sich lebhaft widersetzt, als man sie fangen wollte, und die Braut Ihres Sohnes hat den Marschall in öffentlicher Gesellschaft gemißhandelt.«
»Mein Herr!« rief der Alte, gänzlich außer Fassung gebracht – »doch«, sagte er gelassen, »das Gewebe dieser Lügen ist zu grob, um nicht sogleich für Unwahrheit erkannt zu werden. Diejenige, die Sie die Braut meines Sohnes nennen, wird es mit meinem Willen nie, ich kenne sie nicht und kann sie nicht lieben; mein Haus war armen Reisenden offen, und einer von unserer Partei, welchen ich beschützte, und den Sie ebenfalls unter dem Namen des Eremiten kennen werden, hätte mich und meine Familie fast ins Verderben gestürzt.«
Er erzählte ihm hierauf die Begebenheit jenes Abends, ganz so, wie er sie erlebt hatte, und schloß: »Sie sehn nun, mein Herr Intendant, wie falsch man hierin berichtet hat.«
»Ich glaube Ihnen«, sagte der ernste Mann, »aber Sie haben das Sprichwort vergessen, daß Wände Ohren haben. Man weiß, wie Sie zuweilen vom Marschall und dessen Liebschaften, die er freilich zu wenig verbirgt, gesprochen haben, in welchen beleidigenden Ausdrücken, so daß Sie so weit gegangen sind, ihn Henker zu nennen. Meine Strenge und Unerbittlichkeit, die ich vor meinem Gewissen und Gott zu verantworten gedenke, nennen Sie Blutdurst. Sie können nicht leugnen, daß Sie verdächtiges Volk freundschaftlich beherbergt haben, daß Sie bisher mit Ihrem Sohne in nicht zweideutiger Unfreundlichkeit lebten, daß Sie verweigert haben, daß er seinem Vaterlande dienen durfte, obgleich er mündig ist; verletzt nun das Fräulein von Castelnau unsern Marschall so gröblich in Gegenwart Ihres Sohnes, der still dazu schweigt, so muß man glauben, daß er mit ihr darüber einverstanden ist, und soll dies der Fall sein, so schließt der Mißtrauische weiter, daß Sie mit ihnen ganz versöhnt und eines Sinnes sind, daß Sie also, sagt der Hämische, nun heimlich und öffentlich den Rebellen auf alle Weise Vorschub thun werden, und daß man uns, wenn wir es dulden, mehr nachlässig schelten, als unsere Langmut loben würde, leidet wohl keinen Zweifel.«
»Ich verlange Untersuchung, die strengste Untersuchung«, rief der Parlamentsrat.
»Sie wissen«, sagte der Intendant, indem er aufstand, »daß sich in dieser gefährlichen Verwirrung dazu keine Zeit findet, das haben schon viele beklagt; Argwohn und Verdacht gelten als Beweis, wenige Umstände, wenn sie nicht geleugnet werden können, verdammen; das Militärgesetz, welches uns der König gesandt hat, muß leider diesen kurzen Weg einschlagen, weil es das Wohl des Vaterlandes und die Rettung von Millionen so erheischt.«
»Also bin ich verurteilt, ohne gerichtet zu sein? Gerichtet, ohne gehört zu werden? Man fängt mit der Strafe an und wird in Zukunft Muße haben, die Klage zu finden!« sagte mit großer Bitterkeit der Parlamentsrat.
»Ereifern Sie sich nicht, würdiger Mann«, sagte der Herr von Basville, »von allem diesen ist noch nicht die Rede, dazu müßten die Anzeigen noch weit dringender sein. Aber Sie selbst können nicht leugnen, daß man Sie für verdächtig halten darf, da doch so manches gegen Sie spricht.«
»Und was verlangt man also von mir?« fragte der Rat.
»Nichts Unbilliges«, sagte der ernste Mann, »nichts, wogegen Sie mit Recht etwas Erhebliches einwenden könnten. Ich habe gestern eine neue Ermahnung Sr. Majestät publiziert, worin Adel und Bürger wieder dringend, bittend und befehlend aufgefordert werden, zum Besten des Vaterlandes und der Religion zusammen zu stehen. Dreihundert junge Leute haben sich gestellt; lassen Sie Ihren Sohn frei, so wie er es seinen Jahren nach ist, erlauben Sie ihm, auch zu zeigen, daß er seinen König liebt, denn es sind noch nicht sechs Wochen, als er mit Thränen in Gegenwart des Herrn Marschalls auf meinem Zimmer darüber klagte, daß Ihre zu weit getriebene väterliche Liebe ihn gewaltsam zurückhielte, seinen Eifer zu zeigen. Hemmen Sie ihn nun wieder durch Ihre väterliche Autorität, dann freilich werden jene Anzeigen auch bei den Kälteren, selbst bei mir schwerer in der Schale wiegen. Ihre Antwort, Herr Parlamentsrat!«
»Mein Sohn«, sagte der Vater mit verhaltenem Unmut, »ist frei; er mag dem Könige nach seinem Wunsche dienen, wenn er sein Glück noch darin setzt.«
Stumm verbeugte sich der Intendant, schlug alle Erfrischungen aus, und der bekümmerte Vater sah mit einer Thräne im Auge dem fortrollenden Wagen nach. – »So ist es nun doch so weit gekommen«, rief er aus; »nun hast du es also, Edmund, was du wolltest, und ich durfte nicht Nein sagen. Nun wirst du Rehe und Hirsche schonen und deine Kugel für die Jagd auf deine Brüder sparen! – O welche Unbesonnenheit, daß ich ihn mit dem leichtsinnigen Alten fortließ, unter diesen Umständen; wenn die Blutmenschen das noch wüßten! – Ja, wir glauben mit Vorsicht und Weisheit das Schiff unsers Lebens zu regieren, und wütet der Sturm nicht jeden Augenblick, so lassen wir bei der ersten Windstille lässig die Ruder sinken und scheitern träumend am Felsen.«
Eveline kam aus dem Garten, der Alte umarmte sie zärtlich und seufzte: »Bald vielleicht bist du mein einziges Kind!«
»Haben sie dir den Edmund genommen?« fragte die Kleine.
»Jawohl, mein Töchterchen«, sagte der Vater.
»Sie geben ihn dir schon wieder«, schmeichelte Eveline, »wir können ihn doch am besten brauchen, denn die andern wissen gar nicht mit ihm umzugehen.«
In diesem Augenblick hörte man wieder in der Ferne schießen, und der Alte verbarg sich mit dem Kinde im innersten Zimmer des Hauses.
Er wurde bald wieder in den Saal gerufen und erstaunte nicht wenig, als er seinen Freund, den Arzt, wieder vor sich stehen sah, und zwar in einem Bauernkittel, so daß er ihn anfangs nicht erkannte. »Sei ruhig«, rief ihm dieser entgegen, »uns ist gar nichts Unglückliches, mir nur etwas sehr Lächerliches begegnet. Denke nur, kaum habe ich mich in diese verwünschte Puppe gesteckt, kaum habe ich den Fuß dem Gebirge zugewandt, so tritt zum Glück oder Unglück ein Bedienter auf mich zu, der mich erkennt und mich hinüber zum Marquis Valmont citiert, der plötzlich gefährlich krank geworden ist. Noch steht der Wagen angespannt, ich werfe mich hinein, lasse traben, was die Pferde laufen mögen, und hier vor deinem Hause fällt mir erst ein, daß ich meine unglückliche Garderobe, Degen, Perücke und alles, da hinten in der finstern Waldschenke in der Eil' gelassen habe. Hilf mir nur geschwind mit deinen Sachen aus; so kann ich nicht zum Marquis.«
»Und die beiden thörichten jungen Leute«, sagte der Rat, »sind nun allein, ohne deinen Rat und deine Aufsicht. Warum habe ich mich doch von deinem Leichtsinn anstecken lassen?«
»Mach' keine Umstände, Alter«, rief jener aus, »dies sind ja alles Kleinigkeiten gegen mein Elend!« – Er riß sich schnell die Kleider vom Leibe. – »Gib! schaff!«
Der Diener, der herbeigerufen war, half ihm. »Meine Kleider sind dir zu lang und vielleicht zu enge«, sagte der Rat.
»Thut alles nichts«, sagte der eifrige Doktor, »so imponiere ich dem Kranken vielleicht um so mehr; das schwarze Kleid her! den Busenstreif! die Weste fällt auf die Knie, schadet nichts! Nun die Perücke!«
»Du weißt ja, wunderlicher Mann«, sagte der Herr von Beauvais, »daß ich seit mehr als zehn Jahren diesen Schmuck hier in der Einsamkeit ganz abgelegt habe. – Es ist keine im Hause.«
»Keine Perücke!« rief Vila aus und ließ vor Schreck das schwarze Kleid niederfallen, in dessen Ärmel er schon mit einem Arme steckte. – »Nicht einmal eine Perücke! Mensch! Nun fange ich auch zu glauben an, daß du allen Glauben aufgegeben hast. Was fangen wir an?«
Der Rat und der alte Diener suchten den verdrüßlichen Freund zu beruhigen, der aber wenig nur auf ihre Worte hörte. »Ein Arzt soll ohne Perücke zum Kranken!« wiederholte er zornig, »das bringt die ganze Provinz in Aufruhr, das erfährt man in Paris, das gibt einen skandalösen Artikel im ›Mercure de France‹.Diese Monatsschrift erschien zu Paris erst von 1717 an und ist die Fortsetzung des »Mercure galant« (1672–1717), der hier offenbar gemeint ist. Ei, die Ungläubigen! So wäre es doch besser, kein Brot oder keinen Katechismus im Hause zu haben, als die allernotwendigste Hauptzier zu entbehren. Und der Marquis wird sich von mir in diesem kahlköpfigen Zustand gar nicht wollen kurieren lassen, und sein Fieber wird noch weniger Respekt vor mir haben.«
Aber alle seine Klagen waren vergeblich, er mußte in diesem sonderbaren Kostüm abfahren und begriff die Gleichgültigkeit des Rats über seine Verlegenheit am wenigsten. »Ich hatte dem alten Heiden«, murmelte er für sich, »mehr Freundschaft zugetraut, und alles, was die Kamisards bis jetzt angerichtet haben, ist doch nichts dagegen, daß ich mit Degen und Chapeaubas, schwarz gekleidet, mit Manschetten und allem Zubehör ohne Perücke einem vornehmen Kranken vor sein Gardinenbett treten soll. Nicht anders, als wenn man unter Menschenfressern lebte.«
So suchte er sich selbst durch Übertreibung über seinen Zustand zu beruhigen.
Es war zu Nismes eine große Gesellschaft zur Tafel des Marschalls geladen. Der Intendant, Herr von Basville, saß in der Nähe des Herrn von Montrevel, viele Offiziere und angesehene Einwohner umgaben den Tisch, und zu oberst schmückte die Gesellschaft die schöne Frau von Andrecy, die mit ihrem Gemahle zugegen war, um dies Fest zu verherrlichen. Einige ihrer Verwandtinnen, angesehene Damen der Stadt, saßen zwischen den männlichen Gästen, und alle schienen froh und der allgemeinen Drangsale des Landes nicht zu gedenken. Nur der Intendant der Provinz behielt seine ernste Miene und stimmte nicht in das wiederholte Gelächter der übrigen; er war mit dem Obristen JulienJulien, aus Orange, im Glauben der reformierten Kirche aufgewachsen, als Knabe Page Wilhelms von Oranien, später Oberst in dessen Armee, trat in französische Dienste und zum Katholizismus über, wurde im Dezember 1702 zur Unterstützung Broglies in den Krieg gegen die Kamisarden geschickt. in ein ernsthaftes Gespräch verwickelt, welcher ebenfalls den frohen Mut der Gesellschaft nicht zu beachten schien. Man hatte am gestrigen Tage wieder einen bedeutenden Vorteil über die Rebellen errungen, und alle schmeichelten sich, in kurzer Zeit diesen unglücklichen Aufstand geendigt zu sehen. Der Marschall war so guter Laune, wie man seit lange nicht an ihm gewohnt war; seine Einfälle wurden belacht, und die Huldigungen, welche er ziemlich merklich der Frau von Andrecy widmete, wurden von dieser mit Dankbarkeit genehmigt und mit seiner Artigkeit erwidert.
Der Obrist Julien erzählte dem Intendanten die wunderbare Art, wie er vor drei Monaten in den innern Gebirgen der Cevennen sei gerettet worden. Er hatte einen Streifzug kommandiert und glaubte in einem hitzigen Gefechte die Aufrührer schon ganz geschlagen zu haben, als er sich gegen Abend plötzlich von allen Seiten umringt sah. »Rund um uns«, erzählte er, »waren steile und kahle Berge; indem wir uns zum Rückzug anschicken, sehen wir plötzlich alle Höhen mit vielem Volke besetzt, vor uns und hinter uns wimmelte es von dunkeln Gestalten. Wir konnten über unsere Lage nicht lange zweifelhaft sein; denn plötzlich rollten große Steine in unsere Schar, die im gewaltigen Sprunge mörderisch unsere Leute zerschmetterten. Hier war an kein Aufstellen zu denken, sondern wir zogen uns nur fast fliehend nach einer Mühle an dem Gebirgstrome zurück. Ich war überzeugt, daß ich auch hier den Paß verlegt finden würde, und gab mich verloren. Die Felsen zerschmetterten rechts und links meine Soldaten, ohne daß Gegenwehr möglich war; nun sprangen von der andern Seite, wie die Gemsen, mehr als hundert von den steilen Höhen herunter, und es entstand in diesem Wirrwarr, in welchem wir keinen festen Fuß aufsetzen konnten, ein blutiges Gefecht; ich fühlte schon drei Wunden, und meiner streitfähigen Leute wurden immer weniger; die Finsternis brach herein, als in einem Augenblick, indem die Kamisards ihre heulenden Psalmen anstimmten, ein panischer Schreck den Rest meiner Mannschaft ergriff und alles sich nach der Öffnung des Thales stürzte. Die siegende Rotte verfolgte sie, und von jener Seite stürzten ihnen neue Feinde entgegen. Verblutend lehnte ich einsam an einer Felsenmauer und sah in der Dämmerung meine Kompanie niedermetzeln; jene bemerkten mich nicht, so sicher sie mir den Untergang geschworen hatten. Ich schleppte mich seitwärts nach der kleinen Brücke, die zur Mühle jenseit führt, meines Todes gewiß; aber ich fand sie unbesetzt. Einen Fehler, den ich den Rebellen, da Cavalier sie führte, wie ich im Geschrei und Getümmel erfahren, nicht zugetraut hatte. Dies ganze Unglück aber widerfuhr mir nur, weil falsche Kundschafter mir lügenhafte Nachrichten gebracht hatten; Menschen, die ich schon lange kannte, und deren Treue mir erprobt schien; sie hatten diese Rolle bloß gespielt, um mich desto sicherer zu betrügen, denn sie gehörten zu den Kamisards.«
»Dies ist das Erschreckliche«, sagte der Intendant, »daß wir keinem Menschen, keinem einzigen trauen dürfen. Die redlichsten, eifrigsten Patrioten, dem Anschein nach, verraten uns. Man wirft uns Strenge und Härte vor, aber ich fürchte, wir sind noch zu weich und mitleidig, denn dies treulose Gesindel verdient keine Schonung; es ist nur zu bändigen, wenn es fortgesetzte, unerbittliche Strenge sieht.«
»Ausrotten sollte man sie völlig«, warf der Marschall ein, der im eignen lebhaften Gespräch nur auf die letzten Worte gehört hatte.
Julien sah den Intendanten mit einem ernsten Blicke an, indem er seufzte: »Sie glauben also wirklich, daß diese Unglücklichen gar keine menschliche Rücksicht mehr verdienen?«
»Schwerlich«, sagte der Herr von Basville, »denn durch eigne Grausamkeit und Schändlichkeiten aller Art haben sie sich jeder Teilnahme unwürdig gemacht. Aber fahren Sie fort, Herr Obrist, wie wurden Sie in dieser bedrängten Lage gerettet?«
»Kaum noch«, sagte dieser, »eines Schrittes mächtig, schleppte ich mich über den Fluß, durch den Busch und über eine Wiese nach der Mühle, denn mir blieb keine Wahl. Es war nun völlig finster geworden, und doch hätte ich diese Mühle so gern vermieden, denn die Leute dort waren mehr als nur verdächtig. Zwei der Söhne waren schon längst zu den Rebellen übergegangen, und es war mein Vorsatz gewesen, nach meinem Siege alles Volk aus diesen Häusern mit mir zu nehmen und es im Gefängnisse verhören zu lassen. Ein Hund meldete meine Ankunft; dies war das letzte, dessen ich mir bewußt war, denn vor der Thür des Hauses sank ich ohnmächtig nieder. Als ich mich wieder besann, fand ich mich entkleidet auf einem Bette, meine Blessuren verbunden und viele sonderbare Gesichter über mir versammelt, die beim matten Schein einer Lampe einen höchst widerwärtigen Eindruck machten. Ein alter Mann mit weißen Haaren, welcher der Vornehmste schien, war der einzige, zu dem ich Vertrauen fassen konnte; desto abscheulicher waren einige Weiber, besonders eine bejahrte, die mir die Frau des Alten schien. ›Ihre Wunden‹, sagte der alte Müller, ›sind nicht tödlich, Sie werden sich bald erholt haben, sein Sie außer Sorgen.‹ – ›Kann ich es wirklich?‹ entgegnete ich, ›bin ich bei redlichen Unterthanen des Königs?‹ – ›Bei Gott ja!‹ rief der Greis mit Thränen im Auge, ›wir haben ihm schon manches Opfer gebracht und werden Sie schützen, obgleich Sie uns ganz zu kennen scheinen und Sie uns auch nicht unbekannt sind. Meine beiden Söhne sind unter Martern hingerichtet worden – aber der König hat es so befohlen, und Gott hat es zugelassen, wir rechten nun nicht mehr mit ihm.‹ Hier fingen die Weiber, besonders die älteste, ein entsetzliches Geheul an; einige junge Bursche sahen mit blutgierigen Blicken nach mir herüber; ich war auf alles gefaßt. ›Still!‹ rief der Alte, ›dieser Mann ist nicht als mein Feind, sondern als ein Hülfsbedürftiger unter mein Dach geraten, wer ihm nur ein Haar krümmen will, hat es mit mir zu thun! – Wir fanden Sie tot vor unserm Hause, wir erkannten Sie gleich‹, fuhr er, zu mir gewandt, fort; ›wir durften Sie nur ohne Hülfe lassen, so hatten wir Sie nicht ermordet. Aber ich habe das Blut gestillt, Sie können morgen zur Stadt zurück, und ich werde dafür sorgen, daß Sie mit dem frühesten zum nächsten Dorfe auf eine bequeme Weise geschafft werden, denn wenn unsere Brüder in Haufen ankommen, wie es morgen wohl geschieht, so dürfte ich Sie nicht mehr schützen können.‹ So geschah es. In der Nacht wurden einige streifende Rebellen abgewiesen, die nach mir suchten; noch in der Dämmerung ward ich auf einem kleinen Wagen bequem nach dem Ausgange des Thales geschafft, von wo ich mich sicher zur Stadt konnte bringen lassen.«
»Über diese falsche Tugend«, sagte der Intendant, »können wir uns wohl verwundern, aber wir müssen ihr unsere Achtung versagen, denn sie wäre nicht nötig, wenn diese Unglücklichen dem Könige treu blieben und seinen Befehlen gehorchten.«
Man war jetzt beim Dessert und den feineren Weinen, als sich plötzlich im Hause ein lautes Getümmel erhob. Man hörte verschiedene Menschen eilig die Treppe hinaufkommen, die Thüren sprangen auf, und herein stürzte der Pfarrer von St.-Sulpice, blaß und zitternd; ihm folgten einige Bürger, und unter diesen ein junger Mensch, der völlig außer sich zu sein schien. »Was gibt's?« fragte der Marschall gebieterisch, und der Intendant erhob sich und begab sich zum jungen Bürger. »Nun, Clement«, sagte er, »faßt Euch, was ist Euch widerfahren?« – »Ist dieser nicht der Anführer von der Bürgermiliz von Nismes?« fragte der Marschall mit Verachtung. – »So ist es«, erwiderte der Herr von Basville, »er führt den Streifzug der Freiwilligen.« – »Er scheint die Sprache auf seinem Zuge verloren zu haben«, sagte der Herr von Montrevel lachend.
»Sie sind hinter uns – sie werden gleich hier sein«, stotterte der junge Clement.
»Wer?« fragte der Marschall, der sich wieder gesetzt hatte.
»Cavalier und die Kamisards!« rief der junge Mensch.
»So schlimm, ganz so schlimm ist es wohl nicht«, nahm der Pfarrer das Wort, der gesammelter schien. »Aber unser Streifzug ist total geschlagen, und die Rebellen sind immer hinter uns drein gewesen und zeigen sich wirklich in der Ebene von Nismes so frech, als wenn sie die Stadt selbst bedrohen wollten.«
»So geht es«, sagte der Marschall schneidend, »wenn Bürgervolk sich in Sachen mischen will, denen es nicht gewachsen ist. Gebt dem jungen Menschen ein Glas Wein, daß er sich erholt.« Zugleich sah er den Intendanten von der Seite an. »Setzen Sie sich, Herr Pfarrer«, fuhr er dann fort, »Sie scheinen gefaßter, erzählen Sie etwas umständlicher.«
»Nach dem Befehl des gnädigen Herrn Marschalls«, sagte der Pfarrer, sich tief verbeugend, »brannten wir gestern das Dorf ab, welches den Rebellen Lebensmittel gegeben hatte, als sie sich dort einquartierten; darauf zogen wir aus, fünfhundert Mann stark, und dreihundert Soldaten marschierten zugleich mit hundert Dragonern jenseit des Flusses. Das arme, abgebrannte Gesindel lief in die Wälder heulend hinein, und wir verfolgten unsere Straße, indem wir etwa einhundert Rebellen flüchtig vor uns laufen sahen. Hinter dem Walde vereinigten wir uns mit den königlichen Truppen und schlossen bei Nages die Weinberge von drei Seiten ein. Es zeigten sich von der Seite Kamisards, die sich aber nach einigen Schüssen aus dem Staube machten. Nun rücken wir nach: wir rechts, die Soldaten links, zwischen die Berge hinein; wir geraten in das Gebüsche, und – als wenn es von allen Seiten Feuer spie, fahren die Kugeln in uns hinein, ohne daß wir jemand sehen; wir stutzen, wir machen Halt. Nun richten sich die Kerle in den Bergen auf, Heulen und Singen gellt mit den pfeifenden Kugeln auf uns ein; wir wehren uns und hoffen auf die königlichen Truppen, aber die Übermacht ist zu groß, unsere Leute fallen, wir müssen zurück. Schwer war es, aus den Bergen wieder zurückzukommen, der größte Teil unserer Mannschaft bleibt dort liegen; und wie wir endlich wieder in der Ebene sind, sehen wir das Militär auch schon in die Flucht geschlagen.«
»Geschlagen!« schrie der Marschall.
»Sie kommen wahrscheinlich uns nach«, antwortete der Geistliche.
»Die Freiwilligen«, sagte der Intendant, »scheinen wohl nicht gehörig unterstützt zu sein, wie es schon oft geschehen ist; und wie soll der Bürger standhalten, wenn der Soldat flüchtig wird?«
Der Marschall, hochrot im Gesicht, wollte etwas Zorniges erwidern, als einige Offiziere bestäubt und verwildert in großer Eile hereintraten. »Die Rebellen, Herr Marschall«, sagte ein junger Hauptmann, »zeigen sich vor den Thoren von Nismes; diesmal hat uns Cavalier einen schönen Streich gespielt; die Kundschaft lockte uns zwischen die Weinberge, die Freiwilligen vereinigten sich nicht mit uns, wie es verabredet war, und wir sind völlig geschlagen. Cavalier weiß seine Dispositionen wie ein alter Soldat zu machen.«
»Herr Marschall«, rief ein eintretender alter Obrist, »der Feind ist da! Und der schreckliche Catinat hat als Vergeltung, wie er es nennt, drei katholische Dörfer in Asche gelegt und mit eigener Hand die Kirchen angezündet.«
Man führte einige Gefangene herein und unter diesen ein Kind von zwölf Jahren. »Was soll der Bursche?« rief der Marschall.
»Es ist ein Bruder des Cavalier«, sagte der alte Obrist; »wir hatten diesen gefährlichen Anführer schon gefangen, wir hatten eine Brücke besetzt, und er konnte nicht zu den Seinigen zurück, als dieser Wurm, dieser Knabe hier, die Rebellen vereinigte, ihnen zuredete, mit aufgestreiftem Arm den Säbel schwingend auf uns stürzte, die Brücke eroberte, den Bruder frei machte, aber selbst unser Gefangener ward.«
»Satansbrut!« knirschte der Marschall; »fort ins Gefängnis mit allen, und wir, meine Herren, an unsere Posten!« Alle gingen eilig ab; die Gesellschaft hatte sich schon, ohne Abschied zu nehmen, entfernt; der Knabe sah dreist und lächelnd im Saal umher und folgte unbefangen seinen Wächtern; es war niemand als der Obrist Julien und der Intendant zurückgeblieben, der Hut und Stock nahm, um sich ebenfalls nach Hause zu begeben. »So kann es nicht fortgehen«, sagte Herr von Basville, »der König opfert ohne Frucht seine Armeen, und die Rebellen werden hartnäckiger und stärker.«
»Es wird sich ändern«, sagte der Obrist, »ich habe aus Paris die sichersten Nachrichten; – aber Sie zeigen ihm zu unverhohlen Ihre Geringschätzung, er weiß auch, was Sie über ihn nach Hofe berichten,«
»Kann ich anders«, sagte der Intendant »wenn ich ein treuer Diener des Königs bin? Sie haben alles gesehen und müssen mir in Ihrem Innern bezeugen, daß ohne diesen Marschall dieser Aufstand nie ein Krieg geworden wäre; er nährt ihn, ihn freut es, sich wichtig zu machen, er vergeudet bei den Weibern seine Zeit und ist nur aus armseliger Eitelkeit brav als Soldat, so wie es sein Stolz ist, die Närrinnen in sich verliebt zu machen,«
»Wenn wir aber einen bessern General bekommen«, sagte Julien, »so steht auch zu hoffen, daß man einmal das System dieser übertriebenen Strenge und Grausamkeit aufgeben wird und versuchen, was die Milde vermag.«
»Das kann kein guter Unterthan dem Könige raten«, sagte der Intendant, indem er sich mit einer kurzen Begrüßung vom Obristen trennte.
Auf den Gassen war Getümmel, und alles beeilte sich, den Rebellen, die gefährlicher als jemals schienen, Widerstand zu thun.
Es waren einige Tage verflossen, in welchen der Parlamentsrat seinen Sohn nicht gesehn hatte. Franz, der alte Diener, war indessen verreist, und Joseph sowohl als die weiblichen Dienstboten hatten es nicht gewagt, Edmund zu stören. Der Vater war tief bekümmert, denn so auffallend hatte sich der Sohn noch niemals von ihm zurückgezogen. Sein Schmerz lag vorzüglich in dem Gefühl, daß er nicht einfach den nächsten und natürlichsten Weg einschlagen konnte und mochte, in sein stets verschlossenes Zimmer mit dem ganzen Ansehn des Vaters zu dringen, um ihn über seinen Zustand zu befragen. Joseph erzählte ihm, daß er sich immer eingeschlossen halte, daß man ihn seufzen, ja weinen höre, daß er dann nachts sich aus dem Hause schleiche, um in den Bergen umher zu irren, dann ebenso heimlich morgens zurückkomme und jedem Menschen ausweiche, um sich von neuem zu verschließen. Auch scheine er strenge zu fasten, denn er habe keine Nahrungsmittel zu sich genommen und alles abgewiesen, was man ihm angeboten. – »Ich verstehe ihn gar nicht mehr«, sprach der Alte für sich, als er sich wieder allein sah; »seine übertriebenen Empfindungen zerrütten ihn, und ich, als Vater, muß ihn sehn zu Grunde gehn und kann gar nichts zu seiner Rettung thun. Endlich sind nun die dunkeln Geister aufgewacht, die ich so lange schon um uns her in ihrem Schlummer ächzen hörte; sie haben sich nun Wohl seiner Seele bemeistert.«
Es war spät und die Nacht still und finster, da sandte er die Diener schlafen, um ungestört mit seinem Sohne sprechen zu können, denn es schien ihm eine unerläßliche Pflicht, sich über dessen Zustand aufzuklären, auch drückte diese Ungewißheit sein Herz schmerzlicher, als es die Überzeugung eines wirklichen Unglücks hätte thun können. Er nahm also den Hauptschlüssel, um die große Treppe hinaufzugehn, als er die Thür seines Sohnes öffnen hörte; er stand still, und herunter stieg ihm entgegen eine totenbleiche Gestalt im dunkelgrünen groben Wams, das Gewehr über die Schulter gehängt, die Haare verwildert, die Augen erloschen. »Gott im Himmel!« rief der Vater aus, »mir ist, ich sehe ein Gespenst, und du bist es, mein Sohn!« – Er schwankte und mußte sich zitternd auf die Stufen der Treppe niedersetzen. »Bist du es wirklich?« – »Ich bin's«, antwortete Edmund mit dumpfer Stimme. – »Wie?« sagte der Alte, »so, in dieser Gestalt? So krank? In dieser Tracht? Siehst du doch aus wie ein Kamisard, als wärst du einer von ihnen.« – »So ist es auch«, antwortete der Sohn, »ich will jetzt zu ihnen ins Gebirge hinauf.«
Der Vater raffte sich gewaltsam auf, er faßte kräftig den Sohn in seine Arme und trug ihn so mit übermenschlicher Anstrengung in den Saal. Hier setzte er ihn in den Lehnstuhl, nahm dann das Licht, leuchtete ihm in die Augen und betrachtete seine ganze Gestalt; dann faßte er ihn bei der Brust und rief im heftigsten Ton: »Das wolltest du mir thun, Ungeratener?«
»Ja«, antwortete Edmund kalt, »ich kann nicht anders, ich muß! – Lassen Sie mich! Glaubte ich doch so einmal Ihren Beifall zu erwerben.«
»Als Rebell?« schrie der Parlamentsrat mit gewaltiger Stimme, »als Mörder? Den ich unter Martern auf dem Hochgericht soll sterben sehn? Der mein graues Haar beschimpft? Der den Vater in die Hände der Henker liefert?«
Der Sohn sah ihn starr an, aber kalt und ruhig; der Vater war aufs tiefste erschüttert und verlor vor diesem toten Blicke die Gewalt, die ein übernatürlicher Schreck ihm nur auf Augenblicke geliehen hatte; er fiel laut weinend auf den Sohn, der die Arme um ihn schlug, ihn küßte und durch Liebkosungen den Jammernden zu trösten suchte. »O mein Sohn!« fing der Vater nach einer langen Pause an, oft durch Schluchzen unterbrochen, »hab' ich doch seit manchem Jahre diese Zeichen deiner Liebe nicht gespürt und nun eben, in diesem entsetzlichen Augenblicke, in welchem mein ganzes Leben wie in einem Traum zerrinnt, in welchem du so gewaltsam meinem Herzen entrissen wirst! – Ich kann mich nicht fassen, ich kann dich nicht fragen; und was soll ich auch erfahren, wenn meine Bitten, meine Liebe, wenn nichts deinen starren, rätselhaften Willen brechen kann? O Gott der Liebe! Gibt es in allen Empfindungen, die du geschaffen hast, eine innigere als die des Vaters zum Kinde? Und wissen wir, welche ungeheure Schmerzen wir uns erflehen, wenn wir den Himmel um Kinder bitten?«
Sie hielten sich lange umarmt. Endlich sagte Edmund: »Lassen Sie mich mit Ihrem Segen scheiden, mein Vater.«
»Den kann ich dir nicht zu deinem gräßlichen Vorhaben geben«, antwortete der Rat; »es ist so furchtbar, daß ich dich und mich noch immer wie zwei Gespenster anstarren muß,«
Beide schwiegen lange Zeit. Endlich sagte der Vater: »Ich mag dich nicht bitten, dich niederzulegen, denn ich muß fürchten, du gehorchst mir nicht, es nutzt nicht, wenn ich mich auch durch Schlaf beruhigen wollte, denn jeder Schlummer wird mein zerrüttetes Gehirn fliehn; was ich morgen erfahren würde, kann ich auch heut' noch hören; wenn ich es fasse, wenn ich das Unbegreifliche verstehe, so wird es mich vielleicht weniger entsetzen, ich werde mit Gram und Schmerz dem Notwendigen vielleicht nachgeben, wie dem Sturm oder Erdbeben; aber von diesem Gespenstergrausen, von diesem fast fratzenhaften Rätsel, das mich rasend zu machen droht, befreie mich wenigstens durch Sprechen und Erzählen.«
»Läßt es sich sagen, mein Vater?« fing Edmund an, »werden Sie es fassen, was ich selber nicht mit meiner gewöhnlichen Erkenntnis begreifen würde? Wir würden es ja nicht verstehen, wenn dieser Saal sich plötzlich um uns in hesperische Gärten verwandelte, aber wir würden die Früchte genießen, wir würden im Wunder leben und sein, ja durch dasselbe und darüber vergessen, daß es noch eines andern Erkennens bedürfe.«
»So hat dich also jener Wahnsinn«, rief der Alte, »auf seine Weise auch angefaßt und in die dunkeln Falten seines Gewandes eingewickelt? Nun davor sicher zu sein, hätt' ich wohl geschworen! Und doch hätt' ich unrecht gethan, denn jede Schwärmerei ist ja doch nur die Zwillingsgeburt der scheinbar unähnlichsten und feindseligsten.«
»Sie sprechen von Ihrem Gemüte aus«, sagte der Sohn, »und ich verstehe Sie vollkommen, aber Sie mich nicht.«
»Nun gut, Edmund«, sagte der Rat, »du magst recht haben, erzähle nur, sprich, vielleicht komm' ich deiner Seele näher.«
»Wie sehr ich diese Hugenotten haßte«, fing Edmund wieder an, »wie sehr ich ihren Krieg gegen den König, ihre Schwärmer und Propheten verabscheute und den groben Betrug des Gesindels verachtete, brauche ich Ihnen nicht zu sagen, denn meine gereizte Empfindung machte Sie unglücklich, und es scheint mein Schicksal, daß ich Ihr Elend bin, ich mag mich auf eine Seite stellen, auf welche ich will, so jetzt, wie damals.« – Er hielt ein Weilchen inne und sprach dann weiter: »Mit diesen Empfindungen zog ich die Bauernkleider an, die mir so verhaßt waren, unser Freund verließ mich, wie Sie wissen, und ich ging mit seinem Sohne in das Gebirgsthal hinauf. Florentin scherzte über unsere Wanderung, ich war tief verdrüßlich und schämte mich meiner Absicht.
»Als wir tiefer im Gebirge waren, schlichen auf dem einsamen Fußstege uns einige Gestalten vorüber, wir folgten demselben Wege. Wir gelangten mit ihnen nach einer halben Stunde zu einer einsamen Scheune. Man klopfte an, sie wurde uns aufgethan. Ich kann die Empfindung nicht beschreiben, mit welcher ich in diese bäurische Versammlung trat. Es war ein Ekel des Körpers und der Seele. Einige knieten, andere standen betend. Ich begab mich zu diesen und suchte ihre StelleStellung. nachzuahmen. Alles ging still zu, aller Augen waren auf den Boden geheftet, nur einige alte Weiber murmelten zwischen den Zähnen ihre Psalmen. Plötzlich fiel ein Knabe von ungefähr acht Jahren nieder und zuckte wie in Krämpfen. Mein Widerwille erreichte seine höchste Stimmung, denn nun sah ich ja das fratzenhafte Schauspiel vor mir, das schon seit Jahren in der Erzählung meinen heftigsten Verdruß erregt hatte. Das Kind erhob die Brust, bäumte sich und ließ sich dann wieder fallen, und ich glaubte deutlich die willkürliche Anstrengung wahrzunehmen. Alle Gläubigen wandten hoffend und getröstet ihre Augen dahin. Nie in meinem Leben war ich noch meiner selbst so sicher gewesen, so felsenfest in meiner Überzeugung. Meine Gedanken wurden immer zorniger, ich wünschte mich nur erst zurück, um meinen Haß so ganz frei gewähren zu lassen. Plötzlich ertönt es mit heiserer Stimme aus dem Kinde: ›Wahrlich, ich segne euch, ihr sollt gesegnet sein!‹ – Nun im Strom, der unaufhaltsam floß, eine Menge von Gebeten und Ermahnungen sowie Stellen aus der Heiligen Schrift und ihre Erklärung, alles auf die gegenwärtige Zeit gedeutet. Ich erstaunte noch mehr, als der Knabe rief: ›Wahrt euch, Brüder; denn zwei Verräter sind mit in die Versammlung gedrungen, die es böse mit euch meinen!‹ Ich sah auf, der junge Vila war blaß, er stand an der Thür und schlüpfte hinaus, indem sie wieder Neuankommenden geöffnet wurde. ›Der eine ist entronnen‹, wimmerte der Knabe, indem er mit verschlossenen Augen und Sinnen dalag, ›aber der zweite Spötter ist noch zugegen, er weiß es nicht, daß ich, der Herr, ihn selber hieher geführt habe, der meinige zu werden.‹ Ich erschrak, mein Inneres war bewegt, und Empfindungen stiegen in meinem Herzen auf, die ich noch nie gekannt hatte. Man fing an, Psalmen zu singen, und so widerwärtig sie auch klangen, so machten sie mir doch keinen gehässigen Eindruck, mein Gemüt folgte den herrlichen Worten; das Unglück dieser Verlassenen, ihre Zerknirschung vor dem Herrn, der grauenhafte Hochmut ihrer Gegner zitterten und kreischten herzzerreißend in diesem unharmonischen Gewinsel; es dünkte mir lächerlich, daß mir bisher immer der Wohllaut notwendig gewesen war, wenn ich mein Herz im Gebet hatte erheben wollen. Schlägt nicht die allgemeine Wehklage der Schöpfung an sein Ohr? Eilt nicht Preis und Dank mit der Thräne und dem Geschrei des Schmerzes zugleich vor seinen Thron? An dieses Gefühl reihte sich manches andere; nur blöde, arm und unzusammenhängend dünkte mir mein bisheriger Lebenslauf. ›Ist es denn etwas anders mit den Bildern, Lichtern, Tempeln?‹ sagte ich zu mir selber, ›mit dem ganzen Prunk des Reichtums und Glanzes? Wird der Herr, der als Knecht unter uns wandelte und sich mißhandeln ließ, nicht dadurch verhöhnt? Stellen ihn diese Armseligen nicht von neuem unsern Augen dar? Kann ich nicht in jedem dieser Verfolgten ihn selber begrüßen, ihn selber speisen, kleiden, ihn verteidigen?‹ – Da war mir, als wenn aller Schmerz und Kampf, den diese Gebirge seit Jahren erduldet, auf einmal in einer unermeßlichen Heerschar durch meinen wunden Busen zog. Ein anderer Knabe fiel jetzt nieder und rief: ›Geht hinaus in den Wald, Elias MarionElias Marion, geboren zu Barre (Departement Lozère, Arrondissement Florac), einer der angesehensten »Propheten«, wanderte 1704 nach der Schweiz aus, kehrte im nächsten Jahre zurück, begab sich aber sehr bald wieder ins Ausland und kam im Herbst 1706 mit zwei andern »Propheten« nach London, wo er durch seine »Weissagungen« (aufgezeichnet im »Théâtre des Cevennos«, S. 72 ff) großes Aufsehen erregte; nach mehreren Reisen in Deutschland, Schweden und der Türkei, auf denen er überall »weissagte«, starb er 29. Nov. 1713 zu Livorno. und einige Gläubige ziehn heran, sie sind verirrt, lockt sie mit Psalmen herbei, denn heut' habt ihr keine Verfolger zu fürchten.‹ Einige aus der Versammlung gingen hinaus und sangen mit lauter Stimme, und bald darauf kamen sie mit einer Anzahl Begeisterter wieder, unter denen ein großer Mann hervorragte, den sie alle ehrfurchtsvoll begrüßten. ›Triumph!‹ sprach der Knabe am Boden laut, ›der Ungläubige hat überwunden, er wird in das Reich des Herrn eingehn.‹ Da war mir, als wenn ich plötzlich gegen meine Brust den Schlag eines großen Hammers empfände. Ich widerstrebte noch diesem Gefühl und bezwang es. Der demütige Gottesdienst der armen Gemeine ward mit Gesang und stillbegeisterter Rede fortgesetzt. Marion sprach Worte des Lebens, es durchdrang alle meine Kräfte, in welchem ungeheuern Irrtum ich bis dahin gewandelt hatte. Alles Zufällige fiel vor mir nieder, es wurde mir vergönnt, den Herrn und die Kraft seiner Wunder in ihrer einfachen Herrlichkeit und in seiner demütigen Gestalt anzuschauen. War durch Prunk, Legende, falsche Rührung und kunstreiche Erhebung bis dahin mein Gemüt doch nur verschüttet worden, wie prachtvolle Umhänge von Seide und Gold den reinen Strahl des klaren Lichtes nur hemmen und seine Glorie mit falschem Glanze färben. Mein Herz zerknirschte sich und ward wie eine Wunde von Schmerz und Rührung; mein Geist wurde zum Kinde. Ganz nahe stand der Höchste neben mir und reichte mir die blutende Hand, die jetzt wieder von uns Frevlern war durchstochen worden. Der Blick seines Thränenauges ging in meinem Geiste auf, da ward alles in mir zornige Wehmut und freudiger Gram, und in der Bewegung empfand ich wieder einen Schlag, als sich jetzt die Versammlung trennte.
»Was ist Natur? So hatte ich mich oft gefragt, wenn ich begeistert durch Waldberge und grüne Thäler geschweift war, vom Morgenhauch magisch verdeckt und erleuchtet, vom frischen Wind durchrauscht und in der Fülle aller lieblichen Ahndungen, die uns zu süßen Träumen laden. O mein Vater, nun verstand ich die tiefe Klage in Wald und Berg, im rauschenden Strom, das Wort des Ewigen selbst, und sein hohes Mitleid mit uns Armen, Verlornen brauste mir aus allen Wellen, von jedem Gezweige entgegen. Mit Millionen Zungen schalten die unendlichen Laubbäume meine träge Säumnis. In Vergangenheit und Zukunft drang mein Blick. Mein Gedanke war Anbetung, heiligende Furcht mein Gefühl.
»Im tiefsten Walde warf ich mich hin und ließ meinen fließenden Thränen ihren Lauf. Nun erging die dritte Mahnung an mich, und ich widerstand ihr nicht länger. In nächtlicher Einsamkeit ergoß sich mein ganzes Wesen in Gebet und Lobgesang, wundervoll fanden sich ohne alle Bemühung die seltensten Worte zusammen; wie die Thräne ohne Vorsatz rinnt, wie Welle der Welle im Strom folgt, wie der Wind das unzählige Laub des Waldes erregt, so von einem höhern, unsichtbaren Geist getrieben, ward meine Rede Weissagung. Dann war ich erschöpft und wie ein neuer Mensch. Ich kannte mein Gestern nicht mehr. Im Spiegel meines Innern sah ein ander Auge mir entgegen als das gewohnte, und doch war dieses nur mein wahrhaftes Selbst.
»Bald ruhend, bald wandelnd kam ich mit der Dämmerung der Frühe in die Gegend von Sauve hinüber, im innern Gebirge. Sie kennen, mein Vater, die hohe Lage der dortigen traurigen Landschaft, kein Baum, kein Strauch weit umher, kaum einzelne Grashalme auf dem dürren weißen Kalkboden, und so weit das Auge reicht, Blöcke, Gruppen, Massen von Kalksteinen in allen Formen, wie Menschen, Tiere, Häuser, blendend und ermüdend, umhergestreut, und dazwischen Kiesgerölle und etwas tiefer das finstre, einsame Städtchen. Hier warf ich mich wieder nieder und schaute in die wüste Zerstörung hinaus und über mir in den dunkelblauen Himmel hinein. Sonderbar, wie sich hier mein Gemüt verwirrte. Ich kann es in keinen menschlichen Worten wiedergeben, wie mir plötzlich hier jedes glaubende Gefühl, jeder edle Gedanke untersank, wie mir die Schöpfung, die Natur und das seltsamste Rätsel, der Mensch, mit seinen wunderbaren Kräften und seiner gemeinen Abhängigkeit vom Element, wie toll, widersinnig und lächerlich mir alles dies erschien. Ich konnte mich nicht zähmen, ich mußte unaufhaltsam dem Triebe folgen und mich durch lautes Lachen erleichtern. Da war kein Gott, kein Geist mehr, da war nur Albernheit, Wahnwitz und Fratze in allem, das kreucht, schwimmt und fliegt, am meisten in dieser Kugel, die denkt, sinnt und weint und unterhalb frißt und käut. O lassen Sie mich verschweigen und nicht wieder finden, welche rasende Gebilde meinen Sinn bemeisterten. Vernichtung, totes kaltes Nichtsein schienen mir einzig wünschenswert und edel. Ich war ganz zerstört, und schwer ward mir der Rückweg zum Leben, aber ich fand ihn endlich mit Hülfe des Erbarmenden.«
Der Vater faßte die Hand des Sohnes. »Sieh, mein Kind«, sagte er weich, »so wie alle diese wunderlichen Zustände im irren Wechsel durch deinen Geist gezogen sind, so wirst du dich auch gewiß wieder sammeln und ganz zu uns zurückkehren können. Dein verstörtes Herz wird von diesen Erschütterungen ausruhen und sich besinnen, und dann wird dein Verstand und freier Wille deinen schrecklichen Vorsatz wieder aufgeben.«
»Nie! mein Vater«, rief der Jüngling mit plötzlicher Heftigkeit, »dies war meine Versuchung in der Wüste, die mir der Erbarmende nach wenigen Stunden abgekürzt und dann seine Vaterarme wieder geöffnet hat. Sie hätte auch Wochen und Monden dauern können, wenn er nicht Mitleid mit meinem schwachen Herzen gehabt hätte. Sie glauben mir nicht, Sie zweifeln, aber was werden Sie sagen, wenn ich Ihnen die unleugbarsten Beweise geben kann, daß meine Erleuchtung keine falsche, keine erkünstelte ist, wenn Sie mir selbst werden gestehen müssen, daß ich durch sie nicht bloß mich, sondern auch alles außer mir auf die rechte Art erkenne?«
»Wie meinst du das?« fragte der Alte verwirrt, »ich verstehe dich nicht, mein Sohn,«
»Als ich wieder zu Menschen gelangt war und mich erquickt hatte, wandelte ich wieder zum grünen Wald, der sich nach FloracStadt am linken Ufer des Tarn, Departement Lozère. zu erstreckt, dort, wo die Klippen den großen Charakter annehmen, bis nach dem Gebirge Lozère.Ein Teil der östlichen Cevennen. Hier ward mir wieder wohl, und ich blieb die Nacht im Freien. Was thaten Sie in dieser zweiten Nacht meiner Entfernung? Wo ist Franz geblieben? Glauben Sie, daß ich nicht alles weiß?«
Der Vater sah ihn erschreckend an. »Was weißt du?« fragte er stotternd.
»Indem ich mein Gemüt wieder zum Heiland wandte«, sagte der Sohn, »und meine Verblendung ergründen wollte, daß ich ihn auch hatte verfolgen helfen, mußte ich im Sinne an Sie, meine Schwester und unser Haus denken. So wird es auch gewiß nach dem Tode sein, daß sich die Seele noch lange in die süße alte Gewohnheit zurücksehnt und ängstigt und noch lange nicht die neuen Gedanken und das fremde Dasein fassen kann. Plötzlich, indem meine Sehnsucht Sie erfaßte, sah ich Sie; alles war still im Hause. Sie gingen mit Franz leiser als gewöhnlich und höchst vorsichtig in Ihre Bibliothek. Die Laden wurden vor die Fenster gelehnt, die Thüre verschlossen, es brannte nur eine Kerze. Darauf rückten Sie mit Franzens Hülfe die erste Reihe der Folianten mit dem Schranke zugleich zurück, durch den Druck einer Feder öffneten Sie das Paneel,Tafelwerk, Getäfel. das sich an der Wand hinzieht, und leuchteten in den kleinen verschlossenen Schrein. Mehrere Kästchen sah ich dort stehen, es waren Juwelen von kostbarem Wert, von denen ich nie gewußt, von denen Sie mir nie etwas gesagt hatten, aber Franz schien alles zu kennen. Sie öffneten die Etuis, Sie ordneten, Sie fügten noch einiges hinzu. Franz weinte und sagte: ›So wird nun endlich mein Wunsch erfüllt, in Genf künftig zu leben und den Glauben offen zu bekennen, den ich hier habe verleugnen müssen.‹ Auch das war mir neu und unerwartet. Sie umarmten hierauf den alten Diener recht herzlich, küßten ihn auf den Mund und sagten gerührt: ›Du bist nun nicht mehr mein Diener, sondern mein Freund, mein vertrautester Freund, denn dir übergebe ich meine ganze Wohlfahrt, mein Vermögen und meine Kinder. Gott führe dich auf deinem Weg hin und zurück, gib die Briefe dort in die sichere Hand, zugleich mit diesem kleinen Schatz; schleiche dich, wie du kannst, über die Grenze, dann sind wir geborgen, und komme recht bald mit guten Antworten zurück.‹ Noch in derselben Nacht hat er fünf Meilen zurückgelegt.«
Der Alte zitterte heftig; er betrachtete den Sohn zweifelnd, sein Gesicht war blaß. »Wo hast du dies alles gesehen?« fragte er endlich.
»Drüben im Gebirge Lozère, sieben Meilen von hier.« Man schwieg. »Ich muß dir glauben«, sagte der Vater, »sei es Wunder, Wahnsinn, eine unentdeckte Kraft der Natur, ich sehe, aber ich begreife nicht. Alles ist freilich so, wie du gesagt hast, aber dein Wesen ist mir entsetzlich. Glaubst du denn nicht, wie du auf so ungewöhnlich seltsame Weise in diese Stimmung, Überzeugung und Wundergabe geraten bist, daß es auch wieder Wege geben kann, die dir der Himmel, wenn du ihn gläubig und demütig anrufst, eröffnen mag, um dich zurückzuführen in das gewöhnliche Geleise der Menschheit, von jenen furchtbaren Klippen hinweg, auf denen du verschmachten mußt?«
»Sie verstehen mich nicht, sage ich noch einmal«, rief der Jüngling, »ob ich gleich Ihre Meinung ganz verstehe. Sie vertrauen selbst den Zeichen nicht, die ich Ihnen gegeben habe. Doch«, fügte er lächelnd hinzu, »Sie sind nicht so ganz verstarrt, soeben kommt ein besserer Gedanke, zwar auch aus der Gegend des Unglaubens, in Ihrer Seele.«
»Und welcher?« fragte der Vater. »Fast wirst du mich glauben machen, daß du in alle verborgene Tiefen des Herzens dringen kannst.«
»Soeben dachten Sie«, sagte Edmund, »laß ihn sein Wesen treiben, das Schlimme hat ja nun schon den höchsten Grad erreicht, vielleicht will es Gott, daß er auf diesem mehr als wunderbaren Wege endlich sein Heil findet, und die Schwärmerei, die ihn jetzt zum Wahnsinnigen macht, später durch Vernunft und wahre christliche Demut abkühlen lernt. So denken Sie von mir, so verleugnen Sie den bessern Geist.«
»Mein Sohn«, sagte der Alte mit erhobenem Blick, »ist es ein guter Geist, der dich treibt? Ist es nicht vielleicht die verwilderte Natur selbst in dir, die dich über ihre eignen Schranken hinausreißt««
Der Sohn sah ihn wieder mit jenem schrecklichen Blicke an, der den Vater verstummen machte. »Du bist frei«, sagte der Alte, »nur die Liebe soll dich zurückhalten, keine Gewalt. Geh denn und folge deinem Herzen. Mein Gebet wird dich begleiten, und vielleicht hat es auch die Kraft, das Schrecklichste zu mildern oder zu verhüten.«
»Sie haben gewiß nichts dagegen«, sagte Edmund ganz milde, »daß ich meinen armen Brüdern mein geringes Vermögen mitbringe, denn sie bedürfen es mehr als wir.«
»Nimm auch noch diese Börse von mir«, sagte der Vater, »ich will nicht wissen, wozu ihr sie anwendet; aber die Unglückseligen dort sind bedürftig.«
»Franz kommt!« rief Edmund.
»Wo?« fragte der Rat.
»Er ist noch weit hinter dem Berge, ich seh' ihn nur mit meinem innern Auge. Der übervorsichtige Alte! Er hat den Brief in seinem Stiefel verborgen, da lehnt er sich an einen alten Baum und zieht ihn hervor. Ich könnte Ihnen den Brief lesen, wenn ich wollte, aber ich sehe, daß er für Sie gute Zeitungen enthält, damit sei es genug. Lassen Sie mich nun gehn, eh' der Alte kommt und mir mit seinem Heulen das Herz von neuem schwer macht oder meinen Zorn erregt.«
Vater und Sohn hielten sich lange umschlossen; der Greis schien in Wehmut und Thränen zu vergehn; Edmund machte sich gelinde aus den väterlichen Armen los, kehrte noch einmal zurück und küßte den Vater. Eilig ging er durch den Garten, den Weinberg hinauf, stand oben noch einmal still und winkte grüßend mit dem Tuche herunter, indem Franz von der entgegengesetzten Seite aus dem Walde trat und schon von fern den Brief triumphierend hoch emporhielt.