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Die Schuld

. Im Nordlandsamt, auf der Vogtei zu Salten, wohnte im Anfang des vorigen Jahrhunderts ein Vogt mit Namen Niels Heggum. Es gab zwar Leute, die meinten, er heiße eigentlich Christian Heggum; er konnte aber Dokumente vorzeigen, nach denen er das Recht hatte, sich Niels zu nennen, und so blieb es dabei.

Zu der Zeit, wo wir mit dem Vogt zusammentreffen, war er nahe an den Sechzigern, sah aber viel älter aus. Er war ein kleiner, gebeugter Mann, zittrig und schüchtern, mit einer gewissen Vornehmheit im Benehmen. Einem Gerücht zufolge sollte er ein Geheimnis von Kopenhagen, wo er mit einem ältern Bruder Jus studiert hatte, mit heraufgebracht haben, und dieses Geheimnis, so hieß es, sei der Art, daß es ihn schließlich aufgerieben habe. Ob an diesem Gerücht etwas Wahres sei, konnte nicht bewiesen werden, aber wo Rauch aufsteigt, pflegt gewöhnlich auch ein Feuer zu sein.

Es war nämlich von zwei Brüdern einst nur einer zurückgekehrt, der andre war, gleich nachdem er sein Examen mit Auszeichnung bestanden hatte, in Kopenhagen gestorben. Und da hieß es denn, Christian Heggum, der den größten Teil seiner Zeit dort verbummelt hätte, habe sich den Namen des toten Bruders angeeignet und diesen als Christian begraben lassen. Nach einiger Zeit sei er dann als Niels Heggum unter den Bewerbern um ein Richteramt in seinem Vaterland aufgetreten und habe die Stelle dann auch auf Grund seines ausgezeichneten Examens erhalten. Ein Amt so hoch im Norden, in einer einsamen Gegend hatte damals nicht viele Bewerber, und die Überwachung war in jeder Beziehung schlaff.

Die Sache wäre auch vollständig gelungen, wenn sie nicht doch einen Haken gehabt hätte. Meistens hat ja so eine Sache einen Haken, und daran bleibt sie oft gerade noch vor ihrer Vollendung hängen.

In diesem Falle war der Haken nun ein Weib. Der falsche Niels Heggum brachte nämlich eine Frau mit nach Norwegen. Ob er sich diese auf dieselbe Weise erworben hatte wie sein Amt, das wußte niemand, aber eine Herzenswahl schien es jedenfalls nicht gewesen zu sein. Die Frau war mißvergnügt und hochmütig gegen jedermann, und obgleich ihr Mann damals noch ein schönes und vornehmes Äußere hatte, behandelte sie ihn doch mit abstoßender Kälte und Geringschätzung.

Nach Verlauf eines Jahres gebar sie ihm indes ein Töchterlein, und nachdem dies vollbracht war, ging ihr ganzes Trachten darauf hinaus, wieder nach Dänemark zurückzukehren. Bei ihrem Manne stieß sie damit auf kein Hindernis, aber es mußte doch ein solches dagewesen sein, denn erst nach weitern zwei Jahren löste sie das gezwungne Verhältnis, und sie reiste nach Kopenhagen ab.

Von dieser Zeit an schloß sich der Vogt mit seinem Töchterlein von jedermann ab und zeigte sich unter den Menschen nur noch, wenn es durchaus nötig war. Aber trotz der Abgeschlossenheit wurde das Kind nicht vernachlässigt. Der Vogt war, wie gesagt, ein Mann von vornehmen Manieren und hielt streng auf des Kindes standesgemäße Erziehung, die zum Teil darin bestand, daß es von andern Kindern ganz fern gehalten wurde.

Im ganzen wurde dem Vogt der Frieden zu teil, den er suchte, und wenn er trotzdem bei sich selbst keinen Frieden fand, so konnte niemand etwas dafür. Es hieß auch, er sei oft in Geldverlegenheit und mache Schulden, aber so lange seine Amtskasse nicht darunter leide, gehe das niemand etwas an. – Vielleicht sei er ein schlechter Haushalter, vielleicht verlange auch die abwesende Gattin ihren Teil am Einkommen, das könne man allerdings nicht wissen, aber klar sei es, daß der Vogt seinem Schicksal unterliege. Indessen verging doch ein Jahr nach dem andern, und der Vogt wurde alt; denn die Geldnot ist ein Blutsauger, der oft recht langsam zu Werke geht – wenn er nur das Mark bekommt, dann können seinetwegen die Knochen gern herumgehn und den Menschen spielen.

Aber wie das Gesetz dem Verurteilten zuletzt noch eine Herzstärkung gewährt, damit er seine Strafe aushalten kann, so gab das Schicksal dem verzagten Mann eine Stütze, und da diese von Tag zu Tag heranwuchs, wurde ihm seine Schwäche weniger fühlbar, und wenn die Stütze manchmal selbst schwankte, fiel sie doch nicht um.

Diese Stütze war sein Kind, das kleine Mädchen, das die unversöhnliche Frau ihm geschenkt hatte – etwa zur Belohnung für einen geleisteten Dienst? Wenn es so war, dann war der Mann königlich belohnt worden, denn das Kind wurde eine ausgezeichnete Tochter, die mit der größten Liebe an dem Vater hing. Daß dieser vielleicht ein schlechter Beamter war, davon verstand sie nichts; ob er an Geldmangel leide, davon wußte sie nichts, aber daß er der fügsamste Kamerad war, den sich ein Kind nur wünschen konnte, das wußte sie, und um etwas andres kümmerte sie sich nicht. Mit ihm plauderte sie, von ihm lernte sie, er war ihr einziger Umgang, und ihm schenkte sie ihr ganzes Herz.

Zu der Zeit, wo der Bezirksvogt Heggum und seine Tochter Engel Marcilie in dieser Erzählung auftreten, war aber der eben beschriebne Zeitabschnitt längst vorüber. Da hatte Engel ihr dreiundzwanzigstes Jahr vollendet, und obgleich der Vater seinem Amt noch vorstand, war er doch hilfloser als je, und manche behaupteten, die Tochter sei es, die das Ganze im Gang erhalte.

Klug genug war sie jedenfalls dazu. Sie hatte vom Vater alles gelernt, was dieser selbst wußte, und nachher hatte sie auf eigne Faust an ihrer Bildung weiter gearbeitet. Ihr Geist war voll Hoheit und Kraft, und die Einsamkeit, in der sie lebte, machte sie still und in sich gekehrt. Sie war auch jetzt mit ihrem ganzen Herzen ausschließlich auf den Vater angewiesen, aber die Kindesliebe hatte nicht mehr die alte Begeisterung für den schönen Vater, der so viel mehr wußte als die Tochter; sie hatte sich nach einer andern Richtung hin vertieft, wo die Tochter der starke Führer wurde und der Vater das hilflose Kind – die Liebe hatte sich in Mitleid verwandelt. Die Fürsorge für den Vater füllte Engels ganzes Leben aus. Ihre ersten Jugendjahre hatten in dieser Luft eine Knospe angesetzt, die sich unter demselben Einfluß zur Blüte entwickelt hatte. Noch hatte diese auch die frische Schönheit der Entfaltung, und erst später, als von andrer Seite her Stürme auf sie eindrangen, mußte sie sich beugen.

Über eins hatte der Vogt seine Tochter doch in Unwissenheit zu erhalten gewußt, das waren seine Schulden. Er benahm sich dabei wie andre bei einem verborgnen Schatz: er wachte ängstlich darüber. Natürlich war es aber mehr die Ursache der Schulden als diese selbst, was ihn zu einem so hartnäckigen Schweigen verleitete.

Immerhin war ihm ein Mitwisser nötig, und einen solchen hatte er in einem auf der andern Seite der Meerenge wohnenden reichen Kaufmann gehabt. Dieser hatte ungefähr in demselben Alter wie der Vogt gestanden, und sie hatten sich gekannt, seit sich dieser im Orte niedergelassen hatte. Obgleich sie sich nur selten sahen, bestand doch eine Art Freundschaftsverhältnis zwischen ihnen, das wenigstens von des Kaufmanns Seite ehrlich gemeint war.

Aber vor zwei Jahren war dieser Kaufmann plötzlich gestorben, und da er keine Kinder hatte, und seine Erben nichts mit dem Geschäft zu thun haben wollten, wurde der Laden und die ganze Einrichtung mitsamt den Waren und ausstehenden Schulden an den Meistbietenden verkauft, an einen ältern Junggesellen Namens Rejthan, der das Geschäft auch sofort an Ort und Stelle übernahm.

Einige Zeit, ehe dies geschah, hatte der Schreiber des Vogts eine andre Stelle übernommen, und da sich niemand um den ledigen Platz beworben hatte, sah sich Engel genötigt, die Kontorarbeit selbst zu übernehmen. Als aber der neue Kaufmann angekommen war, wurden alle Leute, die zur Zeit des verstorbnen Herrn auf dem Hofe gedient hatten, verabschiedet, und unter ihnen war auch ein junger Mann, der sich nun auf der Amtsstube des Vogts meldete und auch gleich angestellt wurde.

Der Kaufmann zögerte nicht lange, seinen Besuch auf dem Schulzenhof abzustatten, und diesesmal hatte es den Anschein, als wolle der Vogt trotz seiner Menschenscheu eine Ausnahme machen – Herr Rejthan wurde nicht allein gut aufgenommen, sondern auch dringend zum Wiederkommen eingeladen, eine Aufforderung, die er nicht unbenützt ließ.

Während der nächsten zwei Jahre schien auch das Verhältnis zwischen den beiden immer enger zu werden; der Vogt ermannte sich wieder und bekam noch einmal einen Anflug von dem früher so vornehmen und dienstbeflissenen Beamten, und der Kaufmann verbarg seine rohe Natur gut hinter Schloß und Riegel und that, als lasse er sich mit Freuden um den Finger wickeln – besonders von dem Fräulein. Daß aber trotzdem auf beiden Seiten etwas war, was verborgen wurde, konnte einem beobachtenden Blicke nicht entgehn – und ein mißtrauischer Beobachter war Engel vom ersten Zusammentreffen an gewesen.

Daß Rejthan eine gewisse Macht über den Vater habe, das sah sie wohl, und ebenso, daß er es beständig versuchte, diese Macht auszuüben. Aber wozu wollte er sie denn gebrauchen, und wie war er überhaupt dazu gekommen?

Es gab einen, den sie hätte danach fragen können, nämlich den Schreiber; aber in seinen Augen leuchtete, wenn sie ihn zufälligerweise einmal anschaute, eine brennende Glut, die sie nicht sehen durfte. Nein, ihn hätte sie von allen Menschen zuletzt gefragt!

So behielt sie denn ihre Angst für sich, und es war ihr dabei zu Mute, wie einer Schildwache auf einem einsamen, gefährlichen Posten. Je ängstlicher ihr aber zu Mute war, desto strenger wurde ihr Benehmen; ihre Augen bekamen einen stechenden, kalten Blick, und ihr Gesicht wurde unbeweglich wie aus Stein gemeißelt.

Eines Tages saß sie über ihre Handarbeit gebeugt in ihrem Zimmer, das neben der Wohnstube lag, und da hörte sie, daß an die nach der Flur gehende Thür gepocht wurde, ängstlich, wie von jemand, der nicht recht wagt, was er vorhat. Sie legte ihre Arbeit weg und ging an die Thür, die in demselben Augenblick von dem Schreiber geöffnet wurde.

Was wollen Sie, Holm? rief Engel. Sie kommen wie jemand, der eine schlechte Nachricht bringt!

Diese Worte wurden halb ärgerlich, halb erschrocken ausgestoßen, und sie trat dabei schnell ins Zimmer zurück.

Seien Sie nicht böse, Fräulein, ich kann nicht anders, stammelte er und blieb an der Thür stehn.

Engel hatte sich an den Tisch gesetzt und schloß nun unwillkürlich die Augen. Es sah aus, als würde sie ohnmächtig. Holm war selbst kreideweiß im Gesicht und lehnte sich an die Thür. Er wagte keine Bewegung, keinen Laut.

Endlich öffnete sie die Augen wieder und sah ihn kalt an. Nun, was giebt es denn? fragte sie matt.

Noch immer brachte er keinen Ton heraus. Sein kräftig geschnittnes, teilnahmvolles Gesicht mit den dunkeln Augen war starr auf sie gerichtet, und es war, als habe sie es mit ihrem kalten Blick in Stein verwandelt.

Was bringen Sie mir, Gudmund? flüsterte sie, und ihre Stimme bebte dabei.

Ach, Dank, Dank! rief er aus, und ein warmer Lebensstrom durchfuhr ihn. Er strich sich das Haar aus der Stirn und sah sie mit leuchtenden Augen an.

Vergessen Sie Ihren Auftrag nicht, Holm! sagte sie streng.

Ach, nennen Sie mich Gudmund, Fräulein! Ich möchte ja durchs Feuer für Sie gehn.

Nein, Lieber, nicht so. Was wollten Sie von mir?

Ja – es ist wahr. Seien Sie nicht böse, Fräulein! Es ist – Rejthan – er ist wieder da.

Beim Vater? fragte sie.

Ja, und mir wurde bedeutet, mich zu entfernen – aber, Fräulein, es steht nicht gut.

Steht es denn schlimmer als früher?

Ja, ich glaube, nun bricht es los.

Was bricht los? fragte sie und trat auf ihn zu. Um Gottes willen, sagen Sie mir alles, was Sie wissen, Gudmund! Ich habe ja niemand als Sie, mit dem ich darüber sprechen kann.

Ach, Engel! Sie sind wahrhaftig ein Engel Gottes!

Nein – nun müssen Sie mir antworten, oder Sie müssen gehn, sagte sie bestimmt. Was beabsichtigen Sie denn damit, daß Sie mir dies sagen – Rejthan ist ja schon oft beim Vater auf dem Bureau gewesen –

Ja freilich – aber es war nie zum Guten, antwortete Gudmund. Ich glaube, ich kann es Ihnen gar nicht sagen.

Wenn es etwas ist, was mich angeht, so muß ich es wohl wissen, erwiderte sie gefaßt.

Es handelt sich um Geld, Fräulein.

Ach so – ich habe es mir gedacht. Ist mein Vater Herrn Rejthan Geld schuldig?

Der Vogt schuldete dem frühern Besitzer des Handelshofs ziemlich viel Geld, und als Rejthan das Geschäft kaufte, übernahm er auch die ausstehenden Schulden. Der Vogt bezahlte dann einen Teil davon – nicht so ganz wenig; aber im vorigen Jahre borgte er aufs neue, ich glaube –

Was glauben Sie, Gudmund?

Daß es der Vogt für die Kasse brauchte, flüsterte Gudmund.

Ach – verhält es sich so? Armer, armer Vater! Aber um was handelt es sich denn jetzt?

Ich weiß es nicht; aber ich habe Angst wegen der Kasse, und zwar schon seit längerer Zeit.

Und das haben Sie mir nicht gesagt! rief sie schmerzlich.

Ich wagte es nicht, Fräulein. Heute aber ging mir eine Ahnung auf, Gott weiß, woher sie kam!

Hören Sie, Gudmund, ich muß wissen, was Rejthan mit dem Vater vorhat. Hier ist der Schlüssel zu der kleinen Vorratskammer neben dem Bureau. Versuchen Sie, dort hinein zu gelangen, ohne daß es jemand merkt, und passen Sie gut auf, wovon die Rede ist. – Ich weiß es wohl, daß dies kein angenehmer Auftrag für Sie ist, aber auf keine andre Weise kann ich erfahren, was die beiden miteinander verhandeln.

Gudmund neigte demütig den Kopf, nahm den Schlüssel in Empfang und wandte sich zum Gehn.

Gudmund! rief Engel. Dabei ergriff sie ihn am Handgelenk und schaute ihm in das betrübte Gesicht. Der Vater muß gerettet werden, und wenn ich Sie dorthin schicke, daß Sie horchen, so ist es darum, weil ich es nicht selbst thun kann – und ich habe ja keinen Bruder, den ich schicken könnte.

Bruder, Engel? Ach nein, das ist nicht genug. Ich möchte viel, viel mehr sein!

Was soll das nun? Ich sende den, der mir nächst meinem Vater der liebste ist. Was wollen Sie noch mehr?

Er wollte noch etwas sagen, aber Engel schob ihn zur Thür hinaus und machte sie hinter ihm zu. Als sie wieder allein war, wußte sie nicht recht, was sie am meisten verwirrte und in Spannung versetzte, war es das, was sie vom Vater gehört hatte, oder das, was Gudmund über sich selbst gesagt hatte? Engel hatte beides geahnt, und für beides suchte sie nun in ihrem Herzen Rat.

Gudmund war wenigstens fünf Jahre jünger als Engel. Er hatte ein leidenschaftliches, leicht bewegliches Gemüt. Aber sein Herz war reich an Güte, und Hochsinn beherrschte seine Gedanken. Was er gelernt hatte, war nicht gerade viel, aber er hatte gute Anlagen, und er war voll Lebenslust. Obgleich er noch jung war, benahm er sich doch schon wie ein Mann, in seinem Gang lag ein gewisser Stolz, sodaß seine hohe Gestalt nicht die gewöhnliche Unsicherheit der Jugend zeigte, sondern daß er sicher und welterfahren aussah.

Wie oft hatte sie ihn heimlich, hinter dem Vorhang verborgen, mit Wohlgefallen betrachtet, wenn er nach Hause ging. Es war ja der erste junge Mann, mit dem sie zusammengetroffen war. Aber als sie merkte, daß er sich stärker und immer stärker zu ihr hingezogen fühlte, und daß er, ohne die geringste Aufmunterung von ihrer Seite, sich seiner Liebe gleichsam wie einer Bestimmung des Schicksals hingab, da hatte sie sich gelobt, niemals auch nur mit einer Miene ihr Herz zu verraten, um ihm dadurch dasselbe Schweigen aufzuerlegen – und nun war doch gesprochen worden. Der Weg zur Entscheidung lag jetzt offen da. Wäre es wohl möglich, eine neue Schranke aufzurichten, die seiner Liebe und ihrer eignen Sehnsucht nach Glück stand zu halten vermöchte?

Bei diesem Gedanken angekommen versank sie in Träume, die allen ihren Zweifeln ein schnelles Ende machten. Da stand nichts mehr im Wege. Das Gefühl ihrer eignen geistigen Überlegenheit, das sie früher gehabt hatte, verschwand vor dem Blendwerk der Liebe. Da war er ihr nicht allein ebenbürtig, sondern er stand auch mit seinem offnen Verstand und seiner jungen, kräftigen Schönheit hoch über ihr.

Unterdessen war Gudmund ins Amtsgebäude hinüber geeilt, das klein und baufällig eine kurze Strecke vom Wohnhause entfernt lag. Am Eingang traf er mit einem Manne zusammen, der den Vogt sprechen wollte. Gudmund ergriff die Gelegenheit und ließ ihn ungehindert ins Bureau treten, während er selbst die Thür des kleinen Nebenraums öffnete und wieder hinter sich schloß.

Er kannte eine Öffnung in der Bretterwand, deren er sich selbst auf der entgegengesetzten Seite öfters bedient hatte, wenn das Fräulein hier war, um etwas zu ordnen. Vor diesem Guckloch stellte er sich auf und folgte nun ungehindert dem Auftritt in der Amtsstube.

Rejthan hatte seine Miene jetzt vollständig verändert; die Freundlichkeit hatte sich in kalte Berechnung verwandelt, und seine schlaffen Züge erhielten dadurch sowohl Festigkeit als Kraft. Die Hände in den Taschen ging er im Zimmer auf und ab, und die alten Bretter knarrten und ächzten unter seinen derben Schritten. Es konnte kein Zweifel darüber walten, wer von den beiden der stärkere war.

Der Vogt saß auf seinem Stuhl vor dem großen Schreibtisch; er stützte den Kopf in die Hand und sah mutlos vor sich hin. Ab und zu lauschte er in der Richtung der Bretterwand, als ob er fürchtete, die Tochter könnte nebenan sein.

Ja, wie gesagt – begann Rejthan. Auf diese Weise kann es nicht weitergehn. Wir müssen zu einer Entscheidung kommen.

Ich muß ja – Zeit gewinnen, sagte der Vogt, nach Atem ringend.

Zeit gewinnen! wiederholte Rejthan. Haben Sie denn überhaupt noch so sehr viel Zeit vor sich?

Das steht in Gottes Rat, seufzte der Alte.

Ja, in seinem Rat steht so manches. Inzwischen muß jeder selbst Rat finden. Es muß, wie gesagt, zu einer Entscheidung kommen.

Vor zwei Jahren habe ich Ihnen bei Ihrer Ankunft eine erkleckliche Summe abbezahlt, Herr Rejthan, sagte der Vogt und richtete sich ein wenig auf.

Und borgten im darauffolgenden Jahre wieder ebensoviel, erwiderte der andre. Nein nein, lieber Vogt, diese Sache muß in ein andres Geleise kommen.

Sie erhalten ja Ihre guten Zinsen, mein Mann!

Aber die laufen auch auf, Herr Vogt. Und außerdem wollen Sie ja wieder ein neues Darlehn.

Nur für ganz kurze Zeit.

Ja – bis die Kasse revidiert ist?

Das ist nicht wahr!

Na na! Na na! Nur nicht so hitzig. Es wäre wahrhaftig nicht das erste mal. Mein Vorgänger hielt sich zu seinem Privatvergnügen ein kleines Büchlein, und darin steht Verschiednes davon. Die Kasse des Vogts wieder in Not, heißt es da. Sie muß ganz besonders an Durchfall und andern zehrenden Krankheiten leiden.

Ich verbiete Ihnen, auf diese Weise mit mir zu sprechen! schrie der Vogt auf, und in seinem abgezehrten Gesicht zeigte sich ein Schimmer von Lebhaftigkeit, der jedoch schnell wieder erlosch.

Wie Sie wollen, sagte Rejthan, und er that, als wolle er gehn. Da sank der alte Mann mit einem tiefen Stöhnen zusammen; es klang, als hauche er damit sein ganzes trostloses Leben aus. Der Kaufmann überlegte ein wenig, legte dann seinen Hut wieder weg und trat zu dem Vogt. Na, mein lieber Vogt, sagte er und klopfte ihn auf die Schulter. Um einer solchen Kleinigkeit willen werden wir uns nicht streiten. Wer weiß! Vielleicht rücken wir uns sogar noch um einen Schritt näher! Wir wollen einmal ganz offen miteinander reden. Wie groß ist denn die Summe, die Sie brauchen, um den Kassenmangel zu decken? Wir sind ja beide Männer und keine Weiber! – Nun?

Nein nein! stöhnte der Vogt. Lassen Sie lieber der Sache den Lauf – je früher, desto besser!

So dürfen Sie nicht sprechen, tröstete Rejthan. Denken Sie an Ihre Tochter. Soll sie durch Ihre Schuld Not und Entbehrung leiden?

Ach, meine Tochter! seufzte der Vogt und brach in Thränen aus.

Rejthan maß ihn rasch mit einem prüfenden Blick. Darauf nahm er eine Miene und ein Wesen an wie jemand, der nach einer gewissen Nachlässigkeit den Rock zuknöpft und sich in seinen Kleidern streckt. Ja, rief er, sie ist ein Wesen, das auf den Händen getragen werden sollte! Vor ihr sollte ein Mann hergehn, der ihren Weg ebnet, damit sie – wie es geschrieben steht – ihren Fuß nicht an einen Stein stößt.

Unwillkürlich sah der Vogt auf. Ja, fuhr der Kaufmann fort und nickte dem Alten vertraulich zu, sie ist, wie Salomo sagt, ein Kaufmannsschiff voll köstlicher Waren. Wer sie zur Gattin bekommt, erhält einen Schatz!

Noch einmal sah der Vogt auf: was meinte denn der Mensch?

Ja ja, ganz recht; ich sehe, Sie verstehn mich. Und er nickte dem Vogt auf die zuthuliche Art zu, die er haben konnte, und die ihm gut stand. Wenn Sie wollen, dann sorgen wir künftig zu zwei für sie. Ich hege dieselben Gefühle für Ihre Tochter wie Sie, Herr Vogt, aber ich hege außerdem noch die Gefühle der Liebe des Mannes zum Weibe, und diese geht noch ein gut Stück weiter. Sie soll ihr den Weg ebnen! Übergeben Sie Ihre Tochter ruhig meiner Obhut.

Ganz überwältigt saß der Vogt da, wie ein Gefesselter; er konnte weder Hand noch Fuß rühren, und die Zunge klebte ihm am Gaumen! Kam nun der Schlag, vor dem er immer ausgewichen war – kam er jetzt noch, am Rande des Grabes, und von dieser Seite?

Mein lieber Vogt, fuhr der Kaufmann fort, ich lösche dann nicht allein Ihre Schuld aus, sondern ich schreibe mich dafür auch als lebenslänglicher Schuldner bei Ihnen ein. Lob und Ehre soll Sie zu Grabe geleiten, und Ihre Tochter soll – ja wie gesagt: sie soll auf den Händen getragen werden. – Nun, was antworten Sie darauf?

Der Vogt stöhnte und konnte kein Wort hervorbringen.

Fassen Sie sich, lieber Mann! Soll ich einen kleinen Vertrag aufsetzen? Das ist schnell geschehn! – Und mit einer gewissen rücksichtslosen Energie hob er den Vogt mitsamt dem Stuhl auf, stellte diesen auf die Seite, zog rasch einen andern für sich selbst heran und setzte sich an den Schreibtisch, legte ein Stück Papier zurecht und ergriff die Feder.

Aber als würde er plötzlich von einem Zweifel überfallen, wandte er sich wieder an den Vogt: Soll Ihre Tochter entscheiden, oder wollen Sie es selbst thun?

Meine Tochter darf meine Schande nie erfahren! antwortete der Vogt mit neuer Lebhaftigkeit.

Gut, dann bleibt die Sache unter uns.

Ja, ich bitte darum.

Gudmund schloß die Augen, es war, als könne er den Anblick nicht ertragen. Er sah, daß ein harter Zug das Gesicht des Vogts verfinsterte, und begriff, daß dessen Entschluß gefaßt war. Länger hielt er es nicht aus. So lautlos wie möglich schlich er sich aus dem Raum hinaus und eilte zu ihr, die ihm, wie er deutlich fühlte, soeben mit Gewalt genommen worden war.

Als er die Thür der Wohnstube öffnete, saß Engel auf ihrem gewohnten Platz. Es war ihm, als sei sie von einem glänzenden Schimmer umgeben. Das lichte Haar umgab in reicher Fülle ihr Haupt, ihre Augen waren tief, und um den Mund spielte ein süßes, zärtliches Lächeln. Und alles dies war sein, er sah es deutlich, denn es bot sich ihm dar wie mit offnen Armen. Und jetzt gerade wurde es ihm entrissen!

Er schwankte über die Schwelle zu ihr hin und sank zu ihren Füßen nieder.

Gudmund! flüsterte sie. Was ist geschehn? Und mit zitternder Hand strich sie ihm über das Haar.

Er ist in seiner Gewalt! stöhnte er.

Handelt es sich um ein Darlehn? fragte sie.

Ja, um das alte und um ein neues.

Aber wozu? Wir haben ja, was wir brauchen!

Ach – da fehlt noch vieles!

Steh auf, Gudmund, laß uns einmal ernsthaft miteinander reden!

Ach, Fräulein! rief er entzückt, erhob sich schnell und stand nun aufrecht vor ihr. Wenn Sie du zu mir sagen, ist es, als ob Sie sagten – – du gehörst mir und keinem andern. Und ich gehöre Ihnen auch, so lange ich noch einen Blutstropfen in mir habe!

Gudmund! bat sie. Laß dies bis nachher und sag mir mehr von meinem Vater. Was ist denn das, was fehlt? Sag mir gerade heraus, was du weißt.

Es handelt sich um die Kasse, Fräulein!

Um die Kasse? Ach – das ist es also! Und wollte er ihm vorstrecken?

Er wollte schon – wenn der Vogt ihm etwas zugestand.

Was war es? fragte sie hastig; aber es war die Hast des Schreckens, denn sie war blaß wie der Tod.

Ich kann es nicht sagen, schluchzte er; es macht mich toll!

Also so ist es? sagte sie mit ihrer kalten Stimme, und es war, als verwandle sich ihr Gesicht in Stein. Der Vater muß sein Kind dem Wolf vorwerfen, um zu entwischen. Und darauf lachte sie laut.

Ach, Engel! Engel! stöhnte Gudmund außer sich und warf sich vor ihr nieder.

Nein, Lieber! Das darf nicht mehr sein, unterbrach sie ihn, indem sie sich erhob und sich etwas von ihm entfernte.

Aber Sie werden es nicht thun! bat er. Sie können ja nicht!

Still! gebot sie streng. Stehn Sie auf und gehn Sie, da kommen die beiden!

Soll ich dann mein Leben verfluchen? fuhr er wild auf.

Stolz trat sie zu ihm und ergriff fest seine beiden Hände. Wollen Sie, daß ich meinen Vater in den Wolfsrachen werfe, um mich zu retten?

Nein nein! Machen Sie mit mir, was Sie wollen, aber sprechen Sie nicht so mit mir! Ich halte es nicht aus. Sagen Sie du und Gudmund – denn ich bin einfach der Bursche, der auf Ihre Befehle wartet.

Nein, du bist kein Bursche, sagte sie tröstend. Das Unglück macht alt. Du sollst ein Mann sein – vielleicht habe ich einmal die Hilfe eines Mannes nötig.

Sie sei Ihnen gelobt! rief er und hob die Hände auf.

Da tastete eine schwache Hand nach der Thür, und Gudmund sprang auf, um zu öffnen. Aber in demselben Augenblick machte Rejthan die Thür auf und ließ den Vogt vorangehn.

Als die beiden eingetreten waren, verließ Gudmund das Zimmer, und zwar mit so stolzem Schritt, daß Rejthan sich unwillkürlich nach ihm umschaute. Was war in den Burschen gefahren, seit er ihn zuletzt gesehen hatte?

Aber hier war keine Zeit zu solchen Gedanken. Hier galt es, einen Verlust zu erleiden oder einen Sieg zu gewinnen, und dafür mußte alles eingesetzt werden. Dem Anschein nach war der Sieg leicht zu gewinnen, aber es konnte ja sein, daß er nicht so leicht festzuhalten war.

Rejthan hatte sich in den Mantel des ehrenhaften und tiefbewegten Mannes gehüllt, und nirgends war eine Falte, in der sich der Wolf verborgen hätte. Nach gebildeter Leute Art gab er Rede und Antwort und ließ nur ab und zu, wie unversehens, einen Ton von tieferm Klange durchklingen.

Der Vogt saß indessen wie auf einer Marterbank; der Schweiß perlte in großen Tropfen über seine Wangen, die, runzlig und eingefallen, bei seiner Gemütsbewegung eine aschgraue Färbung angenommen hatten.

Rejthan verstand sehr wohl, daß die Zeit kostbar war – niemand konnte wissen, was unter solchen Umständen bei einem alten Manne eintreffen konnte.

Fräulein Engel, begann er in seiner honetten Art, durch die er gleichsam für sich selbst Bürgschaft leistete; wollen Sie das, was Ihr Vater Ihnen zu sagen hat, mit Nachsicht anhören? Er spricht nicht für sich allein, sondern auch für einen Freund. Habe ich es nötig, hinzuzufügen, daß ich dieser Freund bin?

Klugerweise hielt er hier inne. Nun war er da angekommen, wo der Vogt beginnen mußte. Aber im Ausdruck und Benehmen fuhr er fort, die größte Ergebenheit zu zeigen. Das war jedoch verlorne Mühe, denn Engel hatte nur Augen für den Vater, der aussah, als leide er Todesqualen.

Mein lieber Vater, flüsterte sie und umschlang den unglücklichen Mann mit beiden Armen. Was willst du, daß ich thun soll?

Rejthan stand wie auf Kohlen. Nun war der Augenblick da mit seinem günstigen Angebot – wollte nun der alte Dummkopf nicht zugreifen?

Aber der Vater folgte in diesem Augenblick nur dem Gebot seiner Liebe. Nein, mein Gotteskind! rief er weinend. Mein Engel hier auf Erden und droben vor Gott im Himmel! Du mußt mich meinem Schicksal überlassen, ich verdiene es nicht besser!

Armer, armer Vater! sagte sie beruhigend. Dann wandte sie sich an Rejthan, der bei den Worten des Vogts nahe daran war, die Maske fallen zu lassen. Ich denke, Sie wissen etwas, das gesagt werden muß – so sagen Sie es – Sie sehen ja, daß mein Vater fast daran stirbt.

Ja, Rejthan sah es, und obgleich ihm das gerade recht gewesen wäre, erbebte er doch vor Gemütsbewegung und brachte kein Wort heraus.

Das rührte Engel, denn es sah einem wirklichen Gefühl ähnlich.

Haben Sie keine Angst, Rejthan. Für den Vater thu ich alles!

Der Mann überwand schnell seine Schwäche und schaute sie prüfend an. Ja – es konnte gewagt werden! – Fräulein Engel! rief er. Sie werden begreifen, daß ich in dem Augenblick, wo ich Sie um mein höchstes Glück bitten möchte, um mein Leben zittre – so gut wie er. Damit deutete er auf den Vogt, der mit geschlossenen Augen an Engels Brust lehnte.

Hat Ihnen mein Vater sein Wort gegeben? fragte sie.

Es erfolgte ein Schweigen, das ihm das Blut dunkelrot in die Wangen trieb, was ihm ein so gewaltthätiges Aussehen gab, daß Engel doch vielleicht mit der Entscheidung zurückgehalten hätte, wenn sie es gesehen hätte. Aber gleich dem Vater hatte auch sie die Augen geschlossen und that blindlings den Schritt dem Abgrunde zu. Während sie mit dem linken Arm den Vater umschlungen hielt, reichte sie die rechte Hand dem Kaufmann hin, der vorstürzte und sie ergriff, wie der Verhungerte nach einem Stück Brot greift.

Dank, Fräulein Engel, Dank! rief er mit thränenerstickter Stimme und warf sich vor ihr nieder. Und dann brachte er eine wahre Flut verwirrter Reden von Selbstanklagen, Bitten um Vergebung, Gelübde der Besserung und Beteuerungen der Liebe hervor, die sie entsetzte und ihr zugleich die verlorne Fassung wiedergab.

Um Gottes willen, schweigen Sie! bat sie und wandte sich wieder zum Vater, der aussah, als habe er den letzten Rest von Bewußtsein verloren.

Lassen Sie mich ihm helfen, Fräulein! sagte Rejthan; zugleich hob er den Greis auf und trug ihn auf sein Lager. Hier that er alles, was die zärtlichste Fürsorge nur thun kann. Und dann bemühte er sich noch um die Tochter, denn Engel war so in tiefster Seele erschüttert, daß es schien, als drohe ihr dieselbe Ohnmacht wie dem Vater.

Da ging eine Veränderung in der rohen Natur des Kaufmanns vor – zum ersten- und letztenmal in seinem Leben war er auf der Höhe der wahren Menschlichkeit angelangt und machte in vollkommner Selbstverleugnung ein großes Anerbieten.

Engel, bat er, Fräulein Engel! Wir wollen einen Strich durch das Ganze machen. Bleiben Sie bei dem Alten. Ich gehe – mit einem verwundeten Herzen. Gott segne Sie, Fräulein! Ich habe gedacht, ich wollte Sie und ihn auf den Händen tragen – ich bin dieser Ehre nicht würdig – – leben Sie wohl! Vergessen Sie den Freund nicht!

Mit einem merkwürdigen Gefühl bei dem überwältigend großen Anerbieten des Mannes richtete sich Engel auf und schaute ihn an. Sie hatte sich selbst zu der Höhe eines Opfers aufgeschwungen und konnte in diesem Augenblick keinen kleinlichen Spuren folgen. Nein, Rejthan, sagte sie bewegt, wenn der Vater am Leben bleibt – dann ... In diesem Augenblick stieß der Vogt einen Seufzer aus und öffnete die Augen. Ungewiß sah er von einem zum andern.

Alles ist in Ordnung, lieber Vater! rief Engel und nickte ihm zu. Dann ergriff sie Rejthans Hand und nickte auch diesem zu – und wie verschieden diese drei Menschen in ihren Gedanken und ihrem Charakter waren, in dieser Minute waren sie in gegenseitiger Hingebung einander doch vollkommen gleich.

Aber lange vermag der Mensch nicht auf der Opferhöhe zu bleiben, er muß wieder hinab auf die Heerstraße, und da verlangt das Ich sein Recht.

Rejthan war entweder so tief bewegt oder so klug, daß er seine gute Stimmung auch noch weiter aufrecht erhielt. Er zwang das Tier, den Zügeln zu gehorchen. – –

In aller Ruhe, obgleich vor Ungeduld bebend, arbeitete er an der Förderung seiner Sache, doch so, daß es den Anschein hatte, als lasse er Engel die Wahl und erwarte ihre Aufforderung.

Es kam ja doch alles so, wie es sollte; sie hatte ihm ihre Zusage gegeben, und bei ihm stand das Heim bereit, worauf sollte man warten?

Dasselbe dachte Engel. Sie stand ja vor der offnen Thür, das beste war, rasch in das Neue einzutreten; dieses »Neue,« das sie trotz allem Guten, was sie sich darunter dachte, doch immer wieder mit einem Schauder des Schreckens erfüllte.

Trotzdem that es ihr wohl, mit Rejthan zusammen zu sein. Es schien fast, als vergesse er sie über der Sorge um den Vater. Wenn Engel den Vater verlasse, müsse das Bureau von einem juristisch gebildeten Manne geleitet werden, sagte er. Gudmund Holm, der dadurch überflüssig wurde, sollte dennoch beibehalten werden, weil Engel in ihm eine anhängliche Stütze für den Vater sah. Rejthan dachte an alles, war überall zugegen und schien über der Fürsorge für andre sich selbst zu vergessen.

Aber das große gierige Ich war trotzdem in unvermindertem Maß und Umfang gegenwärtig, nur nicht mit äußerlichen Zeichen, und das war schon sehr viel, denn es war zum erstenmal in Rejthans Leben. Aber dabei leistete ihm seine Eitelkeit gute Dienste. Er war allerdings der Sohn eines Kaufmanns auf einem der Strandorte, aber er hatte keine gute Erziehung genossen. Er hatte in des Vaters Laden gestanden, bis er auf eigne Faust mit den Fischern Geschäfte zu machen begann, wenn sie vom Fischfang heimkehrten. Dabei hatte er sich viel Geld erworben und war nach und nach soweit gekommen, daß er einen Betrag wie den, der zur Übernahme seines jetzigen Eigentums erforderlich war, in barem Gelde anlegen konnte.

Die Macht hatte er also erlangt, aber wie stand es mit der Ehre?

Da kamen des Vogts mißliche Geldverhältnisse wie ein Anerbieten des Schicksals, und er hatte es verstanden, es sich mit viel Umsicht zu nutze zu machen. Er hatte sich Zeit gelassen und geduldig gewartet. Als aber der Tag anbrach, an dem er die stolze Tochter des Vogts als seine Braut zum Altar führen konnte, da war er seiner selbst kaum noch mächtig, und das Tier biß in seine Ketten, um sich davon zu befreien.

Davon aber wußte niemand etwas. Äußerlich nahm das Fest seinen ruhigen Verlauf, und als das Boot, das die Braut nach dem einige Meilen entfernt liegenden neuen Heim bringen sollte, vom Land hinausschoß, und der letzte Schimmer der zum Abschied winkenden Hände mit dem Ufer in der Dämmerung der Ferne verschwand – da war die Schlacht gewonnen. Er setzte sich der Braut gegenüber und nahm ihre kalten Hände zwischen die seinigen – dachte er vielleicht daran, sie an seine Brust zu drücken, um sie zu erwärmen? O nein! Sein einziges Gefühl war, daß er sie nun habe, und er faßte sie so fest, daß die Braut sie mit einem leisen Schrei zurückzog. Da lachte er triumphierend auf – o, er würde sie schon wieder fassen!

Es war eine umwölkte Augustnacht. Still und schwarz wie ein Abgrund umgab das Meer die felsige Landzunge, der das Boot zusteuerte. Eine Landungsbrücke ragte ins Wasser hinein, und große Steine waren davor aufgehäuft und setzten sie fort. Es war Ebbe, und das Boot mußte an den Steinen anlegen. Aber was that das? Rejthan hatte einen starken Arm; er würde sie schon sicher darüber hin geleiten und dann den breiten Weg zu seinem Hause hinauf, wo der Braut zu Ehren mit Wacholderreis gestreut worden war – da sollte ihr Fuß nicht an einen Stein stoßen!

Aber das Schicksal hatte es anders beschlossen. Es schien wirklich, als habe dieser Mensch dem Glück Gewalt angethan und dadurch die Nemesis heraufbeschworen, mit der er nun immerwährend um dessen Besitz kämpfen müßte.

Indem er auf einen der mit Seetang bedeckten Steine sprang, was er schon hundertmal mit großer Sicherheit gethan hatte, glitt er aus und stürzte rückwärts zwischen die Steine, und als der Bootsmann dazukam, mußte man ihn bewußtlos und heftig blutend in das Hochzeitshaus tragen.

Mit einem eignen Gefühl betrat Engel ihre neue Heimat und nahm das ihrer harrende Haus in Besitz. Die Angst der Braut verwandelte sich mit einem Schlage in die Sorge der Gattin, und sie fühlte einen heißen Drang, eins mit dem andern in Einklang zu bringen.

Als der Arzt nach Verfluß eines ganzen Tags endlich zu dem Kranken kam, hegte er starke Zweifel, ob Rejthans Leben erhalten werden könnte. Und auch wenn der Lebensfaden hielt, würde dann der Mann in vollem Besitz seines Verstandes bleiben? Das war eine Frage, die die Zeit allein beantworten konnte. Alles wurde gethan, was Sorge und Pflege nur thun konnten, und die Leute ringsherum, die die Verbindung dieser beiden so ungleichen Personen als einen Handel bezeichnet hatten, änderten nun, als sie die liebevolle Pflege der bräutlichen Gattin sahen, diese Ansicht vollständig.

Es gelang auch, Rejthans Leben zu erhalten, und als er allmählich wieder zu Kräften kam, waren seine Gedanken ebenso klar wie vorher. Aber zur Arbeit war er doch unfähig, und als nach dem langen Winter voll Krankheit der Frühling wiederkam, und das Geschäft Rejthans Gegenwart überall dringend verlangte, mußte ein zuverlässiger, kundiger Gehilfe zu seiner Unterstützung gesucht werden. Es war jedoch nicht leicht, einen solchen zu finden, und es ging längere Zeit darüber hin.

Da legte eines Tags ein Boot an der Landungsbrücke an. Ein junger, starkgebauter, breitschultriger Mann kam rasch auf dem Wege, der zum Hause führte, daher und verschwand im Laden. Es war Gudmund Holm. Engel stand gerade am Fenster und sah ihn kommen; der rasche Schlag ihres Herzens verriet, daß sie wußte, wer es war; Gudmund war aber äußerlich so merkwürdig verändert, so männlich entwickelt, daß es ihr schien, als müsse sie an ihrer eignen Überzeugung zweifeln.

Sie blieb ruhig am Fenster stehn, denn sie mußte sich zu dem Zusammentreffen sammeln, obgleich sie sich heiß danach sehnte, Nachricht vom Vater zu erhalten.

Aber die Zeit zog sich in die Länge – warum kam er nicht? Schließlich stand sie an ihrer Thür und horchte mit atemloser Spannung. Damit war die mit soviel Anstrengung aufrecht erhaltne Kaltblütigkeit verloren, und die Sehnsucht stand zu warmem Willkomm bereit.

Endlich, endlich kam er mit Rejthan, der, noch immer schwach und leidend, sich mühsam am Stock daherschleppte. Das kühlte sie ab, und als die beiden kurz nachher zu ihr ins Zimmer traten, war es nur noch die gelassene Hausfrau, die sie empfing.

Holm bringt gute Nachricht, sagte Rejthan. Briefe von deinem Vater – und was noch besser ist, sich selbst.

Engel sah ihn fragend an.

Ja, es ist, wie ich sage, er kommt und bringt sich selbst mit. Rejthan lachte ein wenig. Das will mit andern Worten sagen, daß er gekommen ist, um hierzubleiben, und daß er die Stelle im Laden übernimmt.

Nein! schrie es unwillkürlich aus ihrem Herzen heraus, und es klang so streng und befehlend, als müßte die Sache damit abgethan sein.

Aber ich sage ja, beim Satan! rief Rejthan heftig.

Du willst es? sagte Engel leise und neigte den Kopf wie vor einem Windstoß.

Bin ich hier Herr im Hause, oder hast du zu befehlen? fragte er.

An dem Tage, wo du kräftig genug bist, selbst zu befehlen – bist du es, erwiderte sie.

Aber dieser Tag ist heute! schrie er. Holm bleibt hier, verstehst du mich?

Ja, ich verstehe dich, antwortete sie leise. Aber komm nun mit mir in dein Zimmer, daß du dich ausruhn kannst.

Holm kann mich führen, ich brauche dich nicht! erwiderte er mürrisch, gab Gudmund einen Wink und stolperte mit ihm zur Thür hinaus.

Wie angewurzelt war Engel stehn geblieben. Bittrer Groll war in ihr aufgestiegen, und ihr Herz schlug so heftig, daß sie an allen Gliedern bebte. So hatte sich ihr Mann noch nie gezeigt. War er darum so, weil er nun wieder jemand anders hatte, auf den er sich stützen konnte, und wollte er ihr zu verstehn geben, daß er ihrer nicht länger bedürfe – oder sollte das der Ton des häuslichen Lebens werden, und hatte er ihn dem Fremden gegenüber angeschlagen, um diesen vorzubereiten?

Was es aber auch war, es kam aus einer unreinen Quelle. Und bei dieser Kränkung trat ihr nun dieser Mensch in den Weg, den zu vergessen sie so schwere Kämpfe mit ihrem Herzen durchgemacht hatte. Was wollte das Schicksal damit, daß es ihr in demselben Augenblick den häßlichen Charakter ihres Mannes und Gudmunds unverfälschte Reinheit zeigte? War es, um die Prüfung noch härter zu machen? Ach, was für ein gräßliches Verhängnis wollte wieder über sie hereinbrechen?

Da wurde vorsichtig die Thür geöffnet, und Gudmund trat ein; wie ein Hilfeflehender blieb er stehn. Er schwieg, und sie schwieg auch – wer sollte zuerst reden?

Ach, Gudmund, Gudmund! daß du mir das gethan hast! rief sie endlich schmerzlich und streckte abwehrend beide Hände gegen ihn aus.

Ich konnte nicht anders, sagte er und sah sie tiefbetrübt an.

Warum mußtest du dich in mein Unglück mischen? stöhnte sie. Bei diesem Leben muß ich ja als eine Pestkranke betrachtet werden – wer mir nahe kommt, wird von mir angesteckt werden.

Dann lassen Sie es geschehn; ich will es gar nicht anders! bat er. Ich fühlte es ja gleich, daß ich nicht ohne Sie leben könnte, aber Sie hatten gesagt, ich solle ein Mann werden, und daran habe ich meine ganze Kraft gesetzt. Doch nun ertrug ich es nicht länger! Ich sagte zum Vogt: Es ahnt mir Böses; ich muß zu Engel reisen. Ja, reisen Sie, sagte er, und weichen Sie niemals von ihr!

Ach, Vater, Vater! Aber bis zum heutigen Tage ist nichts Böses hier geschehn. Unglück wohl, aber nichts Böses.

Da ist es gut, daß ich gekommen bin! sagte Gudmund gefaßt. Solange ich hier bin, soll er nichts Böses wagen dürfen.

Nun, so gehe es eben, wie es will – aber, Gudmund, vergiß nicht, daß ich seine Gattin bin – seine ihm vor Gottes Altar angetraute Frau!

Ich werde es nie vergessen, Fräulein Engel!

Eine tiefe Röte überzog ihr Gesicht, und sie drückte die gefalteten Hände gegen ihre Brust. Nun trinke ich jeden Tag den Tod, sagte sie vor sich hin. Ihre Gestalt neigte sich wie eine halbwüchsige Birke im Sturmwind, und sie richtete wie geistesabwesend den Blick starr auf etwas, das nicht in diesem Zimmer und nicht in dieser Zeit vor sich ging, aber was sie da sah, das wußte nur sie allein.

*

Auf dem Handelshofe trat nun eine große Veränderung ein. Holm besorgte die Geschäfte mit viel Umsicht, und Rejthan bekam Ruhe für Seele und Leib; zugleich stellte sich ein äußerst günstiger Fischfang ein, sodaß er in strahlend guter Laune war und mit jedem Tage kräftiger wurde.

Aber damit wuchsen auch die Ansprüche, die er an seine Frau stellte. Sie sollte und mußte mit ihm in seiner Welt leben, seinen Gedankengang, sein Begehren und seinen Willen mit ihm teilen! Warum war noch immer etwas da, das widerstrebte – etwas sonderbar Weißgekleidetes, mit dem er nicht fertig werden konnte?

Wenn er seinen guten Tag hatte, ließ er sich manchmal einschüchtern – und immer dadurch abkühlen, aber wenn sein heftiger Zorn aus der Seele aufwirbelte wie aus einem Abgrund der Unflätigkeit und ohne Unterschied über alles herfiel, da konnte nichts widerstehn; Selbstgefühl, Recht und Weiblichkeit mußten sich beugen, und wenn sie sich auch wieder aufrichteten, so wurde es doch nie wieder, wie es vorher gewesen war. Der Schlamm läßt immer Flecken zurück, die selbst des Himmels milder Regen nicht wegzuwaschen vermag.

Und solche Anfälle kamen häufig. Nach einiger Zeit folgte ihnen dann die Reue, aber Reue ohne Buße ist schlimmer als Sünde, weil der Mensch glaubt, er habe etwas recht Gutes gethan, während er nur das Übel verschlimmert hat.

Da geschah es nicht selten, daß Gudmund mit einem raschen Wort den Strom des Zorns ableitete, sodaß er sich über ihn anstatt über Engel ergoß. Eine Weile schien der Mann die Absicht nicht zu erraten, aber als er sie begriff, wurde er mißtrauisch und paßte auf. Und nun dauerte es nicht lange, bis er die Liebe entdeckt hatte, die Gudmund zu seiner Gattin hegte, doch konnte er trotz all seiner Schlauheit auch nicht einen Blick auffangen, der seinen Verdacht bestätigt hätte.

Allein auf Recht oder Unrecht kam es Rejthan nicht an, wenn er sich an jemand rächen wollte. Nur eins kam für ihn in Betracht, nämlich der Vorteil, den er von dem jungen Manne hatte. Sicher war es nicht seinetwegen, daß Holm soviel Fleiß und Geschicklichkeit für die Ausführung seiner Obliegenheiten aufwand, aber er war es doch, der den Vorteil davon hatte. Wenn er nur jemand gewußt hätte, der Holm hätte ersetzen können, so hätte der Fußtritt nicht lange auf sich warten lassen, mit dem er ihn verabschiedet hätte; aber es fand sich eben niemand. Da blieb seine einzige Zuflucht, den beiden das Leben so schwer wie möglich zu machen, und dazu hatte er reichlich Gelegenheit. Engel war ja seine Frau, mit ihr würde er schon fertig werden! Und da es schien, daß Gudmund alles um ihretwillen zu erdulden bereit sei, so hatte er keinen Grund, ihn zu schonen.

Auf diese Weise verfloß das Leben auf dem Handelshof von Jahr zu Jahr.

Eines Tags stand Rejthan in Gedanken versunken in der Wohnstube am Fenster, als gerade Gudmund aus dem Laden trat und rasch den Weg zum Meere hin einschlug. Rejthan maß Gudmund mit einem finstern Blick. Wagte es wirklich jemand, der unter ihm stand, mit einem so übermütigen Wesen einherzugehn? Er brach in ein Gelächter aus und erhob drohend die geballte Faust hinter ihm her.

Da bewegte sich etwas hinter ihm; es war seine Frau.

Es ist geradezu lächerlich, wie aufgeblasen der Kerl ist! rief Rejthan.

Wen meinst du? fragte sie.

Du weißt nicht, wen ich meine?

O ja – ich kann es mir denken, antwortete sie.

Und dabei will so ein Dummkopf sich auch noch gebildet aufführen. Ich weiß, er hat einige Bücher in die Hände bekommen, und über denen sitzt er nun früh und spät.

Versäumt er seine Pflicht darüber? fragte sie kalt.

Soweit geht es nicht, daß er das wagte.

Dann solltest du ihn meiner Ansicht nach thun lassen, was ihm beliebt. Nach dieser Antwort ging Engel ins nächste Zimmer, ruhig und unangefochten, als ob ihr Mann gar nicht da sei.

Bleib! donnerte er ihr nach.

Sie wandte sich um und sah ihn fragend an.

Ich dulde nicht, daß mir jemand Widerstand leistet. Ich pfeife auf die ganze Vornehmthuerei! Dabei ergriff er ein neben ihm stehendes vergoldetes Tischchen, zerbrach es und warf die Stücke auf den Boden. Das ist der Bettelstaat, den du mitgebracht hast – dergleichen paßt nicht in mein Haus! Hier giebt es weder Falschheit noch Betrug – noch Armut, die eine Vergoldung nötig haben.

Nach diesem Wortschwall verließ er das Zimmer und ging auf sein Kontor; denn so feig war er dieser Vornehmheit gegenüber, die er verhöhnte, daß er lieber einem wilden Stier entgegengetreten wäre, als daß er seiner Frau jetzt Angesicht in Angesicht gegenüber hätte stehn mögen.

Nun war die Eiterbeule also aufgebrochen, die sich seit langer Zeit zusammengezogen hatte. Wenn dies ihm aber auch auf der einen Seite Erleichterung brachte, so vermehrte es andrerseits seine Qual. Seine Frau wollte er ja nicht los werden – um keinen Preis! Wäre sie eine von den Frauen gewesen, die sich in der einen Stunde einen Fußtritt geben und in der andern zur Versöhnung umarmen lassen, da hätte sie es gut bei ihm gehabt. Aber diese Art Pfuscherei verachtete Engel aus tiefster Seele, und seine Kränkungen nahm sie wie schwere Verwundungen hin. Sie wollte bei ihm ausharren, aber nichts Herabwürdigendes wollte sie mit ihm gemein haben.

So standen sie beide mitten in dem Kampfe, den sie dadurch, daß sie sich vor dem Altar des Herrn einander angelobt hatten, vom Schicksal heraufbeschworen hatten. Und es konnte nichts nützen, sich damit entschuldigen zu wollen, daß sie nicht gewußt hätten, was sie thaten; denn das mußten sie gewußt haben.

Als Rejthan die junge feine Jungfrau gewonnen hatte, die zu gewinnen er all seine Schlauheit und Gewandtheit eingesetzt hatte, war er ihr auch schuldig, ein besserer Mensch zu werden; aber er wurde im Gegenteil immer schlechter. Ihr vornehmes Wesen erhob sich oftmals wie eine Kirche vor seinem unbeugsamen Willen – wohl konnte er nicht hineindringen und den Altar niederreißen, aber er konnte doch mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote standen, die Mauern besudeln.

Und als sie sich um des alten Vaters Ehre und Frieden willen freiwillig als Beute gegeben hatte, da war sie es ihm auch schuldig gewesen, die Vergangenheit aufzugeben – denn das gehörte doch mit zum Handel! Anstatt dessen ging sie wie eine stolze Fremde in seinem Hause umher und ließ ihn jeden Tag mit dem Recht des Herrschers ihren Stolz mit Füßen treten.

Das wurde zur Herabwürdigung für beide, und dieses Bewußtsein brannte in Engels Seele wie ein verzehrendes Feuer, während es bei Rejthan alle seine rohen Instinkte wachrief. Er kam sich vor wie ein betrogner Mann. Das »Kaufmannsschiff,« das er sich eingetauscht hatte, war allerdings mit »köstlichen Waren« beladen, wie Salomo es in seiner Weisheit vorausgesagt hatte, aber was half es ihm, wenn er nicht einer einzigen davon habhaft werden konnte? Jawohl, er war betrogen worden, und das sollte gerächt werden!

Gudmund gegenüber brauchte er, wie schon gesagt worden ist, nicht die geringste Rücksicht zu nehmen; der duldete alles! Aber sein Benehmen war angenehm und gebildet, und es war von nicht geringem Vorteil, ihn im Laden zu haben; so ließ sich denn Rejthan den Nutzen gefallen und gab Holm als Lohn dafür in jeder Stunde eine neue Kränkung zu kosten.

Das waren schwere Bedingungen für den jungen Menschen, aber er nahm sie ohne Murren an; um Engels willen hätte er sich in noch schwerere gefunden, denn das war ja gar nichts im Vergleich zu der Qual, die ihm der Gedanke, sie in der Gewalt eines solchen Mannes zu wissen, verursachte.

So vergingen drei Jahre. Da wurde das Unglück noch dadurch vergrößert, daß sich Rejthan dem Trunk ergab. Er war schon immer dazu geneigt gewesen, aber bis jetzt hatte er doch noch auf Anstand gehalten. Nun fiel diese Rücksicht weg, und nun wollte er auf einmal Gudmund mit Gewalt weg haben – jetzt, wo er ihn gar nicht mehr entbehren konnte.

Sie werden im kommenden Herbst mein Haus verlassen, sagte Rejthan zu Gudmund, der über sein Pult gebeugt dastand und schrieb.

Gudmund hob rasch die Augen und senkte sie wieder, antwortete aber nichts. Er war an solche Reden gewöhnt.

Haben Sie mich verstanden? fragte Rejthan.

Ja, antwortete Gudmund und schrieb weiter.

Haben Sie etwa nicht im Sinn, meine Kündigung anzunehmen?

Nein.

Wollen Sie mich zwingen, durch das Gericht Ihre Entlassung zu beantragen?

Bitte! sagte Gudmund. Er wußte ja gut, daß es bei der Drohung bleiben würde. Außerdem: die Leute vom Gericht kamen zu der Zeit nicht gleich auf den ersten Wink gelaufen, und er konnte sich noch lange besinnen.

Aber diese Sicherheit regte Rejthan über die Maßen auf. Sie denken vielleicht, es werde Ihnen gelingen, mich auf irgend eine Weise auf die Seite zu schaffen, damit Sie sie für sich allein haben? Wenn Sie jedoch dableiben, schelte ich Sie einen Dieb – und sie eine ...

Hier sprang der junge Mann auf ihn los und packte ihn an der Brust. Wenn Sie nur ein Wort über sie sagen, so sind Sie ein Mann des Todes! rief er.

Da kommen Leute! schrie Rejthan. Die sollen bezeugen, was hier vorgeht. Nun verstehe ich alles, und nun soll nichts verschwiegen werden!

Die Leute drängten sich neugierig vor dem Laden zusammen, und der Kaufmann riß die Thür sperrangelweit auf. Kommt nur herein, ihr Leute; hier geht es wunderlich zu!

Aber in demselben Augenblick drängte ihn Gudmund zurück in den Laden und schloß die Thür ab. Dann wandte er sich an ihn, und sie sahen sich einen Moment fest in die Augen. Da trat Rejthan auf die Seite, und Holm ging wieder an sein Pult.

Wollen Sie mir jetzt vielleicht die Schlüssel ausliefern?

Ja, wenn ich Ihnen gesagt habe, was ich sagen will, antwortete Gudmund. Sie haben wiederholt Worte fallen lassen, die darauf hindeuten, daß Sie Ihrer Frau und mir gegenüber Verdacht hegen.

Es besteht auch ein Verhältnis zwischen euch! fuhr Rejthan fort.

Das ist eine Lüge, sagte Gudmund mit großer Fassung. Aber in demselben Augenblick, wo ein solches Wort gesagt wird, verlasse ich Ihr Haus. Vor mir steht sie so rein wie ein Engel Gottes, obgleich sie vier Jahre mit Ihnen zusammen gelebt hat. Aber durch mich soll ihr kein Flecken aufgedrückt werden. Ich werde jetzt meine Rechnung abschließen, und Sie werden mir dann ein schriftliches Zeugnis geben, daß ich ohne irgend eine Veruntreuung Ihren Dienst verlasse. Es wird sich in den nächsten drei bis vier Tagen wohl eine Gelegenheit bieten, von hier wegzukommen, und dann werde ich abreisen.

Diese Antwort hatte Rejthans Blut abgekühlt und ihm seine Haltung zurückgegeben. Sein Gesicht war zwar aufgedunsen, und seine Gestalt hatte etwas Schlaffes, aber er konnte sich doch noch beherrschen und sich ein ziemlich mannhaftes Aussehen geben.

Sie haben sie lieb? fragte er lauernd.

Ja, ich habe sie immer lieb gehabt und werde sie bis zu meinem Todestag lieb behalten, antwortete Gudmund und sah ihm offen ins Gesicht.

Nehmen Sie sich vor mir in acht, Mosjöh! drohte er.

Ich habe gelernt, mich vor mir selbst in acht zu nehmen, das ist doch wohl wichtiger, erwiderte Gudmund.

Was weiß sie davon? fragte Rejthan weiter.

Das, was sie selbst denkt.

Liebt sie auch Sie?

Ich weiß nur, was ich denke, sonst nichts.

Wagen Sie es, das zu denken! schrie Rejthan und trat drohend auf ihn zu.

Durch Ihr Drohen können Sie weder etwas dazu noch davon thun.

Rejthan blieb mitten im Zimmer stehn. Er fühlte, daß der Zorn ihm aufs neue die Besinnung zu rauben drohe, und das durfte nicht geschehn; denn soviel Ehrgeiz hatte er doch, daß er diesem jungen Menschen keine Macht über sich einräumen wollte.

Geben Sie mir den Schlüssel! sagte er sich bezwingend, während ein tödlicher Haß aus allen seinen Zügen leuchtete. Dann nahm er den Schlüssel und entfernte sich.

Nun war das also abgemacht, Gudmund mußte gehn. Den Trost, ihr als heimliche Stütze zur Seite zu stehn, hatte bis jetzt keine Kränkung aufgewogen, aber wenn er ihr Schande brachte, so mußte jede andre Rücksicht schweigen. Es blieb ihm also gar nichts weiter übrig, als seine Rechnungen genau zu ordnen, damit er mit Ehren von seinem Posten zurücktreten konnte – aber die Zeit war sehr kurz.

Währenddem hatte sich Rejthan in das Wohnhaus begeben, hatte sich, als ob gar nichts geschehn wäre, eine Pfeife gestopft und zum Ausruhen in seinen Lehnstuhl gesetzt. Von hier aus gab er sehr genau acht auf alles, was um ihn herum vorging, und als es Nacht wurde, verriegelte er jede Thür, die überhaupt einen Riegel hatte.

So verging der nächste Tag und der darauffolgende desgleichen. Engel begriff, daß das Abschließen ihr und Gudmund galt, denn dieser war nicht wie sonst zu den Mahlzeiten gekommen, und das mußte Böses bedeuten.

Aber gerade als sie darüber nachsann, trat ihr Mann ins Zimmer, und er war so lebhaft und frisch, wie sie ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte. Er ging im Zimmer auf und ab, rieb sich die Hände, lachte dazwischen, und als ihn Engel forschend betrachtete – denn dieses ganze Benehmen bedeutete gewiß nichts Gutes –, deutete er auf das Meer hinaus und auf ein Boot, das drunten an der Landungsbrücke gelegen hatte und nun mit frischem Winde in den Sund hinausfuhr. Sieh, da zieht er seiner Wege!

Wer? Engel fuhr auf, denn nun auf einmal verstand sie das Ganze. Ist es Gudmund?

Holm meinst du wohl? Meine Frau nennt einen solchen Kerl nicht bei seinem Vornamen!

Hast du ihn weggejagt? fragte sie und stand bleich wie der Tod vor ihm.

Ja. Solche Burschen jagt man weg.

Du – – hast das gewagt, du? sagte sie, und ein wilder Blick schoß aus ihren Augen. Du hast den ehrlichsten Menschen gekränkt, mit dem du jemals zusammengetroffen bist. Und aus welchem Grunde?

Ja, frag du ihn nur selbst, denn du kennst ihn gut. Aber du wirst es wohl leugnen wollen.

Leugnen? wiederholte sie. Meinst du, ich fürchte mich so vor dir, daß ich etwas thäte, worüber ich mich schämen müßte? O nein! Allerdings betrachte ich mich selbst als eine entehrte Frau durch meine Ehe mit dir – aber wehe dem, von dem das Ärgernis ausging! Als eine weiße Taube kam ich in dein Haus geflogen, und ich verlasse es als ein schwarzer Rabe.

Entehrt sagst du! Ja, das Kind eines ehrlosen Mannes bist du allerdings, sobald ich es nur will, unterbrach er sie, vor Wut bebend. Das, was du eben gesagt hast, soll dich teuer zu stehn kommen!

Ich kenne den Preis wohl, erwiderte sie. Du willst die Summen aufschreiben, die dir mein Vater schuldig ist.

O nein, ich kann ihm noch ein andres Register senden, und darin stehn nicht weniger als fünf Nachweise von Kassendefekten.

Diese Beweise hast du nicht mehr, sagte sie. Ich habe sie zerrissen, denn sie waren nicht dein Eigentum, sondern das eines Verstorbnen.

Das hast du gewagt? schrie er und trat mit geballter Faust auf sie zu.

Sie wich vor ihm zurück. Wenn du Hand an mich legst, verlasse ich dich!

Um bei ihm zu sein! rief er höhnisch lachend. O nein, du bleibst noch, wo du bist!

Es wurde ihr schwarz vor den Augen. Ja, das würde er sagen – damit würde er sich rechtfertigen! Da erhob sie das todesblasse Gesicht und sah ihn fest an. Dann giebt es noch eins, woran du mich weder durch Gesetz noch Gewalt hindern kannst – das ist der Tod.

Der Mann erbleichte unter ihrem Blick. Aber sobald die Feigheit sich in ihm rührte, wurde er schlau. Und was würde dein alter Vater dann thun? wandte er ein.

Sie zuckte zusammen. Ja – da kam das Unmögliche – es gab keine Rettung! Das Gesicht des Mannes leuchtete auf. Aber plötzlich sah sie ihn wieder mit ihrem unbezwinglichen Blick an.

Giebst du mir die Erlaubnis, meinen Vater zu besuchen?

Nein – ganz gewiß nicht! erwiderte er lachend.

Dann gebe ich sie mir selbst, und das gilt mehr.

Er sah sie prüfend an. Nein – er bezwang sie nicht! – Wie lange willst du dort bleiben?

Bis ich mir darüber klar geworden bin – ob ich noch ferner mit dir leben kann oder nicht.

Daraufhin kommst du nicht fort von hier.

Gut – aber ich gehe doch, und dann ist es für immer. Es wäre möglich, daß ich, wenn ich mich in Ruhe mit meinem Vater aussprechen könnte, es über mich gewinnen würde, wieder zu dir zurückzukehren – ich würde es dann freiwillig thun und mein Schicksal, so wie es ist, auf mich nehmen. Nun hast du die Wahl; denn eins von beiden geschieht sicher.

Ich will nicht! schrie er nach einem Augenblick des Schwankens. Ich will nicht! wiederholte er und stampfte auf den Boden, um sich wieder zu der alten Wut aufzureizen.

Nun gut, sagte sie leise vor sich hin und wollte das Zimmer verlassen. Aber er stürzte ihr nach und zwang sie zurückzukehren, während er selbst hinausging und die Thür hinter sich verschloß.

*

Acht Tage waren seitdem vergangen; da stieß kurz nach Mitternacht ein Fährkahn vom Handelsplatz ab, der von einem dichteingehüllten Weib gerudert wurde. Es war Rejthans Frau, die sich von ihm trennte – denn nun war das geschehn, was sie vorausgesagt hatte.

Kräftig ruderte sie vorwärts, und in den gleichmäßigen, festen Ruderschlägen hätte niemand erkennen können, daß sie von einer Frau herrührten, die acht Tage und Nächte lang mit einem Tobsüchtigen gerungen hatte.

Bei Tagesanbruch legte sie an ihres Vaters Grund an und ruhte am Strande aus, da, wo sie einst als fröhliches Kind gespielt hatte. Dort, zwischen dem breitblättrigen Seetang und dem weißblumigen Löffelkraut weinte sie unaufhörlich, bis das Leben in den Hütten erwachte – da schlich sie zitternd und gebeugt nach des Vaters Hof.

Der eine und der andre der Umwohnenden näherte sich ihr und betrachtete sie neugierig, doch wagte niemand sie anzureden. Sie verstanden aber wohl, daß mit der Tochter des Vogts etwas vorgegangen sein mußte, das nicht in Ordnung war, und sie fanden auch bald die Ursache heraus. Der Kaufmann war in der Umgegend wohl bekannt, hatte aber keinen guten Namen.

Inzwischen war Engel in das Schlafzimmer ihres Vaters getreten. Lautlos hatte sie sich auf den Stuhl neben seinem Bett gesetzt, wo sie früher unzählige male gesessen und seinen Schlaf bewacht hatte; nun nahm sie ihr altes Recht wieder in Besitz. Damals hatte sie freilich als eine fein zwitschernde Schneeammer hier gesessen, die Flügel immer zum Flug erhoben – nun zeigte es sich, daß die in den Fängen des Raubvogels gewesen war.

Zum erstenmal wandte sie die Augen vom Vater ab und betrachtete sich selbst, um einen Vergleich zu ziehn. Auf seinem schlummernden Gesicht hatten die großen Schmerzen des Lebens keine Spur hinterlassen. Nichts war darin als Schwäche. Sie preßte ihre gefalteten Hände gegen die Brust, als wolle sie die Zeichen ihres großen Unglücks zurückdrängen, damit sie vor den Augen der Menschen verborgen blieben.

Da erwachte der Vater, und bei dem Anblick seiner Tochter begann er am ganzen Leibe zu zittern. Wo kommst du her, Kind? stammelte er.

Bei wem war ich denn? fragte sie mit einem harten Klang in der Stimme. Jetzt konnte sie keine mitleidige Rücksicht auf sein Alter nehmen; sie war zu unglücklich.

Ja ja, ich weiß es ja, sagte er müde. Aber du bist dieses Mannes Gattin – sein angetrautes Weib!

Sie fuhr heftig auf. Nein! rief sie. Das leugne ich für alle Zeiten!

Kann der Mensch nein sagen, wenn das Gesetz ja sagt? wandte er ein und sah sie erschrocken an.

Das Gesetz! Sieh hierher, Vater! Und sie riß ihr Tuch ab und zeigte ihm die Spuren von Gewaltthätigkeiten an dem feinen Handgelenk. Das ist auch eine Gesetzesschrift, die ja sagt – wenn der Mensch ein Nein ausspricht.

Der Alte richtete sich auf und starrte seine Tochter verwirrt an. Dann hat er sein Recht verwirkt, flüsterte er, als läse er die Worte aus einem Buche ab.

Und wenn sich auch keine einzige Spur von Gewaltthat an dem Körper eines Menschen fände, so dürfte das Gesetz doch ja sagen, wenn der Mensch nach dem Kampfe der Prüfung nein sagen will?

Das Gesetz kommt von Gott, jammerte der Vogt ausweichend.

Aber steht nicht geschrieben, daß der, der die Seele tötet, schlimmer ist als der, der den Leib tötet?

Ach ach, Kind! stöhnte er und sank wieder auf sein Lager zurück.

Lieber Vater, ich bin als eine Heimatlose zu dir gekommen – ja als eine Verfolgte. Ich flehe dich an: Erbarme dich meiner, und du hältst mir das Gesetz entgegen. Nicht das Gesetz ist es, an das ich mich wende – hat es ein Herz für die Not eines Menschen? Ist es nicht wie ein blutiges Messer, das von Wunde zu Wunde ausholt? Was hilft es mir, wenn ich sage: Der Ehegatte, den du mir gegeben hast, ist nicht wie die Ameise, die mit dem Augenblick des Lebens geizt, und nicht wie das Männchen, das das Nest baut, sondern er ist wie das Wiesel, das das Blut aussaugt, und ich muß vor die Welt treten als eine, die die Fruchtbarkeit ihres Herzens verloren hat und keine Frucht aufweisen kann!

Der Alte war ihrer Rede mit zunehmender Aufmerksamkeit gefolgt, und als sie nun schwieg und, das Gesicht vom strahlenden Morgenlicht beleuchtet, vor ihm stand, wurde es ihm klar, was sie gelitten haben mußte. Und bei diesem Anblick faßte er nach all den dünnen Fäden eines schwachen und unsichern Daseins, die er noch zusammenraffen konnte, und er richtete sich so hoch auf, als es ihm noch möglich war.

Wahrlich, mein Kind, rief er, wenn es das Unglück ist, was dich in deines Vaters Haus jagt, dann sollst du willkommen sein!

Ich danke dir, Vater! antwortete sie mit demselben feierlichen Ton.

Dann machte sie sich ein wenig im Zimmer zu schaffen; sie schaute aus dem Fenster – die Morgensonne beleuchtete alles mit einem warmen Schein, sodaß das Große wie das Kleine noch einmal so schön erschien. Vor ihren Augen lag ein blühender Wohlstand ausgebreitet, fast war es, als wolle der nackte Berg seinen trocknen Schoß öffnen und ein Lebenszeichen von sich geben.

Ach, daß ich jemals meine reiche Kinderheimat verlassen habe! rief sie, und nun erst fand ihr Herz Linderung in Thränen.

Ich bin ein armer Wandrer, und mein Leib ist eine baufällige Hütte, betete der Vater aus dem Gedächtnis; dann faltete er die Hände und begann auch zu weinen wie sie.

Nach einer Weile trat sie an das Bett des Vaters und legte ihr vergrämtes Gesicht an seine Brust. Nun bin ich nur noch deine Tochter, Vater, und sonst nichts auf der Welt.

Da umarmte er sie, weinte über ihr und segnete sie wieder und wieder. Der kleine Rest von Gesetzesrechthaberei, an dem er sich noch hielt wie der Glöckner am Glockenseil, verschwand vollständig. Er hatte nur im ersten Schrecken seine Zuflucht dazu genommen. Nun war nicht allein der Schrecken überwunden, sondern es winkte auch die Hoffnung von allen Seiten. Er hatte ja seine Tochter wieder! Mein Schneevöglein! rief er und nickte ihr zärtlich zu.

Schneevöglein! wiederholte sie schluchzend. Ach, das war das Wort, das ihr die ganze Kindheit hervorzauberte. Wenn sich im Herbste die hellen Schneeammern zu Tausenden ringsum niederließen und mit ihrem flinken Hüpfen und ihrem leichten Gezwitscher der toten Winterlandschaft Leben verliehn, dann war sie draußen gewesen auf den Feldern, um sie zu begrüßen und ihnen in ihren Gedanken zu erzählen, daß sie auch »Schneevöglein« genannt werde, und daß sie sich recht nahe mit ihnen verwandt fühle.

Ein glückliches Wort war es, das dem Vater in diesem Augenblick eingefallen war; damit war ihr die Kindesheimat wieder geöffnet worden – nun konnte sie getrost hineingehn!

Es folgte nun eine stille Zeit. Warum Rejthan nicht sofort erschien und als Ehegatte seine Frau zurückverlangte, hatte seinen Grund wohl darin, daß er einsah, er werde sie weder im guten noch im bösen zwingen können. In dem fürchterlichen Streit, den die beiden miteinander allein durchgekämpft hatten, war ihm ein klareres Verständnis ihres Wesens aufgegangen, auch war er von dem Kampfe selbst noch gelähmt und mußte erst wieder etwas verschnaufen. Übrigens hatte er ja seine Waffen bereit und konnte jeden Tag losschlagen, und sie trafen sicher und verwundeten tödlich; er hatte eine Schuldverschreibung über fünfzehnhundert Thaler in Händen, vom Vogt unterschrieben und mit dem Amtssiegel versehen. Die Rache war also sicher, aber er wollte Engel Zeit lassen, sich wohl zu besinnen.

Und sie besann sich, aber ihre Gedanken gingen gerade in entgegengesetzter Richtung. Die Ehe mit Rejthan hatte sie aufgelöst, das war nun für immer abgeschlossen. Nach dieser Seite hin hatte sie nichts mehr zu thun. Der Vater dagegen hatte all den Beistand nötig, den sie ihm zu leisten imstande war; deshalb entließ sie den Schreiber, der von Rejthan zur Unterstützung des Vogts angestellt worden war, sogleich, ohne ihm etwas von seinem Lohn abzuziehn. Sie wußte wohl, daß ihr dadurch große Schwierigkeiten erwachsen würden, aber sie wollte doch am liebsten allein mit ihnen fertig werden. Das Hauswesen wie der Ackerbau waren äußerst verkommen – wo sie sich hinwandte, war reichlich Gelegenheit zu Wirksamkeit, und obgleich ihr Herz ihr wie ein geschlossenes Grab vorkam, erwachte doch die Lebenskraft unter der Arbeit aufs neue.

Der Vater ließ sie auch vollständig gewähren. Sogar den mit soviel Zähigkeit festgehaltnen Schlüssel zur Amtskasse gab er ohne Murren in ihre Hände. Nun wußte sie ja doch alles! Außerdem war die Kasse im Augenblick in der gewissenhaftesten Ordnung, und wenn nicht die finstre Drohung von der andern Seite des Sundes sie in beständiger Angst erhalten hätte, so hätte ihr das Leben jetzt noch eine Friedenszeit gewähren können.

Ein paar Monate vergingen so ohne einen Zwischenfall, da trat eines Tags Gudmund Holm bei ihr ein. Wie das vorige mal blieb er auch jetzt wieder an der Thür stehn und brachte kein Wort heraus. Aber sein Gesicht erzählte auch ohne Worte deutlich, daß auch er keine leichte Zeit hinter sich habe.

Als Engel sich etwas gefaßt hatte, ging sie ihm entgegen. Du hast auch gelitten, Gudmund, sagte sie. Und du hast um meinetwillen gelitten.

Er brach in Thränen aus; ihre Freundlichkeit löste die Spannung in seinem Gemüt, und es wurde ihm leichter ums Herz. Sie ergriff seine Hand, führte ihn zu einem Stuhl und ließ ihn sich ausweinen. Er betrug sich wie ein unglückliches Kind seiner Mutter gegenüber.

Es ist gut, daß du kommst, Gudmund! tröstete sie. Mein Herz hat sich nach dir gesehnt wie ein zu Boden getretner Halm nach dem kühlenden Tau.

Ach – Fräulein Engel! Ich bin so schrecklich gering im Vergleich mit Ihnen, daß ich gar nicht genannt werden darf! rief er und sank zu ihren Füßen nieder.

Sie legte seinen Kopf auf ihre Kniee und strich ihm durch das lockige Haar. Du darfst nun getrost du zu mir sagen, Gudmund!

Du! Engel! du! rief er, und Thränen und Schmerz verwandelten sich in strahlende Freude.

Ja, sagte sie und nickte ihm freundlich zu.

Dann gehst du nie wieder zu ihm zurück?

Nein, Gudmund, ich sehe ihn nie wieder!

Ach – Gott! Ich wage nicht auszusprechen, was ich gern möchte. Du weißt es, Engel!

Ja, ich weiß; aber es darf nicht gesagt werden. Das Wort ist dem Gesetz unterthan, der Gedanke aber Gott allein. Sag es ihm, Gudmund, dann erfahre ich es am besten.

Aber wenn du doch frei bist! stammelte er.

Ja, ich bin frei, aber ich habe mich selbst von ihm losgesagt. Du verstehst doch wohl, was das bedeutet?

Dann bin ich ja ebenso weit wie vorher, stöhnte er.

Wie – was sagst du, Gudmund? Bedenke! bedenke!

Aber dann bist du ja noch immer seine Frau!

Bin ich seine Frau, wenn ich hier lebe und er dort? Nein. Ich bin seine Frau nicht, sonst säße ich hier nicht lebendig vor dir. Auch bist du nicht ebenso weit wie vorher, Gudmund. Denn wenn du mich lieb hast, dann ist es wohl so, daß du mir jetzt näher stehst als früher.

Aber ich dachte ja ...

Ach, Gudmund, denke, was du willst, aber sage kein einziges Wort, dem du nicht die That folgen lassen kannst.

Gudmund erhob sich mutlos und entfernte sich schwankend von ihr. Aber Plötzlich zeigte sich ihm ein Hoffnungsstrahl, und er wandte sich wieder zu ihr. Nun gut! Aber dann können wir hier wohl wieder zusammenbleiben wie früher? Diesem Gedanken wenigstens kann ich die That folgen lassen. Deswegen bin ich auch gekommen. Ich wollte dem Vogt meine Dienste anbieten.

Weißt du keinen andern Ausweg, Gudmund?

Doch. Ich kann nördlich von hier ein kaufmännisches Geschäft übernehmen, antwortete er keck.

Dann solltest du es übernehmen.

Du weist mich von dir, Engel?

Sind wir darum geschieden? fragte sie und nahm seine Hand in die ihrige. Die Schuld, die Sündenschuld! nur sie scheidet ewig. Ach Gudmund! Mein Herz ist ja wie ein Verschmachtender in der Wüste; aber die Schuld würde mir einen in Gift getauchten Schwamm reichen – – da will ich viel lieber verdursten.

Vergeben Sie mir, Fräulein Engel! bat Gudmund demütig.

Du hast mir ein Messer ins Herz gestoßen, Gudmund. Ach, meine Würde ist so tief verletzt, daß ich mich vor dir schäme – du, der du so rein bist wie der frischgefallne Schnee auf dem Berge! Aber nun darfst du nicht länger hier bleiben; kein böses Gerücht soll aus unserm letzten Wiedersehen entstehn.

Soll dies unser letztes Wiedersehen sein? Dann will ich nicht weiter leben.

Überlaß es dem Herrn, Gudmund! Denn wenn du im Eigensinn etwas Böses thust, dann handelst du gegen mich.

Gut, ich will für dich handeln, aber dann handle du auch für mich. Wenn ich über dein Leben gebiete, dann gebietest du auch über das meinige.

Engel betrachtete ihn prüfend. Männlich und keck stand er vor ihr in seiner Entschlossenheit. Frische Jugendkraft leuchtete aus seinem Gesicht, seine dunkeln Augen glänzten durch Thränen, und seine Lippen bebten.

Mit dir ginge ich gern in den Tod! flüsterte sie.

Er stieß einen Schrei aus und wollte sie an sich ziehn. Aber sie wich zurück und streckte abwehrend die Hand aus. Die Schuld, flüsterte sie kaum hörbar.

Nun will ich fort von hier! rief er zornig und entfernte sich von ihr.

Weißt du, wie schwer ich leide? fragte sie schmerzlich.

Da wandte er sich um, und mit dem Rücken an die Thür gelehnt stand er wieder mutlos und flehend vor ihr, wie das erste mal, und konnte kein Wort hervorbringen.

Leb wohl, Gudmund! sagte sie fest und reichte ihm die Hand. Darfst du mich an dein Herz nehmen, wenn wir uns Wiedersehen, dann werde ich die Ruhe des Glücks bei dir suchen.

Und dann bekomme ich den Brautkuß, Engel! jubelte er erleichtert. Und damit ging, oder besser gesagt, lief er davon, als sei dies sein letzter Sprung dem erjagten Glück entgegen.

Einen Augenblick nachher schaute Engel durch das Fenster. Da stieß sein Boot vom Lande ab.

Jetzt sind wir getrennt, sagte sie und bedeckte ihre Augen mit der Hand, um nichts weiter zu sehen. So stand sie lange da. Als sie endlich wieder aufschaute, war das Boot verschwunden. Wo steuerte er hin – wo würden sie sich wieder treffen – – blieb er ihr so treu, wie sie ihm?

Diese Fragen kehrten oft wieder, und nur ein Seufzer gab ihnen Antwort. Die Zukunft war ja ihr strenger Gläubiger – konnte sie wohl ihre Schuld bezahlen?

Aber aus ihrer tief erschütterten Seele sproßte damals der Dichtkunst kräftiger Wurzelschößling empor und setzte manche Knospe an, die spätere Tage zum Erblühen brachten.

*

Während der trüben Winterzeit, wo die Natur über allen wilden Kräften, die dann das neue Tageslicht zum Leben erweckt, zu brüten scheint, ist auch das Menschenherz eine Art Brutstätte. Das dumpfe Halbdunkel legt seinen Druck auf den Starken wie auf den Schwachen; aber wenn das Licht wiederkehrt, und das Schutzdach von dem rasenden Frühjahrssturm zersplittert wird, dann kann der Starke mit erneuter Kraft zugreifen, während der Schwache sich unter der Gewalt der Natur beugt, und der Unglückliche sich entweder zum Siege durchkämpft oder zum Fall für immer.

Dem aber, der über einem bösen Vorsatz brütet, leistet die lange Nacht guten Beistand; denn sie ist wie ein feuchter Keller, wo sich das Ungeziefer ungehindert vermehren kann.

Einem solchen Brüten hatte sich Rejthan hingegeben. Die arbeitslosen Tage und schlaflosen Nächte hatte er mit einem Gedanken verbracht – und das war die Rache an ihr. Er hatte ja auch die sichern Mittel dazu in der Hand: die Schuldverschreibung des Vogts und außerdem Beweise genug, ihn wegen unzuverlässiger Amtsführung anzeigen zu können. So weit würde sie es aber nicht kommen lassen! Wenn sie merkte, daß es Ernst würde, würde sie schon zu Kreuze kriechen. Und in seinen Gedanken hatte er sich schon die Worte zurechtgelegt, mit denen er sie empfangen wollte – eine entlaufne Frau! Aber er wollte doch, daß es ein anständiges Aussehen haben sollte. Vor den Leuten sollte es scheinen, als komme sie von einem Besuch bei ihrem altersschwachen Vater zurück; und aus diesem Anlaß hatte er für den Vogt schon eine Kiste gepackt, die zwölf Flaschen ausgesuchten Wein enthielt – als eine Art Gegenleistung! Unter diesen Vorbereitungen wurde die Schuldforderung an den Schulzenhof abgeschickt.

Nicht etwa, weil man hier das Schicksal vergessen hätte und eingeschlafen wäre, wurde die Ankunft des Schriftstücks wie ein Warnungsruf vor einem Abgrund ausgenommen – sie wußten ja, daß es kommen mußte; aber es ist doch ein Unterschied zwischen dem, was geschehn kann, und dem, was wirklich geschieht. Beide, der Vogt wie Engel, waren wie vom Schlage getroffen.

Aber es mußte gehandelt werden, und Engel ergriff zuerst das Wort. Vater, erinnerst du dich noch an die Worte, die du an dem Tage zu Rejthan sagtest, als er um mich warb? »Überlaßt mich meinem Schicksal, ich habe nichts Besseres verdient.« Was wolltest du damit sagen? Du brauchst mir nicht zu antworten, Vater, ich weiß es ja. Du meintest: Ich habe meine Pflicht verletzt, so will ich denn die Folgen tragen und meine Schuld sühnen, denn dann habe ich Frieden, und niemand kann mir etwas anhaben.

Ja ja, das wäre freilich das beste gewesen.

Aber du dachtest noch mehr, Vater, armer Vater! – du dachtest: Mein Schneevöglein soll nicht in die Klauen des Falken geraten, denn er faßt so scharf zu, daß die hellen Blutstropfen zwischen den Federn hervorquellen.

Du denkst besser als ich, Engel!

Ach, Vater, denkst du denn, ich solle wieder hingehn und dir eine neue Frist erkaufen?

Nein, niemals mehr sollst du ihm unter die Augen kommen! rief er mit einem Anflug seiner frühern Vornehmheit.

Aber wenn du zum Himmel schriest oder in die Erde grübst, du erhieltest doch nicht, was dich vor ihm retten könnte! sagte sie.

Ach nein, es giebt keine Rettung! stöhnte er.

Doch, Vater, es ist noch Rettung möglich.

Er sah sie kopfschüttelnd an.

Doch; die fünfzehnhundert Thaler, die du dem Manne schuldig bist, hast du geborgt, um einen Betrug zu decken. Wäre er an den Tag gekommen, dann hättest du doch wohl deine Schuld büßen müssen.

Es wäre der Verlust meines Amtes gewesen, seufzte er.

Er wollte noch etwas hinzufügen, aber es ging in einem heftigen Zittern unter.

So höre mich nun, mein lieber Vater! Tritt von deinem Amt zurück, von dem schweren Posten, den du nicht länger verwalten kannst.

Nein! rief er heftig. Ich bin meines Königs Diener bis zum Tode.

Was wird dein Feind dazu sagen? Daß er deine von dir unterschriebnen Briefe hat, worin du deine Schuld bekennst.

Niemand außer Rejthan weiß das, und er ist der Gatte meiner Tochter.

Rejthan ist nicht mehr der Gatte deiner Tochter, Vater, er ist dein ärgster Feind.

So handle du für mich – denn ich bin ein Mann des Todes! seufzte er und sank zusammen.

Aber sie ließ ihn nicht los. In dieser Stunde mußte alles gesagt werden, damit sie danach handeln konnte. Verschließ mir dein Ohr nicht, Vater! bat sie. Mein Herz thut mir bitter Weh bei dem, was ich sage, aber ich muß doch sprechen – es giebt nur eine Rettung für dich und für mich, daß wir weit, weit von hier wegziehn. Wenn du dein Amt niederlegst und weggehst, bist du aus der Gewalt der Menschen erlöst.

Aber die Schulden? rief er.

All dein Eigentum muß verkauft werden.

Das reicht nicht.

Wir wollen es versuchen, Vater. Laß nur mich machen. Ich werde in aller Stille daran arbeiten, so viel ich kann, später muß dann öffentlich gehandelt werden. Aber dann verlassen wir die Gegend. – Ich gebe dir mein Leben, Vater – über mehr habe ich nicht zu gebieten.

Der Alte schloß die Augen und lehnte seinen Kopf an ihre Brust, wie ein geängstigtes Kind sich an die Mutter anlehnt und diese für sich handeln läßt. Engel nahm diese Bewegung als zustimmende Antwort und ging unverzüglich ans Werk.

Das erste war, die Eingabe um Enthebung vom Amte aufzusetzen, damit sie bereit war, sobald sich eine Gelegenheit zum Abschicken bot. Sie schrieb das Gesuch im Stile jener Zeit voll demütiger Ehrerbietung; aber doch war es, in Übereinstimmung mit ihrem eignen Charakter, mit Klugheit und Selbstachtung abgefaßt, nur von einem poetischen Hauch erfüllt. Als sie es dann mit klopfendem Herzen dem Vater vorlas, übte es eine ganz andre Wirkung auf diesen aus, als sie erwartet hatte; denn statt daß ein neuer Ausbruch verzweifelter Ohnmacht kam, weinte er aus Stolz über das würdige und schöne Schriftstück und unterschrieb es sofort.

Dies war der erste Schritt auf dem Wege, dessen Ende sie nicht absehen konnte; aber ob er zur Rettung oder zum Verderben führte, der Rückzug war nun abgeschnitten, und das gab ihr Mut. Das Unumgängliche, das konnte sie am besten bewältigen, deshalb vermied sie alle Umwege und ging gerade darauf los. – Doch was damals schnell genannt wurde, gilt in unsern Tagen für mehr als langsam.

Es lag in ihrem Plan, Zeit zu gewinnen, damit die letzte Entscheidung dann schnell getroffen werden konnte. Rejthan erhielt also keine Antwort, denn sie wußte, er würde warten wie ein Thor. Je länger die Antwort sich hinzog, desto sichrer würde er werden. Wenn nur erst des Vaters Abschied bewilligt wäre, dann sollte er schnell Bescheid bekommen.

Aber der Frühling verging, und der Sommer dazu, ohne daß eine Entscheidung eintraf, und mit banger Erwartung sah Engel jedem kommenden Tag entgegen. Inzwischen ließ sie unter der Hand Teile von dem Bestand des Hofs und von der Einrichtung des Hauses zum Verkauf ausbieten – und das konnte Rejthan als Kaufmann nicht lange verborgen bleiben. Er war auch nicht faul, seine Schlüsse zu ziehn; die Zeit der Kassenrevision näherte sich, und die Kasse des Vogts war schon so oft in schlechtem Stande gewesen, daß große Wahrscheinlichkeit dafür vorhanden war, daß es nun eben so stehe, und daß der Mangel auf diese Weise gedeckt werden solle. Mit diesem Gedanken beruhigte er sich. Er wußte, nun kam seine Zeit – und sie sollten ihm nicht entgehn.

Aber gerade während er sich diese trügerische Beruhigung einredete, wurde die gnädige Dienstentlassung des Vogts und der Verkauf seines beweglichen Eigentums öffentlich kundgegeben.

Seines Eigentums! höhnte Rejthan. Die ganze Geschichte kann ich ihm mit einem einzigen Pferd wegführen.

Daran war schon etwas Wahres. Das Eigentum des Vogts wog nicht viel auf der Geldwage, denn obgleich alles zu Geld gemacht wurde, hatte Engel am Schluß des schweren Kampfes nur wenig über elfhundert Thaler in den Händen. Da war guter Rat teuer – ja, es war eigentlich gar kein Rat vorhanden.

Tag und Nacht stritt sie sich mit dem häßlichen Gespenst herum: mit der Geldschuld an den Mann, der sich noch ihr Eheherr nannte. Sie konnte also den Vater nicht von ihm erlösen! Denn wenn auch der größere Teil bezahlt wurde, so würde er den Rest, der noch ausstand, gerade erst recht festhalten und die Schlinge zuziehn, daß sie in Fleisch und Blut schneiden würde.

Sie hatte den Vater damit hingehalten, daß alles glücklich abgewickelt worden sei, und sie sah, daß er sich nach dem langen, hoffnungslosen Kampf seines Lebens wieder etwas aufrichtete und erholte – sollte sie ihm nun den armen schwachen Mut wieder rauben und ihn aufs neue in Verzagtheit stürzen? Sie versteckte sich mit ihrer Verzweiflung. Wenn der Vogt das Kontor verlassen hatte, schloß sie sich mit ihrer Hilflosigkeit darin ein, um sie nicht zu verraten – und doch mußte es ja bald an den Tag kommen – nur noch wenig Stunden, und sie mußte sagen, wie es stand.

Bis in die späte Nacht hinein ging sie verzweiflungsvoll in dem Zimmer umher, wo der Vater vor ihr mit der gräßlichen Geldnot gekämpft hatte. Sie begriff es nun allmählich, wie er, da er den Schlüssel zu einer Kasse in den Händen gehabt hatte, sich damit gerettet hatte, wenn es auch seine Ehre kostete.

Aber die Ehre, was war die für sie? Plötzlich blieb sie mitten im Zimmer stehn, und mit geschlossenen Augen tauchten Bilder vor ihr auf, die sie in der hastigen Wirksamkeit übersehen hatte. Eine Gattin hatte wohl vor Menschen ihre Ehre, und konnte doch vor Gott in Schanden dastehn. Was war es also, die Schmach in den Augen der Welt auf sich zu nehmen, wenn Gott das Herz als rein erkannte? Wir sollen ja die nicht fürchten, die den Leib töten, sondern die, die die Seele töten! Und da mußte sie doch wohl den Mann am meisten fürchten, der während ihres ganzen Zusammenlebens nur immer ihrer Seele nach dem Leben getrachtet hatte.

*

Als Engel in dieser Nacht das Kontor verließ, sah sie sich scheu um – es war, als fürchtete sie sich vor der Dunkelheit. Und als sie in ihr Schlafgemach trat, verriegelte sie rasch die Thür hinter sich und vergrub ihr Gesicht in die Kissen, wie jemand, der das Grollen des Donners nicht anzuhören wagt.

Am nächsten Morgen aber ging Engel sicher und gefaßt zum Vater mit der vollen Summe von fünfzehnhundert Thalern. Er lächelte ihr getröstet zu und setzte sein Siegel unter die Unterschrift. Das war das letzte mal, daß er sein Amtssiegel benutzte.

Als Rejthan die ganze Summe erhielt und sich gezwungen sah, eine vollgiltige Bescheinigung für den Empfang auszustellen, hätte ihn beinahe der Schlag gerührt, denn er maß sich selbst die Schuld bei. Warum hatte er gewartet, seine Frau auf dem Wege des Rechts zurück zu verlangen? Er hatte einen Umweg machen wollen, und der war ihm zur Falle geworden. Aber nun war seine Geduld zu Ende, und alle Hilfe, die ihm das Gesetz zu leisten imstande war, sollte in Anspruch genommen werden. Und an dem Tage, wo er sie sicher wieder hätte, ja, da sollte sie ihn von einer andern Seite kennen lernen!

Rejthan war jedoch so angelegt, daß seine schwächste Seite zugleich auch seine stärkste war. Und da die Eitelkeit die stärkste seiner schwachen Seiten war, kam es nun hauptsächlich darauf an, die Angelegenheit mit der entwichnen Gattin zu seinem Vorteil zu drehn. Gnade für Recht ergehn zu lassen, das war ein Weg, der ihm Ehre eintrug, und den ihm niemand verwehren konnte; wenn nun also das Gesetz das Seinige gethan hatte, dann konnte er versöhnend mit dem Seinigen dazwischen treten.

Aber diese erträumte Ehre verwirklichte sich nicht. Es meldete sich nämlich plötzlich ein andrer Ausweg für seine Eitelkeit. Dieser brachte ihn jedoch weit ab von dem begehrten Abschluß und führte ihn zu einer schroffen Entscheidung der ganzen Angelegenheit.

Eines Tages verbreitete sich auf dem Handelshofe das Gerücht, die Tochter des Vogts, Rejthans entlaufne Frau – denn nur so wurde sie im Volksmunde genannt – habe die königliche Amtskasse um vierhundert Thaler bestohlen.

Da hatte der Mann seine Rache, und was für eine! Im ersten Augenblick erfüllte sie ihn auch mit Befriedigung, aber bei näherer Prüfung schmeckte sie doch bitter wie Wermut; denn nun konnte seine Frau ja nie wieder seine Schwelle überschreiten, und doch begehrte er sie nach wie vor. Es gab Augenblicke, wo er alles für sie gethan hätte; aber wie heftig sein Begehren auch war, es mußte schließlich doch der Eitelkeit weichen. Darum reichte er, als sich das Gerücht als wahr herausstellte, sofort ein Gesuch bei der Behörde ein, das, auf Grund seines ehrenhaften Wandels, die Scheidung von seiner ungehorsamen, treulosen und befleckten Frau, Engel Marcilie geborne Heggum, verlangte.

Das Gesuch wurde ihm auch in Gnaden bewilligt.

Das Gräßliche war also wahr; Engel hatte in der ratlosen Stunde, als ihr nur zwei Auswege übrig blieben, das Verbrechen und die damit verbundne unauslöschliche Schande der Fortsetzung der Ehe mit einem Manne vorgezogen, der, wie sie meinte, ihre Seele töten würde.

Als sich die königliche Kontrolle einstellte, um die Kasse zu untersuchen, fand sich darin ein von Engel unterschriebner Schein, worin sie sich für die fehlende Summe als »allein schuldig« erklärte.

Sie stand daneben, als das schreckliche Bekenntnis ihrem Vater vorgelegt wurde. In demselben Augenblicke ging diesem ein Licht auf, und er erkannte die ganze Wahrheit. Und da erhob sich zum erstenmal ein wahrer Seelenmut in seinem schwachen, haltlosen Charakter. Das ist eine Lüge! rief er. Mein ist die Schuld, und mein soll auch die Strafe sein!

Der Aufsichtsbeamte nickte ihm beifällig zu. Recht so, mein lieber Vogt! Recht so!

Sein Ausruf wurde zu einem neuen Sporn für den alten Mann, und obgleich er in dem Gesicht der Tochter Verzweiflung las, fuhr er doch fort: Fünf – sage und schreibe fünf mal – habe ich mich an der königlichen Kasse vergriffen, die mir anvertraut war. Das Defizit wurde immer durch eine Anleihe gedeckt; aber das letzte mal war das schlimmste. Nun handelt mit mir nach Gesetz und Recht. Ich habe nur wenig zu meinem Lebensunterhalt, aber was ich besitze, schulde ich meinem Herrn, dem König!

Nach dieser Kraftprobe sank er zusammen und weinte mit geschlossenen Augen an der Brust seiner geliebten Tochter. Sie war nicht fähig gewesen, ein einziges Wort einzuwenden. Die Ehre, die es dem Vater machte, daß er seine Schuld bekannte, wollte sie durch nichts, gar nichts vermindern.

Ich bin doch gezwungen, Ihren Schein mitzunehmen, sagte der Kontrolleur zu Engel. Denn so viel ich verstehe, will die Tochter des Vaters Mitschuldige sein.

Kann mir das zugestanden werden? fragte sie. Dann ist mein Schicksal gnädig.

Ach hört doch nicht auf sie! rief der Alte schluchzend.

Lieber Vater! Ich habe dir ein kostbares Opfer gebracht, als ich jenes Mannes Ehegattin wurde; aber ich verriet meine eigne Gabe, denn ich zog das Opfer zurück. Laß mich dafür nun eine geringe Summe opfern.

Die Ehre ist eine große Summe, meine Tochter.

Aber nun bist du mein Alles, Vater. Und ich bin dein Alles. Laß die Summe der Ehre nur dahin sein, Vater, wenn wenigstens die des Herzens ihren vollen Wert hat.

So standen nun Vater und Tochter Hand in Hand vor dem unvermeidlichen Schicksal.

Kurz nachher verschwanden sie beide aus der Gegend. Über eine Strafe verlautete nichts. Nur so viel war zu Protokoll gebracht worden: daß der Vogt Heggum an dem und dem Datum – in dem und dem Jahre – mit allergnädigster Bewilligung seines Amts enthoben worden sei. Drei viertel Jahre später erfolgte die Ernennung des Nachfolgers.

Von Engel Marcilies geschiednem Mann wußte man noch weniger. In jenen Gegenden bekam ein Kaufmann, der ohne Nachkommen starb, in der Regel nur das Denkmal, das ihm die Gemeinde durch zufällige Erwähnung setzte.

Von dem leidensvollen Kampf war nur noch die Natur ringsumher übrig. Sie war Zeuge des ganzen Verlaufs gewesen, ja sie hatte selbst daran teil genommen: sie war »mitschuldig« gewesen. Und obgleich sie das, was sie wußte, verschwieg, füllte sie doch mit ihren ergreifenden Illustrationen, die mächtiger sprachen als alle Worte, alle Lücken in dem unvollständigen Bericht aus.

*

Im Schutze der gewaltigen Kvänangszinnen am Olafberg, dort wo der Fjord sich öffnet, lag einer der gewöhnlichen Handelshöfe. Zu der Zeit, wo diese Geschichte sich abspielte, war er noch recht einträglich, aber als sich die Fischerdörfer allmählich erweiterten, und besonders als das Freihandelsgesetz die großen und die kleinen Fesseln der Abgaben und Steuern löste, sodaß jeder, der nur ein paar Thaler in der Tasche hatte, einen kleinen Handel anfangen konnte, kam das Kaufmannshaus herunter und wurde auch später nicht wieder in die Höhe gebracht.

Der Strand, wo der Hof lag, war ein unebnes Vorland mit einzelnen Fischerhütten und fünf bis sechs Finnengammen, Gamme: die von den Finnen bewohnte Erdhütte. aber weder Baum noch Busch legten Zeugnis davon ab, daß der gute Wille der Natur und der Menschen sich vereinigt hätte, ein reicheres Pflanzenleben hervorzulocken. Nur spärliches Gras und ein wenig Heidekraut gab es, das in jedem Frühling von selbst wieder hervorsproß. Die einzige Art des Ackerbaus, die hier getrieben wurde, bestand darin, daß das Vieh von einem Platze zum andern getrieben und eingepfercht wurde, wodurch die Erde stückweise ihre Düngung erhielt.

Übrigens lag die Gegend wie eine Wüste da – denn diese dichtgehäuften, unwegsamen Felsmassen, und selbst das weite Polarmeer mit seinen einzelnen Segelschiffen, was waren sie anders als die Wüste mit dem einsamen Wandrer. Doch hätte das Ganze noch ein viel trostloseres Gepräge gehabt, wenn nicht der Handelshof dagewesen wäre, der mit seinen weißen Mauern und seinen vielen Fenstern Licht auf den düstern Felsenweg geworfen hätte – denn wie ärmlich auch die ganze Ausstattung war, so zeugte sie doch von Kultur.

An diesem Orte lebte Gudmund Holm.

Hierher hatte er vertrauensvoll seine Zukunftshoffnung gerichtet, als er in der Abschiedsstunde Engel als seine verlobte Braut verlassen hatte; denn das war sie ihm in seinen Gedanken, obgleich Gesetz und hergebrachte Sitte sich zwischen sie stellten. Er wußte, er konnte sich auf sie verlassen. Sie war nun auf ihrer Pilgerfahrt, und wenn diese zu Ende war, dann konnten sie zusammenkommen und sich in inniger Liebe vereinigen. Ob dies über kurz oder lang sein würde, das Glück war gleich sicher.

Gudmund stand ja noch in seiner vollen Jugendkraft, und sein Mut hatte starke Flügel. Diese trugen die Hoffnung und die Erwartung schnell über alle Hindernisse hinweg, obgleich die Wirklichkeit schwere Wege gehn mußte auf dieser harten Stelle mit dem Fjordschlund dicht vor sich.

Vier volle Jahre waren nun schon vergangen, seit Gudmund hier in seinem Haus am Fuße des Gebirgs wohnte, wie ein einsamer Vogel in seinem Nest, der auf seinen Gefährten wartet, und es war kein Wunder, daß er begann, den Kopf hängen zu lassen. Solange er schwer zu ringen gehabt hatte, um sein Eigentumsrecht am Handelsplatze nutzbar zu machen, nahm die Anstrengung der Sehnsucht den Stachel, denn da war es ihm, als sei Engel seine Genossin. Und nachdem dann die ersten Schwierigkeiten überwunden waren, war seines Trachtens höchstes Ziel, die Heimat für sie fertig zu machen, und das umgab alles, was er that, mit einem so wunderbaren Schimmer, daß das drohende Dunkel der Ungewißheit vollständig verschwand. Dann kam es ihm vor, als sei nur eine ganz geringe Entfernung zwischen ihnen; denn die Winternacht versprach ihm so sicher, daß mit dem wiederkehrenden Frühlingslicht auch sie kommen werde; und die Sommersonne, die nie unterging, fuhr fort, ihm von Stunde zu Stunde Gutes zu versprechen. Und sogar als die viel kürzern Tage des Herbstes alles Leben im Freien schroff von sich wiesen, schien das warme behagliche Heim, das er ihr bereitet hatte, nur um so sichrer dazustehn und auf sie zu warten.

Aber die Zeit verging, und sie kam nicht. Ob sie noch am Leben war, und wo sie wohnte, das war nicht zu ermitteln. Unwegsame Strecken trennten die Menschen voneinander, und nur ein zufälliges Zusammentreffen brachte Nachrichten, die oft schon über ein Jahr alt waren. Tod und Leben wechselten miteinander ab, Schicksale kamen und gingen, und ehe die Teilnahme sich bethätigen konnte, war sie oft schon überflüssig geworden und stand nicht mehr im Einklang mit dem Bestehenden.

In einer solchen Lage war es nicht leicht, auszuharren; denn wenn sie auch auf der einen Seite die Ausdauer stählte, so führte sie andrerseits doch auch zu Schlaffheit. Nur das Herz konnte ohne Schaden aus dieser Prüfung hervorgehn – denn das Leben des Herzens ist wie das ewige Leben, das sowohl Leichtes als Schweres erträgt.

Zu seinem Glück und Unglück zugleich war das Leben des Herzens Gudmunds stärkste Seite, und so lange er von der Begeisterung getragen wurde, nahm er hohen Flug. Die Liebe zu Engel hatte wie ein starkes Reis in seinem Herzen Wurzel gefaßt, und es fand Platz genug, denn während es in ihm groß wuchs, wuchs er selbst mit ihm. Unter den Leuten ging die Rede über ihn: Dieser Bursche weiß, was Geld ist! Aber in Wirklichkeit wußte Gudmund nur, was Liebe war; denn wie diese in seinem Herzen über den Verstand ging, so folgte der Verstand diesem starken Steuermann in allem.

Aber als Gudmund allmählich mit seinen Vorbereitungen fertig geworden war, als jeder Fleck in seiner Umgebung das Zeichen der Erwartung trug, ihrer, der Eigentümerin, die nun herzutreten und von allem Besitz ergreifen sollte, und doch niemand kam – Tag auf Tag niemand, niemand! da wurden die großen Strecken um ihn zu Abgründen, die alle seine Hoffnungen verschlangen – sein Herz wurde lässig und seine Erwartung müde.

Hoffnungslosigkeit und Schlaffheit, dieses magre Paar! Und doch zeugt es eine so ungeheure Brut und gewinnt eine so riesengroße Gewalt über das Leben, obgleich seine ganze Arbeit darin besteht, den Willen matt zu machen.

Blutlos und farblos, wie die beiden sind, drücken sie doch schnell den Menschen ihren Stempel auf, eine Art Geschlechtszeichen, das alle einander ähnlich und auf allen Stufen der Gesellschaft kenntlich macht.

Bei Gudmund Holm zeigte sich das in Werktagsgestalt: er nützte sein Leben ab. – Die Stellung, die er sich errungen hatte, verlangte viel Fleiß von seiner Seite, wenn er sie aufrecht erhalten wollte, und diesen Fleiß setzte er ein; aber Fortschritt war keiner dabei. Nachdem er die große Triebkraft verloren hatte, war es, als könne er sich nicht alltäglich genug machen.

Innerhalb seiner vier Wände und der Dienerschaft gegenüber hatte er bis jetzt ganz nach der Art der Landbewohner gelebt. So lange er selbst auf der Höhe stand, nahm er es nicht so genau mit dem, was unter ihm lag. Aber als er sich mehr in das Alltagsleben gewöhnte, verlangte er etwas andres von ihm. Er war ein »gut situierter« Mann und mußte demgemäß leben!

Nun stellte er einen Ladendiener zur Unterstützung im Geschäft und eine Wirtschafterin zur Besorgung der Haushaltung an. Es waren ganz einfache Leute, aber sie waren beide in ihrer Stellung von Nutzen. Die Jungfer war ein Mädchen vom Lande, das in ein paar Beamtenfamilien gedient und dort etwas gelernt hatte, und der Ladendiener stand in der Bildung auf derselben Stufe.

Als sich die Jungfer ihrem Herrn zum erstenmal vorgestellt hatte, war er von ihrer Ähnlichkeit mit Engel ganz betroffen gewesen. Das war Engels hoher schlanker Wuchs, ihr schmales Gesicht und dasselbe dichte blonde Haar; aber das Gesicht war leblos wie ein Holzbild, und der Mund hatte einen bittern, unzufriednen Zug, der einen bei ihrem Anblick nicht freudig stimmte.

Trotzdem starrte sie Gudmund unverwandt an und mußte schließlich seine Blicke mit Gewalt abwenden, als ihr das Blut in die Wangen stieg und sie die Augen niederschlug. Er fühlte eine sonderbare Lust, sie wegzuschicken; aber sie hatte gute Zeugnisse und war auch schon für das Winterhalbjahr fest gedingt worden; es hätte also keinen Sinn gehabt, sie so schlecht zu behandeln.

Wäre dies aber zwei Jahre früher geschehen, so wäre seine Energie noch stark genug gewesen, daß er sich zu einer Wahl entschlossen hätte, und da hätte er sie von sich gewiesen.

Ja – so verging einige Zeit; Gudmund fuhr fort, die geliebte Ähnlichkeit zu betrachten, und obgleich eine innere Stimme es verneinte, behauptete er doch, die Ähnlichkeit werde mit jedem Tage größer. Manchmal konnte ein Lächeln über den unzufriednen Zug hinflackern, plötzlich, wie ein Sonnenstrahl aus einem bedeckten Himmel hervor, und dann klopfte sein Herz so stark, daß er nahe daran war, sie in seine Arme zu ziehn; in solchen Augenblicken aber wich sie vor ihm zurück, und noch hatte sie nicht eine solche Anziehungskraft für ihn, daß er ihr nachgegangen wäre – und sie genommen hätte.

Aber wieder nach einiger Zeit wich sie nicht mehr weiter vor ihm zurück, als daß er sie doch bequem hätte erreichen können. In den ersten paar Monaten hatte es allerdings ausgesehen, als sei es der Ladendiener, den sie vorzog – da stellte sie noch ihre Berechnungen an und meinte, auf dieser Seite winke ihr größere Sicherheit. Und doch spielte sie mit dem Feuer; denn sie merkte wohl, daß sie eine gewisse Macht über Gudmund hatte, und es reizte sie, diese zu erproben. Aber ihr Hausherr war noch immer ein hübscher junger Mann, und das große Liebesleben, das er in seiner Sehnsucht durchlebt hatte, erhielt durch den Umgang mit ihr eine gewisse Erneuerung, die ihn anziehend machte, und Gunhild – so hieß die Haushälterin – verbrannte sich sehr bald an dem Feuer, das sie selbst angezündet hatte.

Aber es wurde zu einem Schadenfeuer für beide.

Mittlerweile erweckte das Verhältnis neues Leben in Gudmund. Er war so lange in seiner Traumwelt umhergegangen, daß er sich jetzt wie ein Schlaftrunkner, den die Tagesarbeit ruft, die Augen rieb und sich mit der Empfindung umschaute, daß er zu lange geschlafen habe. Und nun griff er es auf andre Weise an. Sich mit Gunhild zu verheiraten, daran dachte er nicht, und sie verlangte das auch nicht. Konnten sie nicht in einem freien Verhältnis einander zugethan sein? Wen gab es zwischen Himmel und Erde, der das Recht gehabt hätte, sich darüber zu beschweren? Vor den Leuten auf dem Hofe nahmen sie sich in acht, und ihr einziger Mitwisser war die ungeheure Einöde der Natur, die sie auf allen Seiten umgab; diese aber schwieg darüber, wie sie noch über ganz andre Dinge als ihre kleine Geschichte schweigt, diese Geschichte von zwei umherflatternden Vögeln, die sich auf einer Klippe treffen und sich auf der hin- und herflutenden Woge niederlassen.

Und die Zeit verging. Es war großartig, wie sich der Kaufmann Holm in Kvänangen herausmachte! Früher war er wie menschenscheu gewesen, jetzt war er gesprächig und umgänglich zugleich, ganz so, wie ein Kaufmann an einem solchen Handelsplatze sein mußte!

Ja, es war wahr; eifriger als er konnte niemand die Vergangenheit von sich schieben und sein Dasein in die Gegenwart pflanzen. Die Einsamkeit, die er mit so viel Ausdauer gesucht und festgehalten hatte, scheute er nun wie ein Kind, das sich vor der Dunkelheit fürchtet und die Winkel meidet. Immer hatte er Gunhild um sich, wenn er nicht wegen der Arbeit mit andern zu thun hatte. Da saß sie nun und gaukelte ihm etwas vor, auf dem Sitz, den er Engel bereitet und als einen Thron für seine Braut heilig gehalten hatte! Denn obgleich Gunhild ihn in ihrer Gewalt hatte und ihm auch vollständig ergeben war, empfand sie doch eine merkwürdige Scheu vor ihm, und diese war es, die sie wegzugaukeln versuchte.

Es geschah nämlich ab und zu, daß er in ihrer Gegenwart plötzlich die Augen schloß und wie geistesabwesend war; dann fürchtete sie sich vor einem Etwas – sie wußte selbst nicht, was es war –, etwas, das trennend zwischen sie hineinschlich. Im allgemeinen fühlte sie sich ganz als sein Weib; nur in solchen Augenblicken überkam sie die quälende Empfindung, daß sie doch unter ihm stehe; denn wenn er dann die Augen wieder aufschlug, war in seinem Blick etwas Fremdes, eine Vornehmheit, die nichts mit ihr zu thun hatte, und obgleich sie diese nicht verstand, empfand sie sie doch als eine feindliche Macht, mit der gerungen werden mußte. Und das that sie auch. Aber mitten in ihren Versuchen, ihn zurückzugewinnen, konnte er sie dann wie eine Pestkranke von sich weisen. Doch gab sich alles von selbst wieder, wenn eine Weile vergangen war. Dann hatte Gunhild ihn wieder, ganz und gar, wie er sie auch.

Mittlerweile verdunkelte es sich über dem Kvänangsfjord und dessen gewaltigen Felsen zum Winter und erhellte sich wieder zum Frühling. Dann begann der Fischfang das Leben in Bewegung zu setzen, und die Landleute kamen auf den Handelshof, um ihren Bedarf für die Ausrüstung der Boote und der Mannschaft einzukaufen. Bei dieser vielseitigen Arbeit legte Gunhild thätig und fleißig Hand an, und wenn sie dann neben dem Hausherrn umherging und sich den Leuten als jemand zeigte, der noch mehr zu sagen als zu thun habe, da wurde das Scheinbare rasch zur Vermutung, und man dachte sich, wenn der Pfarrer nun noch Ja und der Küster Amen gesagt haben würde, dann hätte der Handelshof seine Herrin.

Allerdings war Gudmund weit entfernt davon, diese Annahme zu verwirklichen; Gunhild war aber mit der Zeit dreister geworden, und je mehr die Leute, die auf den Hof kamen, Andeutungen machten, desto sichrer war sie, daß es wirklich so gehn werde. Gudmund unterwarf sich ja ihrer Herrschaft immer mehr, und sie liebte ihn ja so innig, warum sollte sie da die Macht nicht an sich reißen, wenn sie sie erlangen konnte? Ja wohl, er sollte gerade so weit kommen, wie es ihr beliebte, aber nicht weiter. – Dabei machte sie mit aufgeworfnem Kopf und einem befehlenden Ton eine Bewegung, die ihr durchaus nicht stand.

Aber der Maßstab, den sie für die Macht brauchte, war natürlich ihrem eignen Standpunkt entsprechend; sie hatte wohl noch von einem tiefern aus messen können, aber auf einen höhern konnte sie sich nicht erheben. Sie wußte zwar, daß es etwas Höheres gebe, nur verstand sie es eben nicht. Die Scheu, die sie im Anfang so unsicher gemacht hatte, war vollständig verschwunden; wenn sie jetzt je einmal daran dachte, lachte sie über sich selbst und meinte, damals sei sie doch gar zu dumm gewesen! Aber damals hatte sie viel mehr Herzensverständnis gehabt als jetzt, und ihre Macht war weit größer gewesen; denn damals war diese ihre Demut, und nun war sie ein Zwang.

*

Es war in einer hellen Sommernacht. Der Kvänangsfjord lag still wie ein schlafender Riese zwischen seinen felsigen Ufern; es schien fast, als hielten diese an seinem Lager Wacht, damit ihn nichts aus dem Schlafe aufscheuche. Im Nordosten glühte die Mitternachtsonne, und ihr gerade gegenüber erhoben sich die Kvänangszinnen aus dem Meer wie Feuersäulen vor dem klaren Himmel. Das Ganze verschmolz in einem wunderbaren blauroten Schimmer, und nirgends auf der ganzen Welt konnte sich der Traum von dem Strande der Ewigkeit in einem schönern Bilde abspiegeln.

Da strich ein Boot, das von zwei Männern mit festen, regelmäßigen Ruderschlägen getrieben wurde, über das stille Wasser her; es hatte keine schwere Last; auf der hintern Bank saß nur ein dicht eingehülltes Frauenzimmer. Als das Boot an der steinernen Brücke anlegte, half der Fährmann der Frau ans Land, und während sie weiter ging und sich forschend umsah, wurde das Boot festgebunden, worauf sich die Bootsleute langsam dem Handelshofe näherten.

Hier lag alles in tiefem Schlafe, aber während der Fährmann sich auf eigne Hand zurecht finden konnte, wanderte die Frau langsam von der Brücke am Strande hin. Da Ebbe war, lagen überall große, moosbedeckte Steine, die zur Zeit der Flut vom Wasser überströmt waren. Es sah aus, als ließen sie sichs in dem warmen Sonnenschein wohl sein. Auf einem von ihnen ließ sie sich nieder und versank in die Betrachtung des herrlichen Nachtbildes.

Es war Engel Marcilie Heggum.

Nachdem fast sechs Jahre vergangen waren, kehrte sie zurück – ohne Ankündigung oder Nachfrage – zu dem Jugendgeliebten. Sie wußte, wo er zu finden war, und nun kam sie, um das Eigentum ihres Lebens wieder an sich zu nehmen.

Wie sie so dasaß, schien sie jung und alt zugleich zu sein. Ihre Haltung war etwas gebeugt, wie von einer ängstlichen Gewohnheit, und ihr feines Gesicht war verblüht, wie eine Blume im Lichte eines frostigen Tages. Nur der strahlende Sonnenglanz des Auges war noch da, und doch hatte es jetzt die unergründliche Tiefe, die von Leid und Sehnsucht stammt.

Allmählich veränderte sich der Sonnenschein. Die Natur erwachte aus ihrem kurzen Ewigkeitstraum und stand nun im hellen Tageslicht, das, Leben und Klarheit verbreitend, über die phantastischen Formen der Nacht hinstrich.

Da wurde die Thür des Wohnhauses geöffnet, und der Kopf eines Mannes schaute heraus, wie um Wind und Wetter zu erforschen. Das Gesicht war von Seeluft und Sonne gebräunt, und dichtes dunkles Haar lockte sich um die Stirn. Kurz darauf trat die ganze Gestalt auf die Steinfliesen heraus. Es war ein schöner Mann in seiner vollen Jugendkraft.

Als Engel ihn gewahrte, erhob sie sich und richtete sich auf, wie jemand, der seine gesunknen Kräfte wieder aufrafft. Sie hatte sofort Gudmund erkannt und erbebte vom Kopf bis zu den Füßen unter der Macht des Eindrucks. Wie deutlich hob die helle Morgensonne seine prächtige Gestalt hervor! Ja, er hatte mit unwandelbarer Treue all diese Jahre auf sie gewartet, rein und stark, wie der Auserwählte auf seine verlobte Braut harrt, das sah man ihm an. Die langen Jahre der Sühne, die sie durchlebt hatte, waren nicht verloren. Nun konnte sie ihres Lebens geläuterten Schatz, ihr ganzes Herz getrost in seine Arme legen. Der ewige Vater im Himmel sei gelobt und gepriesen!

Sie hatte die Hände über der Brust gefaltet und schaute auf den geliebten Mann wie auf eine Offenbarung. Und das Leben wurde in diesem Augenblick des Anschauens so groß, daß es für sie kein Vorher noch Nachher gab, nur den unermeßlichen Inhalt des Augenblicks. Ach, warum leistete der Tod nicht ein einziges mal dem Glück einen guten Dienst! Ein kleiner Druck seiner kalten Hand auf das lebende Herz – und Engel hätte die herrlichste Frucht des Lebens gekostet, sie wäre glücklich gestorben.

Aber wie mächtig das Glück auch ihren schwachen Körper erschütterte, so siegte doch die Lebenskraft. Die vollerblühte Rose der Liebe, die in diesem Augenblick ihr ganzes Wesen durchduftete, sollte Zeit haben, abzufallen, und zwar Blatt für Blatt, bis nichts mehr übrig war als der trockne Kelch, der das Samenkorn zu einem neuen Leben birgt.

Gudmund war nun die Steinstufen herabgegangen und kam den Weg heran. Sein Gang verriet eine gewisse Trägheit, und sein Äußeres erinnerte an das eines Fischers. Allerdings war er hübscher als die meisten dieser Leute, aber er sah doch aus, als sei er den gewöhnlichen Fußpfad des Alltagslebens gegangen.

Wer war die Frau, die dort auf dem Strand stand und ihn anstarrte? Langsam ging er auf sie zu. Da stutzte er ein wenig, dann ging er wieder vorwärts. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehn und konnte nicht weiter. Alles Blut stieg ihm in den Kopf, er meinte, er müsse umsinken.

Kennst du mich, Gudmund? rief Engel und kam ihm entgegen.

Engel, Fräulein Engel! stammelte er, indem er unwillkürlich die Arme ausbreitete.

Gott segne dich, Geliebter meiner Jugend! flüsterte sie mit thränenerstickter Stimme und legte sich in seine Arme, so vertrauensvoll und so zärtlich sicher, wie die Liebe allein ein weibliches Wesen machen kann.

Und wie er so dastand und sie in seinen Armen hielt, stellte sich allmählich die Sicherheit auch bei ihm ein. Ebenso schnell, wie die Natur im zunehmenden Licht des Tags ihren nächtlichen Traum vergessen hatte, vergaß auch er das Nachtgesicht, das ihm das Gewissen im ersten Augenblick vorgehalten hatte, und er gab sich von ganzem Herzen dem wunderbaren Glück der Gegenwart hin.

Er betrachtete sie unaufhörlich. Was er in ihren abgemagerten Zügen las, war ein Evangelium des Leidens, das sich ohne Worte kundgab. Aber nun kam ja die Herzensfreude und schrieb ihre goldnen Schriftzeichen hinein – darüber und darunter, dazwischen und wo es nur immer Platz gab, und bald leuchtete neue Jugend aus den ineinander geflochtnen Zeichen – denn wo das Glück sein flammendes Siegel auf den Grund des Schmerzes drückt, empfängt ja der Mensch seine größte Schönheit.

Nun bist du mein Ein und mein Alles, Gudmund! sagte sie. Das Grab hat sich über meinem alten Vater geschlossen. – Getilgt habe ich meine große Schuld – die Thür der Welt ist mir verschlossen. Nun will ich deine Treue mit meinem ganzen Leben bezahlen.

Herr Gott im Himmel! rief er und bedeckte das Gesicht mit zitternden Händen.

Da kam ein Bursche herbeigelaufen, um etwas zu fragen, und nachdem die Antwort gegeben war, nahm Gudmund Engel bei der Hand und führte sie dem Hofe zu.

Ist das dein Heim, Gudmund? fragte sie.

Es ist das deinige, Engel, wenn du es deines Eintritts würdigst, erwiderte er. Aber sein Blick flog scheu umher, und als er die Zimmerthür öffnete, hatte sein Gesicht einen drohenden Ausdruck.

Aber das, was er dadurch verscheuchen wollte, zeigte sich nicht. Als Gunhild ihn unten am Strand mit einer fremden Frau in den Armen gesehen hatte, war ihr gleich eine Ahnung aufgegangen, daß nun das eingetroffen sei, was ihr so oft Furcht eingejagt hatte, ohne daß sie wußte, was es eigentlich war. Und als sie nun auf das Haus zukamen, Hand in Hand und in zärtlicher Hingebung, da flüchtete sie in den äußersten Winkel des Hauses, um sich mitsamt ihrer Schande zu verbergen. – Denn als sie sah, wie er sich hier gab, wurde es ihr auf einmal klar, was sie selbst ihm gewesen war.

Zum erstenmal hatte sich ein Zartgefühl bei ihr eingestellt. Dieses hielt ihr einen Spiegel vor, worin sie sich selbst sah, mit der ganzen Roheit und Frechheit, die in ihrer Natur lag, und zugleich, wie von Tageslicht umflossen, zeigte der Spiegel ihr das Bild der Frau, die Gudmund so fürsorglich zum Hofe geleitet hatte. Und sie sah den Unterschied. Und ob sie auch die Hände so fest auf die Augen preßte, daß es ihr davor flimmerte, so konnte sie diesen Anblick doch nicht los werden.

Es war Gunhild etwas ganz Ungewohntes, über sich selbst zu Gericht zu sitzen, und sie fühlte sich nun als die Allerschlechteste, die es gab – ja, daß sie selbst schuldig sei. Deshalb hielt sie es aber auch nicht aus. Sie war ebenso gut wie die beiden, wie er und das ältliche Frauenzimmer, mit dem er so ein Aufhebens machte; sie hatte ein Recht an ihn. Sie hatte mit ihm gelebt wie eine verheiratete Frau – niemand sollte es wagen, sich an ihren Platz zu drängen, eher wollte sie sich das Leben nehmen.

So schürte sie die Leidenschaft, bis sie sich nicht mehr in der Gewalt hatte.

Mittlerweile hatte Gudmund Engel auf den Thron gesetzt, den er mit so viel Ausdauer und Liebe in seinem Heim für sie bereitet hatte. Nun saß er ihr gegenüber, und da überkam ihn seine alte Schüchternheit aufs neue; was war er, daß sie ihn lieben sollte? Er hielt ihre beiden magern Hände fest umschlossen; er schaute ihr schüchtern in die sonnigen Augen. Da erwachte das Herzensleben, das er einmal mit ihr geführt hatte, aufs neue und erfaßte sie mit seiner ganzen jugendlichen Wärme. Mit voller Wahrhaftigkeit hätte er in diesem Augenblick die schicksalsschwangere Zwischenzeit von sich werfen und sagen können: Ich kenne dich nicht und kann nicht zur Verantwortung für dich gezogen werden.

Aber die Wirklichkeit hat eine fürchterliche Macht; sie kann die tiefste Überzeugung mit Füßen treten und sie einen Lügner heißen.

Sie meldete sich nun auch und hielt Gudmund ihren Schein hin. Dicht vor seinen Augen, als diese sich gerade in den heiligen Anblick der Jugendgeliebten am tiefsten versenkten, hob sie ihre schneidenden Schriftzüge empor. Und wie ein Verlorner warf sich Gudmund vor Engel nieder und weinte wie ein verzweifeltes, ratloses Kind.

Du weinst ja so sehr, Gudmund, sagte sie und trocknete ihm die Thränen vom Gesicht. Wenn ich dein Ein und dein Alles bin, dann ist doch jeder Schmerz vorüber.

Ja, du bist mein Ein und mein Alles! schluchzte er mit einem Aufschrei, als ob er sich vor einer überwältigenden Last Luft verschaffen müßte, und wenn es ihm die Brust zersprengte.

Da nahm sie sein schönes Haupt zwischen ihre Hände und betrachtete ihn, und sie nickte der Bitte der Liebe in seinen Augen ein Ja zu: Ja – das Leben sollte schön werden. Sie hatten ja beide einen festen Grund, worauf sie bauen konnten. Sie hatten nicht das Glück errungen, das mit dem Jugendmut wächst und seiner selbst so sicher ist; ihr Glück war eine Frucht des Leids und des Entbehrens, und sie mußten es sorgsam und dankbar hüten.

Wie gut Gudmund alle ihre Gedanken verstand! Aber damit wuchs auch das Schuldbewußtsein seiner Seele, und er fühlte immer deutlicher, daß er das Recht an ihre Liebe verloren habe. Und doch griff er nach einer Entschuldigung. – Warum ließest du mich so lange allein, Engel? Ich kam mir wie ein Verstoßner vor, sagte er.

Mußte ich nicht zuerst den Willen meines Vaters im Himmel thun? fragte sie und sah ihn mit weitgeöffneten Augen an.

Er erbebte und schlug die Augen nieder. Er konnte es nicht aushalten, in diese Klarheit zu schauen.

Hatten wir uns denn nicht auf Leben und Tod miteinander verlobt?

Er wollte antworten, aber er konnte nicht.

Warst du denn allein, wenn doch die Liebe neben dir herging? – Nein, Gudmund, mein Lieber. Du warst nicht allein, so wenig wie ich. Durch heilige Bande des Herzens eng verbunden wandelten wir neben einander.

Aber die Sünde, Engel! schrie er verzweiflungsvoll auf. Die Sünde, sie scheidet ja beides, was lose und was fest ist.

Sie sah ihn erschrocken an; es war, als verstehe sie nicht recht, wo er hinaus wollte, dann sank sie in ihren Stuhl zurück und wurde noch bleicher als vorher. Sogar der helle Schein ihres Auges wurde zu einem kleinen flackernden Funken.

Die Sünde – zum Tode – ist in aller Fleischeslust, flüsterte sie und schüttelte den Kopf.

Ach, Engel! stöhnte er, und er sank wieder vor ihr nieder. Habe Barmherzigkeit mit mir!

Aber es war, als höre sie ihn nicht, und sie fuhr flüsternd fort:

Sünde und Schande, so enge verbunden,
Ach, daß sie in mir den Genossen gefunden ...

Was sagst du da, Engel? unterbrach er sie. Was weißt du von Sünde und Schande? Du, die niemals den Fuß auf eine befleckte Stelle gesetzt hat!

Vergißt du, daß ich schamvolle vier Jahre die Frau jenes Mannes war? – Jenes Mannes der Sünde und Schande!

Nenne ihn nicht, Engel! Er ist tot seit Jahr und Tag.

Ich weiß es, sagte sie ruhig. Denkst du, ich wäre sonst hier? Nein! Wohl steht meine Liebe mir höher als mein Leben, aber das Gericht Gottes in meinem Herzen steht doch über allem. – Das Gesetz, das von Tisch und Bett trennt – es trennt nicht den Gedanken vom Gedanken. Der Tod allein richtet die Schranke auf, die nie verrückt werden kann.

Gudmund hatte sich erhoben und war scheu von ihr zurückgetreten. Er wußte es von früher her, wenn sie auf diese Weise strenge Rechenschaft über Recht und Unrecht verlangte, dann konnte weder er noch irgend jemand anders dazwischen treten, dann war kein Abhandeln möglich, nur die unerschütterliche Entscheidung nach einer Seite hin, und vor dieser fürchtete er sich.

Aber auch Engel hatte ihre Anfechtungen. Sie hatte so lange Zeit mit dem Auge der Selbstprüfung ihr Leben betrachtet, im Denken wie im Handeln, daß sie, obgleich sie bereit stand, sich mit Leib und Seele der Liebe hinzugeben, doch noch vor dem offnen Thor des Glücks einen Blick auf ihren Weg zurückwerfen mußte, ob er auch ganz gesäubert sei, ob sich nicht irgendwo noch eine unebne, holperige Stelle fand, die sie in ihrer Sehnsucht nach dem Ziel übersehen hätte.

Sie that einen tiefen, erleichterten Atemzug: Nein, Gott sei Dank! Nichts war vergessen worden. Nach allen Seiten hin war der Pflicht genügt, und ihre Erinnerung war mit Qualen gereinigt worden. Nun konnte sie ruhig seine Liebe annehmen.

Und nun richtete sich ihr Blick fragend auf ihn. Warum stand er nur so merkwürdig ängstlich da?

Aber auch Gudmund hatte einen Blick auf die Vergangenheit geworfen, und mit traurigem Kopfschütteln sagte er: Ich bin ein Unwürdiger, ein armer Elender neben dir, Engel.

Da erhellte ein glückliches Lächeln ihr Gesicht. Wäre er von Gottes Finger als der Auserwählte gekennzeichnet gewesen, als der, an dem Gott sein besondres Wohlgefallen hatte, so hätte sie sich nicht mit größerm Vertrauen in seinen Anblick versenken können. – Du warst immer verschämt, flüsterte sie. Deine Liebe war wie eine Frucht, die von vielen Blättern verborgen heranreifte. Aber nun soll sie sich nicht länger verbergen! Nun will ich sie pflücken und meine Seele nach der langen Drangsal daran erquicken. Geheiligt bist du, daß du den Schatz deiner Liebe, unberührt von andern, deiner einzig Geliebten geben kannst.

O, still, still, Engel! rief er und sah sich verwirrt um. Dann ergriff er sie bei der Hand und zog sie schnell zum Zimmer hinaus.

Schweigend gingen sie eine Strecke weit über den grasbewachsenen Damm hin. Das hohe Himmelsgewölbe strahlte und leuchtete im tausendfältigen Widerschein des Meeres, und eine große lebensfreudige Botschaft lag in der ganzen Natur. Es war, als lade sie alle Menschen ein, kräftig das Leben anzufassen. Wußten sie etwa keinen Rat für sich selbst und für andre? Sie mußten neuen Mut fassen. Hatten sie falsch gehandelt? Das ließ sich wieder gut machen. Hatten sie sich verspätet oder mit der linken Hand angefaßt, wo es der wohlgeübten rechten bedurfte? Sie konnten wieder von vorn anfangen, nur zugreifen mußten sie.

Engel! rief Gudmund plötzlich. Wir wollen ganz neu anfangen! Und mit leuchtenden Augen begegnete er ihrem forschenden Blick. Da war es, als ob all ihre Sorge sich auf einmal in Freude verwandelte, und in inniger Umarmung standen sie eins in den Anblick des andern versunken da, während in dem sonnenbeschienenen Land ringsum der geebnete Pfad der Freude nach allen Seiten hin offen vor ihnen zu liegen schien.

Währenddem kam eine Frau über das Feld heran – es war Gunhild. Ein harter, verzweifelter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, und man konnte ihr ansehen, daß sie Böses im Schilde führe. Sie blieb einen Augenblick stehn und betrachtete die beiden, die in ihrem Glück die ganze Welt vergaßen, und sie schwankte, als ob sie zu Boden fallen wollte. Aber sie faßte sich schnell wieder, und wie nach einem Fehltritt ging sie wieder ganz aufrecht gerade auf sie zu.

Erst als sie ganz nahe herangekommen war, wurde Gudmund ihrer gewahr. So tief war er mit Herz und Seele in den Anblick der Geliebten versunken gewesen, daß er, als er aufsah, wie in einem Traum befangen war und Gunhild nicht erkannte.

Im nächsten Augenblick war er sich aber schon seines ganzen Unglücks bewußt, und er drückte Engel noch inniger an sich, während er Gunhild mit einem drohenden Blick zurückwies. Aber Engel wurde plötzlich aufmerksam. Rasch riß sie sich los und wandte sich Gunhild zu.

Was willst du hier? rief Gudmund heftig und streckte abweisend die Hand aus. Geh auf den Hof zurück, sagte er, dort werde ich später mit dir reden!

O ja. wenn du auf diese Weise loskämest, wäre es ja recht leicht für dich, antwortete Gunhild trotzig.

Engel hatte sie unterdessen genauer betrachtet. Schon einmal hatte sie dieselbe Leidenschaft gesehen, in dem Gesicht eines Mannes; was sie bedeutete, stand wie vom Blitz erhellt klar vor ihr.

Gudmund, sagte sie mit fester Stimme, wer ist diese Frau?

Jetzt gehst du sofort! drohte er verzweifelt und that, als habe er Engels Frage nicht gehört.

Es hat Zeiten gegeben, wo du mich nicht von dir scheuchtest! rief sie. Ich bin heute nicht schlechter als gestern; aber jetzt hast du eine andre gefunden, und nun jagst du mich fort. Nur zu, jage mich! Von hier in die See, das ist der kürzeste Weg. Aber das weißt du, gehe ich ins Wasser, so gehe ich nicht allein!

Du lügst! unterbrach er sie; aber zugleich stieß Engel einen Schrei aus und taumelte ihm in die Arme. Ach, Engel, mein Gottesengel! Daß du um meinetwillen diese Schmach leiden mußt! jammerte er und versuchte sie fortzuziehn.

Aber sie wehrte sich, und obgleich Eiseskälte ihren Körper durchschauerte, überwand sie doch rasch ihre Schwäche und stand vor ihm mit ihrer ganzen Geistesstärke aus verschwundnen Zeiten angethan. Mit prüfendem, unbestechlichem Blick sah sie von dem einen zum andern.

Ja, es war ein Zug sinnbestrickender Macht in diesem Weibe, und der Mann, der sich davon gefangen nehmen ließ, war ihr Sklave. – Ach, Gudmund, Gudmund! Das Sklavenzeichen stand deutlich in seinen schönen Zügen. Und dazu kam die Feigheit mit ihrem erbärmlichen Anhängsel von geistiger Armut. Ach! ihre Liebe hatte ihr ein Blendwerk gezeigt, und ihr heiliges Vertrauen war ein phantastischer Traum gewesen!

Sie wandte sich an Gunhild. Du bist ihm also heimlich gleich einer Gattin gewesen? fragte sie.

Nein! schrie Gudmund verzweifelt.

Ja, das war ich, antwortete Gunhild mit trotziger Fassung. Und treibt er mich zum äußersten, dann –

Schweig, oder ich stehe für nichts mehr! unterbrach er sie, und er hob die geballte Faust gegen sie.

Nimm dich in acht, Gudmund, gebot Engel und trat zwischen die beiden. Du darfst nicht Sünde auf das Unrecht häufen! Dann wandte sie sich streng an Gunhild und sagte: Er hat dir also seine Ehre wie seine Treue verpfändet – da kannst du ruhig sein. Gudmund Holm ist kein unwürdiger Mann. Geh nun heim. Benimm dich als seine Frau nach Recht und Sitte. Halte das Haus in Ordnung, sodaß es deinem Ehegatten vor Gott und Menschen Ehre bringe.

Gunhild sah forschend zu ihr hinüber. Wer war diese Frau, die sich so das Recht nahm, über sie und ihn das Urteil zu sprechen? Aber ein befehlender Blick von Engel jagte ihr einen gewissen Schrecken ein, und sie ging.

Nun hast du mich zum Tode verurteilt, sagte Gudmund.

Von der Lust zur Sünde – von der Sünde zum Tode – das ist dein Urteil – und das ist unser aller Urteil.

Ich kann diese Person nicht zu meiner Frau machen, Engel! Gott ist mein Zeuge, daß ich es nicht kann.

Aber du hast sie umarmen und ihr heimlich das Recht der Frau geben können – und das der Mutter.

Sag das nicht, Engel! Ich verliere den Verstand!

Besser wäre es, wenn du sagtest: Ich will nun meinen ganzen Verstand zusammennehmen, daß ich das wieder gut mache, was ich verbrochen habe.

Ach, du weißt es nicht, wie groß die Versuchung war, Engel! Als dein schönes Ebenbild schaltete sie um mich.

Dann zehnfach Weh über dich! Ich reinigte meine Erinnerung, damit ich rein vor dir stehn könnte, und währenddem hast du sie entheiligt. Nun sind wir in Wahrheit für ewig geschieden.

Engel! schrie er wild auf. Es war fast, als drohe er ihr. Aber im nächsten Augenblick brach er in Thränen aus, warf sich ins Gras nieder und schluchzte, als sollte ihm das Herz brechen.

Engel sah mit strengem Ausdruck auf ihn nieder. Wenn er nun wie ein Wurm war, der sich im Staube krümmt, so war es nicht ihre Schuld; sie hatte ihn hochgehalten und ihm den Ehrenplatz in ihrem Herzen angewiesen, als dem, der über allen andern stehn sollte. Aber sein tiefer Schmerz erweichte schließlich ihr Herz, und das Mitleid verbreitete seine Wärme über ihre eiskalten Züge.

Weine nicht so! bat sie. Du kannst damit nichts mehr ändern. Sei ein Mann, Gudmund!

Ein Mann! wiederholte er mit bitterm Hohn, indem er sich erhob. Ist das männlich gehandelt, wenn einer nicht widerstehn kann, sobald ihm ein Frauenzimmer verführerisch nahe tritt, obgleich er weiß, daß es ihm weder Glück noch Ehre bringt, sondern nur Unfriede und Schande. Ein Elender bin ich. Denn wenn ich dich hätte betrügen können, wäre es geschehn.

Nun thust du dir selbst Unrecht, Gudmund!

Ach, ich bin nicht würdig, daß ich mit du angeredet werde, Engel, mein Gottesengel, den ich beschimpft habe.

Sagen nicht Bruder und Schwester du zu einander, Gudmund?

Nein! unterbrach er sie verzweifelt. Komm nicht mit diesem Ausweg, denn den gehe ich nicht. Ich habe dich betrogen, das kann jedenfalls bewiesen werden, und dennoch empfinde ich in diesem Augenblick denselben Drang zu dir, wie da, wo ich dich zum erstenmal sah, obgleich ich damals fast noch ein Knabe war, und das ist Liebe, Engel! Aber das schwöre ich dir jetzt und immerdar, daß ich diese Liebe keiner andern geschenkt habe und sie auch in diesem Leben nie einer andern schenken werde!

Was du da sagst, kannst du dir selbst geschworen haben, denn ich nehme keinen Liebesschwur von dir an, sagte Engel. Aber deine Männlichkeit ist noch nicht verloren, wie du sagtest. Mit dem Glück ist es ein sonderbares Ding. Oft kommt es wie ein zwitschernder Vogel auf dem Dache, und eilig schließen wir es ein. Oft kommt es aber auch mit zögerndem Fuße, denn es geht den Weg der Mühe und Arbeit. Und dann ist es der feste Wille, der es hereinruft.

Der Wille! seufzte er. Ja, damals, als ich hier umherging und auf dich wartete, und mich die Arbeit jedes Tags dir gleichsam einen Schritt näher brachte, da hatte ich vielleicht einen Willen, jetzt aber habe ich keinen mehr.

Damals hattest du eine sehnsüchtige Hoffnung, Gudmund. Diese zieht mächtig vorwärts. Sie braucht keinen Willen, denn sie hat das Begehren. Aber nun mußt du deinen Willen zum Führer nehmen – Mannesmut und Willen.

Sag mir, ob du das Herz hast, mich so hart von dir zu weisen, Engel? rief er und streckte ihr flehend die Hände entgegen.

Sie sah ihm traurig in die verweinten Augen. Was willst du denn, Gudmund? fragte sie freundlich. Erinnerst du dich daran, was ich dir in der Stunde des Abschieds sagte, als ich mich dir für das ganze Leben angelobte? Wenn du frei bist, dann will ich bei dir die Ruhe des Glücks suchen. Bist du frei, Gudmund? Könnte ich mich heute da zur Ruhe niederlegen, wo gestern noch ein andres Weib geruht hat? Wolltest du mir einen so trügerischen Ruheplatz bieten? Wolltest du das, Gudmund, Geliebter meiner Jugend? Ach, der Gedanke an dich war ja das Licht meines Gefängnisses und Myrrhen für meine dürstende Seele –

Und das habe ich besessen und verspielt! schluchzte er trostlos.

Weine nicht so, bat sie, aber sie weinte selbst.

Niemand jammert um Gold, der das Gold nicht gekannt hat, antwortete er. Ich aber habe das reinste Gold gekannt und habe es um Scheidemünzen vertauscht. Hier war ich und trieb mich in der Knechtschaft herum, und so wurde ich hungrig vor lauter Warten und nahm mit dem vorlieb, was sich gerade bot. Aber niemand vergißt in der Armut, daß er einmal mit den Großen oben am Tische saß! Das nagt an der Seele wie ein Betrug. O Schande über mich für alle Zeiten!

Bezahle, Gudmund! Tilge deine Schuld; das bringt Erleichterung.

Wie kann ich meine Schuld bezahlen? rief er, und nun sah er sie mit männlichem Kummer an. Die Liebesglut und die Schwäche der Scham waren aus seinem Blick verschwunden Er wandte sich an sie wie an einen treuen Freund in der Not. Der Schmerz hatte seine Seele geläutert, und er atmete auf in einer reinern Luft.

Engel betrachtete ihn mit wehmütiger Freude. Sie sah, wie ihr Jugendtraum wieder Gestalt in ihm gewann, obgleich er jetzt in andrer Weise aufleuchtete. Gudmund war nicht länger der geliebte Mann, dessen Liebe seinem Äußern eine so verführerische Macht über sie verliehn hatte, aber er war noch immer der geliebte Mensch.

Sie trat zu ihm hin, denn er hatte sich ehrerbietig von ihr zurückgezogen, und legte ihm beide Hände auf die gewölbte Brust. Gudmund, Lieber, sagte sie, bezahle deine Schuld! Wasch den Schandfleck aus, den du verursacht hast, laß das betrogne Weib zu ihrem Recht kommen.

Ein Zittern überfiel ihn, als ob sich eine Eisschicht auf ihn herabsenke; er schloß die Augen und ließ die Arme sinken. Aber durch die Eiseskälte hindurch fühlte er den warmen Druck ihrer Hände, und das gab ihm die Kraft zurück.

Ich werde thun, was du verlangst, sagte er müde.

Dann bist du mein teuerster Freund auf Erden! rief sie.

Ach, einen so erbärmlichen Menschen kannst du nicht achten, seufzte er.

Jetzt sprichst du thöricht! Du bist ein Mann, sobald du dich selbst achtest, und dann kann auch ich dich achten. Du selbst hast dir den Stein in den Weg geworfen. Schleichst du nun darum herum und stellst keinen Wegweiser daneben – dann fällst du sicher einmal im Dunkeln darüber.

Du kannst ruhig sein, sagte Gudmund und richtete sich kräftig auf. Ich werde mich als ein Mann zeigen. Was ich verbrochen habe, werde ich sühnen. Ich werde so weit gehn, als Güte es verlangen kann, aber nicht weiter. Wie ich die einzige Liebe deines Herzens gewesen bin, so sollst du auch die meinige sein. Das schwöre ich nicht dir, sondern ich schwöre es mir selbst. Und dann will ich sehen, was ein Mann ausrichten kann, wenn es ihm Ernst ist.

So sei gesegnet – mein Einziger! sagte sie und legte den Kopf an seine Brust.

Ach – der Brautkuß, Engel! seufzte er.

Wie durch einen Nebel sah sie zu ihm auf. Der Brautkuß ... Nun ist der Tod mein Bräutigam ... Lebe wohl! Und mit einer heftigen Bewegung trat sie von ihm zurück.

Wo willst du hin, Engel?

Weit nach Nordwesten, wo das Meer sich dehnt, weiß ich eine Insel – – mit einem Kirchturm, wo sich die wilden Vögel von ihrem hohen Fluge niederlassen und sich ausruhn – – – dort will ich – der wilde Vogel mit den gebrochnen Schwingen – mich niederlassen – – Leb wohl, leb wohl!

Darf ich dich nicht begleiten, Engel?

Sie schüttelte den Kopf, während sie von ihm zurücktrat und ihn mit klaren Augen ansah. Es war, als messe sie ihn prüfend, ob er in diesem Augenblick gewachsen sei, denn in ihrer eignen Seele fühlte sie, wie die Stärke neue Schossen trieb. Ja, er hatte sich aus dem mutlosen Zusammensinken aufgerafft. Die Feigheit war abgeworfen, und er stand bereit, einem harten Kampf entgegenzugehn.

Nun hatte sie ihn wiedergewonnen! Nun hatte sie einen Mitarbeiter bei dem schweren Werke, das das Schicksal ihr zugeteilt hatte. Das Glück hatte eben verschiedne Namen. Wäre das treue Zusammenleben der Ehegatten ein Himmelsglück auf Erden gewesen, so konnte das Zusammenwirken zweier Menschen auf dem Wege der Heiligung in gleichem Maße ein Erdenglück sein – und dies war nun das ihrige.

Stehe fest, Gudmund – auf dieser Seite der Schranke. – Ich werde versuchen, es auf der andern auch so zu machen.

Das verspreche ich dir fest, sagte er traurig. Aber wie du mir mein Ziel vorschreibst, so stelle ich dir eine Bedingung. Du darfst dich nicht für das ganze Leben von mir scheiden – ich kann es nicht ertragen.

Eine weit schwerere Last hast du getragen, ehe ich kam, es giebt keine schwerere Bürde als die Schande.

Das ist wahr. Und sie soll mich auch nicht mehr lange drücken. Dieses Weib soll meine rechtmäßige Frau werden – – damit sind wir quitt. Dann kann sie sich einrichten, wie sie will – hier ist Raum genug. Hast du aber eine so schwere Buße von mir verlangt, dann wirf mir nicht einen Stein hin, wenn ich vor Hunger krank bin; denn so, wie du hier vor mir stehst, Engel, mein Gottesengel, bist du meine Braut, und mir ist, als müsse ich dich umarmen, und wenn Gott selbst dazwischen träte.

Sie erbebte; denn das Feuer in seinem Herzen schlug ihr entgegen, und die verführerische Wärme traf ihren strengen Gedanken wie die Frühlingssonne eine schwimmende Eisscholle. – Nun ist es Zeit, daß wir scheiden! rief sie erschrocken aus. Wir haben Gott zum Zeugen angerufen – sollen wir ihn betrügen? – Ruf mir den Fährmann herbei!

Gudmund stieß einen tiefen Seufzer aus, wandte sich dann von ihr und ging an die Landungsbrücke. Nach einer kurzen Verhandlung mit dem Fährmann kam er zurück.

Nun mag es geschehn, wie du es haben willst, Engel.

Ach, er wußte nicht, wie stark der Zug ihres Herzens nach der andern Seite war; denn wie er jetzt auf sie zukam, war er ganz so, wie an jenem Tage in der Heimat, als seine warme Jugendliebe einen so verführerischen Schimmer um ihn gewoben hatte, daß er alle Vollkommenheit in sich zu hegen schien. Die Sehnsucht des Herzens ist ein göttlicher Künstler.

Und nun hielten sie sich an der Hand gefaßt. Angst und Schmerz zogen über sein bleiches Gesicht wie der Schein eines Nordlichts, und Engel stand mit niedergeschlagnen Augen neben ihm.

Leb wohl! flüsterte sie. Leb wohl für immer!

Versprich mir, daß ich dich wiedersehen werde, oder ich sterbe hier vor deinen Augen! sagte er, und die erkämpfte Festigkeit machte alle seine Züge gespannt, sodaß er in diesem Augenblick das Bild des Kummers war.

Engel betrachtete ihn mit liebevollem Blick. Was könnte uns das Leben noch geben?

Wenn der Tod sich naht, das letzte Lebewohl, sagte er. Du hast mir ein Ziel der Strenge gesteckt, ich werde es erreichen. Nun stecke mir ein Ziel der Liebe, damit ich etwas habe, wonach ich mich sehnen kann.

Das sei dir versprochen, Gudmund. –

Und gleich darauf trug dasselbe Boot, das sie am frühen Morgen gebracht hatte, sie wieder vom Lande weg. Da hatten die Kvänangszinnen im Sonnenschein geleuchtet, und die ganze Landschaft lag vor ihr wie ein Paradies. Nun, als sie sich noch einmal umwandte, ruhte ein Schatten darüber, schwer wie eine Todesbotschaft. Eine einsame Gestalt stand am Strand und schaute ihr nach, das war Gudmund Holm. Er stand unbeweglich, bis sich der Sonnenschein glitzernd zwischen ihn und das Boot legte, und da war es ihm, als gleite Engel hinaus in ein Reich des Lichts, während er in hoffnungslosem Dunkel zurückblieb.

*

Das erste, was Gudmund nun in Ordnung zu bringen hatte, war sein Verhältnis zu Gunhild. Er war zwar fest überzeugt, daß die Rechtsansprüche, die sie gestellt hatte, betrügerisch seien, aber er hatte Engel das Versprechen gegeben, und das mußte unverbrüchlich gehalten werden. Sie war von nun an die Zuflucht seines Herzens; im Verein mit ihr wollte er jeden Schritt auf dem Wege der Buße überlegen.

So schnell es geschehn konnte, ließ er sich auch mit Gunhild trauen; es geschah in solcher Eile, daß die Leute ihre Schlüsse daraus zogen. Als es sich aber nachmals zeigte, daß ihre Prophezeiungen nicht zutrafen, konnte niemand mehr daraus klug werden. Es war wohl früher gemunkelt worden, daß das Verhältnis zwischen dem Hausherrn und seiner Dienerin nicht so ganz genau nach der Vorschrift des Katechismus gewesen sei, aber – wenn keine Beweise eintrafen, so –

Es trafen jedoch Beweise ein, die die Leute noch mehr verwirrten, als die, die ausblieben.

Wie sollte auch jemand begreifen können, daß zwei Menschen, die sich offenbar zugethan waren, nun, nachdem sie Mann und Frau geworden waren, vollständig ihre eignen Wege gingen? Gunhild war ja früher von früh bis spät um ihn gewesen und hatte es so gut verstanden, wie sie ihn nehmen mußte; aber nun fürchtete sie sich geradezu vor ihm, und wenn es etwas für ihn zu thun gab, schickte sie jemand anders an ihrer Stelle. Warum in aller Welt hatten sie sich dann geheiratet?

Aber was auch immer die Neugierde erdachte und ausspionierte, mehr als die äußern Anzeichen brachte sie nicht heraus, die Ursache war und blieb verborgen. So gab sie denn allmählich ihren Wachtposten auf und ließ die beiden für sich selber sorgen.

Und das war ihnen auch das liebste.

Denn obgleich Gunhild ihre Sache mit dem bösen Antrieb, den Roheit und Verzweiflung ihr eingaben, durchgeführt hatte, hatte sie doch ein gutmütiges Herz und hatte Gudmund lieb. Doch schnell gingen ihr die Augen darüber auf, daß sie nicht allein seine Liebe, sondern auch seine ganze Achtung verspielt hatte. Trotzdem versuchte sie es, ihn zurückzugewinnen, und noch einmal probierte sie, das Gaukelnetz um ihn zu ziehn.

Aber Gudmund war nicht mehr der alte. Die bestrickende Macht, mit der sie früher seine Lust gereizt hatte, erregte jetzt nur noch seinen Abscheu. Ihre Ähnlichkeit mit Engel wurde zu einem Zerrbild, jedes ihrer Worte zu einer Erneuerung der Lüge, womit sie ihre Sache gewonnen hatte, und er wollte sie nicht mehr vor seinen Augen haben.

Da stand sie nun. Der Blick in die Zukunft jagte ihr Schrecken ein, und der in die Vergangenheit nagende Reue. Nun erst begriff sie, daß, wenn das Recht auch mit Gewalt erobert werden kann, das Herz sich doch nie zwingen läßt. – Sie hatte sich zwischen ihn und die Frau gedrängt, die er allein liebte; nun würde sich das Andenken an diese Frau für alle Zeiten zwischen sie und ihn drängen.

Da verlor sie den Mut, und sie schaute sich nach Hilfe um. Wo fand sich etwas, das sie zwischen sich und den tödlichen Abscheu ihres Mannes stellen könnte? Sie entdeckte nichts, und da gab sie sich dem Gram hin. Aber sie hatte eine kräftige Natur, und so sehr auch der Kummer an ihr nagte, so konnte er ihre Lebenskraft doch nicht zerstören.

Da kam die Hilfe ganz von selbst. Die Bewirtschaftung des Handelshofs hatte eine Aufsicht dringend nötig, und da sich Gudmund mehr und mehr einer grüblerischen Unthätigkeit hingab und schließlich wie ein Wandrer ohne Ziel und Zweck umherging, mußte Gunhild das Steuer in die Hand nehmen. Doch that sie es so heimlich als möglich. Allerdings war sie die Frau im Hause, aber sie hatte doch so viel Rechtlichkeitsgefühl, daß sie sich schämte, sich mit einer Würde zu bekleiden, die sie sich, wie sie wohl wußte, erlogen hatte.

Die Wirtschaft mußte jedoch auf irgend eine Weise in Ordnung gehalten werden, sonst endigte sie mit dem Verfall des Hofs. Da faßte Gunhild sich endlich ein Herz und redete mit Gudmund darüber.

Gudmund! begann sie; aber er warf ihr nur einen abweisenden Blick zu, sodaß sie es fast dabei hätte bewenden lassen.

Vielleicht ist es dir nicht recht, wenn ich dich Gudmund nenne? fügte sie ängstlich hinzu.

Nenne mich, wie du willst, antwortete er. Ich bin ja dein Mann.

Ja, das bist du, Gudmund. – Ach, es gab wohl jemand, der um seine Rache gekommen war, und deshalb wurde ich dir in den Weg getrieben. Aber, Lieber! Auch ich büße es, auch ich. Sie wollte noch mehr sagen, konnte aber nicht vor Weinen.

Gudmund gab keine Antwort. Einen Augenblick blieb er mit geschlossenen Augen sitzen, dann erhob er sich, um das Zimmer zu verlassen.

Ach nein, geh nicht fort! bat sie. Gott weiß, wenn ich es wieder über mich gewinne, mit dir zu reden. Nun muß es gesagt werden. – Willst du mir erlauben, für dich hier zu sorgen, so gut ich kann – – oder wäre es dir lieber, wenn ich ganz von hier fortginge? – Ich werde thun, was du willst.

Gudmund sah scheu zu ihr hin, aber allmählich klärte sich sein Gesicht auf. Ihr ernstes, vergrämtes Gesicht sprach für sich selbst und zeigte, daß auch sie ihren Teil an der schweren Schicksalslast getragen und ihre Gesinnung geändert hatte. Da atmete er erleichtert auf. Vergieb mir! flüsterte er. Willst du dich mit mir weiterschleppen, so bin ich dir dankbar dafür. Ich bin ein von Kummer gebeugter Mann – – und in diesem Leben werde ich nicht mehr frei davon. – Thu, was du willst – es soll mir alles recht sein.

Als er das gesagt hatte, eilte er von ihr weg, als müsse er einen kostbaren Zeitverlust wieder einholen.

Gunhilds Augen waren von Thränen verdunkelt, als sie ihm nachsah. Jawohl, er war ein von Kummer gebeugter Mann – und sie, sie war die, die ihm die Last aufgelegt hatte. Aber wenn sie ihn auch nicht davon befreien konnte, so wollte sie ihm doch erleichtern, was in ihren Kräften stand; das gelobte sie sich vor dem Herrn.

Sie begriff, daß nun das Urteil über sie gefällt sei, und zwar für ihr ganzes Leben. Er hatte ihr alles zur Verfügung gestellt, was er besaß, nur sich selbst hatte er ausgenommen – sie waren getrennt. Es that weh, das auszudenken. Aber mochte es sein! Nun hatte sie doch gottlob nicht mehr nötig, etwas heimlich zu thun; sie konnte frei handeln.

Von da an richtete sie sich auf, und zwar zu einem tüchtigen Leben. Die Arbeit reinigt ja das Leben wie der Sturmwind den Himmel. Nur konnte sie eben leider ihren Mann nicht mit sich aufrichten, denn sie konnten nicht denselben Weg mit einander wandern. Während sie die gemeine Straße des Broterwerbs ging, schritt er beständig auf dem schwankenden Trittbrett der Phantasie weiter.

Durch diese Trennung war doch beiden Teilen Friede zuteil geworden, obgleich Gudmund darum doch noch nicht in Frieden mit sich selbst lebte. Die starke Sehnsucht nach Liebe, die er immer in sich getragen hatte, war durch das letzte Zusammentreffen mit Engel nicht schwächer geworden, sie hatte im Gegenteil nur zugenommen, obgleich die Geliebte nun nicht mehr in jugendlicher Schöne, sondern in das Gewand der Prüfung und des schweren Entschlusses gehüllt vor ihm stand.

Denn Gudmund Holm war trotz all seiner Mängel ein Vollblutmensch, dem die gewaltige Natur all ihre wilde Poesie eingeprägt hatte. So lange die Alltagsmühen ihn angetrieben hatten, hatte er sie befriedigend geleistet – nach seinem Verstand. Aber sein Gefühl war viel mehr entwickelt als sein Verstand. Darum überließ er sich, als er sich durch Gunhilds mutige Unternehmungslust von der Arbeit befreit sah, willenlos seiner Natur und ließ sein Herz regieren.

Von nun an war sein Glaube wie der eines Kindes, sein Denken wie ein Bilderbuch und sein Gefühl wie die wogende Flut. Er gehörte Engel ohne Abzug, kaum daß er sich noch an den schicksalsschweren Abzug erinnerte, der die Schuld ausmachte, für die er mit seinem Leben einstehn mußte.

Immer hatte er den blendenden Lichtkreis vor Augen, in dem er beim Abschied Engel hatte verschwinden sehen. Damals hatte es ausgesehen, als würde sie von einer andern Welt aufgenommen, wohin ihr zu folgen er nicht würdig genug war. Aber in seiner heißen Sehnsucht folgte er ihr nun jeden Tag in das reiche Sonnenland, wo sie jetzt wohnte, und darin übergoß er ihre verblühte Gestalt mit den frischen Farben der Jugend und gab ihr die blühende Anmut wieder, die einst sein Herz so mächtig angezogen hatte.

Mit dieser leicht verdaulichen Kost der Einbildung konnte er üppig, aber nicht lange leben. Sein Körper verlor seine Kraft, und er fühlte einen nagenden Hunger nach Wirklichkeit. Da war es ihm, als könne nur der Tod allein ihm die Sättigung geben, nach der er sich verzehrte. Ach, wegsterben von des Lebens Qual! Und mit wildem Begehren sah er auf das sturmgepeitschte Meer hinaus.

Von diesem Ausweg wurde er doch schnell wieder verjagt durch den Gedanken an das Versprechen, das er Engel abgenommen hatte: an der Pforte des Todes noch einmal mit ihm zusammenzutreffen. Sollte er sie nun auch darum betrügen? Nein. Er mußte so lange leben, bis sie rief.

Wenn aber Gott es nun anders wollte? Sie hatte ja selbst gesagt, daß Gottes Wille über jedem andern Willen stehn müsse.

Mit diesem Gedanken tastete er umher wie ein Kind, das das Gehn lernt. Er barg sowohl Gefahr wie Rettung für ihn. Dann trat ein Ereignis ein, wodurch er sich plötzlich von ihm frei machte.

Es war an einem Tag während eines fürchterlichen Nordweststurms. Das Meer war wie eine kochende Masse, und eine Woge stürzte über den Nacken der andern. Da gewahrte man weit draußen in der Brandung ein umgestürztes Boot, über dessen Kiel zwei Männer hingen. Aber so etwas kam ja so oft vor, und es hätte keinen Sinn gehabt, noch mehr Menschenleben daran zu setzen angesichts des sichern Todes. Während nun die Leute am Strand standen und noch darüber hin und her redeten, geschah das Wunderbare, daß sich Gudmund ganz allein in ein Boot warf und mit voller Gewalt über Steuer und Segel auf das tosende Meer hinaushielt. Es war ein fürchterliches Wagnis. Und doch hatte ihn niemand daran zu verhindern versucht. Er war ein solcher Thor, daß niemand etwas mit ihm machen konnte. Außerdem war er schon draußen auf der See, ehe man sich recht bedacht hatte, nun konnte man nur noch zusehen, wie die Sache ging.

Aber Gudmund fühlte in diesem Augenblick eine Erleichterung, die niemand hätte verstehn können. Wohl erkannte er die Gefahr, aber er kümmerte sich nicht darum, sie suchte er ja gerade auf. – Jetzt legte er dem Herrn im Himmel eine Frage vor; sein Wille mochte geschehn!

Damit steuerte er gerade auf das auf und nieder tauchende umgestürzte Boot zu, strich quer davor vorbei, erfaßte einen der Unglücklichen, wandte sein Boot, steuerte wieder darauf zu und ergriff auch den andern; er konnte kaum dazwischen atmen, denn schnell wie der Blitz mußte es geschehn. Und nun war es gethan! Bewußtlos, aber dem Leben gerettet, waren die beiden dem Tode verfallnen Männer in das Boot zu ihm hineingetaumelt.

Und dann steuerte er dem Ufer zu. Aber das Meer stürzte mit seinen schaumgekrönten Wogen wütend hinter ihm her, um brandend noch einen Griff nach der verlornen Beute zu thun. Doch am Land war Hilfe bereit, und die Wogen zogen sich schäumend zurück, unverrichteter Sache.

Da prophezeiten die Leute, daß der Mann, der dem Tode gegenüber einen solchen Mut bewiesen habe, auch neuen Lebensmut bekommen werde. Doch darin täuschten sie sich. Gudmund wurde nach dieser Kraftprobe nicht lebensfreudiger als vorher. Er war und blieb ein vom Kummer gebeugter Mann.

Vielleicht, wenn er sich zu einer rechten Tätigkeit hätte aufraffen müssen, dann hätte er doch noch einmal aufleben und die Fessel abschütteln können. Aber der Zwang dazu stellte sich nicht ein. Der stieß überall zuerst auf Gunhild, und sie – das Mannweib, wie sie genannt wurde – war thatkräftig und riß alles, das Große und das Kleine, an sich, sodaß Gudmund nirgends nötig war. Doch that es Gunhild nicht aus Übermut. Hätte er irgendwo thätig eingegriffen, wäre sie sofort zurückgetreten. Aber obgleich sie ihn ganz thun und lassen ließ, was ihm beliebte, und ihm mit keinem einzigen Wort dareinredete, behielt er doch seine Scheu vor ihr und wich ihr aus, wo er konnte.

So brachte sie es trotz all ihres Eifers, ihm das Leben zu erleichtern, nur dahin, daß sie ihm des Lebens schwerste Bürde auferlegte: die der Unthätigkeit. Sie hatte diesem Mann gegenüber kein Glück!

Und die Jahre vergingen. Dunkle Winterzeit wechselte mit hellen Sommertagen ab, aber in dem Gemüt des kummervollen Mannes verwandelte sich keine Dunkelheit in Licht. Seine Arbeit war die eines müden Kranken, der etwas beginnt und es wieder aufgiebt, weil ihm der feste Griff fehlt. Nur in einem stand er felsenfest da, das war auf seinem Wachtposten am Meer. Da spähte er mit unermüdlicher Geduld nach dem lichten Streifen, wo Engel verschwunden war, denn von dorther mußte ihre Botschaft kommen.

*

Weit draußen im Nordwesten, da, wo die Inselgruppen den offnen und früher so befahrnen Weg nach Grönland verschließen, liegt wild und einsam die Helginsel mit ihren nach Süden abflachenden Ufern und den hohen, steil abfallenden Felsen gegen Norden. Hier ist nichts, was Schutz gegen die Seestürme böte, und der Nebel, der sich von den Küsten der Länder des ewigen Eises herüberwälzt, umhüllt die Insel unablässig mit seiner feuchten Decke.

Von den Anhöhen aus ist die Aussicht weit genug – nur zu weit! Denn da, wo sie am weitesten ist, fließen Himmel und Meer in einem Schimmer zusammen, der den Eingang zu einer Welt zu öffnen scheint, die ohne Grenzen ist. Unzählige Klippen heben ihre dunkeln Spitzen über die Meereslinie am Horizont und erwecken den Gedanken der Vergänglichkeit, denn dort hört das Klippenland ganz auf, und all diese Felsenriffe erinnern unwillkürlich an Trümmer, die von etwas Mächtigem übrig geblieben sind und vollends zerfallen.

Wild ist es hier nach allen Seiten; denn sogar nach Südwesten, wo das Land sich zu einem Meerbusen einbuchtet, wogt der breite Fjord vorüber und läßt es nicht zu Frieden kommen. Aber hier hat doch die Insel eine bewohnte Stätte und hat sie wohl allezeit gehabt. Außer einem ländlichen Handelshofe giebt es hier ein Dutzend kleine Häuser und eine uralte Kirche, deren schlanker, dünner Kirchturm ganz dem Maste eines Segelboots gleicht. Gegen Süden hat die Insel einen langgestreckten Grasdamm, der ganz kultiviert aussieht; aber auch dieser ist der heftigen Brandung ausgesetzt, und man glaubt nicht so recht an die Kultur. Er erinnert zu sehr an die grünen Wasserpflanzen auf den großen Steinblöcken den wellengepeitschten Strand entlang. Aber es kleidet doch gut und sticht wohlthuend von den nackten Felswänden ab, die hinter ihm aufragen.

Auf dieser Insel lebte Engel Marcilie Heggum.

Seit acht Jahren wohnte sie nun hier, ganz wie die andern einfachen Landbewohner. Sie hatte ein kleines Haus gemietet, das nur eine einzige Stube hatte und ziemlich weit abseits lag. Sie hatte sich ein Spinnrad und einen Webstuhl angeschafft, die einiges Leben in ihre Einsamkeit brachten und ihr zwei gute Hausfreunde wurden. Ihr Thun und Lassen reizte die Neugierde der andern Inselbewohner wenig, denn alles, was Aufsehen hätte erregen können, verbarg sie mit großer Vorsicht. Für die Umwohnenden war sie ein Frauenzimmer, das gewiß einmal bei vornehmen Leuten im Dienst gestanden hatte und sich nun auf seine alten Tage das tägliche Brot mit einer kleinen Handarbeit erwarb. Man ließ sie für sich selbst sorgen.

Nur ganz selten wurde auf der Insel Gottesdienst gehalten. In jenen Zeiten mußten sich viele Orte in einen Pfarrer teilen. Aber Engel hatte trotzdem ihren regelmäßigen Kirchgang. Jeden Sonntag wanderte sie über die Insel bis zu einer Stelle, wo sie das gewaltige offne Meer überschauen konnte, und dort, wo es in einem strahlenden Lichtstreif mit dem Himmel zusammenschmolz, schien es ihr, als träfen Zeit und Ewigkeit zusammen, sodaß sie hier vor dem Eingang zum Reiche Gottes saß, wo sie nun bald vor den König des Himmels treten sollte.

Hier sammelte und erbaute sie sich aus tiefster Seele, und allein vor Gott verlieh sie dem dichterischen Drang, der unaufhörlich ihre Gedanken erfüllte, Worte. Auf Gottes Allwissenheit konnte sie sich verlassen. Wo es ihr an dem rechten Ausdruck gebrach, da las er ja selbst weiter in ihren Gedanken. Ihm konnte sie ihr Leid über ihre gescheiterte Hoffnung und ihren betrognen Glauben so recht aufrichtig klagen; denn er fügte wundersam die Scherben ihres irdischen Traumes zu einem Bilde des ewigen Glücks zusammen.

An diesem Sonntagsplatze saß sie wie auf einem Thron, wenn sich der klare Sonnenhimmel über ihr wölbte. Dann fiel die Ärmlichkeit des Alltagslebens von ihr ab wie das Bettlergewand von einer strahlenden Fee, und sie gewann aufs neue die vornehme Schönheit ihrer Jugend. Wo ihr Auge sich hinwandte, schaute es nur noch durchsichtige Klarheit. Hier weihte sie der Erinnerung ihren verzeihenden Gruß, und hier winkte ihr auch die ganze Welt den Gruß der Vergebung zu.

Nur selten begegnete ihr jemand auf dem Heimweg, denn die Inselbewohner versammelten sich am Sonntag meist auf der Landungsbrücke und in der Nähe des Handelshofs, aber wenn es doch vorkam, so wandten sich die Leute um und schauten ihr verwundert nach, denn sie trug noch das Gepräge der Hoheit und Ehre, mit der sie soeben geschmückt gewesen war. Wenn aber die Leute sie dann am Werktag wieder sahen, ebenso demütig und arm wie sie selbst, dann vergaßen sie schnell den wunderbaren Anblick und hielten sich an das, was sie verstehn konnten.

Aber endlich war das Lebensöl verbraucht; das machte sich auf verschiedne Weise bemerkbar. Wenn sie auch in den Augen andrer zu denen gehörte, die von ihrem kargen täglichen Brot leben, so war sie doch für sich allein immer ein Gast an der reichen Tafel des Geistes gewesen, und weil sie selbst alles dazu hergab, war ihr Vermögen bald erschöpft.

Da endlich vernahm sie in ihrer Seele das Gebot, ihre letzten Kräfte zusammen zu raffen, um das Gudmund gegebne Versprechen zu erfüllen, nämlich ihm in diesem Leben noch ein Wiedersehen zu gewähren. Dies erfüllte ihr bebendes Herz mit Angst, Glück und atemloser Spannung. Und durch dieses Aufflackern ihrer Kraft ließ sie sich täuschen. Es machte sie so fieberhaft stark, ja es kamen Stunden, wo sie sich so jung fühlte, daß es ihr war, als stehe sie am Eingang zu einem neuen Leben.

Und das war auch wirklich der Fall – aber der Eingang war die Pforte der Ewigkeit.

Aber der Tod mahnte wieder und wieder, sodaß sie endlich seine Zeichen verstand. Nun war es auch höchste Zeit, und das, was sie auf Erden noch zu thun hatte, mußte sofort geschehen.

Da raffte sie noch einmal die schwindenden Kräfte zusammen, um zu einem Entschluß zu kommen. Ihr Versprechen durfte sie nicht brechen, nur über die Art und Weise der Ausführung war sie im Zweifel. Doch nun wußte sie, es durfte keine Zeit mehr verloren werden, und das half ihr zur Entscheidung.

Als die Dämmerung anbrach, wanderte sie mit unsichern Schritten nach dem Hause des Kaufmanns und trat zu ihm in den Laden.

Hier ist ein Brief, der an Gudmund Holm am Olafsberg in Kvänangen befördert werden soll, sagte sie mit einem Anflug ihrer frühern Bestimmtheit.

Ja – aber es kann nur durch einen Schiffer geschehen, und das wird wohl Ihre Mittel übersteigen.

Hier sind eine Uhr und zwei goldne Ringe, erwiderte sie. Ich denke, das wird genügen.

Der Kaufmann nahm überrascht die Uhr in Empfang und betrachtete sie, und nachdem er den Deckel aufgeklappt hatte, wandte er sich mißtrauisch an Engel. Hier steht der Name Niels Heggum eingraviert. Wie seid Ihr zu der Uhr gekommen?

Sie ist von dem Vater auf die Tochter gekommen – darum ist sie in meinen Händen, antwortete sie stolz, und es flammte noch einmal ein Blitz aus ihren schönen Augen.

Ihr seid doch nicht die Tochter des Vogts in Salten, der ...

Doch, die bin ich, unterbrach sie ihn rasch.

Liebes Fräulein Heggum! Warum haben Sie sich nur diese ganze Zeit in einer solch ärmlichen Niedrigkeit verborgen? Wer hätte das wissen können?

Ich habe so gelebt, wie ich wollte, flüsterte sie. Doch hier ist der Brief; wollen Sie mir nun die Gefälligkeit erweisen?

Diese und noch viele andre, Fräulein; sagen Sie mir, was Sie wünschen.

Und der Schiffer macht sich bald auf den Weg?

Sobald der Mond aufgegangen ist. Morgen abend gegen zehn Uhr kann er dort eintreffen.

Dann trennten sie sich mit vielen freundlichen entschuldigenden Worten von seiner Seite und solchen des Dankes von der ihrigen. Und eine Stunde später sah Engel von ihrem Fenster aus, wie das Boot über den schimmernden Mondscheinstreifen auf dem Wasser dahinschoß; das Segel wurde aufgezogen, und das Boot verschwand in dem nächtlichen Dunkel.

Nun zündete sie ihr Licht an und machte sich an ihre letzte Arbeit, die ihr niemand abnehmen konnte noch wollte, und über die der größte Teil der Nacht hinging, ehe sie fertig war: das Waschen und Ankleiden eines Verstorbnen. Und damit gab sie sich das so lange verwischte Gepräge der Vornehmheit zurück. Jetzt wollte sie auch als die erscheinen, die sie war.

Danach löschte sie ihr Licht aus und legte sich zur Ruhe nieder. Keine Unruhe, keine Bekümmernis nahm ihre Gedanken mehr gefangen, mit ihrem letzten Willen ergab sie sich in den Willen Gottes. Wenn sie ihn noch einmal zu sehen bekam, den Einzigen, dann war es gut, und wenn es nicht geschah, dann war es auch gut. Nun war der Leidensgang vollendet; an seinem Ende stand kein Erdenbewohner mehr, allein der ewige Gott, dessen Arme die ganze Menschheit umschließen.

Mit diesem Gefühl schlief sie ein, sanft und friedlich, als schlummre sie nun langsam dahin aus diesem Leben. Aber das Leben hatte noch eine Forderung an sie. Hatte sie selbst auch mit allem abgeschlossen, sogar mit dem Andenken an ihre große Liebe, so gab es doch jemand, der es noch nicht gethan hatte, und das war der Mann, der nun seit acht Jahren nichts andres hatte, sein Leben damit zu fristen, als seine heiße Sehnsucht nach einem letzten Wiedersehen.

*

Es war am Abend des dritten Tages, nachdem das Boot abgegangen war. Das Wetter hatte sich verändert, und Windstöße jagten schwere Wolken am Himmel hin. Ab und zu lugte der Mond heraus und erleuchtete das Meer mit einem flüchtigen Schein, aber als sei sie auf einem Schelmenstück ertappt worden, zog sich die Wolkenwand rasch wieder zusammen, und das freundliche Gesicht war verschwunden.

Auch an diesem Abend hatte sich Engel noch in ihrem Zimmer zu schaffen gemacht – sie erwartete ja zwei Gäste, der eine war das Leben, der andre der Tod. Da durfte nichts Unordentliches bei ihr gefunden werden, das falschen Bescheid gegeben hätte, als seien die beiden nicht erwartet worden – denn jeder von ihnen wurde mit derselben Sehnsucht erwartet.

Wie in den Tagen der Vergangenheit standen zwei brennende Kerzen auf einem mit einem weißen Tuch bedeckten Tisch neben dem Bett, ein Stuhl war bereit gestellt, und davor lag ein aufgeschlagnes Buch auf dem Tischchen. Es war eine Bibel, und darin lagen beschriebne Blätter. Was auch immer ein Raub der Zeit geworden war, dieses Buch hatte Engel als ein teures irdisches Gut vor Schaden behütet. Nun lag es neben ihr und legte Zeugnis ab: dahinein hatte sie ihre dichtenden Träume geschrieben, und wenn nun ihre Stimme verstummt war, sollten sie ihr Leben offenbaren.

Und nun lag sie wieder auf ihrem Lager. Todesschauer durchrieselten ihren hinfälligen Körper, aber doch lauschte sie in den Sturm hinaus; sein Klappern an der Hütte, sein langgezognes Stöhnen und seine klagenden Laute hatte sie so oft und so lange gehört, daß ein regelmäßiger Ruderschlag sich wie Wirklichkeit von einem Traume unterscheiden würde – deshalb lauschte sie weiter mit ihrer letzten Lebenskraft, bis auch diese versagte, und sie nichts mehr hörte und sah.

Da wurde die Thür von einer unsichern Hand geöffnet, und ein Mann trat über die Schwelle. Es war Gudmund Holm. Zittern überfiel ihn, und er mußte sich an den Thürpfosten anlehnen – und wie er so dastand, mit geschlossenen Augen, das Haar in Strähnen auf der Stirn, war er ein unverkennbares Zeugnis dafür, daß das Versprechen, das er Engel zum Abschied gegeben hatte, gehalten worden sei.

Endlich hatte er sich so weit gefaßt, daß er aufsehen konnte. Der flackernde Schein der heruntergebrannten Kerzen warf tiefe Schatten rings umher und einen gelben Schein über Engels unbewegliches Antlitz.

War sie schon tot? Er wagte nicht, sich von der Stelle zu rühren. So hatte ihn Gott also um den Lohn, den er sich nun seit acht Jahren erarbeitet hatte, betrogen?

Nein! – Nun hörte er deutlich, daß sie noch atmete. Ach, er wußte es wohl – Gott betrügt niemand! – Und nun schlug sie die Augen auf. – Engel! rief er und warf sich vor dem Bett nieder.

Da kam eine wunderbare Kraft über sie; sie richtete sich auf im Bett und drückte seinen Kopf an sich. Nun sei willkommen, mein Bräutigam! rief sie, und es klang, als stimme sie einen Sang an. Aber zugleich sank sie wieder zurück, mit geschlossenen Augen.

Eine Weile verging in angstvollem Schweigen, dann hielt er es nicht länger aus. Engel! Engel! schluchzte er. Sprich mit mir, du mein Ein und mein Alles. Mein ganzes Leben ist ausgefüllt von meiner Liebe zu dir.

Hier ist das Buch meines Lebens – das soll für mich zeugen, sagte sie und streckte die Hand nach dem aufgeschlagnen Buche aus. Ich gebe es dir zum Andenken.

Du darfst mir nichts zum Andenken geben, unterbrach er sie. Ich habe geschworen, mit dir zu leben und zu sterben, und das halte ich!

Das Buch meines Lebens! flüsterte sie wieder, als sei es ihr letzter Seufzer. Aber gleich darauf zog ein Lächeln über ihr Gesicht, und das brechende Auge leuchtete auf. Die Sonnenblume aus Eden! rief sie, neigte sich über ihn und küßte ihn.

Das ist der Brautkuß, Engel!

Aber Engel hörte ihn nicht mehr. Ihr entschwebender Geist war nun auf andern Bahnen, und ihre Augen schauten weit offen gerade aus. Sie schien mit jemand in weiter Ferne zu reden, mit einer sonderbar singenden und klagenden Kinderstimme. Er legte den Arm um sie und lauschte. Mit wem sprach sie? – Es mußten Bilder aus ihrer Kindheit sein, die sie umschwebten, und es war der Vater, dem die abgerissenen Worte galten. Sie flehte ihn an, sie noch einmal mit dem alten lieben Namen zu nennen, sein Schneevöglein zu sich zu rufen – es klang, als singe sie die Strophen eines Kinderliedes.

In fürchterlicher Spannung lauschte Gudmund den bebenden Worten. Noch dann, als sie schwieg und mit einem Seufzer schwer in seinen Arm gesunken war, lauschte er. Wollte sie ihm nicht noch ein letztes Wort gönnen – – hatte sie sich im Tode von ihm geschieden? – War sie wieder zum Kinde geworden?

Er legte sie sanft auf die Kissen nieder und lauschte weiter – lauschte, bis ihn die Stille des Todes mit ihrer entsetzlichen Gewißheit durchdrang – da sank er stöhnend zusammen.

Währenddem hatten sich rasche Fußtritte dem Hause genähert, die Thür nach der Flur wurde geöffnet, und der Kaufmann trat in die Stube.

Aber er blieb stehn. Bei dem Anblick, der sich ihm darbot, hatte er nicht den Mut näherzutreten, und er fand kein Wort.

Gudmund fuhr vom Bettrand auf, wo er gesessen hatte, und wandte sich ihm entgegen, wie ein wildes Tier, das seinen Raub verteidigt. Aber die tote Frau auf dem Lager und ihr unglücklicher Wächter waren nicht mißzuverstehn, und der Kaufmann begriff schnell den Zusammenhang.

Seien Sie ohne Sorge, sagte er. Ich will mich Ihnen nicht aufdrängen. Auch bin ich nicht aus Neugierde gekommen, sondern um mich und meine Frau zur Hilfe anzubieten.

Er schwieg einen Augenblick und wartete auf eine Antwort, aber diese kam nicht. Wie hätte auch Gudmund antworten können, in seiner großen Qual wußte er nicht einmal, was hier Hilfe bedeuten solle. Mit irrem Blick starrte er den Kaufmann unverwandt an, als beobachte er jede seiner Bewegungen.

Ja ja, fuhr dieser fort. Wenn der Tag anbricht, werde ich also wiederkommen und alles Nötige mitbringen. Glücklicherweise ist ein Mann hier auf der Insel, der ein wenig schreinert, da werden wir schon einen Sarg zustande bringen. Wie gesagt, Sie brauchen sich um nichts zu sorgen – Gott sei mit Ihnen.

Damit ging er. So lange seine Schritte noch vernehmbar waren, rührte sich Gudmund nicht, aber als ihn die Stille der Nacht wieder umfing, da ließ die ungeheure Spannung nach, und er überlegte. O ja, der Körper, der nun so ruhig dalag, sollte weggebracht werden – sollte von fremden Armen getragen werden – sollte von widerwilligen Händen zurechtgelegt und gestreckt werden – er hatte es ja gesehen, wie es bei solchen Gelegenheiten zuging! – Und dann sollte er in einen engen Sarg eingeschlossen und in die Erde versenkt werden – und während all dies vor sich ging, sollte er daneben stehn und zusehen – –

Er wanderte im Zimmer umher wie in der Irre; es war, als wisse er nicht mehr, wo er war, bis er schließlich vor der Toten stehn blieb und hier allmählich wieder zu sich kam. Was sollte er thun, um dieses Letzte ertragen zu können? Sie hatte ihn von jeher beraten – konnte sie ihm nun nicht ein Zeichen geben?

Er ließ sich am Tisch nieder. Da lag das Buch, das sie ihres Lebens Offenbarung genannt hatte – hatte sie sich vielleicht daraus Rats erholt? – Konnte er dasselbe thun? Er fühlte sich so schwach, so ohnmächtig, so einsam und allein in dieser ungeheuern Wüste der Verlassenheit, wo weder Gott noch Menschen mit ihm redeten.

Er schlug das Buch auf – er sah beschriebne Blätter und erkannte Engels Handschrift. Er las, wußte aber nicht, was er las, bis er auf einmal stutzte und überlegte – und dann kam Leben in seine Gedanken und Leben in sein Herz. Nun verstehe ich dich, Engel! rief er und legte den Kopf an ihre Brust. Mit mir sprichst du hier – mein Gottesengel!

Und dann las er weiter in dem Buche. Da standen Verse, in denen sie in leidenschaftlichen Worten ihrer Liebe Ausdruck gab, die wie eine Sonnenblume aus Eden in ihrem Herzen geblüht hatte – ihrer Liebe zu ihm! Er las mit brennenden Augen, schluchzend, mit lauter Stimme, als sollten es andre hören: so fest sei ihre Liebe gegründet, wie die Berge ringsum, alle Fluten der Erde könnten sie keinen Fuß breit verrücken!

Dann fand er ein Blatt, auf dem Jahreszahl und Datum ihrer Hochzeit mit dem verstorbnen Gatten standen. Zwei Kreuze standen daneben – waren sie das Merkzeichen des Todes ihrer Liebe? Und dann kamen Verse, in denen sie schilderte, wie reine Liebe zweier treuer Herzen das Haus weiht, das sie sich bauen, wie aber Schande und Verzweiflung da wohnen müssen, in dem Sündenschlosse, wo ein Ehebund ohne Liebe geschlossen wird. Hier brach die ganze Qual hervor, die sie durchlebt hatte, voll Vorwürfe gegen sich selbst und Anklagen gegen Gott, der es zulasse, daß vor seinem Altar eine solche Ehe geschlossen würde, und gegen das Gesetz, das sie unlösbar mache.

Ein unsäglicher Abscheu erfüllte ihn – ein Durst nach Rache wie in frühern Zeiten, und drohend ballte er die Faust gegen die dunkle Fensterscheibe, durch die doch nur die Nacht mit ihren großen erloschnen Augen hereinstarrte.

Ja, in einem Sündenschlosse hatte sie gewohnt! Und zu einem so unkeuschen Leben hatte Gott der Herr seine Zustimmung gegeben, und das Gesetz seine unzerbrechliche Fessel geschmiedet.

Gudmund verirrte sich ganz in diese Gedanken. Zwischen Gottes heiligem Willen, der den Entschließungen des Herzens den Weg weist, und dem Eigenwillen der Menschen in Wort und That unterscheiden, das vermochte er nicht in dem Augenblick. Diese Gedanken kamen über ihn wie nächtliche Schatten, die gleich Ungeheuern um ihn emporwuchsen, weil das Licht ihnen keine Grenzen steckte.

Lange saß er in Erinnerungsschmerz versunken und blätterte in dem Buch hin und her – er wollte nicht mehr lesen, was dastand, es drang ihm in die Seele wie ein scharfes Schwert.

Da fiel sein Auge auf Verse, die von ihrer Entsagung sprachen, von ihrer Ergebung in Gottes Willen und von der Hoffnung, daß er sie in seinem Himmelreich mit dem Geliebten vereinigen werde.

Er legte das Buch hin und betrachtete die Tote. – – Ja, in der Ewigkeit würden sie zusammen sein. – Und nun zog Ruhe in sein Herz. Die Dinge dieser Erde waren zwischen sie getreten, wie sie zwischen Gott und Menschen treten, aber hörte er darum auf, der Vater im Himmel zu sein – und waren nicht auch sie in ihrem Herzen Braut und Bräutigam geblieben?

Ach, wie schön sie dalag, obgleich sie weiß wie die Leinwand war, die sie einhüllte. Er legte den Kopf auf ihre Brust – es war ihm, als spüre er, daß sie wieder wärmer werde, und doch wurde sie nur kälter. Allmählich, ganz allmählich kehrten Friede und Ruhe in seiner abgehetzten Seele ein – und er fiel in einen tiefen Schlaf.

So vergingen die ersten Stunden der Nacht. Die Windstöße erschütterten das Haus, und das Meer schlug mit wachsendem Dröhnen gegen die Felsen – das stille Paar ließ sich nicht stören. Braut und Bräutigam schliefen so gut zusammen! Der Schlaf und der Tod haben ja dieselbe Macht, das zu vereinen, was das Leben scheidet – sie haben nur nicht dieselbe Kraft, es festzuhalten.

Plötzlich schlug Gudmund die Augen auf. Es war, als habe ihn das Leben daran erinnert, daß er mit seiner Abrechnung noch nicht ganz fertig sei. In demselben Augenblick stand auch das, was nun kommen mußte, ganz klar vor seiner Seele. Rasch sprang er auf – hüllte die Tote in das Laken, auf dem sie ruhte, nahm sie in seine Arme und trug sie hastig aus dem Hause hinaus und zur See hinab. – Wie merkwürdig leicht und klein war sie doch geworden, sie, die einst so groß und kräftig umhergegangen war!

Scheu sah er sich um, als gälte es, mit einem geraubten Gut zu entkommen, aber obgleich er sich beeilte, gab er doch sorgsam auf jeden Tritt acht, daß er nicht in der Dunkelheit auf dem unebenen Wege mit seiner geliebten Bürde zu Fall käme.

Endlich erreichte er sein Boot, und sein teures Gut war geborgen! Kein menschlicher Laut, nur die wilde Einsamkeit der Nacht, wohin er sah. Nun wurde die Tote zurechtgebettet – sorgsam und zärtlich, wie man einen Gichtbrüchigen behandelt – das Segel wurde aufgezogen, und von dem in wilden Stößen daherjagenden Wind erfaßt flog das Boot mit dem stillen Brautpaar über die Meerestiefe – wo »weißmähnige Rosse dahinstürmten.«

*

Schon bei Tagesanbruch waren die Leute draußen, um nach ihren Booten zu sehen – denn große Scharen Seevögel flogen schreiend dem Lande zu, und das bedeutete Sturm auf dem Meere. Da bemerkten sie, daß das Boot aus Kvänangen fehlte. War es von der Brandung losgerissen und in die See hinausgeschleudert worden, oder hatte es Menschenhand losgebunden? Es war keins von beiden geschehn; das Tau, womit es angebunden gewesen war, war mit einem Messer durchgeschnitten.

Die Sache wurde hin und her besprochen. Als aber der Kaufmann mit seiner Frau etwas später nach dem Trauerhause ging, um seine Hilfe anzubieten, und sich dort weder Lebendige noch Tote fanden, ging die einzige vernünftige Erklärung dahin, daß sich Gudmund mit der Leiche entfernt habe, um sie in seinem Heimatort begraben zu lassen.

War dies wohl Gudmunds Absicht gewesen? Wer kann es wissen – niemals landete er am heimischen Strande! Die Grabstätte, die er der Geliebten seiner Jugend bereitete, teilte er mit ihr. Himmel und Meer allein waren ihre letzten Zeugen, und was diese beiden allein wissen, wird vom ewigen Schweigen am besten verstanden.

Am Olafsberg wurde Gudmund sowohl vermißt als beweint. Aber Gunhild wußte es ja, daß sie, wenn sie sich auch mit Recht seine Frau nennen durfte, doch nie seine Ehegattin gewesen war – die andre war es, sie, mit der er sich nun im Tode vereint hatte.

*

Die von Engel hinterlassenen Verse waren gleichsam in den Sand geschrieben; aber das Volk hat ein merkwürdiges Verständnis für unglückliche Liebe, denn es glaubt daran – und dieser Glaube hat Engel ein Andenken bewahrt.

Fährt man aber an einem stürmischen Herbsttag an der Helginsel vorüber und sieht den hohen schlanken Kirchturm über die Häuser an der Bucht emporragen und sieht die wilden Vögel ihn umkreisen, wird man – wenn man diese Geschichte kennt – an das Schneevöglein denken, das hier auch im Tode noch zwitscherte, weil es glaubte, es säße wieder auf dem Strand seiner Kindheit. – Eine andre sichtbare Erinnerung giebt es nicht an Engel Marcilie Heggum.

Nur ihre dichterische Sehnsucht lebt ewig in der Natur fort – die Schrecken der langen Winternacht und das zaubrische Licht des Sommers wird noch viele, weit größere Dichter hervorbringen, als Engel es war, aber darin werden alle ihr Schicksal teilen, daß kein Wortbau, und wäre er noch so großartig und noch so schön, jemals der gewaltigen Poesie der Natur gleichkommen wird.

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