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Die Junisonne stand hoch am Himmel, als die Passagiere des Dampfschiffs, das nach den nördlich von Dovrefjeld liegenden Gegenden bestimmt war, einer nach dem andern den Kopf aus der Kajütenthür streckten, um Wetter und Wind zu erforschen. Sie schauderten alle zusammen, denn es war bitter kalt, und wenn das den schönsten Monat des Sommers vorstellen sollte, fühlte man sich versucht, sich für den Rest schönstens zu bedanken.
Aber bei den Passagieren der ersten Klasse hielt dieses Gefühl nicht lange an, denn schöne und erwärmte Räume winkten ihnen verlockend und hielten auch, was sie versprachen. Mit den Deckpassagieren verhielt es sich anders, und davon gab es eine große Anzahl, Männer und Frauen, sogar Mütter mit ihren kleinen Kindern, die die Nacht unter freiem Himmel zugebracht hatten. Aber da war nichts zu machen – jeder hatte so viel Bequemlichkeit, wie er zu bezahlen imstande war.
Unter diesen Deckpassagieren waren die am besten daran, die sich um den Dampfschlot zusammengedrängt hatten, obgleich es dabei freilich vorkam, daß, wenn die Hitze auf der einen Seite fast zu groß war, die Kälte auf der andern darum um so empfindlicher biß – aber dann konnte man sich ja umwenden.
An den untern Teil des Dampfrohrs gelehnt hatten sich zwei Mädchen niedergekauert. Kopf und Gesicht hatten sie in große wollne Tücher gehüllt, und es schien, als ob sie den Schlaf des Gerechten schliefen, denn obgleich die Leute beständig an ihnen vorübergingen, und ein junger Bursche, der sich an die Kajüte des Postinspektors lehnte und sie beobachtete, bald auf das Verdeck stampfte, bald eine Melodie pfiff, um sich der Kälte zu erwehren, so ließen sie sich dadurch nicht im geringsten stören.
Als so einige Zeit vergangen war, zündete der Bursche seinen Nasenwärmer an und begann mit leiser, näselnder Stimme zu singen – wobei er aber weder das Ausspucken noch das Rauchen versäumte –, und zwar eins der endlos laugen Liebeslieder, in denen das »untreue Mädchen« und der »betrogne Freund« nie zusammenkommen, nur weil sie sich gegenseitig mit ganz unsinnigen Worten die Meinung gesagt haben.
Pfui, ist das ein Geleier! sagte endlich eins der Mädchen, indem es sich erhob und dem Burschen einen ärgerlichen Blick zuwarf.
Na, es ist doch gut, daß du endlich einmal die Augen aufmachst, sagte er und spuckte ins Wasser.
Was willst du von mir? fragte sie.
Wo kommst du her? fragte er als Antwort.
Daher, wo ich zuletzt war, sagte sie und lachte das andre Mädchen an, das nun auch erwacht war. Nachher trat sie an die Reling und blieb dort stehn, und es dauerte nicht lange, so folgte der Bursch ihr.
Ich habe dich gleich gestern abend bemerkt, sagte er und sah sie schrecklich verliebt an.
So, wirklich? erwiderte sie und wandte das Gesicht ab.
Wo willst du hin? fragte er weiter.
Ich gehe zu Leuten hier oben, antwortete sie, und du?
Ach, ich gehe auch hier in die Nachbarschaft und hole eine Jacht, die ich mir gekauft habe.
Ah, du bist also ein großer Herr?
Ja, das heißt, mein Vater ist es, der bezahlt, aber ich soll sie führen.
Wessen Sohn bist du denn?
Holger Bjerke ist mein Vater.
Und wie heißt du selbst?
Ich heiße Asmund. Und du?
O – ich heiße Ragna.
Nein.
Komm ein wenig zu mir, du, flüsterte er und zwinkerte mit den Augen.
Sie erhob den Kopf und sah ihn mit ihrem klaren Blick fest an, bis er ganz verlegen wurde. Bist du von der Sorte? fragte sie. Nein – ich danke schön. Und damit verließ sie ihn.
Er ärgerte sich über das, was er gesagt hatte, aber nun war es einmal geschehn und konnte nicht wieder ungeschehn gemacht werden. – Aber so ein schönes, energisches Mädchen, strahlend, frisch und gesund!
Nachdem wieder eine Weile vergangen war, sah er sie plötzlich mit dem andern Mädchen keck auf den Platz, auf dem er stand, zusteuern. Er bekam einen roten Kopf und ließ die Mundwinkel hängen, denn er merkte wohl, daß sie nichts Gutes gegen ihn im Schilde führten.
Du fragtest vorhin, woher ich komme, begann Ragna und richtete sich stolz auf. Nun sollst du es erfahren. Das Mädchen hier und ich, wir ruderten im vorigen Jahre droben in den Lofoten auf Fischfang.
Ha ha! Der Bursche brach in lautes Gelächter aus.
Du kannst lachen, so viel du willst, unterbrach sie ihn, wer sich verantworten kann, hat wohl auch das Recht dazu.
Nun, dann nahmt ihr wohl einen Liebsten, oder auch zwei mit? spottete er, indem er den Kopf in den Nacken warf – jetzt war er oben auf.
Vielleicht bist du frech, weil du abgewiesen worden bist! gab sie eben so höhnisch zurück.
Ich wüßte nicht, daß ich mich angeboten hätte!
O, du erinnerst dich vielleicht noch an ein kleines Haus, wo zwei Mädchen ganz allein wohnten? Denn da begehrte an einem Sonntag Abend gerade so ein leichtsinniger Fant wie du Einlaß. Aber die Mädchen gaben ihm ordentlich Bescheid, wie er es verdiente. Wenn ich es gewesen wäre, die damals Antwort gab, dann hättest du meine Stimme wohl wieder erkannt, denn er, der Lümmel, der sich nicht schämte, ein braves Mädchen zu überfallen, das warst du, mein Junge!
Nach diesen Worten wandte sie ihm den Rücken und ging, während der Bursche verlegen und beschämt dastand. Zu seinem Ärger drängte sich auch ihm die Erinnerung an jenen Abend wieder auf. Allerdings hatte er sich dort am Ufer herumgetrieben und bei zwei jungen Mädchen angeklopft, die, wie er wußte, in dem kleinen Häuschen ganz allein wohnten. Zwei Mädchen, die auf den Fischfang gingen! – Aber noch nie in seinem Leben hatte er so die Wahrheit zu hören bekommen. – Und nun wurde es ihm noch einmal vorgeworfen! Er war so wütend, daß er hätte aus der Haut fahren mögen.
Eine Weile wandte er sich ab und gab seinem Zorn auf das Meer hinaus freien Lauf; aber als er sich ein wenig beruhigt hatte, schielte er doch wieder nach dem Mädchen hinüber – um zu sehen, ob es noch da war. Jawohl, dort drüben stand sie unter denen, die sich nach der Landungstreppe hingedrängt hatten, denn man näherte sich gerade einer kleinen Haltestelle.
Wie schön und aufrecht stand sie da unter all dem andern Pack! Er ärgerte sich, daß es ihm durch Mark und Bein ging.
Da ertönte das Zeichen, und die Maschine hielt an. Die Treppe wurde hinunter gelassen, und die Luke geöffnet. Und nun ging es Hals über Kopf hinunter mit den Passagieren und ihrem Gepäck in die zwei kleinen Boote, die unten angelegt hatten und sofort überfüllt waren.
Ein »Fertig« ertönte vom Kommandobrett über das Durcheinander hin. Die Matrosen schlugen die Luke zu und begannen die Treppe wieder heraufzuziehn.
Da erklang ein Notschrei. Er kam von einer Frau, die jetzt erst bis an den Aussteigeplatz gelangt war. Sie sah krank und elend aus, hatte ein Kind auf dem Arm und ein andres an der Hand, und Thränen rannen ihr über die Wangen hinunter.
Fast gegen seinen Willen war Asmund an den Aussteigeplatz getreten, aber obgleich er für sein Leben gern das Mädchen noch einmal gesehen hätte, hatte er doch das Gesicht nach der andern Seite gewandt, sodaß er die Frau sogleich bemerkte und erriet, daß sie sich verspätet habe. Und nun war der Bursche auf seinem Platz – denn er war gutmütig und entschlossen. Ehe der Matrose sich darüber klar wurde, stand Asmund schon neben ihm, ließ die halb heraufgezogne Treppe wieder sinken, packte die Frau und reichte sie mitsamt den Kindern, eins nach dem andern, ins Boot hinunter, warf auch ohne Umstände eine alte große Schiffstruhe, die ihr gehörte, oben auf die andern Gepäckstücke – und schwang sich schließlich selbst wieder aufs Verdeck. Das Ganze war blitzschnell vor sich gegangen und ohne langes Bedenken, denn die Maschine hatte schon angefangen, sich in Gang zu setzen, und das ungeduldig wiederholte »Fertig« des Kapitäns drängte – solche Nachzügler meldeten sich allzuoft.
Doch nun war es geschehn, und die Entschlossenheit, mit der es gethan war, machte die Sache gut. Der junge Mann stand vor Anstrengung bebend droben und sah zu, wie die Frau unten im Boote zurecht kam; sie starrte noch immer mit ihrem scheuen Blick zu ihm auf, als ob sie nicht verstünde, wie alles zugegangen sei.
Dann stieß das Boot ab. Aber in diesem Augenblick faßte sich der Bursche ein Herz und wandte sich nach dem Mädchen um. Und das lohnte sich, denn er bekam ein Kopfnicken und einen strahlenden Blick, die er damit beantwortete, daß er den Hut abnahm und sich tief verbeugte. – Sie sollte verstehn, daß er ihr alle Ehre erweisen wollte.
*
Auf der Südseite einer ziemlich langgestreckten Insel wohnte der alte Holger Bjerke. Er hatte als Fischer angefangen, danach war er zum Jachtschiffer aufgerückt, und in seinen alten Tagen lebte er nun als Fischhändler; aber er hatte ein bedeutendes Vermögen, und sein Sohn Asmund war sein einziges Kind, deshalb wurde das Geschäft nicht mehr mit besonderm Eifer betrieben, es geschah mehr, daß man eine Beschäftigung hätte.
Holger hatte eine kleine, schüchterne Frau gehabt, die sich immer in der Küche aufhielt und sich nur in der Stube zeigte, wenn ihre Gegenwart verlangt wurde, gerade wie ein Mäuschen, wenn es von der Stille verführt bei Tag sein Loch verläßt.
In gewisser Hinsicht hatte sie Glück gehabt, denn als sie nach einigen Jahren des Ehestands einen Sohn gebar, schloß sie zugleich mit dem Leben ab. Auch über ihren Tod war nichts weiter zu berichten, als daß die Leute über den unverhältnismäßig großen Sarg spotteten, worin sie begraben wurde. Sie meinten, weil ihr Mann, so lange sie lebte, allzugenau acht gegeben habe, daß sie nicht zu viel Platz einnehme, habe er ihr jetzt, wo sie tot war, das Doppelte von dem, was sie brauche, gegeben. Das war aber durchaus nicht etwa aus Reue geschehn, Bjerke war im Gegenteil ganz zufrieden damit, daß Gott diese Ehescheidungsangelegenheit in die Hand genommen hatte.
Seit dem Tode der Frau waren nun dreiundzwanzig Jahre vergangen. Der Sohn war einige Jahre von Hause weg auf einer Schule gewesen und nach der Konfirmation wieder zum Vater zurückgekehrt. Und da war er nun und ließ sichs wohl sein; der alte Bjerke war allerdings ein Despot, der alle, die unter ihm standen, tyrannisierte, aber dem Burschen verursachte das keinen Kummer. Er machte es wie die andern, er beugte sich der Gewalt und spottete über sie.
Auf diese Weise wuchs Asmund ohne ein innigeres Verhältnis zum Vater auf, aber ein solches wurde auch gar nicht verlangt. Nur eine Forderung wurde jetzt, wo er erwachsen war, an ihn gestellt: er sollte Geld verdienen. Eignen Boden unter den Füßen und eignes Geld in der Tasche! war des alten Bjerke Spruch. Das hatte er selbst erreicht, und noch mehr dazu, und nun war der Junge in dem Alter, wo er es auch versuchen sollte.
Und er mußte ja nicht mit leeren Händen ausziehn, wie einst der Vater. Es lag schon ein Fahrzeug bereit, das nur auf ihn wartete, und mit dem südwärts fahrenden Dampfer sollte er abreisen, um es zu übernehmen und seine Laufbahn zu beginnen.
Am Abend vor der Abreise sprach Bjerke auf seine Art noch ein ernstes Wort mit dem Sohne. Trotz seiner Ungebildetheit hatte er doch über das Leben nachgedacht und sich von dessen Dornenstrauch eine gewisse Weisheit gepflückt.
Nun laß nur das Heimweh nicht aufkommen, sagte er. Ein Jachtschiffer soll da seine Heimat haben, wo er seine Fracht lädt.
Der Sohn lächelte. Darüber, meinte er, könnte der Vater vollkommen beruhigt sein.
Und dann sind da auch die Weiber, fuhr der Vater fort. Von ihnen sollst du dich fern halten. Sie sind lauter Plunder – jede auf ihre Art.
Ja, Vater – aber – wandte der Junge ein.
Da ist gar nichts dagegen zu sagen, fuhr der Vater auf. Sie nehmen einem bloß den Verstand und das Geld dazu, und das richtet nur Unglück an.
Aber du hast doch selbst geheiratet, wandte der Sohn wieder ein.
Nun ja – das hatte so seine Bewandtnis. Ich war ja schon fünfzig Jahre alt. Wenn du einmal ebenso alt bist, dann werde ich wohl unter der Erde liegen, denke ich mir, und dann kannst du meinethalben thun, was du willst.
Der Sohn räusperte sich und schwieg. Unwillkürlich überlegte er sich die Zukunft. Wenn er fünfzig wurde, dann mußte der Vater, der jetzt fünfundsiebzig war, schon über hundert Jahre alt sein. Ja freilich, da hatte es keine Not! Wenn der Alte, der ja schon ganz wacklig auf den Beinen war, achtzig Jahre erreichte, so würde ihn das sehr wundern – und bis dahin waren es nur noch fünf Jahre!
Beinahe hätte der Sohn angefangen zu pfeifen.
Nein, siehst du, ergriff der Alte, von des Sohnes Schweigen wieder etwas beruhigt, aufs neue das Wort. Wenn die Frauen den Verdienst des Mannes nicht geradezu vergeuden, so sind sie doch feig wie die Mäuse, drücken sich immer hinter die Thüren und in die Ecken – man weiß nie, wie man mit ihnen dran ist. Kurz gesagt, summa summarium, es kommt kein Frauenzimmer mehr hier ins Haus! Und um seiner Rede noch mehr Nachdruck zu geben, schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß die Punschgläser tanzten.
Nein nein, Vater, sagte der Sohn beruhigend, du sollst davon verschont bleiben, ich verspreche es dir sicher.
Aber als er dann allein war, dachte er zum erstenmal recht innig an die Mutter, die er nie gekannt hatte. Und er dachte immerfort an sie, bis sein Herz so weich wurde, daß er nicht wußte, was er mit sich anfangen sollte; aber dann schlief er ein. Er fand aber nicht die rechte, feste Ruhe, dazu war sein Gemüt zu erregt, und die Träume kamen und gingen in wechselnden Bildern.
Bald stand er auf dem Dampfschiff und ließ sich vom Aufwärter ein Glas Toddy reichen, bald ging er gebietend auf seinem eignen Schiff umher und ließ die Flagge hissen, der Flagge zum Gegengruß, die ihm vom Lande zuwinkte. Er fühlte sich frei und wohlgemut und war eben daran, einen Gesang anzustimmen, während er den Anker lichtete und nach dem Wind ausschaute.
Da hörte er plötzlich einen klagenden Ton, und er sah sich um. Nicht weit von ihm entfernt lag ein kleines verschüchtertes Frauenzimmer auf den Knieen und suchte sich in einen Erdhügel hineinzugraben. Zugleich ertönte ein donnernder Schlag, der gerade so klang, wie wenn der Vater mit der Faust auf den Tisch geschlagen hätte, und das Frauenzimmer fiel tot um. Er wollte zuspringen, um ihr zu helfen – da stand er auf einmal in der Wohnstube, wo der Vater bissig und drohend am Fenster saß, und wo die Tote sich plötzlich groß und stark vor diesem aufrichtete, seine geballten Fäuste ergriff und die Finger einen nach dem andern löste, wie man einen Knoten auflöst, bis über seine bösen, harten Züge ein Lächeln hinzog, und sein altes Gesicht ganz kindlich aussah.
Aus diesem Traum erwachte Asmund mitten in der Nacht, und er fühlte ganz deutlich, nun hatte er seine Mutter und sein eignes Schicksal gesehen. Aber auch das des Vaters hatte er geschaut. Denn ganz gewiß war die Hand des Todes die einzige, die es vermochte, die festgeballte Faust zu öffnen.
Am Tage dann, als er endlich auf dem Dampfschiff festen Fuß gefaßt hatte und gehn und stehn konnte, wo es ihm beliebte, fühlte er sich wieder froh und leicht. Nein, er würde kein Heimweh bekommen! Und sollte er auch nie ein andres Heim finden, als das Schiff mit seinem unsteten Leben, so wollte er doch jederzeit die Freiheit preisen und zufrieden sein.
Aber Asmund bekam nicht zu viel Zeit, wo er sich tummeln konnte wie ein losgelassenes Füllen.
Die Begegnung mit Ragna warf auf einmal alle seine Gedanken über den Haufen. Die Qual, die er gefühlt hatte, als er verlegen vor ihr stand, während sie ihn ausschalt, ihn, der sonst immer gleich mit einer schnellen Antwort bei der Hand war, diese Qual konnte er nicht verwinden: denn sie vereinigte sich mit seiner zunehmenden Sehnsucht, wieder mit ihr zusammenzutreffen.
Er wußte sich nicht anders zu helfen, als daß er sich mit allem Eifer und aller Treue auf seine Arbeit warf. Je gewissenhafter er seine Pflicht erfüllte, desto weniger hörte er die scheltenden Worte, und desto zärtlicher strahlten ihm ihre klaren, hellen Augen entgegen.
Und so kam es, daß er in dem Augenblick, wo er die der Jugend so verhaßten Fesseln losgeworden war, sich mit jedem Tag fester binden ließ. Aber das erste Band hatte Schwäche erzeugt, das andre schuf neue Kraft, und so brachte es doch die Freiheit, in der die Männlichkeit ihr Wachstum findet.
*
Zwei Jahre waren seit dem Zusammentreffen zwischen Asmund und Ragna vergangen. Das kleine Schiff hatte gute Geschäfte gemacht, der alte Bjerke war mit seinem Sohne zufrieden, und der Sohn lebte seinem ernsten Vorsatz unverbrüchlich getreu. Hätte ihm vor drei Jahren jemand gesagt, daß die Jugend auf stillen Wegen so große Freude erzeugen könne, so hätte er es nicht geglaubt. Damals hatte er gedacht, es gehöre eine große Portion Thorheit dazu, wenn sich ein junger Mensch ordentlich jung fühlen solle.
Aber die Ausgelassenheit der Jugend ist ein Rausch, und nach dem Rausch kommt das Erwachen, und dieses schmälert das Vergnügen nicht wenig.
Davon wußte Asmund nichts. Aber jung sein ist an und für sich schon eine Freude, und diese Freude genoß er jeden Tag reichlich in Gesundheit und gutem Mut. Und doch trug er sich mit einer unbefriedigten Sehnsucht. Wo war Ragna? Am Strand und in den Dörfern hatte er sie gesucht, und nirgends hatte er sie gefunden. War sie nach Amerika gezogen? Dorthin wanderten ja so viele aus, und sie war elternlos. Aber diesen Gedanken konnte er nicht ertragen, und so scheuchte er ihn immer wieder von sich. Besser ging es ihm mit der Hoffnung, denn diese erzählte ihm jeden Abend eine neue Geschichte von dem nächsten Tage, wo Ragna auf die merkwürdigste Weise plötzlich vor ihm auftauchen werde. Und obgleich dies niemals eintraf, ließ er die Hoffnung doch immer wieder erzählen.
Da erhielt er eines Tags von einem Kaufmann auf einer der Inseln einen schriftlichen Auftrag auf eine Ladung Fische und zugleich die genaue Angabe, wann er mit der Ladung eintreffen müsse.
Asmund nahm den Antrag gern an, und ehe die vorgeschriebne Frist abgelaufen war, warf er an dem genannten Ort mit vollbeladnem Schiff die Anker aus.
Der Kaufmann kam gleich zu ihm an Bord, sah sich die Fische an und war zufrieden damit. Ohne Feilschen wurde der verlangte Preis gewährt, und am nächsten Morgen sollte mit dem Löschen der Ladung begonnen werden. Noch nie in seinem Leben hatte Asmund mit einem so entgegenkommenden Manne zu thun gehabt. Mit einer freundlichen Einladung für den Abend trennte sich dieser von Asmund und hinterließ bei ihm das aufrichtige Verlangen nach näherer Bekanntschaft.
Als der Abend anbrach, wanderte Asmund sehr vergnügt dem Hofe zu, der ein wenig vom Kai entfernt lag. Der Kaufmann kam ihm entgegen, begrüßte ihn mit derselben Liebenswürdigkeit wie vorher und führte ihn in die Stube, wo er, weil er ein Witwer war, die Pflichten der Gastfreundschaft selbst übernahm.
Draußen und drinnen sah es einsam aus, und es war nicht gerade Wohlhabenheit zu bemerken, aber das ging ja Asmund nichts an. Wenn er nur sein Geld für die Fische bekam, so konnte der Besitzer seinetwegen gern Hof und Felder vernachlässigen, so viel es ihm beliebte.
Während dieser Betrachtung hatte der Kaufmann die Stube verlassen, um seinen häuslichen Angelegenheiten nachzugehn, und kam davon mit einem feuerroten Gesicht wieder herein.
Ich habe ein ausgezeichnetes Frauenzimmer zur Bedienung, sagte er. Aber sie will der Herr im Hause sein. Fast noch nie habe ich ein so schönes Mädchen hier herum gesehen, und wäre es nicht der Leute wegen, machte ich sie wahrhaftig zu meiner Frau.
Was hindert Sie denn daran?
Ach, sie ist sehr merkwürdig! Schon als kleines Kind hat sie ihre Eltern verloren, sodaß sie sich durchbetteln mußte, aber durch ist sie gekommen. Zuletzt war sie in Trondhjem, um die bessere Haushaltung zu lernen, und danach kam sie hierher. In der Zwischenzeit ist sie auch auf Fische gerudert, wie es heißt, und da ich ein wohl konditionierter Mann bin, so werden Sie begreifen, daß ich mich besinnen muß.
Asmund saß ganz starr und stumm mit der erloschnen Pfeife im Munde da. Sie war es. Es konnte ja niemand anders sein!
Will sie denn auch Sie haben? fragte er mit heiserer Stimme.
Ach du lieber Gott! – Wenn ich nur wollte, dann wäre die Sache bald in Ordnung. Da ist sie! sagte er dann, als sich rasche Schritte auf dem Söllergang hören ließen. Nun müssen Sie sie genau betrachten – und er sprang auf, um die Thür zu öffnen.
Und herein trat Ragna, ein mit Flaschen und Gläsern gefülltes Brett in der Hand. Groß und schlank, rot und weiß, die dicken Zöpfe in einem Kranz über den Nacken aufgesteckt, trat sie in einem hellen Sommerkleid so sicher und leicht auf, als ob sie ihr Leben lang in Reichtum und in gebildeter Umgebung zugebracht hätte.
Asmund schwindelte der Kopf, er schloß die Augen.
Nein, nun müssen Sie bei Gott die Augen aufmachen! rief der Kaufmann lachend. Nun, was sagen Sie dazu? fragte er und strich dem Mädchen mit dem Rücken seiner Hand über die Wange.
Es wurde aber gar nichts gesagt, denn in demselben Augenblick schleuderte Ragna heftig seine Hand weg und verließ rasch das Zimmer. Aber von der Thür aus warf sie Asmund, der noch immer ganz verwirrt dreinschaute, einen fast drohenden Blick zu.
Ja, so ist sie, sagte der Kaufmann und lachte. Es ist nicht das erste mal, daß ich was auf die Finger bekomme.
Sobald als möglich brach Asmund auf und wanderte mit schweren Schritten zu seinem Schiff zurück. Hier ließ er den Schiffsjungen in seine Koje kriechen; er selbst setzte sich, den Rücken dem Lande zugewandt, aufs Verdeck und schaute mutlos auf das Meer hinaus.
Das war nun also das Wiedersehen, wonach er sich seit mehr als zwei Jahren gesehnt hatte! Dafür hatte er sozusagen sein Leben gewaschen und gereinigt, daß er zu ihr sagen könnte: Nun ist nichts mehr da, worüber du dich zu schämen brauchst. Und nun war sie es, auf deren Seite die Schande war. Oder war es anders? Ein ehrbares Mädchen blieb doch nicht bei einem solchen Kerl im Hause, der es in die Wangen kniff und es mit verliebten Augen anstarrte!
Aber als sich Asmund so recht in diese verbitterten Gedanken hineingegrübelt hatte, kamen plötzlich rasche Schritte über den Kai her und das Landgangsbrett herauf, und Ragna selbst stand vor ihm.
Einen Augenblick sahen sie sich fest an, aber es war eine solche Klarheit in ihrem durchdringenden Blick, daß sich Asmund wie bei einer schlechten That ertappt fühlte und auf die Seite sah.
Jetzt haben Sie schlecht von mir gedacht, sagte sie.
Er schwieg.
Ja, so sind die Leute! rief sie schmerzlich aus. Wenn man gut oder schlecht über einen Menschen denken kann, da denkt man lieber das Schlechte. Ich habe mich diesem Mann verdungen, gerade weil er jemand brauchte, der etwas zu leisten imstande war. Und wer sich selbst nicht vor der Schande hüten kann, der nimmt natürlich auch eine Frau nicht dagegen in Schutz. Aber nun ist es zu Ende. Als er das letzte mal die Finger nach mir ausstreckte, da sagte ich ihm, wenn er es noch einmal wage, so würde ich in derselben Stunde sein Haus verlassen. Und ich thue es auch, gleich morgen.
Ragna! rief Asmund und that einen tiefen, befreienden Atemzug. Aber sie ergriff seine ausgestreckte Hand nicht, sondern wandte sich ab und schüttelte den Kopf.
Nein, nun will ich mit meinem Geschäft kommen, fuhr sie fort.
So komm mit in die Kajüte hinunter, bat er.
Nein, danke. Was ich zu sagen habe, kann auch hier gesagt werden. Und nun hören Sie: Die Fische, die der Kaufmann von Ihnen gekauft hat, bezahlt er nicht.
Ich habe ihm einen Monat Aufschub gewährt, antwortete Asmund.
Aber wenn dieser Monat vorbei ist, verlangt er einen zweiten, und dann ist er bankrott. Ich weiß es sicher und gewiß. Sie sind nicht der einzige, der betrogen wird. Haben Sie etwas Schriftliches?
Asmund schüttelte den Kopf.
Gut, dann verlangen Sie bare Bezahlung.
Das wäre schon recht, wandte Asmund ein. Aber dann ist der Fisch ausgeladen, und ich bekomme mehr Widerwärtigkeit davon, ihn wieder einzuladen, als ich Zeit dazu habe.
Dann fahren Sie heute nacht noch weg! rief sie. Ich bin kein Hasenfuß, und morgen früh werde ich die Sache in Ordnung bringen.
Wollen Sie ihm denn sagen, daß Sie mich gewarnt haben? fragte er und ergriff ihre widerstrebende Hand.
Gewiß will ich das. Soll er etwas Falsches denken, wenn ich ihm die Wahrheit sagen kann?
Ach, für das, was ich nun erfahren habe, gäbe ich gern die ganze Fischlast! rief er.
Was haben Sie denn erfahren? fragte sie.
Das, wonach ich mich seit mehr als zwei Jahren als nach dem Schönsten und Besten auf der Welt gesehnt habe. Und nun ist es gerade so, wie ich es mir gedacht hatte.
Ja, nun muß ich gehn, sagte sie scheu und zog ihre Hand zurück.
Ja, und du denkst wohl, ich werde dich gehn lassen! sagte Asmund lachend, während ihm das Weinen fast näher war. Und mit starken Armen wollte er sie an sich ziehn.
Was wollen Sie von mir? fragte sie und sah ihn kalt an, aber der strenge Ausdruck verwandelte sich schnell in ein Lächeln.
Für das ganze Leben will ich dich haben! rief er. Nach dir habe ich mich von ganzem Herzen gesehnt, seit wir uns in ein und derselben Stunde damals gesehen und wieder getrennt haben. Willst du mich nun haben, Ragna? Ich bin dir treu wie Gold gewesen!
Sie erhob das Gesicht und sah ihm prüfend in die Augen.
Kannst du etwas sehen, das wie Lüge aussieht?
Sie schüttelte den Kopf, und die Thränen stürzten ihr aus den strahlenden Augen.
Dann bin ich der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt! jubelte er und umarmte sie. – Tröste dich, Ragna, bat er nach einer Weile, als sie noch immer weinte, recht, wie wenn seine Liebkosungen einer lange zurückgedrängten Quelle des Leids den Weg geöffnet hätten.
Ach, flüsterte sie, es ist ja das erste mal, daß ich mich auf einen Menschen stützen kann. Aber seit zwei Jahren habe ich mich auch nach dir gesehnt. Oft haben sich die Thränen hervordrängen wollen, aber ich habe sie zurückgehalten, und nun haben sie solche Gewalt über mich.
Eins nur muß ich dir mitteilen, sagte Asmund nach kurzem Schweigen. – Sie schaute ein wenig erschrocken zu ihm auf, denn das klang wie unheilverkündend. – Mein Vater wird mir nicht erlauben, zu heiraten. Es ist ein unvernünftiger, böser alter Mann, und es ist nicht anders mit ihm auszukommen, als wenn man sich ihm fügt. Aber willst du wie ich, dann heiraten wir heimlich. Du fährst mit dem Postdampfer morgen nach Trondhjem, wo ich einen guten Freund habe, der dich beraten wird, bis ich in einer Woche nachkomme. Dann lösen wir den Königsbrief, und wir lassen uns in aller Stille trauen. Aber dann – und nun kommt das Schlimmste – Ragna! Er umschlang sie mit beiden Armen, wie um sich ihrer zu versichern. Glaubst du, daß du mit mir auf dem Schiffe leben kannst? Ich wage ja nicht, irgendwo eine feste Wohnung zu nehmen, und ich kann mich auch nicht von dir trennen.
Ragna hatte ihn ängstlich angesehen, aber die Angst verschwand schnell. Wie du nur fragen kannst! rief sie froh. Ich habe ja nie ein Heim gehabt. Ach, die Zuflucht, die du mir bietest, soll wie ein Himmelreich werden!
Ja, und nun bist du mein vor Gott! jubelte er. Mein Vater kann ja auch nicht ewig leben. Nun ist er bald fünfundsiebzig. Und dann bekommen wir ein Haus, das groß genug ist.
So wurde denn rasch das Nötigste zwischen den beiden besprochen. Und als sie sich getrennt hatten, und Ragna in das Kaufmannshaus zurückgekehrt, Asmund aber auf seinem Schiff geblieben war, waren sie nicht länger zwei Einsame, sondern ein glückliches Paar, von dem eins das andre in Gedanken zur Seite hatte.
Der Kaufmann war schon früh am Morgen auf den Beinen, und nachdem er seinen Kaffee getrunken und sich mit der Pfeife im Munde draußen auf die Hausstaffel gestellt hatte, entfuhr ihm ein Ausruf des Schreckens. Ragna, die den Grund wohl verstand, trat rasch und gefaßt auf ihn zu.
Er fährt ja mit vollen Segeln davon! rief der Kaufmann und deutete auf das Meer hinaus, wo Asmunds Jacht wirklich mit allen Segeln auf die See zu stand und mit ihrem kecken, kleinen Steven die sich bäumenden Wellen durchschnitt. Aber gerade als ob vom Schiff aus mit einem Fernglas aufgepaßt worden wäre, wurde in dem Augenblick, wo sich Ragna auf der Treppe zeigte, die Flagge gehißt.
Ich glaube, Gott verdamme mich, der Gaudieb will sich auch noch über mich lustig machen!
Er sagt: Der Gruß gilt dir! sagte Ragna zu sich und ließ wie zufällig ihr Kopftuch im Winde flattern. Und das wurde gesehen, denn die Flagge erwiderte den Gruß.
Ohne weiteres bricht er sein Wort und die Abmachung! fuhr der Kaufmann fort.
Da hat er klug daran gethan, Sie hätten ihn ja doch betrogen, sagte sie und sah ihn fest an.
Warst du es, die ihn gewarnt hat?
Ja, das hab ich gethan.
Auf welche Weise?
Wie es am besten ging, antwortete sie kurz und entfernte sich.
Er sah ihr wütend nach. Will das Mädchen mir an den Kragen? brummte er. O nein, sie will die Frau hier im Hause werden, das will sie; deshalb ists, sie will zeigen, was sie kann. Dann brach er in ein Hohngelächter aus, und damit hatte seine Wut ihre Höhe erreicht. Er schloß sich mit dem Ärger über den fehlgeschlagnen Handel ein und mit einer ganzen Menge andrer Gedanken darüber: ob er als ein Wohl konditionierter Mann ein Mädchen, das einmal »auf Fische gerudert« hatte, heiraten könne.
Damit verging ein Teil des Tags. Seine Verliebtheit und seine Bildung kämpften einen harten Strauß miteinander. Schließlich trug doch die Lust den Sieg davon; es gehört viel Bildung dazu, ihr zu widerstehn. Aber jetzt war sein Entschluß gefaßt, da es ja mit diesem Mädchen keinen andern Ausweg gab.
Aber als der Abend kam, und der Postdampfer im Hafen anlegte, und der Kaufmann mit seinen Leuten draußen war, um seine Briefe und Waren abzuliefern, hätte ihn beinahe der Schlag getroffen, denn Ragna legte, vollständig zur Reise gekleidet, in einem gemieteten Boot am Schiff an und kam mit all ihren Habseligkeiten an Bord.
Ruhig trat sie auf ihn zu und verabschiedete sich von ihm. In blinder Wut wollte er auf sie losfahren, aber es wurde ihm keine Zeit dazu gelassen. Da brach er in sein gewohntes Hohngelächter aus; aber es gelang ihm nicht, das damit auszudrücken, was er beabsichtigte, denn er war so von Zorn und Verachtung geladen, daß er beinahe daran erstickte. Er verließ sie mit einer Verbeugung, die auch spöttisch sein sollte, die sich aber Ragnas mutigem Betragen gegenüber nur wie schuldige Achtung ausnahm.
Damit trennten sich ihre Wege.
Vierzehn Tage später war Ragna eine glückliche Gattin und Asmund ein glücklicher Ehemann. Die kleine Kajüte war zwar eng, aber wo sich zwei Liebende in den Platz teilen, da reicht er merkwürdig weit, denn in demselben Maße, daß Menschen in der Liebe wachsen, nehmen ihre Ansprüche ab.
*
Das junge Paar lebte nun glückliche Tage in seinem kleinen schwimmenden Heim. Wohl gab es ab und zu einen Strauß mit Wind und Wetter zu bestehn, aber Ragna war ja seegewohnt und kannte die Gefahr wohl – was schadete das überhaupt, wenn sie sie nur miteinander teilten. Ihr Weg führte sie überdies weniger auf das hohe Meer hinaus, als in die Fjorde und heraus, zu den kleinen Inseln ringsum und die Küste entlang – immer mit kleinen Frachten. Aber der Verdienst war gut, er stand im Verhältnis zu den Ansprüchen, und das war genügend.
Das stille Zusammenleben der beiden wurde von niemand entdeckt. Sie waren beide gleich darauf bedacht, ihr Geheimnis zu hüten, denn das war die Schutzmauer ihres Glücks. Nur ein Dritter war mit eingeweiht, nämlich der Schiffsjunge. Aber wenn dieser mit einem Orden für eine große Heldenthat geschmückt worden wäre, hätte er nicht stolzer darauf sein können als auf das Vertrauensamt, das Geheimnis des Schiffers zu wahren. Er ging darin so weit, daß er that, als ob er Ragna gar nicht sähe, und wenn er mit ihr sprach, redete er stets in die Luft hinein, wie wenn er einen Auftrag vom Herrgott erhalten hätte.
Aber das Eheleben hat keine steten Bahnen, zur See so wenig wie auf dem Lande. Das sollten sie bald lernen.
Als ein Jahr vorüber war, gebar Ragna einen Sohn. Es ging zwar nicht ohne Not und Angst vorüber, aber es ging doch gut, und es hieß bei ihr auch wie im Liede: Süß ist das verschwundne Weh!
Ragna hatte den großen Mut, den keine Gefahr schreckt, und das kam ihr nun gut zu statten, denn es wurde ihr außer der Hilfe, die die Natur sich selbst leisten kann, nicht viel andres zu teil, und in der schwersten Stunde hielt sie ein Gedanke, der von einer Kindheitserinnerung stammte, wie eine schirmende Hand aufrecht. Es war ihr nämlich erzählt worden, daß sie während eines Sturms in einem Bootschuppen geboren worden sei, und daß ihre Mutter für sich selbst und für ihr Kind ihre Hoffnung einzig und allein auf Gott habe setzen müssen. Sollte also sie, die glücklich war, weniger stark sein als die arme, unglückliche Mutter? Aber es war doch recht merkwürdig, daß die Mutter, die Ragna kaum gekannt hatte, nun gewissermaßen herbeikam und ihr in der schweren Stunde beistand.
Ein großer, prächtiger Junge! jubelte Asmund. Im Frühjahr, wenn wir südwärts fahren, soll er in der Kirche, wo wir getraut worden sind, getauft werden, Ragna; er soll wie der Alte genannt werden, obgleich der es nicht verdient.
Sprich nicht in dieser Weise von deinem Vater, Asmund! sagte Ragna. Ich fürchte, der liebe Gott rechnet es dir als Sünde an.
Meinst du, ich solle das gut heißen, daß er mir gewissermaßen die Heimat verschlossen hat? Ihr beide, du und das Kind, könntet es dort in schönen großen Zimmern so gut haben, aber da sitzt er nun allein drin und macht sich breit wie eine Spinne in ihrem Netz. Ja, das ist wahr! So ist er, denn er zieht alles an sich, was er erreichen kann, und gönnt keinem andern etwas. Aber laß ihn sein, wie er ist, es wird ja auch mit ihm einmal zu Ende gehn.
Überlaß das Gott! bat Ragna. Sie hatte es immer als ein Unglück angesehen, daß er über den Vater hart urteilte, aber jetzt, wo das Kind da war, war es ihr schrecklich.
Der Knabe gedieh indessen prächtig in dem kleinen Raume, wo er von einem glücklichen Vater liebkost und von einer jungen, lebensfrohen Mutter genährt wurde.
Aus dieser sichern, frohen Wirklichkeit heraus malten sich nun beide das zukünftige Leben aus. Aber während Ragna ihren Blick in die weite glänzende Zukunft hinauswandern ließ, reichte der Asmunds nie weiter als bis zum Hofe des Vaters. Dort wollte er, wenn der Tod einmal aufgeräumt hätte, mit Mut und Kraft ein neues Leben und eine neue Wirksamkeit beginnen.
Indessen stand es fest, daß der Knabe des Großvaters Namen tragen sollte – von Asmunds Seite in dem Gedanken an die Nachfolge, bei der Mutter aber in der Hoffnung auf Versöhnung. Aber diese Hoffnung scheiterte für beide, denn der Knabe bekam überhaupt keinen Namen.
Als die niederdrückende Dunkelheit des Winters allmählich wich, und der Frühling über den großen Arbeitswegen des Meeres aufleuchtete, wo so viele tausend fleißige Hände zugriffen, um des Lebens Nahrung zu fangen, setzte sich auch Asmund in Bewegung. Die Frachtschiffahrt war wieder eröffnet, und er war gern gesehen, wohin er kam. Allerdings wurde da und dort davon gemunkelt, daß er ein Frauenzimmer an Bord habe, aber da man nicht recht dahinterkam, so ließen die Leute die Sache als etwas, worüber man am besten schweigt, in Ruhe.
Der Frühling war in diesem Jahre äußerst stürmisch, und viele litten Schaden auf der See. Aber wenn sich Asmund auch nach Möglichkeit zurückhielt, so mußte doch etwas gethan werden; und Ragna war nicht die, die vor einem Kampf zurückgebebt wäre. Du und das Kind und ich, ermunterte sie ihn, wir sind ja wie ein einziges Leben, laß nur den lieben Gott walten!
Froh und bekümmert zugleich sah sie Asmund an. Aber die Wahl war nun einmal getroffen und konnte nicht wieder rückgängig gemacht werden – also drauf los.
Es war in einer dunkeln Nacht mit Regen- und Hagelschauern. Ragna war auf und hielt das schlafende Kind auf dem Schoße, um es gegen das heftige Schwanken zu schützen, während Asmund auf dem Verdeck war und tapfer um sein kleines Fahrzeug kämpfte.
Da erzitterte dies plötzlich von einem heftigen Stoße, das Licht in der Kajüte erlosch, und alles stürzte mit entsetzlichem Getöse übereinander.
In demselben Augenblick riß Asmund die Thür auf.
Nimm das Kind und komm! schrie er. Wir sind aufgefahren, und ich weiß nicht, wohin es führen kann. Dann flog er zurück ans Steuer.
Ragna eilte mit dem Kinde aufs Verdeck. Aber in demselben Augenblick brach eine Sturzsee herein und warf sie zu Boden, sodaß sie mit dem Kopfe auf einen Haufen Brennholz aufschlug und das Bewußtsein verlor. Als sie wieder zu sich kam, war das Fahrzeug wieder flott, und der Schiffsjunge saß neben ihr und stützte sie, während Asmund steuerte.
Wo ist das Kind? fragte sie und wollte sich erheben. Aber das Schwanken warf sie wieder zurück, und sie wurde von neuem bewußtlos.
Schließlich fuhr man zwischen die Schären hinein, und nun gelangte man in eine ruhigere Bahn, die Linderung und Hoffnung gab.
Ragna blickte auf; jetzt kniete Asmund neben ihr und stützte sie, während der Schiffsjunge am Steuer war.
Was ist geschehn? fragte sie verwirrt.
Wir waren aufgelaufen, aber die Woge, die dich umriß, machte zugleich das Schiff wieder flott. Wenn wir nur bald einen Ankerplatz erreichen, will ich den Schaden untersuchen lassen.
Gott Lob und Dank! flüsterte sie und faltete dankbar die Hände. Aber das Kind! fuhr sie plötzlich auf. Das Kind! schrie sie in wilder Angst.
Ragna! schluchzte Asmund. Wir haben unser Kind verloren.
Draußen in die See? fragte sie. Er ließ den Kopf sinken, und die Thränen liefen ihm die Wangen hinunter.
Und du hast nicht dein Leben dafür gewagt?
Nun sprichst du böse Worte, sagte er streng. Kann einer auf den Grund des Meeres tauchen nach dem, was man nicht mehr hört noch sieht? Und er war außer sich vor Kummer und Schmerz.
Da erst kam Ragna wieder ganz zu sich. Vergieb mir, mein Mann! bat sie leise. Dann richtete sie sich auf und drückte ihn an sich. Und nun weinten sie miteinander, und der Kummer wob ein neues Band um ihre treuen Herzen.
Aber während Asmund bei seiner eifrigen Thätigkeit auf ablenkende und erleichternde Gedanken kam, saß Ragna still da und brütete über ihren Verlust. Oft stand sie an der Reling und starrte auf die See hinaus, als ob sie hoffte, ihr Kind noch einmal zu sehen. Aber der ungeheure wogende Schlund zeigte seinen Raub nicht wieder.
Die Zeit verging. Das Leben der beiden verfloß wieder in derselben stillen Weise wie vorher, aber ihre Freude war in Ernst verwandelt worden und ihre lachende Hoffnung in stille Ergebung.
Nachdem wieder anderthalb Jahre vergangen waren, war Ragna abermals mit einem zwei Monate alten Kinde in ihrer Kajüte beschäftigt. Das warf Sonnenschein über die Dunkelheit der vergangnen Tage. Aber es gab trotzdem noch drohende Wolken am Himmel, denn das Kind war schwächlich. Die Mutter hatte den Schrecken jener Nacht noch nicht überwinden können, und so teilte das junge Leben das Unglück der Eltern. Es war auch wieder ein Knabe, und der Vater hatte ihn alsbald als eine Gabe Gottes zum Ersatz für das Verlorne begrüßt. Aber der Unterschied zwischen dem Verlornen und dem Wiedergewonnenen zeigte sich bald; und in einem Anfall von Kummer fielen ihm das neue Unglück und das alte mit doppelter Schwere aufs Herz und riefen eine bittere Stimmung in seinem Herzen hervor.
Es wird wohl auch sterben, sagte er, nachdem er lange schweigend das kleine magere Gesichtchen betrachtet hatte.
O sag das nicht! rief die Mutter und beugte sich weinend über das Kind.
Da flog der schwarzgeflügelte Gedankenvogel des Unglücks durch seine Seele, und er verwünschte den Vater, weil er all das Gute, dessen seine Frau und sein Kind entbehrten, für sich allein behalte.
Um des Heilands willen! schrie Ragna, nun bist du von Sinnen, Asmund!
Und er war es auch. Er stieß sie von sich, als sie ihn halten wollte, sprang auf und setzte sich droben aufs Verdeck, wo er sich einem Schmerzensausbruch hingab, der seinen kräftigen Körper erschütterte, wie der Sturm einen einsamen Baum auf dem Berge schüttelt.
Etwa einen Monat nach diesem Ausbruch – der übrigens eine Schwermut zur Folge hatte, die Asmund wortkarg und teilnahmlos machte – bekam er von seinem Vater den Auftrag, das Schiff unverzüglich einem zuverlässigen Manne zu übergeben und für ihn eine Reise anzutreten. Die »Firma H. Bjerke und Sohn,« ein Ausdruck, der vom Vater zum erstenmal gebraucht wurde, stand nämlich in Gefahr, eine bedeutende Geldsumme zu verlieren, und da der Vater den eignen Augenschein für besser hielt als den eines Rechtsanwalts, bat er den Sohn, sich zu beeilen und alles andre in den Hintergrund zu stellen, um die Angelegenheit zu erledigen.
Asmund war gerade in einem der größern Handelsorte eingelaufen, um eine neue Fracht zu suchen, da ihm aber die Verhältnisse nicht erlaubten, einen Fremden an Bord zu nehmen, steuerte er sofort einem andern Orte zu, wo er ruhig alles dem Schiffsjungen überlassen konnte, und wo zu gleicher Zeit die Einsamkeit herrschte, die notwendig war, Frau und Kind zudringlicher Neugierde zu entziehn.
Dann aber mußte er sich beeilen, das Dampfschiff zu erreichen, denn Christianssund war das Ziel seiner Reise. Es war, als ob Mann und Frau sich nie wieder sehen sollten, so schwer und hoffnungslos war dieser – ihr erster Abschied. Es war ihnen, als müßten sie über einen tiefen Abgrund. Aber die Notwendigkeit reichte ihnen die derbe Hand, und so kamen sie auch hinüber.
Es folgten schwere Tage und Nächte für Ragna, denn die Kräfte des Kindes nahmen ab. Und schon meldete sich der Herbst mit seinen Regenschauern und unwirschen Seewinden, und danach kam noch der lange, dunkle Winter; und wenn dieser den Tod mit sich brachte, wie sollte sie dann jemals wieder glücklich werden.
Darüber nachzugrübeln, das war Ragnas trauriger Zeitvertreib in der Einsamkeit. Aber sie verstand auch recht wohl, daß ihr größtes Unglück in dem Mißverhältnis zum Vater lag. Das war es, was Asmunds Herz verbitterte, und das war es auch, was Gottes Strafgericht auf sie und ihre Kinder herabrief.
So verlor sie sich tief in die Wüste, wo der Trübsinn nach und nach das Licht der Hoffnung verschlingt, wie die dunkeln Wolken die Sterne am Himmel verdecken.
Aber endlich brach nach vielen Regentagen doch wieder ein heller Morgen an. Die Sonne warf flimmernde Strahlen schräg in die Kajüte herein und über das magere Gesichtchen des Kindes. Da erhob sich Ragna, um ihm Schatten zu geben, aber was bekam sie zu sehen – das Kind lächelte! Lächelte das spielende Sonnenlicht an, das durch den Widerschein des Meeres wie ein Irrlicht hin und her tanzte, und die kleinen Kinderaugen leuchteten mit. Das kleine bleiche Kindergesichtchen hatte zum erstenmal ein Zeichen der Freude kundgegeben.
Ergriffen blieb Ragna stehn und schaute zu. Wollte Gott ihr damit einen Wink geben? Und hell wurde es plötzlich in ihren Gedanken, und der Mut kam zurück. Sie war immer schnell entschlossen gewesen, jetzt faßte sie sich langsamer – sie hatte ja jetzt auch viel mehr zu überlegen als sonst. Aber allmählich wurde sie sich doch klar, sie richtete ihr Gesicht nach oben im Gedanken an Gott und rief ihn zum Zeugen für ihren Entschluß an. Ja, sie wollte ihr Kind nehmen und zu Asmunds Vater gehn, sie wollte ihm sagen, was er wissen mußte – für alles andre wollte sie dann Gott sorgen lassen.
Sie war fest entschlossen. Keine Angst drückte sie, keine Sorge deswegen, daß das, was geschehn mußte, auch auf die rechte Weise geschehn werde. Um zwölf Uhr legte ein südwärts gehender Dampfer an einer anderthalb Meilen entfernten Haltestelle an. Wenn sie selbst mitruderte, konnte sie mit des Schiffsjungen treuer Hilfe zur rechten Zeit dort sein. Mit ihm besprach sie dann das Nötigste wegen der Beaufsichtigung des Schiffes, nur das Ziel ihrer Reise teilte sie ihm nicht mit. Niemand sollte es wissen, ehe es sich gezeigt hatte, wie ihr Unternehmen ausfiel.
Als sie zur rechten Zeit an der Haltestelle ankam und mit ihrem Kinde im Arm auf dem Schiffsdeck stand, wo ihr nach dem langen Aufenthalt in den kleinen Räumen der Jacht alles so unnatürlich groß vorkam, da ergriff sie wohl einen Augenblick ein Gefühl der Unsicherheit, aber das verging bald, und mit gutem Mute sah sie dem Kommenden entgegen.
Erst bei Sonnenuntergang erreichten sie den Wohnort des alten Bjerke, und hier wurde Ragna in einem seiner eignen Boote an das Land gerudert. Als sie sich dann mit eiligen Schritten dem Hause näherte, und es aussah, als flöge sie einem frohen Willkomm entgegen, da war ihre Eile doch mehr eine Flucht vor der Angst, die ihren Körper zu lähmen drohte. Aber es mußte geschehn.
Da draußen auf der Flur steht eine, die mit Euch reden will! rief ein kleines buckliges Frauenzimmer durch die geöffnete Thür zu Bjerke hinein.
Ist es die Vogelscheuche, die vom Strande her kam? fragte er giftig.
Das Mädchen antwortete nicht, und Ragna trat ohne weiteres durch die halbgeöffnete Thür hinein. Sie hatte ihr großes wollnes Tuch abgenommen und stand nun gut gekleidet, groß und sicher vor ihm. Eine Weile sahen sie sich forschend an; er hatte sofort ein Gesicht gemacht wie eine bissige Bulldogge, womit er die Leute abzuschrecken pflegte, aber daran kehrte sich Ragna nicht im geringsten. Jetzt war sie so fest, daß das Schlimmste auf der Welt sie nicht mehr wankend machen konnte.
Was wollt Ihr? fragte er und schielte nach dem Kinde.
Ich bin Asmunds Frau, und dieses ist sein Kind.
Meines Sohnes Frau? Mein Sohn hat keine Frau – hinaus mit euch – Lumpenpack! schrie er und schlug mit seinem Stocke auf die Tischplatte vor ihm, daß das Mädchen, das die Thür angelehnt hatte, einen Schrei ausstieß und die Klinke losließ.
Ihr müßt Euch nicht mehr Sünde aufladen, als Ihr wieder gut machen könnt; bedenkt, Ihr seid ein alter Mann! sagte Ragna sanft.
Der Teufel ist alt, aber ich nicht! schnaubte er. Dann gab er dem Mädchen an der Thür einen Wink und sagte: Ruf den Elias herein, daß er mir das Weibsbild hier zur Thür hinausschafft! – Ich will der Sache schon ein Ende machen! sagte er wieder zu Ragna.
Ja, Ihr könnt schon ein Ende machen, aber zuerst müßt Ihr mich anhören, antwortete sie fest. Und als jetzt das Dienstmädchen und der Knecht zur Thür hereinkamen, trat sie ihnen befehlend entgegen: Ihr habt hier nichts zu suchen, wo die Schwiegertochter mit dem Vater ihres Mannes allein zu reden hat, sagte sie. Alsdann schob sie die beiden gelinde hinaus und machte die Thür zu.
Und nun wandte sie sich wieder an den Alten. Aber wenn er vorher einem bissigen Hunde geglichen hatte, dann sah er jetzt aus wie einer, der den Schwanz hängen läßt. Es war, als sei er vom Kopf bis zu den Füßen vollständig kraftlos geworden – doch saß er noch immer da wie ein Hund, der darauf lauert, daß man ihm den Rücken kehre.
Aber Ragna kehrte ihm nicht den Rücken. Leichenblaß zwar, aber sicher und fest stand sie vor ihm, ihr Kindlein noch immer an der Brust wie einen heiligen Schutz gegen das Unrecht.
Asmund und ich sind nun seit drei und einem halben Jahre verheiratet, begann sie leise. Wir sind von einem Diener Gottes gesetzlich getraut und haben seither miteinander auf dem Schiffe gelebt. Da gebar ich mit Gottes und meines Mannes Hilfe mein erstes Kind. Es galt mein Leben, aber wir hatten ja einander das Gelübde gegeben, im Leben und Sterben zusammenzuhalten. Das war ein großer schöner Junge, und wie gedieh er! Da kam der Frühling, der Frühling, wo das Schiff auf den Grund lief – wir wollten südwärts fahren, um das Kind taufen zu lassen – Holger sollte es heißen –, aber die See entriß es meinen Armen, und wir sahen es nie wieder.
Sie hob ihr Kind einen Augenblick an ihr Gesicht, und ein Schluchzen entrang sich ihrer gepreßten Brust. Doch schnell überwand sie ihre Schwäche und fuhr fort:
Aber zum Unglück trat Sünde hinzu. Denn wir dachten, wenn Ihr so gewesen wäret, wie Ihr hättet sein sollen, dann wäre der Junge am Leben geblieben – er hätte mit dem Großvater gespielt und einmal, als ein prächtiger Jüngling, seinem Namen Ehre gemacht. Statt dessen kam ein Fluch über ihn wie über uns auch. Das möge Euch Gott verzeihn.
Der alte Bjerke drückte die Augen zusammen, als ob er das Tageslicht nicht ertragen könnte.
Es vergingen fünfviertel Jahre, und dann kam das arme Würmchen zur Welt, das ich hier auf dem Arme habe. Wir haben es gepflegt, so gut wir konnten, aber auf der Jacht war wenig Platz und wenig Licht – und das Kind wurde immer kränker und kränker. Da war das Unglück wieder da mitsamt der Sünde – wir setzten Fluch gegen Fluch: Warum mußte er weiter leben, der an allem Unglück schuld war?
Still! schrie der Greis und blickte entsetzt auf.
Ja – so ist es; aber wessen Schuld war es? Dann reiste Asmund nach Christianssund. Da war es gestern früh, daß die Sonne einen kleinen Strahl in die Kajüte warf, und da lächelte das arme Würmchen. Gott und Vater! Und es wandte seine Äuglein der Sonne zu. Ich dachte an das große Haus, wo Ihr wohntet, und an die Pflege, die dem Kinde hier zu teil werden könnte – und da kam es über mich, daß ich nicht mehr an das Böse glauben wollte und zu mir sagte: Wir sind es nicht, die dem alten Vater das Leben mißgönnen, sondern das Unglück ist es, denn dieses denkt sich immer so viel Böses aus. Ich will zu ihm gehn und ihm dieses kleine Leben bringen, und wenn er es aufnimmt, dann nimmt er wohl Vater und Mutter auch auf. So, nun müßt Ihr so handeln, wie Ihr es über das Herz bringt. Aber wenn Ihr mich mit dem kranken Kinde vom Hofe jagt, dann jagt Ihr uns beide in den Tod und vielleicht Euern Sohn dazu.
Der alte Bjerke wiegte sich unruhig hin und her. Es war, als brenne der Sitz unter ihm, und er sah Ragna fast ängstlich an. Plötzlich faßte er sich, schlug aufs neue mit dem Stock auf den Tisch und räusperte sich wie ein heiserer Kommandeur. Ragna schwankte zurück, und es dunkelte ihr vor den Augen. Aber zugleich erschien das verschüchterte Gesicht der Buckligen unter der Thür.
Der Elias soll anspannen und den Doktor holen! donnerte der Alte. Und du machst Feuer im Ofen und bringst Asmund seine Zimmer in Ordnung. Aber Tod und Teufel! das soll gehn wie das Wetter! Verstehst du mich?
Ja! Sie verstand ihn, sie traute nur ihren eignen Ohren nicht. Aber nun flog sie mit dem Befehl zur Thür hinaus, und er wurde in aller Eile ausgeführt, denn des alten Bjerkes Leute hatten gelernt zu gehorchen.
Jetzt verstand auch Ragna den Sinn seiner Worte. Aber dieser Erfolg ergriff sie so heftig, daß sie plötzlich meinte, auf den Boden sinken zu müssen. Hätte der harte Mann sie vom Hofe gejagt, so hätte sie ihn mit festen Schritten verlassen, aber jetzt, wo sie den Sieg gewonnen hatte, war an ihrem ganzen Körper kein Glied, das nicht vor Schwäche gebebt hätte. Sie taumelte auf einen Stuhl, und das Kind an ihr thränenüberströmtes Gesicht drückend gab sie sich einer Gemütsbewegung hin, die ihren ganzen Körper erschütterte.
Währenddem saß der alte Bjerke in seinem Lehnstuhl und beobachtete sie; er trommelte mit den Fingern auf dem Tisch, als wolle er sich das, was er sah, genau aufzeichnen. Das Bullenbeißergesicht aber war verschwunden, nur ein wenig von einem alten Filou war wieder da – seinen ganzen geistigen Anzug zu wechseln, das ging nicht nur so im Handumdrehn! – Und nun kam das Mädchen mit dem Bescheid, daß alles bereit sei.
Das gab Ragna die Besinnung zurück. Sie erhob sich und sah sich mit einem zärtlichen Blick im Zimmer um. Das sollte nun also ihre Heimat werden, die Heimat ihres Kindes. Dann schritt sie langsam vor über die Dielen – noch zitterten ihr die Kniee, wie jemandem, der sich nach einer kurzen Ruhe wieder erhebt –, bis sie vor dem alten Manne stand. Da nahm sie dem Kinde alle Umhüllungen ab und hielt es ihm entgegen, während er ganz überwältigt dasaß und zusah und gar nicht wußte, was er thun sollte.
Seht, sagte Ragna mit leiser Stimme, das sieht nicht aus wie Leben. Aber nun nenne ich es hier Holger Bjerke im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes! Legt ihm nun die Hand auf, damit es mit Euerm Segen sterben kann.
Der alte Mann zuckte zusammen. So nahe war ihm Gott noch nie gekommen. Aber er verstand die Handlung und beschrieb schnell eine Art Kreuz über der kleinen Brust. Danach verbeugte sich die Mutter demütig vor ihm und wandte sich der Thür zu.
Aber nun war der alte Bjerke auf eine Höhe gestiegen, auf der er in seinem ganzen Leben noch nie gestanden hatte – er war sozusagen ein Stück über sich selbst hinausgewachsen. Mühsam erhob er sich und winkte ihr mit der Hand zu: Ich habe die Ehre, dich in meinem Hause willkommen zu heißen, Schwiegertochter! Darauf machte er ihr ein Zeichen, daß sie sich entfernen solle. Und glücklicherweise ging sie nicht dem Tode entgegen, sondern dem Leben und der Gesundheit für sich und ihr Kind.
*
Unterdessen entledigte sich der Sohn so gut er konnte seines Auftrags, aber die Sache zog sich in die Länge. Ein paar mal hatte er an seine Frau geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Das machte ihn besorgt, und nach Verlauf eines Monats gab er die ganze Sache auf und reiste heim. Aber das Herz hatte sein Heim, und die Rechnungsablegung ein andres; kein Wunder, daß er zuerst der Richtung seines Herzens folgte.
Hier erfuhr er indes eine bittere Enttäuschung. Wohl hatte der Schiffsjunge alle bewegliche Habe in gutem Stande erhalten, aber die Kajüte war leer, und auf die verzweiflungsvollen Fragen des Mannes konnte der Junge immer nur die eine Antwort geben, daß er die Hausfrau auf das Dampfschiff begleitet habe, und nichts weiter. Von dort aus aber gab es viele Wege, und Asmund grübelte über alle nach. Schließlich blieb er in seinem Zweifel und seinem Trübsinn an einem stehn – gerade dem Schlimmsten von allen –, sie hatte ihn freiwillig verlassen. Sie hatte das unstete Leben nicht länger ertragen können, und deshalb hatte sie nicht an ihn geschrieben.
Aber er wollte, er mußte sie wiederfinden! Und dann – ob nun der Vater ja oder nein dazu sagte – mußte das unruhige Leben auf der See aufhören. – Vielleicht waren auch die Briefe fehl gegangen! Vielleicht war sie krank – vielleicht war das Kind tot! Es stiegen so viele Vermutungen in ihm auf, daß er am nächsten Tage im Hause des Vaters wie ein vom Schicksal gehetzter Mann eintraf. Ohne sich aufzuhalten trat er in die Stube, wo der Alte saß – und merkwürdig vergnügt aussah, worauf aber Asmund in seiner trüben Stimmung wenig achtete.
Er gab nun dem Vater eine kurze Erklärung über die Geldangelegenheit. Aber dieser schien der Sache wenig Wichtigkeit beizulegen.
Du kommst mir nicht besonders gut aufgelegt vor, sagte der Vater barsch.
Ich bin auch nicht gut aufgelegt, antwortete der Sohn kurz.
Das ist schlimm für dich.
Nun, es kommt darauf an, sagte Asmund; vielleicht wird es eben so schlimm für dich. – Kurz und gut, Vater – ich habe mich verheiratet – und ich habe im Sinn, mit meiner Frau zusammen zu leben.
So, du hast dich verheiratet? wiederholte der Alte mit einem listigen Zug um den Mund. Wo hast du denn da dein Weib?
Asmund strich sich mit der Hand über die Augen und schwieg eine Weile. Dann aber faßte er sich schnell und übergab dem Vater die Brieftasche. Hier hast du die Papiere über die Geldangelegenheit, das übrige erfährst du vom Anwalt. Ich muß gleich wieder fort. Das Boot ist bestellt – leb wohl, Vater!
Nein, halt – wart ein wenig, Junge! brach der Alte los. Fahr doch nicht los wie eine Windsbraut! Geh in deine Stube, dort ist noch verschiedner Plunder, den du zurückgelassen hast.
Den kann ich ja ein andermal mitnehmen.
Nein, zum Henker, du sollst ihn jetzt im Augenblick holen! Ein Andermal ist ein Schelm!
Der Sohn warf ihm einen zornigen Blick zu – und ging über die Flur nach seinem Zimmer. Aber der alte Bjerke lachte für sich, bis er seinen Hustenanfall bekam, und auf den fluchte er, bis es half.
Mittlerweile erlebten Mann und Frau drinnen in Asmunds Stube einen glücklichen Augenblick. Was vorausgegangen war, brauchte keine lange Erklärung – die Wirklichkeit sprach für sich selbst.
Gleich darauf standen die beiden glücklichen Menschenkinder vor dem Greise, und was nie vorher geschehn war, das geschah nun: als Asmund den Vater küßte, brach dieser in Thränen aus. Er weinte, bis der Husten wieder kam; damit hatte er einen Ausweg, auf dem er vor sich selbst flüchten konnte, denn nun konnte er diesen wieder in die Hölle verfluchen. Aber entweder wußte der den Weg nicht dorthin, oder er verirrte sich unterwegs, denn er setzte sich so hartnäckig fest im Halse, daß der Sohn den Alten auf den Rücken klopfen mußte.
Jetzt hole ich das Kind! rief Ragna und eilte hinaus.
Ja – das ist ein Frauenzimmer! sagte der Alte erleichtert, als ob Ragna eine Erfindung von ihm selbst wäre. Sie drückt sich nicht in die Winkel und hinter die Thüren. Geh aus dem Weg, Vater! heißt es. Recht soll Recht bleiben!
So, hier haben wir den kleinen Holger Bjerke! sagte Ragna strahlend und hielt ihm das Kind hin.
Ist er denn schon getauft? fragte Asmund und nahm ihr den Jungen ab.
Ja, gewissermaßen, antwortete der Vater, aber es muß wohl noch einmal gethan werden.
Ich glaubte ja, er sei am Sterben, sagte Ragna, und da wollte ich nicht, daß er wie das andre arme Wesen ungetauft zum lieben Gott kommen sollte!
Und da taufte sie ihn selbst! setzte der Greis stolz hinzu. Gerade hier vor mir – und ich war Zeuge, jawohl! Und das muß ich sagen, nie vorher hatte ich in diesem Hause etwas von der Nähe Gottes gespürt, aber an dem Tage war er da, das ist ganz gewiß. Und seither hat er immer einmal hereingeschaut – aber das ist Ragnas Verdienst, ja, ihr Verdienst ganz allein.
Ach du, Ragna! rief Asmund und zog seine Frau innig an sich. Du bist stark! Und ich konnte den feigen Gedanken fassen, daß du mich verlassen hättest. Da wäre ich ja mein ganzes Leben lang ein heimatloser Mann geworden!
Heimatlos war ich, als ich dich traf, Asmund, sagte sie und schmiegte sich zärtlich an ihn an.
Nun, eine Heimat sollt ihr bekommen, und zwar eine schöne! sagte der Alte. Niemand soll mir deswegen fluchen dürfen, nein. Übrigens mußt du wissen, mein Sohn, daß ich überhaupt über niemand mehr fluche – nur über den Husten da – denn den hat der Teufel erfunden!
Die jungen Leute lachten einander an, sie begriffen es wohl, daß es nicht so leicht sei, ein so altes Laster los zu werden.
Und nun kam die Sherryflasche auf den Tisch – denn dieser Tag verlangte absolut, daß man anstieß. Und so richtete sich der alte Bjerke mühselig auf seinen wackligen Beinen auf und nahm das Glas in die Hand. Ja – so heiße ich also meine Kinder willkommen! sagte er würdig, während er zur Zimmerdecke hinaufschaute. Und dann wurde angestoßen und getrunken.
Nun haben wir uns zum drittenmal gefunden! sagte Ragna.
Ja, und nun sind wir daheim! jubelte Asmund und umarmte Gattin und Kind.