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Es gibt Menschen, denen wir bei dem ersten Wort, das sie vorbringen, unseren Glauben versagen. Nicht aus dem Grunde, weil wir sie für Lügner halten; ihre Berichte sind von photographischer Treue, sie lügen nie, denn sie sind überzeugt, daß eine Lüge so etwas ist, wie ein Käfer, der heute oder morgen doch eingefangen wird und aufgespießt. Aber die Existenz der Dinge, an die ihr Gespräch rührt, ist in Frage gestellt. Sie reden von dem Tisch vor unseren Augen, und schon beginnt er zu verblassen und endlich in Nebel zu zerfließen. Es sind Menschen, deren Boden zu steinig ist, um eigenen Empfindungen Nahrung zu geben; sie leben nur von dem, was sie aus ihrem gesellschaftlichen Kreise importieren. Also sind ihre Äußerungen Lüge nach Form und Inhalt. Sooft diese harpyienartigen Geschöpfe unseren Weg kreuzen, fühlen wir uns entmutigt und welk. Von glaubhaften und unglaubhaften Dingen zu reden, ist ganz irrig; kein Ding hat je den Glauben, den wir ihm entgegenbrachten, betrogen. Nur der Mensch wirkt auf unseren Glauben; er erweckt und stärkt ihn, oder er vernichtet ihn. Und diese Menschen, die allen Dingen den Duft abzustreifen bedacht sind, indem sie unaufhörlich die Notwendigkeit sachlicher und nüchterner Auffassung betonen, ahnen nicht, daß sie mit ihrem positivistischen Kehrbesen recht eigentlich als die Eskamoteure der Wirklichkeit dastehen.
Trifft uns aber einmal von irgendwoher, aus eines Menschen Zwiegespräch mit seiner eigenen Seele oder mit der Seele des Alls, ein Wort, das sich der Tiefe des Erlebens entrang und den Geruch der Erde noch an sich trägt, dann erwacht unser Glaube und beginnt langvergessene Melodien anzustimmen, die er vielleicht in den Tagen der Kindheit wußte. Die Würzigkeit des Da-Seins dringt in unsere Poren, die drückende Welt des Alltäglichen verwandelt sich in den Garten Eden, dessen Köstlichkeiten wir wie zum erstenmal genießen. Dem Manne, der uns so für einen glücklichen Augenblick den Zauber der Wirklichkeit wieder zu spüren gab – wir fragen noch nicht, wieso er es vermochte –, dem glaubt unser dankbares Gemüt hinfort alles, was er erzählt. Was er sieht, wird auch für uns lebendig, mag er vom Winter, von der Bhagavad-Gita, von der Bisamratte oder von der Freundschaft reden. Wir fragen nicht, ob seine Worte mit Kunst gesetzt sind, oder ob sie schlicht einherkommen als die eines einfachen Handwerksmannes; eine solche Frage, die unserer künstlich zerlegten Persönlichkeit entspringt, kommt nicht auf unsere Lippen. Wir fragen ihn nicht nach Gut und Böse, nicht nach Schön und Häßlich, nicht nach den Vorteilen einer Republik oder der akademischen Bildung, nicht nach der besten Art, die Gunst der Frauen zu erwerben, nicht nach der Bedeutung Miltons für die englische Literatur, wir atmen nur erquickt und wie von einem Alp befreit in seiner Atmosphäre und genesen von den Wunden, die die unheilvolle, vernunftmäßige Zerstückelung unseres Wesens mit sich brachte.
Ein solcher Mann, dem wir glauben müssen, ist Thoreau.
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Henry David Thoreaus, des Amerikaners, Tat war sein Leben als Naturerscheinung und Gesamtphänomen. Man denke jedoch hiebei nicht daran, daß er mit eignen Händen die Hütte zimmerte, die er zwei Jahre lang bewohnte; auch nicht daran, daß er sich weigerte, dem Staat eine Steuer zu zahlen, und deshalb ins Gefängnis gesetzt wurde; man denke überhaupt nicht an die sichtbar gewordenen Einzelhandlungen, so wenig wie an die Einzelgedanken, die sich aus seinen Werken herausschneiden lassen. Die Konsequenz, mit der er seinen Grundsätzen nachlebte, wird häufig gerühmt; dieses Lob ist jedoch nicht unbedenklich, weil es falsche Vorstellungen über den Schwerpunkt seiner Persönlichkeit erweckt. Daß er in vollkommener Übereinstimmung mit seinen Gedanken lebte, geschah nicht aus Pedanterie; er dachte nicht daran, seine Ansichten dem Publikum an praktischen Beispielen vorzuführen. Diese Meinung konnte nur aus der naiven Eitelkeit des Publikums entstehen, das seinen Beifall für so unendlich wichtig hält und von dem Urquell nichts ahnt, aus dem in einzelnen, ganz seltenen Menschen Gedankenwelt und Leben als eine Einheit fließen.
Und eben dieser Quell in Thoreaus Natur, dieses Lebendige in seinem Leben, dieses Leuchtende im Mittelpunkt seiner irdischen Erscheinung und seiner Werke, sei als das Bedeutsame an ihm erfaßt.
Um zur Kenntnis dieses Lebens zu gelangen, brauchen wir uns an keinen Biographen zu halten, keines Freundes Berichte nachzuschlagen, die, wie die Berichte der Freunde überhaupt und der literarischen im besonderen, zuweilen wohlwollend, meistens übelwollend, unter allen Umständen aber mißverstehend sind und nie das Wesentliche zu treffen, sondern nur von Abschnitzeln zu sprechen wissen – wohl, weil das Nahesehen die Einzelzüge zu stark hervortreten läßt. Wir können den vollen Reichtum und die einfache Schönheit dieses Lebens in Tagebüchern miterleben. »Ist der Dichter nicht gebunden, seine eigene Biographie zu schreiben?« notiert er einmal, »gibt es für ihn ein anderes Werk als ein gutes Tagebuch?« Dieses Dichterwerk hat Thoreau vollbracht. In mehr als dreißig starken Bänden Manuskript, die erst seit kurzem in vollständiger englischer Ausgabe vorliegen, ist es enthalten. Während seines Lebens kam nichts daraus zur Veröffentlichung; das heißt: nicht mehr, als Thoreau selbst in seine übrigen Arbeiten, die zum großen Teil aus Tagebuchnotizen aufgebaut sind, übernahm. Im Alter von zwanzig Jahren begann er, vermutlich auf Emersons Anregung, seine Aufzeichnungen, und er führte sie fort bis zu seinem Tode. Wer diese Tagebücher zur Hand nimmt, wird nicht allein verzichten können, die Zusammenstellungen eines Datenreporters zu lesen, er wird sie sogar mit Bedacht vermeiden. Wenn die Ansicht richtig ist, daß die Lebensumstände aller bedeutenden Männer ein Ausfluß ihrer Persönlichkeit sind, so gilt sie jedenfalls in erhöhtem Maße für Thoreau. Denn er gehörte nicht zu denen, »die klagend berichten, was ihnen das Universum antat,« seine Art ist vielmehr die solcher, »die erzählen, wie sie dem Universum ein Ereignis wurden«.
Zum Verständnis der knappen Auswahl, die in diesem Bande geboten wird, erscheinen allerdings einige Angaben über den Lebenslauf als unerläßliche Ergänzung. Doch soll vorerst der Versuch gemacht werden, die Eigenart des Denkers, wie sie in den Werken und besonders in den Tagebüchern hervortritt, zu skizzieren; gewissermaßen also zuerst die Hand kennen zu lernen, die dieses bestimmte Leben formte. Die Eigenart in vollkommener Losgelöstheit von Einflüssen, Vorgängern und Freunden, die raumlose und zeitlose Eigenart. Es kann nicht oft und nicht nachdrücklich genug betont werden, daß das, was ein Dichter oder Philosoph (Philosoph in des Wortes tiefster Bedeutung und in Gegensatz zu Gelehrtem in philosophicis) für seine Zeit oder für die unsere bedeutet, zwar kulturhistorisch von Interesse sein mag, mit dem inneren, absoluten Wert jedoch nichts zu schaffen hat. Thoreau klagt einmal darüber, daß die Kritik die Dinge noch niemals so beurteilt habe, wie sie im Schoße der ewigen Schönheit daliegen, sondern immer bemüht sei, sie nach der Mode des Tages zu kleiden.
Denen aber, die sich einem Fremden gegenüber nicht wohl fühlen, solange sie ihm nicht eine Ähnlichkeit mit dem Vetter ihres Schwagers, oder mit dem Porträt ihres verstorbenen Großonkels anentdeckt haben, sei verraten, daß sie bei Thoreau sicherlich Züge finden werden, die ihnen aus Lao-Tse, Zeno, Angelus Silesius, Maeterlinck, Nietzsche, Tolstoi und anderen wohlbekannt sind.
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»Mein Tagebuch ist der Teil meiner selbst, der sonst überfließen und verloren gehen würde, eine Ährenlese von dem Feld, dessen Ernte ich in Tätigkeit einbringe. Ich lebe nicht dafür, sondern darin für die Götter. Sie sind meine Korrespondenten, denen ich täglich dieses Blatt franko zusende. Ich bin Buchhalter in ihrem Kontor und übertrage am Abend die Rechnung von der Kladde ins Hauptbuch. Mein Tagebuch ist ein Blatt, das über mir auf meinem Wege hängt. Ich biege den Zweig herab und schreibe meine Gebete darauf. Dann lasse ich ihn los, der Zweig schnellt zurück und zeigt mein Geschreibsel dem Himmel, als läge es nicht in meinem Pulte eingeschlossen, sondern als wäre es ein Blatt, so offen wie irgend eins in der Natur. Gleichwie die welken Blätter in jener Vase dort, so wurden diese hier von nah und fern zusammengelesen. Bergland und Niederung, Wald und Feld hab ich geplündert.« An anderer Stelle nennt Thoreau sein Tagebuch »einen Kalender der Gezeiten der Seele« und sagt, es enthalte die Geschichte seiner Liebe. Er habe die Dinge gebucht, die er liebe, und die Seite der Welt, an die er gerne denke. Und in der Tat, es finden sich wenige Bücher in der Weltliteratur, die so gar nicht nach einem Leser schielen, wie dieses. Der Leser ist nicht mit Vorbedacht ausgeschlossen; findet sich ein Freund, der lauschen will und verstehen kann, so ist er willkommen. Aber auf einen Menschen Rücksicht zu nehmen, sei es im Gedankenablauf, im Sehwinkel oder in der Stilisierung, daran konnte Thoreau niemals denken; er war es wohl auch nicht imstande. Denn der Blutkreislauf in diesem Buch vollendet sich zwischen dem, der es schuf, und der Gottheit, der es galt. Eben diese Isoliertheit vom Menschen, vom Menschen in seiner grotesken Geschäftigkeit um Strohhalme und Steinchen, diese unabgezweigte Linie zwischen Erde und Himmel, bildet das eine Charakteristikon von Thoreaus Person. Das zweite tritt gleichsam als positiver Pol zu diesem negativen hinzu: es ist seine Unfähigkeit, von den Dingen der Welt und also auch vom Menschen als solchem anders zu reden, als wie sie im Glanze seiner Liebe dastehen. »Die einzige Möglichkeit, wahr zu sprechen, ist: mit Liebe sprechen. Der Intellekt sollte nie sprechen; er bringt keinen natürlichen Ton hervor.«
Die Heiterkeit, die aus allen seinen Schriften aufsteigt, ist die natürliche Folge dieser Art, die Wahrheit zu sprechen.
Der Boden, in dem Thoreaus Fühlen und Denken wurzelt, die Kuppel, die sich über seinen Tagebüchern wölbt – und was für die Tagebücher gilt, gilt im großen und ganzen für alle seine Schriften – ist die Natur. »Natur« ist das Wort, das auf jeder Seite wiederkehrt, das immer und immer wieder an unser Ohr schlägt, kräftig betont und flüchtig vorübergleitend, in tausend Verbindungen: wenn er in Einsamkeit sinnt, wenn er Shakespeare liest, die Axt führt oder das Erblühen der fringilla hiemalis beobachtet. Obgleich er von ihr mit der größten Zärtlichkeit spricht und in dem vollen Herzen, das für sie schlägt, Worte von so innigem Klang findet, daß neben seinem eines jeden anderen Hymnus und Preis auf sie wie dürre Rhetorik klappert, ist doch in seinen Ausdrücken nichts von knabenhafter Schwärmerei zu spüren. Seine Beziehung zur Natur ist die Liebe eines Mannes, der seine Liebe erwidert weiß. Er hat es nicht nötig, sich nach ihr zu sehnen, denn sie wohnt so selbstverständlich in ihm, wie er in ihr. Der Streit, der unter englischen Literatur- und Naturforschern über seine Qualitäten als Naturbeobachter besteht, ist daher ganz müßig. Während manche der Ansicht sind, seine Beobachtungen in Wald und Flur seien ganz oberflächlich und hätten unser Wissen um die Natur nicht gefördert, behaupten andere, er habe hochbedeutsame Entdeckungen gemacht. Die Richtige liegt auch hier, wie meistens, nicht in der Mitte, sondern auf einer ganz anderen Ebene. Inwieweit er die Gewohnheiten einer Tierart schärfer beobachtet als ein anderer, das Gurgeln des Kuhvogels richtiger phonetisiert und das Erblühen des Aronstabes mit dem sechsten oder achten April genauer angibt, ist zweifellos von untergeordnetem Interesse. Thoreau besaß nicht den Ehrgeiz, unter die von Schopenhauer als Topfgucker der Natur verspotteten »überaus mikroskopischen und mikrologischen Naturforscher« eingestellt zu werden, die an ihren Schalen klauben und für den Kern kein Organ besitzen; und ihn mit ihrem Maße messen, heißt den Wert einer Tragödie nach ihrem Gehalt an historischer Richtigkeit beurteilen. Seine Beobachtungen unter freiem Himmel verschmelzen mit der höchstpersönlichen Art ihrer Darstellung zu Gebilden von künstlerischem Saft und Zauberbann.
Aber auch wer den nackten Kern dieser zu Dichtungen kristallisierten Naturkenntnisse herauslösen will, bekommt eine Materie in die Hand, die sich der Kompetenz des Zoologen und des Botanikers entzieht. Denn was Thoreau beobachtet, ist nicht das, was das unkeusche Auge des Spähers sieht, nicht, was der Neugierige sieht, der wissen, oder der Praktikus, der verwerten will, sondern er betrachtet das, was ihn mit der Natur verknüpft, sein Fühlen und Leiden mit ihr, seine Freude an ihr, seine Vorausahnung ihrer Ergebnisse. Ihm ist sie weit mehr und anderes als ein Forschunggebiet für das Auge und die Hände, sie ist in erster Linie der inneren Wahrnehmung zugänglich als der Tropfen Blut, der jedem kleinsten Teilchen der Schöpfung gemeinsam angehört und die Verwandtschaft aller Wesen begründet als das Leben-Wirkende, welches jedem Dinge sein Dasein und seine Schönheit verleiht. Alles Vielerlei sind Kräuslungen der Oberfläche, die ihm nichts sagen; er hört nur das gewaltige Brausen des Ur-Einen, den Urgrund der Schöpfung. Natur ist für Thoreau die Antwort auf das Bedürfnis, das in höherem oder geringerem Maße, mit klarerem oder dämmrigerem Bewußtsein allen Menschen innewohnt, auf das Bedürfnis, dem Chaos zu entrinnen, das Eine in die Hand zu bekommen, das alles ist. Was bei Schopenhauer der Wille heißt, bei Schelling das Absolute, bei den Indern das Brahman, bei Lao-Tse das Tao, das heißt bei Thoreau Natur oder Genius, auch das Wilde und der Westen. Alle irdischen Erscheinungen, von denen er spricht, von Chaucer über den Klang des Waldhorns bis zur Fuchsspur, sind dergestalt im Unendlichen verankert.
Für diese geistige Artung, die durch die Vermittlung des englischen Dichters Coleridge aus Deutschland nach Amerika kam, wurde der Name Transzendentalismus geprägt, den man prompt zu hören bekommt, sobald man Concord erwähnt und von Emerson, Bronson Alcott oder Thoreau spricht. Er ist so lange ungefährlich, als er nicht das Schreckgespenst eines philosophischen Lehrgebäudes wachruft.
Es ist durchaus wesentlich, sich darüber klar zu werden, daß Thoreau kein Theoretiker ist, der sich bemüht, seine Auffassung von der Welt intellektuell zu ordnen und begrifflich festzunageln – wie er sich gegen jegliches Festnageln überhaupt sehr ablehnend verhält. Sein Streben ist lediglich darauf gerichtet, seine Seele so wach zu erhalten, sein Ich so sehr zu weiten, daß er mit allen Fasern seines Seins das Pulsieren der Allseele spüren möge. Nie entfernt er sich fühlbar von der Anschaulichkeit, nie sind seine Betrachtungen weit hergeholt aus fernen und nebligen Provinzen des Geistes; seine Gedanken sind niemals das Ergebnis einer kühlen Überlegung und einer objektiven Durchleuchtung, sie sind Erlebnisse. Der Geruch des Stückchens Erde, das ihnen Nahrung gab, hängt noch an ihnen, auch wenn sie von der Wurzel weggeschnitten sind. Zu gewissermaßen freischwebenden Urteilen gelangt er niemals; kein wissenschaftlicher Geist hat seine Erlebnisse entseelt und mumifiziert. Deshalb dürfen seine Aussprüche auch nicht als Lehrsätze verstanden werden, nicht als Anweisungen fürs praktische Leben, nicht als Geldstücke, mit denen ein glückliches Dasein zu kaufen ist – wiewohl die Mehrzahl seiner Landsleute ihn ihrer eignen Sinnesart gemäß nicht als den Dichter des metaphysischen Bedürfnisses, sondern als den Verkünder hygienischer Weisheiten preist –: seine Aussprüche sind die Blüten eines Menschendaseins.
Nachdem auf diese Weise festgestellt ist, daß das Leben für Thoreau keine Fächer und Spezialgebiete besaß, daß es also eine Fälschung seiner Persönlichkeit bedeuten würde und von ihm weg statt zu ihm hin führen müßte, wollte man die Gedanken dieses rhapsodischen Denkers in ein System zwängen, sei noch ein Wort über die Art der Entstehung und über die Form der Tagebuchnotizen hinzugefügt.
»Ein Buch der Jahreszeiten, das Seite für Seite in Übereinstimmung mit der Jahreszeit unter freiem Himmel geschrieben wäre, an der Stätte selbst, wo immer es sein möge.« Auf den langen einsamen Wanderungen durch die Wälder in der Umgebung von Concord, nach Fairhaven Bay und dem Waldenteich, nach Anursnack Hill und Nashawtuck notiert er seine Beobachtungen und die Gedanken, die sie ihm erregten, flüchtig auf ein Blatt, um sie in den Abendstunden sorgfältig durchgearbeitet in seine Hefte zu übertragen. Dieser Wanderungen bedurfte Thoreau wie des täglichen Brotes; er bedurfte ihrer zu seiner Sammlung, denn nur im Freien war es ihm möglich, sich auf sich selbst zu besinnen. Je länger der Marsch gedauert hatte, desto reicher war die geistige Ausbeute, die er heimbrachte. War er mehrere Tage verhindert, das Zimmer zu verlassen, so wurde er sanftmütig, konnte – er erzählt es selbst – von einer pathetischen Geschichte bis zu Tränen gerührt werden und schrieb keine Zeile.
Die Aufzeichnungen in den Tagebüchern lassen drei Perioden innerer Entwicklung erkennen. Die erste reicht ungefähr bis zur Zeit des Aufenthaltes am Waldenteich. Die Anschauungen haben hier die schärfste und knappste Prägung; die Formulierung des Gedankens besitzt jedoch noch nicht die volle Plastizität. Die Brücke zur Um- und Außenwelt ist noch nicht gefunden. Der innere Ansturm ist am heftigsten und gewährt der Inspiration durch die Sinne den geringsten Raum. Die zweite Periode ist die reichste und blühendste. Das Gleichgewicht zwischen Innenwelt und Außenwelt erscheint vollkommen hergestellt. Allgemeine Betrachtungen fließen zum größten Teil unmittelbar aus Begebenheiten des Tages und aus Wahrnehmungen im Freien. An einem Frühlingsmorgen sieht er einen Schwarm Trupiale über die Felder fliegen und der diesen Bericht betauende Hauch einer Bemerkung über die Wellenbewegung des Wechsels verleiht der kurzen Notiz den Reiz eines unendlich zarten Pastellgemäldes. Sein Denken wird immer bilderreicher und körperlicher, die Kunst der Schilderung immer packender. Gegen Ende seines Lebens überwiegt mehr und mehr das Detail der Beobachtung. Die irdische Scholle im landläufigen Sinne hält ihn stärker gefesselt. Die künstlerische Vollendung in der Darstellung erleidet keine Einbuße, aber in dem dichterischen Akkord schwingt ganz leise eine Note von Sachlichkeit mit. Wohl ist die Heiterkeit noch immer da, aber sie zwingt nicht mehr; der mitreißende Schwung läßt nach. Die Überwindung des greifbaren materiellen Faktums scheint schwieriger zu werden; Erdenschwere macht sich geltend. Mit jener Schärfe des inneren Sinnes, die ihm die feinsten Regungen der Seele zu erlauschen gestattet, trägt er noch in den freiesten Tagen die ersten Vorboten dieser Wandlung ein: »Ich glaube, ich bin jetzt mehr in die Natur versenkt; ihr gehorcht mein intellektuelles Leben besser als früher, vielleicht aber weniger gut dem Geist. Meine Jahreszeiten werden weniger erinnerungswürdig. Ich stelle geringere Ansprüche an mich selbst; ich bin auf dem Wege, mich an meine Niedrigkeit zu gewöhnen, meinen Tiefstand hinzunehmen. O, könnte ich unzufrieden sein mit mir! könnte ich Schmerz und Qual empfinden bei jedem Schritt abwärts!«
Was Thoreaus Tagebücher vor allen Tagebüchern, die wir kennen, auszeichnet, was sie unter seinen eigenen Werken über seine gerühmteren und besser bekannten erhebt, ist das Wunder, das dem Leser in ihnen geboten wird, das Werden des Dichtergedankens mitzuerleben. Wir meinen, daß wir mit ihm an einem Märztag früh aufbrechen, um nach Pfeilspitzen von Indianern zu suchen, daß seine Freude über ein schönes, aber zerbrochenes Schneckenhaus die unsere ist und daß es unsere eignen Worte sind, die sich ihm aus dem Innersten losringen: »Ich kann nicht umhin, es für edler zu halten, wie es ja auch seltener ist, die Schönheit eines Dinges zu würdigen, als Mitleid zu empfinden mit seinem Mißgeschick.« In jedem Satz spüren wir das Zucken eines poetischen Empfindens in einer Seele; sein Werden, bevor es die starre Form gewann. Thoreaus ganzes Tagebuch ist wie das Morgenrot eines künstlerischen Empfindens. Vor unseren Augen vollzieht sich sozusagen die Transsubstantiation der Allnatur in eine Dichternatur, der Übergang von Sein zu Bewußtsein. Seine Worte sind die des Dichters im Augenblicke der Empfängnis; sie sind das, was das zuerst Faßbare an einer Inspiration war, bevor des Dichters Selbsterhaltungstrieb rege wurde und ihn zwang zu gestalten.
Wer ihn verstehen will, lasse das logische Rüstzeug, mit dem der Verstand zu arbeiten gewohnt ist, zuhause. Dem, der nicht vergessen will, daß er tagsüber im Kontor sitzt und abends zum Frackanzug den weißen Schlips zu binden hat, dem bleibt Thoreau stumm. Dem aber wird sich die Logik seines Wesens eröffnen, der weder als brothungriger Bettler noch als goldgieriger Wegelagerer durchs Leben geht, der nicht an jeder Wegkreuzung die Verhältnisse und die Menschen nach Wahrheitwerten, nach Schönheitwerten oder nach Nützlichkeitwerten demütig oder gewalttätig angeht. Das Bedürfnis nach Werten entspringt einem Mangel oder unsicherem Besitz. Um Thoreau zu verstehen ist jeder reich genug, der fähig ist, sich seines Menschseins bewußt zu werden.
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In Concord, einem kleinen Städtchen in der Nähe von Boston in Massachusetts, kam Henry David Thoreau am 12. Juli 1817 als drittes Kind aus der Ehe des John Thoreau mit Cynthia Dunbar zur Welt. Er selbst spielt wiederholt mit dem Gedanken, von den alten Skandinaviern, von den Recken des Nordlands, abzustammen. In alten nordischen Chroniken findet sich tatsächlich der Name Thor häufig genug und zahlreiche Zusammensetzungen seiner als Thorfinn, Thorer-Hund. Unser Gefühl hat gegen die Möglichkeit dieser Abstammung sicherlich nichts einzuwenden. Die wetterharte Persönlichkeit Thoreaus, sein unabhängiger Geist, seine urgermanische Wurzelechtheit führen die Phantasie leicht und natürlich zu diesen markigen Gestalten der Vergangenheit. Die Sympathie, die er für sie empfand, wandte sich unter seinen Zeitgenossen den Rothäuten zu, mit denen er sich auf ähnliche Art verwandt fühlte. Er war eher geneigt, in ihnen seine Brüder zu erkennen, als in den bodenfremden zivilisierten Bleichgesichtern der Union. Joe Polis, ein Indianer vom Stamme der Penobscot, genoß seine besondere Freundschaft und diente ihm als Führer durch die Wälder von Maine, die er mehrmals besuchte.
Die Familie Thoreau war im Jahre 1773 aus St. Hilaire auf der Kanalinsel Jersey nach Neu-England gekommen. John Thoreau, Henrys Vater, betrieb in Concord eine kleine Bleistiftmanufaktur, die seiner Familie ein bescheidenes Einkommen gewährte. Er war ein ruhiger Mann von gediegenem, aber verschlossenem Wesen, den sein Geschäft vollkommen absorbierte. Cynthia Dunbar, die Mutter, war von schottischer Herkunft. Sie war eine heitere und kluge Frau, die wegen ihrer freundlichen und gütigen Art, wegen ihres munteren Naturells allgemein beliebt war und den Ihren eine sonnige Häuslichkeit zu schaffen wußte. Den Eltern beiden wird Liebe zur Natur und feines Verständnis für Musik nachgerühmt.
Im Alter von 16 Jahren kam Henry nach Harvard, wo er klassische Philologie studierte, ohne sich durch besonderen Fleiß oder lebhafte Lernbegierde hervorzutun. Seine Kameraden betrachteten ihn als Sonderling, weil er sich von ihrer Gesellschaft fernehielt und einsame Spaziergänge und stilles Meditieren ihren Spielen vorzog. Er galt schon damals als kalte und wenig umgängliche Natur. Die graublauen Augen hatte er stets zu Boden gerichtet; die Nase war kräftig vorstehend, aber noch nicht scharf. Stundenlang konnte er unbeweglich und brütend dasitzen, in seinen »mystischen Egoismus« verbohrt. Derselbe Kollege von Harvard-College, der diesen Ausdruck gebraucht, meint, die ganze äußere Erscheinung Thoreaus habe an egyptische Statuen erinnert.
Nachdem er graduiert hatte, kam er nach Concord zurück und wurde Lehrer an der Schule, die sein älterer Bruder John leitete. Ein Essay über Aulus Persius Flaccus, Übersetzungen aus Pindar, Anakreon und Äschylus entstanden um diese Zeit. Aber der Lehrberuf sagte ihm nicht zu, er gab ihn nach zwei Jahren wieder auf und trat in die Bleistiftfabrik des Vaters. Die Tätigkeit hier fesselte ihn nur bis zu dem Augenblick, wo es ihm gelungen war, ein wesentlich besseres Fabrikat herzustellen. Für die praktische Ausnützung dieser Verbesserung hatte er nicht das geringste Interesse. Und Thoreau war nicht der Mann, sich aus Utilitätsgründen mit Dingen abzugeben; er war unfähig sich einer Beschäftigung zu widmen, zu der ihn keine Neigung hinzog. Allerdings sah er sich später, nach des Vaters Tode, im Interesse der Familie wieder genötigt, sich um die Manufaktur zu kümmern, aber er tat es gewissermaßen mit der linken Hand, ohne viel Mühe und Zeit dafür zu opfern.
Die Jahre 1843 bis 1845 brachte er als Instruktor bei dem Richter Emerson, dem Bruder Ralph Waldo Emersons, in Castleton auf Staten Island zu. Auf diesen letzten Versuch, in einem bürgerlichen Beruf in des Wortes solider Bedeutung auszuharren, folgt der zweijährige Aufenthalt am Waldenteich, über den später im Zusammenhang mit dem Waldenbuche berichtet werden soll.
Als seinen eigentlichen Beruf hatte Thoreau längst das erkannt, was die von keinem anderen Gedanken als dem nach Geld und gesellschaftlichen Ehren geplagte Welt mit Geringschätzung Nichtstun nennt, und das bei Menschen von inneren Entwicklungsmöglichkeiten in Wirklichkeit erst ernste Tätigkeit bedeutet. Dieses Nichts-Marktgängiges-Tun ist ganz allein der Boden, auf dem sich die wahrhaft bedeutenden Taten des Geistes entfalten. Er widmete sich jener Muße, die er dem verödenden Hasten und Jagen nach fiktiven Werten entgegenstellt. Er wird nicht müde, sie in den leuchtendsten Farben zu preisen und auf die ungeahnten Reichtümer hinzuweisen, die sie in ihrem Schoße birgt. Nur bei Schopenhauer finden sich Worte von gleicher Tiefe und Leidenschaftlichkeit, um sie, die er als die Frucht und den Ertrag des Daseins bezeichnet, in ihrem vollen Wert begreiflich zu machen.
Thoreau hatte es verstanden, seine Bedürfnisse auf ein Minimum einzuschränken. Das Wenige, das unerläßlich war, damit er »den Kern seiner Zeit« in Sicherheit bringen konnte, das heißt, damit er sich den vollen Genuß seiner Muße wahre, das erwarb er durch gelegentliche Arbeit seiner Hände. Er besaß eine ungewöhnliche manuelle Geschicklichkeit, die ihn den Farmern der Umgebung wertvoll machte. Hier gab es einen Zaun auszubessern, dort eine Gartenarbeit zu verrichten, eine Mauer zu bewerfen, ein Grundstück zu vermessen, auf alles verstand sich Thoreau wie kein zweiter. Er liebte diese Arbeiten, die ihm gestatteten, seinen Tag im Freien zu verbringen. Dieser praktischen Geschicklichkeit verdankte er ein gewisses Ansehen unter seinen Mitbürgern, ein größeres jedenfalls, als seine geistige Bedeutung ihm eintrug. Diese Umwertung seines Wertes empfand er wohl zuweilen mit verhaltenem Grimm: »Meinem praktischen Sinn ist zuletzt doch nicht zu trauen. Ich gehe allerdings meistens auf meinen Beinen; wenn ich aber von einem oberflächlichen gesunden Menschenverstand gedrängt und belästigt werde, dann komme ich außer Rand und Band, wie man sagt. Ich werde transzendental und zeige, wo mir das Herz sitzt. Haltet euch hübsch auf Entfernung, verstoßt nicht gegen die Distanz zwischen uns, so will ich wirkliche irdische Eier für euch legen, und euch durch Gackern wissen lassen, wenn's geschehen ist.«
Zweimal, in den Jahren 1841 bis 1843 und 1847 bis 1848, war Thoreau Hausgenosse seines Freundes Ralph Waldo Emerson, der seit 1837 in Concord ansässig war. Über das Verhältnis dieser beiden Männer zueinander war lange Zeit hindurch eine irrige Ansicht verbreitet; ja sie ist es vielfach heute noch. Ihre Erklärung findet sich darin, daß die Person und die Werke Emersons früher bekannt wurden und rascher in weitere Kreise drangen, als die Thoreaus. Emerson galt als das spendende Licht des ganzen Transzendentalistenkreises und Thoreau wurde nur als sein Schüler angesehen. Die Übereinstimmung ihrer geistigen Richtungen war aber nicht das Ergebnis, sondern die Basis ihrer Freundschaft. Eine ähnliche geistige Grundstimmung brachten beide in die Freundschaft mit, und von einer Beeinflussung ist auf keiner Seite viel zu spüren. Es geschah hier, was häufig genug beobachtet werden kann: der Zugänglichere, der Gefälligere und Leichter-faßliche wird nicht nur früher geschätzt, sondern auch höher gewertet als der aus härterem Stein Gehauene. Und der Radikalere war Thoreau. Emerson tut immer, was in seinen Kräften steht, um dem Hörer oder Leser entgegenzukommen. Seine Haltung ist niemals schroff und ablehnend. Immer scheint er zu sagen: Lasset die Kindlein zu mir kommen. Für jeden hat er einen Labetrunk bereit, geschöpft aus seinem Ozean von Zuckerwasser. Thoreau jedoch hat keine Milde. Von ihm gilt, was Renan einmal von der Natur sagt: sie sei von überlegener Immoralität und vollkommen gefühllos. Er ist ein Mann, der nie im Fieber war und immer eine kühle Hand hat. Gegen das Christentum und gegen die christlichen Tugenden empfand er eine tiefwurzelnde Abneigung. Die Worte: was fällt, das soll man auch noch stoßen, wären ihm leichter auf die Lippen gekommen, als: liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Diese ablehnende, ja sogar feindselige Haltung gegen die christliche Religion und Kirche – er hatte es sogar gewagt, die Zahlung der Kirchentaxe zu verweigern, und war aus der Kirchengemeinschaft ausgetreten – wird ihm in den Ländern des englischen Protestantismus schwer verübelt. Aber Emerson war Pastor. »Ich liebe Henry,« so schreibt ein Freund über Thoreau, »aber ich habe ihn nicht gerne. Es könnte mir eher einfallen, eine Eiche zu umarmen, als mich in Henrys Arm einzuhängen.« Der Gegensatz zwischen Emerson und Thoreau ist kein geringerer, als der zwischen christlicher und heidnischer Moral. Vielleicht stand Thoreau der Auffassung des chinesischen Philosophen Meng-Tse nahe, der seine ganze Ethik in den einen Satz komprimiert: »Wenn einer sein Küchlein oder seinen Hund verliert, so weiß er, wie er sie wiederfinden kann; wenn aber einer die Gefühle seines Herzens verloren hat, so weiß er nicht, wie er sie wiederfinden soll. Die sittlichen Pflichten bestehen darin, die Gefühle des Herzens, die verloren gingen, wiederzusuchen; das ist alles.«
Nachdem Emerson von seiner Europa-Reise zurückgekehrt war, zog Thoreau, der während dieser Zeit als eine Art Faktotum im Hause des Freundes gelebt hatte, wieder zu seinen Eltern. Aus den letzten Lebensjahren ist noch ein Vorfall zu erwähnen, der zwar zu dem geistigen Gesamtbilde keinen wesentlichen Zug hinzufügt, der aber aus dem Grunde bedeutsam erscheint, weil er Thoreaus Namen in Amerika populärer gemacht hat, als die Schriften je vermöchten. Es ist die Angelegenheit des John Brown, für den Thoreau in aktiver Weise Partei ergriff. Dieses Heraustreten aus der Passivität und aus der philosophischen Gleichgiltigkeit politischen Ereignissen gegenüber wird ihm von seinen Landsleuten, Freunden wie Biographen, hoch angerechnet und scheint den ungünstigen Eindruck, den seine Geringschätzung der christlichen Dogmen erregte, teilweise auszugleichen. Als nämlich John Brown, der wackere Farmer aus Ohio und Befehlshaber einer geheimen Abolitionistenverbindung, von den Regierungstruppen gefangen worden war und als Hochverräter im Gefängnis saß, wagte Thoreau, der diesem tapferen und edelgesinnten Manne hohe persönliche Wertschätzung entgegenbrachte und mit der Bewegung zur Aufhebung der Sklaverei wärmstens sympathisierte, die ganze Einwohnerschaft von Concord und den umliegenden Ortschaften zu einer Versammlung zu laden, um zur Rechtfertigung Browns zu sprechen. Das Unternehmen war für Thoreau höchst gefahrvoll. Das Abolitionistenkomitee selbst hielt den Zeitpunkt zu offenem Eintreten für verfrüht und warnte ihn. Seine Antwort war: »Ich sandte nicht zu euch um einen Rat, sondern um anzuzeigen, daß ich reden würde.« Die Rede, die am 30. Oktober 1859 vor zahlreicher Zuhörerschaft gehalten wurde und von nachhaltigster Wirkung war, so wie auch die zweite, nach John Browns Hinrichtung, sind Meisterstücke wahrer Beredsamkeit, die so geradewegs ins Herz greift, wie sie dem Herzen entstammt. Aber wir bedürfen wirklich nicht dieses handgreiflichen Beweises seiner unabhängigen und rechtlichen Gesinnung, die, was nach den Gefühlen des Herzens recht ist, höher achtete als das Gesetz und für das Menschliche innigere Teilnahme empfand als für soziale Konvention; wir brauchen seine Haltung in diesem Einzelfall nicht zu kennen, um in ihm den ehrlichsten Hasser jeglicher Heuchelei im Leben, Denken und Gestalten zu lieben. Der Charakter, der nie zu Kompromissen herabstieg, der Mann von echtem Schrot und Korn lebt in seinen Schriften.
Schon in seinem vierzigsten Jahre begann er zu kränkeln. Aber seine Energie hinderte ihn, dem Leiden irgendwelche Beachtung zu schenken. Gerade jetzt unternahm er seine strapaziösesten Ausflüge; einer darunter, auf dem ihn sein späterer Biograph Ellery Channing begleitete, führte bis nach Canada. Nach längerem Stillstand setzte das Leiden, eine ererbte Lungenkrankheit, mit erneuter Heftigkeit ein. Er starb in Concord am 6. Mai 1862.
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Nur zwei Bücher veröffentlichte Thoreau selbst. (Die Gesamtausgabe seiner Werke umfaßt zwanzig Bände.) Das eine erschien, auf des Autors eigene Kosten, im Jahre 1849 unter dem Titel »Eine Woche auf den Flüssen Concord und Merrimack«. Kein Verleger hatte das Risiko für dieses Buch, das sich weder unter Belletristik, noch unter Philosophie oder Wissenschaft einstellen ließ, auf sich nehmen wollen. Es war schon mehrere Jahre früher entstanden als die Frucht einer achttägigen Fahrt im selbstverfertigten Boote. John Thoreau, Henrys frühverstorbener Bruder und innerlichster Freund, war sein Gefährte gewesen. Dieses Buch »ohne Dach, das offen unter dem Äther daliegt« – eine Art vergrößertes Tagebuch – führt die freundlich-ruppige Landschaft der weiteren Umgebung von Concord in reizvollen Bildern vor. Hier und dort sind geschichtliche Reminiszenzen aus der Zeit der ersten Ansiedler eingeflochten; aus der Zeit jener fremden Eindringlinge, die dem Musketaquidflusse den Namen Concord gaben. Von diesem Flusse geht die heitere Geschichte, daß er ein einzigesmal eine Brücke weggerissen habe; und die sei vom Sturm stromaufwärts getragen worden. Nicht der Geist des Flusses Concord, ein Name, puritanisch und körperlos, liegt über dem Buche, sondern der Geist des Musketaquid; das ist der Grasgrundfluß. »Solange Gras hier wächst und Wasser fließt, wird er der Grasgrundfluß sein; Concord aber nur so lange, als Menschen friedlich an seinen Ufern wohnen.«
Wenn der Abend einfällt und das Boot in Sicherheit gebracht ist, dann wird als Krönung des Tages der philosophische Geist lebendig. Das Kapitel Mittwoch enthält eine tief ergreifende Rhapsodie über Freundschaft; die anderen Tage bringen Betrachtungen über Dichtung, über Mythologie, Geschichte und Religion, über indische Philosophie. Auf die Weisheit der Inder kommt Thoreau häufig wieder zurück, und unter ihren Büchern war ihm das Gesetzbuch des Manu besonders teuer. Thoreau gehört aber auch zu den wenigen, die von den höchsten Schöpfungen des menschlichen Geistes, von den Veden etwa, von Homer und Shakespeare sprechen dürfen, ohne als windiger Geistreichling oder als Lesartenkrämer lästig zu fallen. In seinem Munde ist Shakespeare nicht mehr der Komödiant, der Textbücher für Schauspieler schrieb, sondern ein Koloß, den das Erdinnere gebar. Wenn er von Dichtern und Philosophen spricht, so geschieht es nicht von ihren Werken, sondern von dem Elementaren, das in ihnen steckt; nicht von dem, was sie wissend schufen, sondern von dem, was sie wurden. Daher konnte auch keiner von ihnen ihm Lehrmeister oder geistiger Vorfahr sein – denn des Menschen Sein ist immer nur einmalig und eigenartig –, sondern sie alle sind seine Brüder, Kinder der Allmutter Natur. Das Buch klingt aus in die schönen Worte:
»Es war ein vergebliches Bemühen für mich, das Schweigen zu erklären; es läßt sich nicht ins Englische übertragen. Mit aller Gewissenhaftigkeit, die sie aufbringen können, sind die Menschen seit sechstausend Jahren am Werke, es zu übersetzen; aber es ist noch immer wenig anderes als ein Buch mit sieben Siegeln. Eine Zeitlang arbeitet wohl manch einer in gutem Glauben weiter und bildet sich ein, er habe es unterm Daumen und werde es doch einmal klein kriegen – schließlich muß aber auch er verstummen und die Welt bemerkt bloß, daß er ein tapferes Wagnis unternommen hat. Denn wenn er zuguterletzt in Schweigen versinkt, so ist das Mißverhältnis zwischen dem Ausgesprochenen und dem, was unausgesprochen blieb, so groß, daß das erstere nur wie ein Bläschen auf der Oberfläche erscheint, wo er verschwand.
Nichtsdestoweniger wollen wir fortfahren, wie die chinesischen Klippenschwalben unser Nest mit dem Schaum auszufüttern, der vielleicht eines Tages das Brot des Lebens sein wird denen, die da an der Meeresküste hausen.«
»Eine Woche« ist ein Werk von Azurfarbe. Thoreau erscheint darin als blonder Mystiker. Das Buch jedoch, das er fünf Jahre später veröffentlichte: »Walden oder Das Leben in den Wäldern« ist das Werk des sonngebräunten Mystikers.
Im Frühjahr 1845 – er war eben von Staten Island zurückgekehrt – begann er mit eigenen Händen am Waldenteich, anderthalb Meilen südlich von Concord, die Hütte zu bauen, die er am 4. Juli desselben Jahres, am Festtag der Unabhängigkeiterklärung der Union, bezog. Die beiden Jahre seines Lebens, die er dort zubrachte – nicht als menschenfeindlicher Einsiedler, sondern nur in freiwilliger Ausschaltung aus dem Getriebe jeglicher sozialer Gemeinschaft –, diese Unternehmung, sich völlig auf sich selbst zu stellen, ist die Umsetzung seiner Geistigkeit ins Materielle. Der Aufenthalt am Waldenteich ist die Epoche, in welcher sich seine innere Gesinnung greifbar kundgibt, das Ereignis, mit dem die Welt die praktische Durchführbarkeit seines Einfachheit-Evangeliums veranschaulicht bekommt.
An mehreren Stellen versucht er die Gründe anzugeben, die ihn veranlaßt hatten in die Wälder zu ziehen: er wollte mit Überlegung leben, um beim Sterben vor der Entdeckung bewahrt zu bleiben, daß er nicht gelebt habe. Er wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, mit großen Zügen knapp am Boden mähen – kurz, das Leben auf die einfachste Formel reduzieren. So versucht er sich selbst die Sache zu erklären und sich vor denen zu rechtfertigen, die sich besonders weise dünken, wenn sie immer Gründe wissen wollen. Diesen Leuten zu Gefallen, die nicht erkennen, daß jeder Kausalzusammenhang nur auf der Oberfläche weiterführt und ferner ab vom Zentrum des Seins, erklärt er auch, weshalb er Walden wieder verließ: weil er die Vorteile seines Aufenthalts erschöpft habe. Aber in seinem Tagebuch steht einige Jahre später zu lesen: »Weshalb ich die Wälder verließ? Ich glaube nicht, daß ich es sagen kann. Oft habe ich mich dahin zurückgesehnt. Ich weiß auch nicht, wie ich dazu kam, überhaupt hinzugehen. Vielleicht war es das Bedürfnis nach Wechsel. Es mag sein, daß es eine kleine Stockung gab, nachmittags um die zweite Stunde. Die Weltachse knarrte, als ob sie der Ölung bedürfte. Hätte ich länger in den Wäldern gelebt, vielleicht wäre ich für immer dort geblieben.« Hier ist der wahre Grund: er tat es, weil er's tat. Alle Bemühungen, Gründe auszuschnüffeln, sind ohnmächtige Versuche des Intellekts, sich als den Herrn aufzuspielen, sich selbst als das Treibende in allem Geschehen darzulegen.
»Walden« erschien 1854. In der Hütte am einsamen Waldsee schrieb er den größten Teil des Buches. Es ist Thoreaus geschlossenste Arbeit; ein wundervoll gebautes Kunstwerk, in dem sich Materie und Geist zu einer strahlenden Einheit durchdringen; ein Organismus ganz für sich, der völlig unabhängig von seinem Schöpfer dasteht. Vielleicht wird aber mancher, der Thoreau aus den Tagebüchern kennt, bei der Lektüre des Waldenbuches einen ganz leisen Schmerz in sich aufzucken fühlen. Er wird etwas von der Unbändigkeit und Unbehauenheit vermissen. Die Feile ist um einmal zu viel darüber gefahren. Hier spricht Thoreau zum Leser, und das ist nicht der ganze Thoreau; und spricht, damit man ihn verstehe, immer einige Sätze mehr, als es in ihm sprach. Er selber zog seine Gedanken in der Form, in welcher sie im Tagebuche stehen, vor; da wären sie mit dem Leben inniger verknüpft, weniger weitgeholt, weniger künstlich, als wenn sie zu Essais zusammengefaßt würden.
Aber das Publikum bewies sich dankbar für das Entgegenkommen, das Thoreau mit diesem Buche gezeigt hatte. Walden fand eine außerordentlich große Verbreitung, allerdings erst nach dem Tode des Autors, und gehört heute in Amerika zu den Büchern, die man besitzen muß.
Außer den beiden eben erwähnten größeren Werken ließ Thoreau noch eine Anzahl kleinerer Aufsätze in verschiedenen Zeitschriften erscheinen, vor allem im »Dial«, dem Organ der Transzendententalisten-Schule von Concord, das erst von Margaret Fuller und später von James Russell Lowell herausgegeben wurde. Thoreau selbst war während einiger Zeit an der Redaktion beteiligt. Lange erst nach seinem Tode wurden diese Essays und die Vorträge, die er bei verschiedenen Anlässen gehalten hatte, zu Bänden zusammengefaßt. Sie führen die Titel: »Die Wälder von Maine«, »Ausflüge«, »Cape Cod« und »Vermischte Schriften«. Auf das wundervolle Gemälde »Herbstschattierungen«, auf den gedankenreichen Vortrag »Das Wandern« und auf den umfangreichen Essay über Carlyle sei besonders hingewiesen. Von Gedichten sind nur wenige erhalten und gelegentlich in die Schriften eingestreut. Ihren größten Teil hatte er auf Emersons Rat vernichtet. Weder das Talent noch der Genius erreicht in ihnen die Höhe seiner Prosa. Sie sind etwas kühl und grau und der Vers erscheint nicht als organisches Bedürfnis.
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Ein letztes Wort. Es gehört dem Ungreifbarsten in Thoreau.
Seine Gedanken umspannen alle Höhen und Tiefen; sein Leben war einheitlich und voller Hoheit; sein Herz war groß, und seine Liebe quoll in schweren Strömen daraus hervor; sein Verständnis für die Natur war sicher und durchdringend; seine Kunst der Schilderung ist von unübertrefflicher Anschaulichkeit und seine Prosa von magischer Helle –: alles das kann sich in Vergessenheit verflüchtigen. Wir wollen auch keine Mühe darauf verwenden, es festzuhalten. Denn mehr noch, als in seinen Gedanken steht, steht im Rhythmus seiner Sätze. Und diese Musik wird in keiner menschlichen Seele je verstummen; das Bohnenfeld kann sie nie mehr vergessen und nicht der Sommertag, die zu ihrer vorbestimmten Schönheit erwacht sind, seitdem er in sie hineingesungen hat.