Ludwig Thoma
Die Lokalbahn
Ludwig Thoma

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Zweiter Akt

Erste Szene

Gartenzimmer wie im ersten Akte. Schöner Sommermorgen. Der Bürgermeister sitzt links vorne auf dem Stuhle, eine Barbierserviette um den Hals, das Gesicht eingeseift. Neben ihm steht der Bader Hartl, welcher das Rasiermesser schärft. Rechts sitzt die Bürgermeisterin in einem Rohrsessel und strickt.

Hartl das Messer streichend. Ein sehr schöner Tag heute.

Bürgermeister durch die Seife etwas am Sprechen gehindert. Tja.

Hartl rasiert. Das Wetter hält. Wir haben Ostwind.

Bürgermeister näselnd. Das Barometer steht gut.

Hartl Und wie haben Herr Bürgermeister geruht heute nacht?

Bürgermeister Gut. Ganz gut.

Hartl Solche Aufregungen verursachen gewöhnlich Schlaflosigkeit.

Bürgermeister Ich bin etwas spät eingeschlafen.

Hartl Das ist begreiflich nach dieser eklatanten Ehrung. Ist mit der einen Gesichtshälfte fertig, streicht wieder das Messer.

Hartl Dornstein hat sich förmlich selbst überboten. Rasiert.

Bürgermeister näselnd. Tja.

Hartl Die Beleuchtung war großartig. Und der Gesang. Sehr gelungen.

Bürgermeister mit etwas freierer Stimme. Es war eine große Aufmerksamkeit.

Hartl Verdientermaßen, Herr Bürgermeister.

Frau Bürgermeister Was sagt man denn so in der Stadt?

Hartl immer rasierend. Die Leute? Es herrscht eine gehobene Stimmung. Kleine Pause.

Hartl fortfahrend. Natürlich gibt es ja auch mißgünstige Menschen.

Frau Bürgermeister Sie haben etwas gehört?

Hartl zögernd. Hm – ja. Wenn man ein offenes Geschäft hat.

Frau Bürgermeister Wen meinen Sie?

Bürgermeister Sie wissen, daß es unter uns bleibt.

Hartl Den Schneider Wilberger.

Bürgermeister Ach der! Den kennt man schon.

Hartl Er hat sozusagen demonstriert.

Bürgermeister So?

Hartl Er hat nicht mitgesungen bei dem Ständchen.

Bürgermeister Dann ist er halt weggeblieben.

Hartl ist mit dem Rasieren fertig und schüttet Wasser in seine Baderschüssel.

Hartl Der ganze Vorstand hat ihm zugeredet. Aber es war nichts zu machen, weil Herr Bürgermeister schon zwei Jahre keinen Anzug mehr bei ihm bestellt haben.

Bürgermeister Aha!

Hartl das Gesicht des Bürgermeisters abwaschend. Er hat gesagt: Braucht der Bürgermeister meinen Anzug nicht, nachher braucht er meine Stimme auch nicht.

Frau Bürgermeister Es zwingt ihn ja niemand.

Hartl Man muß die Leute gehen lassen. Trocknet den Bürgermeister ab. Fortfahrend. Vielleicht hat er sich im Pfarrhof einschmeicheln wollen.

Bürgermeister War es dem Hochwürdigen nicht recht?

Hartl packt während des Folgenden langsam seine Gerätschaften ein.

Hartl Die Huldigung soll etwas verschnupft haben. Aber natürlich, ich bin nicht so eingeweiht.

Bürgermeister aufstehend. Der Pfarrer ärgert sich, weil er nicht derjenige war.

Frau Bürgermeister Das kann man auch nicht behaupten.

Hartl Der Herr Pfarrer war schon in aller Früh unterwegs. Und dann hat mir der Mesner solche Anspielungen gemacht.

Frau Bürgermeister Auf das Ständchen?

Hartl Tja. Er hat sich nicht so frei ausgesprochen, aber...

Bürgermeister Von mir aus kann der Pfarrer sagen, was er will. Man kennt die Gründe.

Hartl Es gibt immer eine gewisse Opposition. Und der Neid. Ja, ich wünsche guten Morgen, Herr Bürgermeister. Recht guten Morgen, Frau Bürgermeister!

Frau Bürgermeister Guten Morgen!

Bürgermeister Adieu, Hartl. Und morgen um acht Uhr.

Hartl Gewiß, jawohl. Ab durch die Gartentür.

Zweite Szene

Bürgermeister. Seine Frau.

Frau Bürgermeister Du solltest nicht so reden über den Herrn Pfarrer, wenn der Hartl dabei ist.

Bürgermeister Ach was!

Frau Bürgermeister Der geht schnurstracks hin und erzählt es wieder.

Bürgermeister Das soll er tun; meinetwegen.

Frau Bürgermeister Du glaubst nie, wie die Leute sind; er kann dir sehr schaden.

Bürgermeister Sei doch nicht gar so ängstlich. Man meint schon, ich wäre von jedem abhängig.

Frau Bürgermeister seufzt.

Bürgermeister stellt sich unter die Gartentür, blickt hinaus, die Hände auf dem Rücken. Er brummt vor sich hin. Wer hat dich, du schöner Wald – Tra... la... la! – Du schöner Wald!

Frau Bürgermeister Du, Fritz!

Bürgermeister sich umwendend. Ja?

Frau Bürgermeister Ist es wahr, daß du Abgeordneter werden willst?

Bürgermeister Wer hat jetzt das wieder gesagt?

Frau Bürgermeister Die Frieda war vorhin da.

Bürgermeister So? Na freilich! Die muß es wissen! Was hat sie denn da gesucht?

Frau Bürgermeister Sie hat dir gratulieren wollen.

Bürgermeister Und dich ausfratscheln. Er summt wieder. Aufgebaut so hoch da droben? Schön war's doch. Der ganze Garten war voll Leuten.

Frau Bürgermeister Ich wollte, es wär' nicht gewesen!

Bürgermeister jetzt sei so gut und verdirb mir die Freude.

Kleine Pause.

Frau Bürgermeister Du hast dich doch sonst nicht in die Politik eingemischt! Fang nicht auf deine alten Tage noch damit an!

Bürgermeister Papperlapapp! Fällt mir ja nicht ein!

Unter der Gartentür erscheint Suschen mit einem Strauß frischer Rosen in der Hand.

Dritte Szene

Die Vorigen. Suschen.

Bürgermeister Na, Suschen, ist Adolf nicht vorbeigekommen?

Suschen Nein.

Bürgermeister Das seh' ich. Sonst wären die Rosen fort.

Suschen Ich habe eine Viertelstunde am Zaun gewartet.

Frau Bürgermeister Er hat jetzt viel Arbeit.

Bürgermeister Weil der Oberamtsrichter in Urlaub ist.

Suschen Das hat er mir gestern gesagt.

Frau Bürgermeister Vielleicht kommt er auch noch.

Suschen Jetzt nicht mehr. Es ist schon neun Uhr vorbei.

Frau Bürgermeister So spät? Da muß ich aber das Fleisch zusetzen.

Suschen Bleib nur, Mama. Ich gehe in die Küche.

Frau Bürgermeister Dann gib acht, daß Marie die Bohnen gut schneidet.

Bürgermeister indem er Suschen auf die Wange tätschelt. Und versalz' uns die Suppe nicht gar zu stark, gelt?

Suschen Nur ein bißchen. Geht langsam nach links ab und nimmt die Rosen mit, welche sie vorher auf den Tisch gelegt hatte. Sie bleibt plötzlich stehen und wendet sich um. Glaubt ihr, daß Adolf böse ist!

Frau Bürgermeister Geh, was denkst du?

Bürgermeister Habt ihr euch denn gezankt?

Suschen Nein. Er war nur so sonderbar, gestern abend.

Bürgermeister Das meinst du bloß.

Suschen Ich weiß nicht; er hat fast nichts gesprochen und hat mir kaum gute Nacht gewunschen.

Frau Bürgermeister Die Männer sind launisch; daran gewöhnt man sich.

Suschen munter. Vielleicht hat er wieder einen Fall studiert; da hört und sieht er nicht. Ab.

Vierte Szene

Der Bürgermeister. Frau Bürgermeister.

Frau Bürgermeister Ich bin selber unruhig, daß Adolf wegbleibt. Ich möchte es Suschen bloß nicht merken lassen.

Bürgermeister Herrjeh! Seid ihr Frauenzimmer immer voller Angst.

Frau Bürgermeister Weil er gerade heute nicht kommt. Sonst dächte ich nichts dabei.

Bürgermeister Heute ist ein Tag, wie jeder andere.

Frau Bürgermeister Du weißt, was gestern war.

Bürgermeister Kommst du schon wieder mit der Geschichte? Ist denn das so was Gräßliches, wenn mir die Liedertafel ein Ständchen bringt?

Frau Bürgermeister Aber der Anlaß!

Bürgermeister etwas unruhig. Der Anlaß! Mit deinem Anlaß! Hast du ein einziges unrechtes Wort gehört, gestern?

Frau Bürgermeister Nein.

Bürgermeister Was willst du denn? Es war eine kleine Festlichkeit; ganz harmlos.

Frau Bürgermeister Man hat dich gefeiert, weil du so schroff aufgetreten bist.

Bürgermeister Nanu! Und wenn? Wer kümmert sich darum? Wer soll sich um die Dornsteiner Liedertafel kümmern? Das sag mir einmal!

Frau Bürgermeister Auf jeden Fall kommt es in die Zeitungen.

Bürgermeister etwas unruhiger. Ah! Was denkst du denn? Übermorgen spricht kein Mensch mehr davon.

Frau Bürgermeister Das glaubst du selber nicht. Heute abend weiß es der Minister schon. So gewiß wie etwas.

Bürgermeister lacht gezwungen. Von wem? Von wem soll der Minister das wissen?

Frau Bürgermeister Da finden sich genug gute Freunde.

Bürgermeister Ei du lieber Gott! Ist das eine Ängstlichkeit! Da hätte ich schon lieber auf die Ovation verzichtet.

Frau Bürgermeister Ich auch.

Bürgermeister Die Freude daran hast du mir gründlich verdorben.

Frau Bürgermeister im Abgehen nach links. Ich rede dir nichts ein, Fritz. Aber das mit der Politik sollst du bleiben lassen. Ab.

Der Bürgermeister räuspert sich und sieht einige Zeit gedankenvoll vor sich hin. Er nimmt eine Zeitung zur Hand, legt sie gleich wieder weg und seufzt.

Fünfte Szene

Dr. Beringer. Der Bürgermeister. Amtsrichter Beringer tritt durch die Gartentür ein. Der Bürgermeister kehrt ihm den Rücken zu.

Beringer gemessen. Guten Morgen!

Bürgermeister sich rasch umwendend, freudig. Ach, da bist du ja! Na also! Das war eine Aufregung den ganzen Morgen, weil du nicht da warst!

Beringer steif. Hast du einen Augenblick Zeit für mich?

Bürgermeister So eine Frage. Aber warte, ich will erst in der Küche Lärm schlagen. Will nach links ab. Beringer hält ihn zurück. Ich möchte mit dir allein reden.

Bürgermeister sieht ihn etwas verblüfft an. Auch recht. Gemütlich. Aber weißt du, Suschen muß ich doch holen. Sie hat dich schon am Gartenzaun erwartet. Will wieder ab.

Beringer Nein; bitte, bleib!

Bürgermeister Wie du willst. Aber setz dich doch, und gib mal den Hut her!

Beringer setzt sich, behält aber den Hut in der Hand. Ich danke.

Bürgermeister jovial. Junge, wenn dich vielleicht was drückt, du weißt...

Beringer brüsk. Sag' mir offen, was war das gestern mit der Ovation?

Bürgermeister unbehaglich. Die Ovation? Gestern?

Beringer Ja.

Bürgermeister Was damit war? Gott!

Beringer Du bist gestern immer meinen Fragen ausgewichen?

Bürgermeister Ich?

Beringer Ja. Ich wollte wissen, wie die Audienz ausfiel. Aber... Zuckt die Achseln.

Bürgermeister Ich habe wirklich keinen Grund, dir etwas zu verschweigen.

Beringer Warum hast du mir dann nichts erzählt?

Bürgermeister Weil... weil es wirklich nicht der Mühe wert war.

Beringer So? Es genügte aber doch, um dir eine Ovation zu bereiten?

Bürgermeister mit erkünstelter Lustigkeit. Ha! Ha! Diese Juristen! Das klingt ja wie eine Untersuchung!

Beringer Mir ist die Sache absolut nicht spaßhaft.

Bürgermeister patscht Beringer jovial auf das Knie. Lieber Junge, sage mir: was willst du eigentlich wissen?

Beringer gereizt. Laß mich das nicht immer wiederholen, bitte! Ich will wissen, welche Tatsache dieses sonderbare Ständchen veranlaßte?

Bürgermeister verlegen. Du lieber Gott! Die Bürgerschaft findet eben, daß ich in der leidigen Bahngeschichte ihre Interessen gewahrt habe.

Beringer Du bist aber abgewiesen worden?

Bürgermeister Allerdings, ich...

Beringer Also! Für einen Mißerfolg wird man doch nicht gefeiert! Was ist denn das für eine Logik!

Bürgermeister Die Leute wollten mir halt zeigen, daß sie mir keine Schuld beimessen.

Beringer Das drückt man gewöhnlich anders aus.

Bürgermeister immer unruhiger, wischt sich die Stirne. Es kam mir selbst durchaus unerwartet. Ich war gerade so überrascht wie du.

Beringer Was sollten dann die landläufigen Phrasen bedeuten? Von Mut und Vorkämpfer?

Bürgermeister Das sind so Sprüche, wie man sie eben macht! Übrigens war es gewiß gut gemeint. Ja... du, jetzt muß ich aber wirklich Suschen holen, sonst... Will links ab.

Beringer hält ihn wieder am Arm zurück. Du weichst mir also konstant aus?

Bürgermeister Wie kommst du nur auf die Idee? Zwischen uns zwei gibt es doch keine Geheimnisse!

Beringer steht auf. Ich kann dir nur sagen, diesen Mangel an Vertrauen finde ich sonderbar, sehr sonderbar.

Bürgermeister schiebt seinen Arm unter den des Amtsrichters und geht mit ihm etwas nach vorne. In vertraulichem Ton. Komm her, Adolf, und laß mich einmal reden! Nicht wahr?

Beringer Ich habe dich ja darum ersucht.

Bürgermeister Eben. Siehst du, du bist jetzt Amtsrichter... Beringer klopft ungeduldig mit dem Fuße auf den Boden.

Bürgermeister fortfahrend. Und du wirst später einmal Vorstand von einem Gericht. Nicht wahr?

Beringer Was soll das?

Bürgermeister Siehst du, wenn du Vorstand bist, dann macht man dich für alles verantwortlich. Einfach für alles. Wenn ein Schreiber was Dummes macht, fragt man nicht den Schreiber, warum er was Dummes macht, sondern man fragt dich, warum du einen Schreiber hast, der was Dummes macht. Verstehst du mich?

Beringer Nein. Absolut nicht.

Bürgermeister Aber es ist doch so einfach! Ich bin auch Vorstand und muß für alles herhalten, ob ich etwas dafür kann oder nicht.

Beringer Bist du jetzt fertig?

Bürgermeister fährt sich mit dem Taschentuch über die Stirne. Gott sei Dank, ja. Nur das will ich noch sagen, Adolf, wenn du einmal älter bist, wirst du sehen, daß die Verantwortlichkeit nichts Leichtes ist. Und jetzt haben wir uns hoffentlich verstanden? Nicht wahr?

Beringer setzt seinen Hut auf. Vollkommen... Ich verstehe, daß du mir keine Aufklärung geben willst, und...

Bürgermeister Aber...

Beringer Und daß ich sie von anderer Seite erhalten muß. Rasch ab durch die Gartentüre.

Bürgermeister ihm nacheilend. Du! hör doch! Junge.


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