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Das Kälbchen

Der Gutsbesitzer Karl Eugen Hilgermoser in Weidering erlebte zu Pfingsten eine freudige Überraschung und eine angenehme Unterbrechung seines einsamen Landlebens durch den Besuch von fünf Mitgliedern des Thaliatheaters der Hauptstadt.

Gott! Wenn man als Sohn vermöglicher Eltern, um irgend etwas zu tun, oder wenigstens um irgend etwas zu sein, auf ein Landgut gesetzt wird, hat man viele langweilige Stunden auszuhalten.

Von einer Reise nach der Hauptstadt bis zur andern vergeht oft eine Woche, und nun möge man sich vorstellen, was ein gebildeter Mensch von fünfunddreißig Jahren, der Sehnsucht nach feineren Genüssen hat, während langer acht Tage in Weidering anfängt.

Arbeiten?

Leicht gesagt, – aber was?

Landwirte werden geboren, selten erzogen, niemals ernannt.

Die so oft beneideten Besitzer schöner Güter werden verständnisinnig lächeln, wenn ich den Neidern zurufe: Glaubt nicht an dieses Glück! Es gehört viel Duldermut dazu, immerdar und immerzu zwischen Feldern und Wiesen, zwischen Pferden und Kühen herumzugehen und zu stehen und ein interessiertes Gesicht zu schneiden.

Man hat einen Verwalter.

Auch gut!

Entweder: dieser Mensch ist treu und eifrig, dann plagt er einen mit Fragen und Anliegen und Ermahnungen. Oder: er ist auch gleichgültig – na, dann ist die Schweinerei fertig, und die Unordnung wird so groß, daß man sie selber merkt, sich von Zeit zu Zeit aufrafft, und das Sichaufraffen ist auch etwas recht Mühevolles.

Man wechselt die Verwalter und braucht häufig sehr lange, bis man endlich den Treuen und Eifrigen findet, der einen dann mit Fragen, Anliegen und Ermahnungen quält.

Und dann die Dienstboten!

Es ist ein fortwährendes falsches Spiel, das sie mit einem und das einer mit ihnen treibt.

Man muß vor ihnen so tun, als ob man sachverständig wäre, sie müssen so tun, als ob sie an das Sachverständnis glaubten, und doch bemerkt man recht wohl ihre Zweifel, ihr Lächeln, die Blicke, die sie miteinander wechseln.

Die Unsicherheit macht den Herrn ungerecht und grob, die Zweifel machen die Dienstboten unehrlich. Herüben und drüben verliert man an Charakter.

Allerdings, man könnte ja den Versuch machen, wirklich etwas zu lernen. Der Einwurf ist nur scheinbar berechtigt.

Nur der Lehrling lernt, der Herr lernt nie, und nur der Meister und Herr lehrt, die Dienstboten lehren nicht.

Sie wollen, daß der, der ihnen als Herr vorgesetzt ist, alles versteht, oder daß er sich wenigstens den Schein gibt, alles zu verstehen. Und da sind wir wieder beim alten und haben den circulus vitiosus.

So sagt man doch?

Und da wäre noch ein Kapitel, und zwar ein verfängliches. Die weiblichen Dienstboten.

Glaube nur ja niemand, daß sie nicht kokettieren!

Und dann?

Entweder man versteht sie, und dann ist selbst die scheinbare Autorität futsch – oder man versteht sie nicht, dann ist das Landleben noch langweiliger während der endlosen Wochen zwischen den Reisen nach der Hauptstadt.

Davon aber wird nicht die Rede sein, obwohl sich die Abenteuer in Heustadeln, auf Waldwiesen und sonstwo recht angenehm schildern ließen, allein, wir haben es mit der Nachricht zu tun, die Karl Eugen Hilgermoser von seinem Freunde Kurt Dellmar erhielt.

»Wir werden Dich am Samstag überfallen. Wir: nämlich ich, Heinz, Karl Otto, Hermine und – denke Dir nur, unsere reizende, kleine Anneliese. Für Unterkunft und alles andere bist Du verantwortlich, und so wird es herrlich werden, Alterchen! Auf Wiedersehen, Dein Kurt!«

Karl Eugen faltete das Briefblatt zusammen, sog an seiner Zigarette und blies durch Mund und Nase blaue Rauchwolken, dann lächelte er in seliger Erinnerung oder Erwartung und drückte auf den Klingelknopf.

Marie, die Köchin und Haushälterin, kam; ein robustes Mädchen, das an die dreißig Jahre alt sein mochte und schöne Rundungen zeigte, wie man sie in altbayrischen Küchen zu sehen gewohnt ist.

»Was wünschen der gnä Herr?« fragte sie.

»Marie,« sagte Hilgermoser, »wir bekommen morgen Besuch.«

Das freundliche Gesicht der Haushälterin verzog sich mürrisch.

»B'suach? Wahr–scheinli–«

»Damen. Jawohl! Ich hoffe, daß Sie nichts dagegen haben. Übrigens Damen vom Theater ...«

»De Ziefern soll'n in da Stadt bleib'n ...«

»Was fällt Ihnen denn ein?« brauste Hilgermoser auf. »Sie erlauben sich in der letzten Zeit Äußerungen ...«

»Is ja wahr!« grollte Marie. »Fahren S' a so alle Wocha nei in d' Stadt, und jetzt ziahg'n S' de Frauenzimma aa no raus ...«

»Also ...«

»Dös wer'n scho de recht'n sei, wenn sie si net schama, daß s' an Herrn b'suach'n!«

»Marie!« Hilgermoser bemühte sich, strenge aufzutreten, aber es gelang ihm nicht völlig, er zeigte vielmehr einen sehr auffälligen Mangel an Herrentum. »Marie,« sagte er, »die Damen kommen in Begleitung von Herren. Es ist sehr überflüssig, Bemerkungen darüber zu machen; es ist ganz und gar unangebracht, irgend etwas Dummes zu glauben oder zu meinen oder daherzuschwätzen. Übrigens handelt es sich um berühmte Schauspielerinnen ...«

»M–hm–ja – –«

»Um die berühmtesten Schauspielerinnen der Stadt – gar nichts m – hm – verstanden! Ich verbitte mir jede ... jedes ...« Hilgermoser suchte vergeblich nach einem passenden, das heißt nicht zu schroffen Worte ... »Ich verbitte mir jedenfalls, daß man den Herrschaften unanständig gegenübertritt!«

»I ko ja geh ...« sagte Marie.

»Sie können gehen ... vielmehr ... Sie werden nicht gehen, solange Sie verpflichtet sind, zu bleiben ... außerdem, dieses Gerede hat keinen Wert, hat nicht den geringsten Wert! Nein! Das wäre noch schöner, wenn ich mich auf jemand verlasse, wenn ich jemandem das Hauswesen anvertraue, und es kommt einmal im Jahre Besuch, dann soll ich mir drohen lassen ...«

»Dös is gar koa Drohung ...«

»Fertig! Sie bleiben ... und ... übrigens ... Marie, stellen Sie sich doch nicht so kindisch! Sie sind doch diejenige, nicht wahr? Auf Sie muß ich mich doch verlassen können – Also!«

Die Haushälterin lenkte ein.

»Wieviel sind's nacha?«

»Fünf. Drei Herren, zwei Damen ...«

»O du liaba Gott! Dös gibt wieder an Arbet ... Fünfi! Ja ...«

»Sie werden es schon machen. Ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann. Und machen Sie's nur so, daß die Leute hinterher in der Stadt erzählen, wie schön ich's habe, nicht wahr? Obwohl ich Junggeselle bin, nicht wahr? Sonst heißt es immer: natürlich! wo keine Frau ist, und so weiter. Also, wie gesagt, Sie legen Ehre ein ... und jetzt Zimmer richten, und so weiter.«

Marie seufzte und ging.

Hilgermoser sah ihr nach, blies Rauchwolken durch Mund und Nase, schüttelte den Kopf und nickte etliche Male.

M–hm–ja ... ja. Das ist schon so. Landleben, Alleinsein, Dummheiten machen. Finger geben, ganze Hand nehmen. Vertraulich werden, frech werden, Unterschiede vergessen. Distanz nie mehr einhalten – m–hm. Ja ... ja. Jawohl! –

Der Samstag war nun da.

Hinter dem Bahnhofsgebäude von Oberweidering hielt der Jagdwagen Hilgermosers. Zwei kräftige Schimmel waren vorgespannt; sie hoben und senkten die Köpfe und stampften auf den Boden. Manchmal schnalzte der Kutscher mit der Zunge, und wenn sie stürmisch anzogen, bändigte er sie mit sicherer Ruhe und fuhr mit ihnen im Schritte den Bahnhof entlang und wieder zurück.

Es sah vornehm herrschaftlich aus, und einige kleine Leute bewunderten die Pferde, das Fuhrwerk und den Kutscher. Auch den Herrn Hilgermoser und sein schönes Leben.

Er merkte aber nichts davon, weil er auf dem Bahnsteige auf und ab ging und den Zug erwartete.

Er war elegant gekleidet, mit einem Stich ins Ländliche, das heißt Landjunkerliche. Heller Anzug, heller Sommerüberzieher, neue Glacéhandschuhe; dazu einen Steyrerhut mit Gemsbart auf dem Haupte.

Er dachte nach. Wer würde also kommen?

Zunächst Kurt. Auf den konnte man sich freuen. Netter Kerl, immer fröhlich und ein Meister im Bowlebrauen. Und daran würde es wohl die nächsten Abende nicht fehlen. Halt! ... Doch nein, war alles in Ordnung! Moselwein, Sekt, mehr als nötig. Tja ... dann Heinz Bolten ... natürlich mit Hermine Waiden. Vorerst unzertrennlich. Heiße Liebe, genährt durch die Aussicht auf viele Rollen, auf sämtliche Rollen, die der einflußreiche Regisseur Bolten verteilen konnte. Eigentlich schade, daß Hermine so ganz in dieser neuen Geschichte aufging, aber der Ehrgeiz!

Was übrigens Karl Otto Holmers auf dem Lande suchte? Und wie er das über sich brachte, einen oder zwei Nachmittage nicht unter einer Kastanie im Hofgarten zu sitzen, nicht die Tasse Kaffee mit bedeutender Düsterkeit im Antlitze zu trinken, nicht das Haupt stolz zurückzuwerfen und ins Weite zu schauen, wenn üppige Lederfabrikantinnen, feurige Damen aus der Textilbranche ihm sengende Blicke zuwarfen? Sollte ...? Ach nein, die kleine Anneliese hing leidenschaftlich an ihrem Karl Eugen! Sie, die Naive auf der Bühne und im Leben, das Kind! ...

»Obacht!«

Karl Eugen sprang zur Seite, fast hätte ihn der Stationsdiener mit dem Karren angestoßen.

Und da fuhr schon der Zug in die Station.

Aus einem Fenster flatterte ein weißes Tuch ... sicher Anneliese!

Er nahm den Hut ab und schwenkte ihn.

»Hallo! Karl Eugen! Junge! Hallo!«

Im Nu war eine Kupeetüre geöffnet, im Nu hing ein zartes weibliches Wesen am Halse Karl Eugens, und im Nu hallte der Bahnhof wider von den Rufen fröhlicher Menschen, die mit Bewußtsein fröhlich und ausgelassen waren, herzlich lachten und melodisch lachten und vielleicht ein klein wenig achtgaben, ob ihre Glückseligkeit von den Passagieren des noch haltenden Zuges gebührend bemerkt würde.

Heinz schüttelte immer wieder derb die Hand des Freundes und klopfte ihm auf die Schulter und schüttelte ihm die Hand. Hermine warf ihm einen Blick von früher zu und lachte dabei eine ganze Skala hinauf, lieblich klingend wie Nachtigallenschlag; Heinz rief in einem fort: »Hallo! Das ist schön, hallo!«

Und Anneliese machte runde, glückselige Kinderaugen. Immer runder, immer glückseliger.

Karl Otto ... wer konnte übrigens fragen, was er auf dem Lande suche?

Wie er dastand, war er das Bild eines pommerschen Gutsbesitzers, allerdings mit etwas südlichem Einschlage, aber sonst wirklich bodenständig, im nagelneuen Lodenanzuge mit knallgelben Ledergamaschen, und übrigens auch mit gemsbartgeschmücktem Steyrerhute.

Den hatte er abgenommen, um die Fülle der schwarzen Locken zu zeigen, solange noch der Zug hielt.

Er faßte mit der Rechten nach der Hand Karl Eugens, legte ihm die Linke auf den Oberarm, trat einen halben Schritt zurück und sah den lange Entbehrten mit einem tiefen Blicke an.

»Hallo!« rief Heinz. »Die Luft! Kinder, die Luft!« schrie Hermine jubelnd ins All hinaus und warf Karl Eugen wieder einen Blick von damals zu.

»Karl Eugen! Karl Eugen!« jauchzte Anneliese und hüpfte an dem Freunde hoch.

Und endlich setzte sich der Zug in Bewegung, und man konnte sich einigermaßen beruhigen und sich um die Gepäckstücke kümmern. Als das erledigt war, ging man zum Wagen.

Karl Eugen hatte wirklich seinen großen Tag als Mittelpunkt von Zärtlichkeiten bemerkenswerter Damen.

Links Hermine eingehängt, rechts Anneliese, beschossen mit Blicken, umworben mit melodischem Lachen, so schritt er am Bahnhofsvorstande vorbei, der ihn mit Hochachtung grüßte und beneidete.

Eng zusammengepreßt saß nun die Gesellschaft auf dem Jagdwagen und fuhr in den Frühling hinein.

Karl Otto saß auf dem Bock, neben dem Kutscher. Er hatte es sich nicht nehmen lassen.

»Karl Eugen,« bat er, »ich werde mir vorkommen wie damals, als ich, ein glückseliger Junge, auf Vaters Wagen durch unsere pommerschen Felder fuhr.«

Karl Eugen willigte ein und wunderte sich im stillen, wie rasch sich der Held in das Pommersche eingelebt hatte. Das machte der Lodenanzug und die schnell sich anschmiegende Phantasie des Bühnenmenschen, der, wie so viele seinesgleichen, schon als Sohn eines Pastors und eines Oberförsters brilliert hatte, und der sich nun in der Lodenjoppe zurückträumte in junge Jahre, die er auf dem Gute des Vaters herumtollend auf ungesattelten Pferden hätte verlebt haben können, wenn er nicht in Tarnopol im Laden ... doch wer denkt daran, und vor allem, wer spricht davon?

Sie fuhren in den Frühling hinein; Anneliese aber fuhr in das Märchenland, und das war an ihren Augen zu erkennen, die sich zusehends vergrößerten. Die andern sprachen noch, und Heinz grüßte in überquellender Fröhlichkeit jeden Menschen am Wege, Hermine stammelte etwas von tiefen Dankgefühlen für diesen herrlichen Tag, für diese Erholung vom mühevollen Leben in der Stadt und auf den Brettern, Kurt begann schon von einer Bowle zu schwärmen, doch Anneliese schwieg.

Sie fuhr als gläubiges Kind in das Märchenland. Da! Mit einem Aufschrei packte sie den Arm Karl Eugens.

»Dort! Dort!« rief sie.

»Was ist?« fragte Karl Eugen erschrocken und starrte in den Wald, nach dem sie wies.

»Die Bäume! Seht doch die grünen Bäume!«

»Wundervoll!« sagten die andern, aber Klein-Anneliese konnte sich nicht beruhigen.

»Karl Eugen! Du mußt es mir sagen! Was sind das für Bäume? Die dort, die zart grünen?«

»Das sind Buchen.«

»Buchen – wirkliche, echte Buchen? Wenn ich von ihnen las, stellte ich sie mir eigentlich ganz, ganz anders vor. Und nun sehe ich sie ... und ihr zartes Grün ... und es ist eigentlich noch viel, viel schöner, als ich mir's gedacht hatte,« lispelte träumend das Kind.

»Es gibt doch so wunderschöne Verse von den Buchen?« fragte es dann.

Niemand kannte die Verse.

»Du denkst vielleicht an Eichen, kleine Kröte,« sagte Kurt.

»Nein! Nein! Ich weiß es bestimmt. Es handelt von Buchen und Nixen im Mondschein und einem Elfenkönig mit einer kleinen, goldenen Krone auf dem Haupte und ... und ... weiß es denn niemand?«

Sie war unglücklich, aber niemand konnte ihr Auskunft geben.

Doch Karl Otto wandte sich auf dem Bocke um.

»Bei uns in Pommern,« sagte er, »wo die großen, mächtigen Buchenwälder sich im Meere spiegeln, weiß man geheimnisvolle Sagen, die um die Buchen weben. Unsere alte Amme, eine richtige pommersche Bäuerin, erzählte uns Kleinen, wenn wir aufhorchend bei ihr saßen, Geschichten von Unholden, die in den Buchenstämmen hausen, und von lichten Alben. Ich erzähle dir das mal, Anneliese.«

»Ja! Ja! Bitte, Karl Otto, du mußt mir das erzählen!« bat sie und versank wieder in Schweigen und Träume und lehnte sich näher an Karl Eugen.

Ein Ochsenfuhrwerk kam ihnen entgegen. Auf dem Wagen saßen zwei kleine Mädchen und ein Junge, ein alter Bauer ging daneben her und rauchte behaglich eine Pfeife.

»Hallo!« rief Heinz, »wo aus, Landsmann?«

»Klee – –« rief der Alte; mehr verstand man nicht, die Worte verklangen im Rasseln der Räder.

»Er holt Klee,« erklärte Karl Eugen.

»Wo?« fragte Anneliese.

»Von seinem Felde, wahrscheinlich dort wo herum.« Karl Eugen deutete in die Landschaft hinaus.

»Findet man den ... so ...«

»Nein.« Der Landwirt lächelte gütig über diese glückliche Unwissenheit eines Kindes, das sein Leben nur der Kunst geweiht hatte. »Nein; er mäht ihn jetzt, dann lädt er ihn auf den Wagen und fährt ihn heim, und dann bekommen ihn die Kühe.«

»Ach, die Kühe!« frohlockte Anneliese, »wie werden sie sich freuen! Sag mal ...« Sie wollte irgend etwas wissen, oder sie wollte nichts wissen, sie wollte nur fragen und reden, glückselig ins Blaue hinein.

Nun nahm aber doch Hermine das Wort. Die kleine Naive hatte wirklich lange genug die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt.

»Die glücklichen Kinder!« sagte sie. »Wie die hier leben! So wunderschön, und ahnen es vielleicht nicht. Sie genießen unbewußt das alles, wie etwas Selbstverständliches ... die Luft ... den Frühling ... die Freiheit. Da sitzen sie auf dem Wagen und baumeln mit den Beinchen und meinen wohl gar, das müßte so sein und könnte nie anders werden.«

»Das möchtest du wohl auch?« fragte Heinz. »Du hast verklärte Augen, Hermine ... nein, seht nur! Sie hat wirklich rote Backen vor Aufregung ... Du sehnst dich wohl danach, im Heu Purzelbäume zu schlagen?«

»Wer das könnte!« seufzte sie. »Purzelbäume schlagen, von nichts wissen, mit nackten Füßen über die Felder laufen ... ach!«

»Und abends mit den Zähnchen in ein Stück Schwarzbrot beißen – was?« sagte Kurt.

»Ja! Ja!« rief Anneliese. »Wir müssen heute Schwarzbrot essen, und Butter darauf, dicke, gelbe Butter. Du mußt uns Schwarzbrot geben, Karl Eugen!«

»Schwarzbrot und ein bißchen was dazu,« versprach der Landwirt.

»Bei uns in Pommern,« erzählte Karl Otto, der sich nun wieder umwandte, »bei uns in Pommern hatten wir so ganz derbes Roggenbrot. Mutter buk es selbst, und das war für uns immer ein Festtag, wenn die großen, schönen Laibe aus dem Ofen kamen. Ach! Und der Geruch! Ich kann kein Schwarzbrot essen, ohne mich an die selige Zeit zu erinnern. Und Butter gab es! Wenn Mutter so mitten unter uns Kleinen stand und feste drauflos strich, da tollten wir um sie herum, und wer das erste Brot bekam – na ... ich sage euch ...«

Er drehte sich wieder um und versank in die schönen Phantasiegebilde, die aus der Lodenjoppe aufstiegen.

In einem kühnen Bogen fuhr Peter, der Kutscher, am Herrenhause Weidering vor.

Vielleicht der innere Drang, vielleicht eine Vereinbarung mit dem Herrn hatte Marie bewogen, vor dem Portale Stellung zu nehmen und sich zum Empfange der Herrschaften eine blendend weiße Schürze vorzubinden.

Fröhliche Rufe begrüßten sie und das Haus.

»Oh, wie schön! Donnerwetter, Junge! Seht nur Karl Eugens Schloß! Junge, Junge! Na, hör mal, der reine Edelsitz!«

So tönte es durcheinander, in tiefem überzeugungsvollem Basse und in zwitschernder Freude.

Hermine verstand es sogleich, das Herz der Köchin Marie für sich zu gewinnen.

»Ah!« rief sie, »das ist der gute Geist des Hauses! Das sieht man auf den ersten Blick, und so blendend rein und appetitlich, wie alles hier! Herzlich Grüß Gott!« Und sie schüttelte der Köchin kräftig die Hand, und Anneliese machte vor ihr einen reizenden Knicks und lächelte sie holdselig an.

Marie wurde rot, aus Freude, und ein bißchen Beschämung war dabei. Wie hatte sie nur so grob daherreden können von Ziefern oder so, und wie dumm hatte sie sich angestellt, und wie war doch in der Wirklichkeit alles so ganz anders, als sie es sich eingebildet hatte!

Die schöne, große Dame, die so freundlich war, und das nette Fräuleinchen, die konnten ihr schon gefallen, und wenn man sich das noch überlegte, daß sie auf dem Theater spielten, und daß in der Zeitung so oft von ihnen die Rede war! Wirklich, Marie schämte sich, und sie faßte auf der Stelle den Entschluß, durch die außerordentlichsten Kochkünste ihre häßlichen Zweifel gutzumachen.

Vorerst führte sie die Damen in den oberen Stock und wies jeder ein behagliches, blitzsauberes Zimmer an und hatte wiederum ihre Freude an der Begeisterung dieser wirklich feinen Damen.

Die Herren wurden von Karl Eugen untergebracht, auch sehr komfortabel, und Karl Otto, der sich in seinem hübschen mit Biedermeiermöbeln eingerichteten und mit alten Stichen geschmückten Zimmer umsah, legte dem Hausherrn wiederum die Hand auf die Schulter und schaute ihn lange und tief an. »Glücklicher!« sagte er, nicht mehr, aber er sagte es so, daß reichstes Verstehen und Fühlen in dem einen Worte zum Ausdrucke kam.

In Kurts Zimmer blieb Karl Eugen und setzte sich auf ein Sofa, indes sich der Freund wusch und die Haare bürstete und sich mit wohlriechendem Wasser besprengte.

»Na, was sagst du dazu, Alter, daß wir dir so ins Haus gefallen sind?«

»Froh bin ich, Herrgott, glaubst du, das ist immer so amüsant hier? Oder meinst du, ich schwärme jeden Tag nur für Natur, so wie unsere Damen? Übrigens, hör' mal ...«

»Was, mein Junge?«

»Sag mal ... m ... m ... natürlich ist es sehr nett, daß du den Holmers mitgebracht hast, ist ja auch ein ganz interessanter Mensch, und was seine pommersche Vergangenheit anlangt, na ja ... ich verkehre lange genug mit euch, um das vollauf zu würdigen ... aber ... sag mal, ganz aufrichtig Kurt ... hat sich da was mit Anneliese?«

»Mensch! Junge!« brach Kurt los und bog sich vor Vergnügen über diesen unsäglich komischen Einfall seines Freundes. »Haste Töne! Anneliese und ... nee! So was auch nur zu denken! Du bist wohl nich janz unwohl? Was?«

»Na, so ganz unmotiviert ist der Verdacht nicht ...«

»Wieso?«

»Erstens, sie sind beide an eurem Theater und spielen vermutlich oft genug zusammen, zweitens ...«

»Du, hör mal, Karl Eugen, du bist doch so'n alter Theaterkenner, daß du das wissen könntest. Kollegen und Kolleginnen ... nee ... und gerade, wenn man zusammen spielt ...«

»Na, na, na! ...«

»Wenn ich dir sage. Das erste, was der Anfänger lernt, pfui Has'! ...«

»Zum Beispiel,« sagte Karl Eugen hartnäckig, »Heinz und Hermine. Willst du das auch bestreiten?«

»Hm ...« machte Kurt, »die Möglichkeit zugegeben ...«

»Möglichkeit ist gut. Erlaub du mir, wofür hältst du mich eigentlich?«

»Also gut! Wenn schon, mein Junge, Ausnahmen beweisen die Regel, und am Ende ist nicht jeder so von Illusionen abhängig wie ich, aber das sage ich dir – Anneliese! Das ist Unsinn ...«

»Ich dachte nur, weil er mitkam und so ... weißt du ... man hat so den Riecher ...«

»Aber 'n falschen, goldiger Junge! Ich kenne Anneliese wie mich selbst, und ich weiß, wie sie an dir hängt. Ich fürchte nur, allzusehr!«

Karl Eugen lächelte, sagte aber in gleichgültigem Tone: »Na ja ... möglich, daß ich mich täusche. Bist du fertig?«

»Im Moment ...«

»A propos, du sprichst natürlich nicht darüber?«

»Über was, mein Junge?«

»Na, was ich dir da sagte, über meinen Verdacht.«

»Keinen Ton, Liebster! Wie kannst du denken! Wir wollen doch rasend vergnügt sein – und dann, Othello, du kannst ja 'n bißchen achtgeben und dich selber davon überzeugen, wie grotesk dein Verdacht war – nee, so was! Anneliese und Karl Otto!«

»Dann sprechen wir nicht mehr darüber. Komm!«

Sie gingen vor das Haus und warteten auf die anderen Gäste. Heinz und Karl Otto kamen bald, die Damen ließen auf sich warten.

Karl Eugen warf Steinchen nach den Fenstern ihrer Zimmer, einen kurzen Augenblick tauchten Herminens stattliche und Anneliesens reizende Schultern in Spitzenhemdchen auf, lustige Schreie ertönten, und dann hieß es wieder warten.

»Hallo!« rief Heinz, »kommt doch, wie ihr seid!«

Die Damen erschienen erst nach einer weiteren Viertelstunde, dann aber frisch und rosig, ein bißchen mit Puder bestäubt und ein bißchen mit Lippenrot bemalt.

Nett anzusehen in den weißen Blusen und den fußfreien Röcken.

»Meine Damen!« sprach Karl Eugen mit einer ritterlichen Verbeugung, »entweder Spaziergang nach dem Wäldchen oder Besichtigung der Ställe. Sie haben zu entscheiden.«

»Wä ...« wollte Anneliese rufen, doch Hermine sagte: »Selbstverständlich müssen wir Karl Eugens Gut sehen.«

Und da rief Anneliese mit gleicher Begeisterung: »Ja! Ja! Wir müssen das Gut sehen! Die Ställe, bitte! Bitte! Die Ställe!«

Karl Eugen entschied: »Also zuerst die Pferde!«

Die Gesellschaft schritt mit ihm über den mit Kies bestreuten Hof; die Damen trippelten auf den Fußspitzen und rafften die kurzen Röcke zusammen und hoben sie ein klein wenig empor, obwohl rundum alles trocken war, aber es sah niedlich aus und paßte zu der Vorstellung, die man vom Landleben und von Gutshöfen hat.

Heinz ging breitbeinig und burschikos einher und reizte alle zum Lachen durch die Art, wie er den Hut schief setzte und auch sonst einen urechten Bauersmann spielte. Karl Otto allerdings lachte nicht. Karl Otto blieb alle paar Schritte stehen, warf Blicke rund um den Hof herum und schüttelte das Haupt.

»Merkwürdig!« rief er aus, »merkwürdig! Jede Einzelheit erinnert mich an unser Gut zu Hause. Hier« – er deutete nach rechts – »hier war das Gestüte mit den Laufstallungen, dort« – er deutete nach links – »waren die Schweineställe, und in der Mitte langgestreckt war der Kuhstall. Merkwürdig, wie das alles wieder zu einem spricht und die Erinnerungen weckt. Und der Geruch« – er schnupperte in die Luft – »ach! Das ist echter, rechter Stallgeruch. Das heimelt mich an ... ich bin wieder zu Hause, ich bin wieder jung! ...«

»Seht Karl Otto an!« rief Hermine, »er ist so ganz anders als in der Stadt! Man merkt ordentlich, wie er auflebt!«

Karl Otto reckte sich hoch und machte feurige Augen und zeigte auf jede Weise, wie recht die scharf beobachtende Hermine mit dem Wiederaufleben hatte.

Nun trat man in den Stall ein. Es standen acht Pferde darin; die zwei Schimmel und noch zwei schlanke Braune, dann vier robuste Ökonomiepferde.

»Die beiden,« sagte Karl Eugen und wies auf die Braunen, »die beiden sind ungarische Jucker. Ich werde sie morgen einspannen, wenn wir nach Mering hinüberfahren, und ihr sollt mal sehen, wie sie laufen ...«

»Echte Ungarn?« staunte Anneliese. »Gott! Müssen die feurig sein!«

»O ja, es sind gute Pferde; nicht Vollblut, aber ...«

»Kaltblut,« ergänzte Karl Otto mit sachverständigster Bestimmtheit.

»Hu! Kaltblut!« machte Anneliese und fröstelte, aber der Gutsherr beruhigte sie und sagte ihr, das sei nur so eine Bezeichnung für Pferde, die nicht ganz edel wären.

Da staunte das Kind über die Kenntnisse Karl Ottos. Man bewunderte noch einige Zeit die Tiere, die so ungemein kluge Augen haben, und einen Ausdruck darin, einen Ausdruck!

Hermine vermochte deutlich zu bemerken, wie sich das eine dicke Pferd zärtlich nach Karl Eugen umsah, und wie es die Ohren spitzte, als es seine Stimme vernahm.

»Ich bringe ihnen hie und da Zucker,« erzählte Karl Eugen.

»Ach! Siehst du!« triumphierte Hermine, »ich kannte es sofort, daß es etwas suchte. Aber wie schade, daß wir keinen Zucker mit haben! Was wird sich das arme Tier denken! Es konnte doch erwarten, wenn so viele Leute in den Stall kamen, daß man ihm etwas schenken werde – Seht ihr! Nun blickt es ganz enttäuscht weg! Ich werde zurücklaufen und Zucker holen ...«

»Ja, bitte, tu' das!« flehte Anneliese, aber Hermine blieb, weil Heinz gehen wollte, und Heinz blieb, weil Kurt gehen wollte, und der ließ sich dann auch von seinem Vorhaben abbringen.

Und eigentlich war es besser, daß Hermine nicht zurückeilte, denn mag man auch groß denken, aber es ist nie gut, ein konkurrierendes weibliches Wesen allein auf der Bühne zu lassen.

So mußte das Pferdchen enttäuscht bleiben, und die Gesellschaft verließ den Stall, um zu den Kühen hinüberzugehen.

Unterwegs besichtigte man den Geflügelhof.

Herrje! Was waren da für Hühner! Schwarze, gelbe, weiße, gesprenkelte. Orpington hießen sie und Silber-Wyandottes, Minorca und Ramelsloher, und Karl Eugen nannte sie alle mit diesen Namen und erklärte, daß die Minorca mehr Eier legten als die Orpington, daß aber die Orpington mehr Fleisch hätten und besser zu essen wären.

Ach ja! Wer so glücklich ist und immer auf dem Lande leben darf, weiß doch viele Dinge, von denen die Städter wenig oder nichts erfahren.

»Wir zu Hause,« erzählte Karl Otto, »bevorzugten die westfälischen Totleger und dann, ja, wie heißen doch die ... die ... die Campiner, ja, die aus Belgien stammen. Und als Masthühner hatten wir die Hittfelder. Meine Mutter verstand sich großartig darauf, und unsere Hühner waren direkt berühmt wegen ihrer Zartheit ...«

»Donnerschlag!« sagte Heinz heimlich zu Kurt, »ich habe den Kerl im Verdacht, daß er sich 'n paar Tage lang mit dem Konversationslexikon auf diese Landtour präpariert hat. Was?«

Kurt lächelte vielsagend.

»Alter Vorzug von Karl Otto! Er lernt seine Rolle und kommt fix und fertig auf die Probe.«

Sie wurden durch das laute Geschrei der Damen unterbrochen.

Da war ja eine Bruthenne mit zehn Kücken!

»Anneliese!«

»Hermine!«

»Ach, sieh nur, wie sie die Jungen unter den Flügeln hat, und wie böse sie uns ansieht ...!«

»Da!«

Hermine hatte das grobe Tier streicheln wollen, und es hatte wütend und ganz brutal nach ihrer Hand gehackt und hatte sie auch getroffen.

Und das blutete nun ein bißchen.

Heinz stürzte hinzu. Er war bestürzt, und Hermine fand, daß er einen Augenblick leichenblaß geworden sei. Jedenfalls riß er sein Taschentuch heraus und brüllte:

»Wasser! Wasser!«

Aber es stellte sich zum Glücke heraus, daß die kleine Wunde überhaupt nicht mehr blutete, nachdem Heinz die Lippen in wahnsinniger Hast daraufgedrückt hatte.

Die Aufregung legte sich.

»Du böses, garstiges Tier!« sagte Anneliese strafend. »Wie kannst du Hermine picken, die dich bloß ein bißchen streicheln wollte?«

Es war zu reizend, wie die niedliche Kleine vor dem Korbe stand und mit aufgehobenem Finger dem Huhn eine Strafpredigt hielt.

Alle bemerkten es, und Kurt rief: »Entzückend – Anneliese!«

Da hob die Kleine noch einmal den Finger auf und begann auf ein neues die Strafpredigt.

»Du böses, eifersüchtiges Tier! Kennst du Hermine nicht? Merkst du nicht, daß sie deine Mutterliebe bewundert hat? Und du hackst nach ihr! Pfui! Schäme dich!«

Alle blickten beifällig auf Anneliese, nur Hermine nicht, weil sie mit der Wunde beschäftigt schien, und das Huhn nicht, weil es ernstlich böse war und ganz so aussah, als wenn es auch dem reizenden Kinde was Ordentliches versetzen möchte.

Karl Eugen zog Anneliese vorsichtig zurück und zeigte dann seinen Gästen einen neuen Brutapparat.

Darin konnten ein paar hundert Eier ausgebrütet werden, und die Kücken wurden dann in einem Wärmekasten großgezogen.

»Aber wirkliche, lebendige kleine Hühner?« fragte Anneliese, die das nicht fassen konnte.

»Gewiß,« sagte Karl Eugen, »genau so lebendig, wie die von der Henne da.«

»Aber ohne Mutter! Kann man denn ohne Mutter ...? Nein, das verstehe ich nicht!«

»Nanu ... Anneliese!« sagte Hermine etwas spitz. »So von heute bist du doch auch nicht, daß du noch nichts von Brutapparaten gehört hast!«

»Ja, den Namen. Natürlich! Aber ich stellte mir darunter – oder eigentlich, ich stellte mir gar nichts darunter vor. Und ich versichere dir, Hermine ... nein! Ohne Mutter, das ist mir unfaßlich!«

»An der Mutter fehlt's ja nich, Kindchen!« sagte Kurt. »Die hat doch die Eier gelegt.«

»Ach so! Sie hat die Eier gelegt ...« wiederholte Anneliese und blickte sinnend vor sich hin. Dann schüttelte sie eigensinnig das Köpfchen und sagte energisch: »Nein! Ich werde es nie verstehen. Ohne Mutter!«

»Vielleicht kann dir Karl Otto diese Mysterien erklären.«

Hermine sagte das sehr anzüglich, und in Karl Eugen, der ihr einen raschen Blick zuwarf, regte sich der Verdacht aufs neue, und er nahm sich vor, der Freundin von ehedem einige Fragen vorzulegen.

Zu dumm, daß er nicht gleich daran gedacht hatte! Von Kolleginnen erfährt man so was immer, und wenn sie sich auch anfangs sträuben, sie ringen sich doch immer den bitter schweren Entschluß ab, alles zu sagen.

Auch Anneliese verstand die Anspielung der Freundin. Einen Augenblick lang kam ein fremder Ausdruck in ihre Kinderaugen, ein recht böser, aber er verschwand sogleich wieder.

Das kluge Mädchen sah, daß ihre liebste Kollegin gereizt war, daß sie sich vermutlich in den Schatten gestellt fühlte, und sie verstand, daß diese Empfindung geschont werden mußte.

Es bot sich gleich Gelegenheit, die Verstimmung zu beheben.

Als man den Geflügelhof verließ, hing sich Anneliese in Herminens Arm ein und zeigte froh erregt auf einen Star, der auf einem Baume saß und eifrig schwätzte, anscheinend mit seinem Weibchen, das neben ihm hockte. Die feinfühlige Hermine merkte, daß die Kleine die Hand zum Frieden bot, und sie ging darauf ein.

Man wollte sich doch amüsieren und nicht verzanken. Sie lächelte süß und rief: »Ach, der hübsche Star! Wie er mit dem andern spricht! Ich bin überzeugt, daß das seine Gattin ist. Wahrscheinlich war sie eifersüchtig, und er muß ihr sagen, wo er sich den Tag über herumgetrieben hat. Jetzt schlägt er mit den Flügeln! Das ist eine Beteuerung. Er sagt ihr, daß er die Nachbarin nur ganz zufällig getroffen hat. Siehst du, nun fängt sie an! Sie sagt, daß die Nachbarin, wenn sie eine ordentliche Starenfrau wäre, auch Eier haben müßte, und daß sie dann keine Zeit hätte, herumzustreunen. Aber natürlich, wenn man keine Pflichten kennt und keine Eier hat, dann gibt man sich mit allen möglichen Staren ab und möchte sie zum Leichtsinn verführen ...«

»Gott! Hermine! Wie du das erzählst! Kinder, hört doch, wie Hermine die Starensprache versteht! Bitte! Bitte! Du mußt es nochmal erzählen! Hört doch! Karl Eugen, hör' doch zu!«

Und Anneliese bat so dringend, daß Hermine nicht anders konnte.

Sie erzählte noch einmal und mit mehr Ausschmückungen, was der verlegene Herr Star und was die eifersüchtige Frau Starin einander sagten, und sie hatte einen durchschlagenden Erfolg, den stärksten bei Karl Otto, der stürmisch wurde und sich gar nicht beruhigen konnte und im vorwurfsvollsten Tone fragte:

»Aber Liebste! Warum schreibst du das nicht? Das ist doch ein reizendes Feuilleton! Hör' mal, ich werde mit Johann Ludwig sprechen: er wird sich dafür interessieren, du gibst mir doch die Erlaubnis? Kinder, das muß in die Zeitung! Versprich es mir, Hermine!«

Sie wehrte lächelnd ab. »Gott, so was sagt man aus der Stimmung heraus, aber schreiben! Nein, dazu ist es zu anspruchslos. Wirklich!« Und dann küßte sie Anneliese, die von der Begeisterung heiße Backen bekommen hatte.

Karl Eugen sah seine Unternehmung vereitelt, jedenfalls auf lange Zeit verschoben.

O die Weiber!

Sie führen den stummen Krieg mit ungesprochenen Worten, greifen an, schlagen zurück, und schließen Frieden.

Tja! Nichts zu machen.

Er fügte sich in die Tatsachen und schritt den Gästen voran in den Kuhstall.

Da standen in zwei langen Reihen die Kühe, einige Ochsen und ein Stier, und all dieses Rindvieh wühlte im Grünfutter, kaute und verdaute und benahm sich so wie immer, ohne jede Rücksicht auf die Besucher. Die Damen wollten hier streicheln und dort streicheln, aber keine Kuh ließ sich auf Liebenswürdigkeiten ein, jede schüttelte unwillig den Kopf und fuhr mit neuer Begierde in den duftenden Klee.

In einer gesonderten Abteilung standen fünf Kälber.

Sie ließen sich hinter den Ohren kraulen und waren überhaupt entzückende Geschöpfe.

»Wie süß! Sieh nur, Hermine!«

»Und da! Das kleinste! Sieh nur, Anneliese!«

Eine Kuh wandte den Kopf nach den Kälbern und brüllte.

»Das ist die Mutter von dem Kleinen,« sagte Karl Eugen.

»Ach nein« rief Hermine, »sie hat wohl Angst, daß wir ihrem Kinde etwas zuleide tun?«

»Und das Kälbchen hört ihre Stimme ...« sagte Anneliese, »seht nur, wie es am Stricke zerrt und weg möchte! Zur Mama, um ihr zu sagen, daß es noch da ist, und daß ihm nichts fehlt. Ach Gott! Du Gutes! Nein, wir tun dir nichts, und Mamachen kann ganz beruhigt sein. Wir tun ihm nichts ...«

»Es möchte bei der Alten saufen,« sagte Karl Eugen etwas landwirtlich derb.

»Ja? Aber dann wollen wir es hinführen,« sagte Hermine.

»Es ist noch zu früh.«

»Schade! Der Anblick ist immer so rührend.«

»Könntest du nicht doch?«

»Nein, Kinder!« sagte der Hausherr bestimmt, »dem Schweizer darf ich nicht ins Handwerk pfuschen.«

»Was geschieht nun eigentlich mit so einem Kälbchen?« fragte Anneliese.

»M ... m ... entweder – oder. Entweder man zieht es auf – oder man gibt es dem Metzger.«

»Dem ... nein!« schrie die Kleine. »Um Gottes willen! Du wirst doch nicht, Karl Eugen? Bitte, sag', daß du es aufziehen willst!«

Er zog die Achseln hoch.

»Tja ... Das läßt sich heute noch nicht entscheiden, Anneliese. Das kommt ganz darauf an.«

»Auf was?« stieß sie hervor.

»Na ... ob es sich gut auswächst ... ob es stark wird ... ob es eine tüchtige Kuh zu werden verspricht.«

»Es wird! Ganz bestimmt, Karl Eugen, es wird!«

Der erfahrene Landwirt lächelte.

»Hoffen wir ...« sagte er.

»Ich gehe nicht vom Kälbchen weg, bevor du mir nicht versprochen hast, daß es am Leben bleiben darf. Karl Eugen, du mußt mir das feierliche Versprechen geben.«

»Ich sage dir ja ...«

»Nein! Kein entweder – oder, keine Ungewißheit! Schwöre mir, daß du es nicht dem Metzger geben wirst! Du darfst mir das nicht abschlagen. Karlchen! Karl Eugen! Warum läßt du mich überhaupt so lange bitten?«

Es klang wahrhaftig echt, es war ein Unterton darin, der beinahe echt war ... und Hilgermoser hörte ihn heraus, bezog ihn auf die stumme Szene, die vorausgegangen war, und willigte ein.

»Also gut! Dir zuliebe soll es am Leben bleiben. Eigentlich« – er lächelte – »war es schon für den Metzger bestimmt.«

»Dann habe ich ... Du Guter!« Anneliese flog ihm an den Hals und gab ihm einen herzhaften Kuß.

Warum nicht?

Welcher feinfühlige Mensch und Künstler hätte diesen schönen Ausbruch unschicklich finden können?

Alle wünschten Anneliese Glück zu dem Erfolge, und Hermine, die auch überquellen wollte, umarmte die Freundin und dankte ihr dafür, daß sie den Alpdruck von ihrem Herzen genommen habe.

»Ich hätte nicht schlafen können,« versicherte sie, »immer hätte ich die arme Kuh vor Augen gehabt, wie sie sich umwendet und das Kälbchen sucht. Ich danke auch dir, Karl Eugen. Wirklich!«

Blinkte nicht ganz verstohlen eine Träne in ihren Augen?

O ja! Sie blinkte.

Und dann kam eine ganz entzückende Szene.

Anneliese beugte sich zu dem Kälbchen nieder und rief ihm in das eine Ohr: »Du wirst nicht dem garstigen Metzger ausgeliefert, du wirst nicht getötet werden! Du wirst hierbleiben bei der Mama und wirst groß und stark werden, und dann, weißt du, wirst du selbst einmal ein Kälbchen kriegen, und wir werden es besuchen und werden es ebenso streicheln wie dich, du Gutes!«

Die Stimmung aller war gehoben. Man war Zeuge eines edlen Vorkommnisses geworden, und Heinz schlug Karl Eugen auf die Schulter, so wie ein Oberst auf der Bühne einem wackeren Soldaten auf die Schulter schlägt.

»Brav, mein Junge, ich bin mit dir zufrieden. Mach' nur so weiter!«

Das lag darin und war gut herausgebracht.

Man schenkte den übrigen Rindern keine rechte Aufmerksamkeit mehr.

Doch erregte es Heiterkeit, als Anneliese durchaus wissen wollte, warum das eine Tier in der Ecke ein Ochse, und das gegenüber ein Stier sei, und was da für ein Unterschied sei, und wieso und warum.

An dem unbändigen Gelächter der Herren und an ihren vielsagenden Blicken ließ sich's merken, daß Verfängliches berührt war, und Anneliese mußte rot werden, und Hermine mußte ihr etwas ins Ohr flüstern, und dann mußten die Damen noch lauter lachen, und konnten nicht aufhören zu lachen, und wenn sie sich ansahen, brachen sie wieder los und nahmen die Taschentücher vor und trockneten sich die Augen.

O Anneliese! Du törichtes Kind!

Nein! Denkt euch nur, sie stellt sich hin und will nun partout wissen, was den Ochsen fehle – nein!

Das hat sie nicht gefragt – sondern was der Unterschied sei und wieso und warum.

Kurt stellte sich breitbeinig hin und lachte eine Skala im Basse herunter ... ha ... ha ... ha ... ho ... ho ... ho ...

»Wie sag' ich's meinem Kinde? Ho ... ho ... ho ...«

Vom Hause herüber tönte die Glocke.

»Meine Herrschaften, wir werden zu Tisch gerufen,« sagte Karl Eugen, und so ging man kichernd und wieder hell hinauslachend über den Hof.

In der Gartenveranda war der Tisch freundlich gedeckt; Vasen, gefüllt mit frischen Feldblumen, standen darauf, und man konnte sich sehr behaglich fühlen in der Erwartung reicher Genüsse, mit dem Blicke hinaus auf den gepflegten Garten.

Die Damen hatten einiges an sich zu richten und holten aus den Täschchen, die sie wie immer bei sich trugen, Puderdöschen und Puderquasten, und Kämme und Haarnadeln und Fläschchen mit Lippenrot.

Sie tupften und strichen an sich herum, und als sie fertig waren, bewunderte Anneliese die frisch aussehende Hermine und Hermine die entzückende Anneliese.

Was schon der kurze Aufenthalt in der Landluft ausmacht! Die Haut fühlt sich frischer an, man fühlt sich wohler und ist elastischer.

Hermine streckte sich vor dem Spiegel und strich sich prüfend über die Taille.

»Ich glaube,« sagte sie, »ich habe heute zwei Pfund abgenommen. Ich habe auch das Gefühl, daß ich nicht voll bin.«

»Überhaupt, wie du schlank geworden bist!«

»Ich fletschere, weißt du. Seit Januar fletschere ich. Olly hat in vier Monaten über sechzehn Pfund abgenommen, und da entschloß ich mich auch dazu. Ich finde, man ist sich das schuldig.«

»Dick warst du aber nie, Hermine.«

»Nicht gerade dick, aber doch so ... so ... wie soll ich sagen? Ich hatte immer und ewig das Gefühl ...«

»Zu Tische! Die Krebse werden kalt ...« rief der Hausherr und klatschte in die Hände.

»Oh, Krebse!«

Hermine gab hastig der Freundin einen Kuß, und beide stürmten in die Veranda.

»Oh, Krebse! Das ist ja himmlisch!«

Sie waren rot und schmeckten gut und machten den Schmausenden viel Arbeit. Sie nett zu bewältigen, ist eine Kunst, die auf guter Erziehung beruht.

Bei Karl Otto fehlte sie gänzlich. Die andern aßen wohl auch zu hastig und verrieten zu sehr den Genuß, den sie empfanden.

Aber Karl Otto schmatzte, sprach mit vollem Munde, riß und zerrte an den Schalentieren mit beiden Händen, bohrte gewalttätig an ihnen herum, saugte sie aus, und beschmierte Finger, Mund und Nase und sogar den vordersten Lockenbüschel, der nach vorwärts fiel und bei der furchtbaren Anstrengung in den Teller hing.

»Kinder!« schrie er, indes er an einer Schere kaute, »großartig! Sind die alle hier gefangen?«

»Sie sind aus meinem Fischwasser.«

»Landleben und Natur!« rief Karl Otto und bohrte seine Zunge in den Brustkorb eines Krebses, »was kann sich der Mensch Idealeres denken? Durch die Felder schweifen, das Wild erlegen, die Krebse fangen ... das ist doch ureigentliches ... urechtes Leben ...«

»Na ... sie essen ist auch nicht übel,« warf Kurt ein.

»Gewiß nicht,« gab Karl Otto zu, »aber so aus dem Eigenen zu leben, unabhängig von der Welt ... das ist das Schönste. Ich habe es in meiner Jugend genossen und bringe die Sehnsucht danach nicht los. Ich werde meine Tage auf dem Lande beschließen, ich werde in die Natur zurückfliehen und nichts mehr wissen von dem hohlen Flittertand.«

Nach den Krebsen gab es Suppe und Braten und frische Spargel und ... doch es ist nicht nötig, alle Gerichte aufzuzählen.

Jedes einzelne erregte Begeisterung, und immer aufs neue wurde die Tatsache staunend hervorgehoben, daß dies und jenes bei Karl Eugen gewachsen sei, von Karl Eugen selbst gepflanzt, von Karl Eugen gezogen, gepflanzt und gepflückt worden sei.

Man trug Hymnen auf das Landleben, Hymnen auf den kernigen Mann vor, der so mitten in seinem Eigenen wirke und lebe.

»Nein, wirklich!« sprach Hermine, »mein Ideal eines Mannes war immer das ...«

»Welches?« fragte Kurt.

»Ein freier Herrscher auf seinem Eigentum, eingewurzelt ... ja ... ein ... ach Gott! Nun lach' mich doch nicht aus, Kurt!«

»Aber nein, Liebste, wie kannst du nur denken? Ich freue mich über deinen Enthusiasmus, den ich teile. Sieh mal an, und dann finde ich, daß du eigentlich den besten Trinkspruch auf unsern herrlichen Karl Eugen gehalten hast.«

Alle stimmten begeistert zu, und Kurt hob sein Glas:

»Also, der Herr auf seinem eigenen Boden, der liebenswürdigste Gastgeber, das Ideal von Hermine und – jawohl – und von uns allen ... er sei bedankt, er lebe hoch!«

Man jubelte, und die Gläser klangen, und man küßte sich.

Und dann kam die Bowle, die Riesenbowle.

Man mußte beachten, wie Kurt an die Mischung heranging, wie er mit unnachahmlicher Meisterschaft die Vorbereitungen traf, auch das kleinste nicht übersah, und wie er dann den großen Moment der eigentlichen Bereitung brachte, mit feierlicher Miene Flasche auf Flasche in den Behälter goß, versuchte, mischte, sorgenvoll und gespannt aussah, bis endlich das letzte geschehen war und ein triumphierendes Lachen sein Antlitz verschönte.

Nun sollt ihr sagen, ob ihr je eine bessere Bowle getrunken habt, und ob dazu je der Mond so silbern und Schauer des Entzückens erregend geschienen hat.

Ein seliges Künstlervölkchen genoß hier die schönsten Stunden.

Die Männer blickten ernst und bedeutend, jeder in eine herrliche Rolle sich versenkend, an große Erfolge sich erinnernd, von größeren träumend, die Damen zerflossen in Wonne und stilles Glück und traten rechts und traten links auf geliebte Füße, duldeten hier zärtlich einen leisen Druck und übten ihn dort nicht minder zärtlich aus.

Und alle schwelgten in Bowle, Maiennacht und Zufriedenheit.

Man ließ noch immer kein Licht brennen, es saß sich so traulich im Mondenschein.

Da – plötzlich – stieß Anneliese einen Schrei aus.

»Was ist?«

»Kindchen!«

Karl Eugen drehte das elektrische Licht an, und alle Blicke richteten sich auf die Kleine, die traurig das Köpfchen hängen ließ.

»Anneliese, was ist nur?«

Da sagte sie mit klagender Stimme: »Das Kälbchen!«

»Was? Welches? Wieso?«

»Das Kälbchen im Stalle! Ich sah es jetzt plötzlich vor mir; mit todtraurigen Augen schaute es mich an, und ich dachte, wenn es der Metzger fortführt, und nimmt das Messer und sticht es tot! Nein, bitte! bitte! Karl Eugen, nicht wahr, du hältst dein Versprechen? Das Kälbchen bleibt am Leben?«

Sie fiel dem etwas überraschten Hausherrn um den Hals und begann zu schluchzen.

Alle beschwichtigten das Kind.

»Sie ist müde,« sagte Hermine gütig und verstehend, »und dann die Bowle! Ich meine, es ist Zeit, daß wir zu Bett gehen.«

»Ja ... schlafen!« bat Anneliese.

Und die Damen zogen sich zurück.

Die Männer blieben noch lange, tranken und vergaßen Natur und Landleben, sogar Pommern mit seinen Reizen und Jugenderinnerungen, über den Zuständen auf allen deutschen Bühnen und über der merkwürdigen Berühmtheit, deren sich schlechte Schauspieler erfreuen.

Endlich gingen auch sie, und stille war es im Hause.

Nur manchmal war es, als ob ein Dielenbrett knarrte, als ob etwas über den Gang huschte.

Doch es war wohl Täuschung, denn am andern Morgen rühmten sich alle, wie herrlich tief sie geschlafen hatten.

Und Anneliese erzählte, daß sie vom Kälbchen geträumt habe.

Das Kälbchen war zu ihr ans Bett gekommen und hatte dankbar und zutraulich das Köpfchen an sie gedrückt.


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