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Die Familie Fehse saß in einem Wirtsgarten, von dem aus man einen schönen Blick über den See und die Berge hatte.
Henny stand auf und ging zum Ufer hinunter, wo sie Bekannte traf.
Eine zahlreiche, bunte Gesellschaft bummelte hier auf und ab, stand in Gruppen beisammen, schwätzte, lachte, machte Bemerkungen über bekannte Persönlichkeiten oder auffallende Erscheinungen. An diesen fehlte es nicht.
Damen jeden Alters zeigten sich in Dirndlgewändern, manche in echten, die meisten in Kostümen, die aus Maskenverleihanstalten entnommen schienen.
Börsianer stolzierten in kurzen Lederhosen herum; daß sie es nicht zu arg mit dem Bergkraxeln vorhatten, zeigten ihre Bäuche und die dünnsohligen Schuhe.
Herr Fehse sah seine Tochter bei einer stattlichen Dame stehen; ein wohlgenährter, junger Herr gesellte sich zu ihnen. Er trug auch eine gemslederne Hose, und seine Knie quollen rund und rosig über grasgrünen Wadenstrümpfen hervor. »Wer ist der Fatzke?« fragte Herr Fehse.
»Aber ich bitte dich...«
»Sieh dir doch den Salontiroler an! Wenn der nich Karikatur ist...«
»Es ist der junge Stresow.«
»Stresow und Lademann, Spreewerke?«
»Ja. Die Dame ist die Geheimrätin Calmon, verwandt mit ihm, ich glaube, seine Tante. Nu sehen sie zu uns herauf.«
Frau Fehse verbeugte sich lächelnd, als die Geheimrätin grüßend den Schirm schwenkte.
Gleich darauf kam Henny mit Herrn Stresow in den Wirtsgarten.
Der gewandte junge Herr stellte sich vor und bat die Herrschaften, sich einem Ausfluge zum Bauern in der Au anzuschließen.
»Meine Tante würde sich sehr freuen.«
»Gerne«, sagte Frau Fehse.
»Wie weit is es?« fragte ihr Mann.
»Ne leichte Stunde, aber schattiger Spazierweg am Bache, oben famoser Aufenthalt, und der Heimweg ganz herrlich über Bergwiesen.«
Papa sagte zu, da sich seine Tochter für den Plan begeistert einsetzte.
»Bankier Redantz mit Frau wird mitkommen. Vielleicht kennen Sie die Herrschaften?«
»Redantz in der Behrenstraße?«
»Ja.«
»Kenn ich. Na, hier trifft man ja das halbe Berlin.«
»Sie sind Münchner geworden?«
»Seit letzten Oktober, ja.«
»Leider«, sagte Mama Fehse.
»Sie sind nicht zufrieden mit dem Tausch?«
»Ich gewiß nicht. Mein Mann hat sich etwas ganz anderes versprochen.«
»Nu soll ich wieder das Karnickel sein.«
»Du hast uns doch so viel erzählt von der Gemütlichkeit.«
»Wir haben Papa noch einen Winter Gnadenfrist gegeben«, fiel Henny lachend ein. »Wird es wieder so gräßlich langweilig, dann...«
»Ich muß sagen, für langweilig habe ich München nicht gehalten«, erwiderte Stresow.
»Huh!... Vielleicht nicht für Herren am Stammtische, aber für uns...« Mama Fehse zog die Achseln hoch. »Gesellschaft fast gar nicht, und wenn, dann ganz anders, als wir es gewohnt sind. Ich glaube, eine echte Münchnerin empfindet ihre Anwesenheit selbst als störend für die Herren, die sich ohne Damen besser unterhalten.«
»So schlimm is es ja nich«, sagte Herr Fehse, »aber schön is anders.«
»Daß du das endlich zugibst...«
»Endlich! Da haben wir wieder mal ein Beispiel echt weiblicher Ungerechtigkeit und Inkonsequenz... Jawohl, Inkonsequenz. Ich mußte es zuerst büßen, daß sich eine mir sehr nahestehende Dame alles mögliche versprach von der künstlerischen Geselligkeit, dem heiteren Leben, der Ungezwungenheit et cetera. Natürlich war es nicht so, wie man sich's ausgemalt hatte. Und wer is der Schuldige? Ich...«
»Wir wollen das Thema nicht weiter ausspinnen«, sagte Frau Fehse. »Es hat uns diesen Winter lebhaft genug beschäftigt. Sie kennen Tegernsee schon lange, Herr Stresow?«
»Erst seit vorigem Sommer, aber meine Tante Calmon ist hier eingebürgert. Wie gefällt es Ihnen, gnädige Frau?«
»Gut. Wir wohnen allerdings etwas abseits auf dem anderen Ufer...«
»Man muß sich hier zusammenschließen, Partien machen.
Vielleicht sagt Ihnen heute der Anfang zu...«
»Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar...«
»Wenn Sie mir gestatten ich bin allerdings nur mehr kurze Zeit hier.«
»Schon wieder fort?«
»Ich muß beim Regiment einrücken, zur Herbstübung.«
»Sagen Sie mal, Herr Stresow, der Bankier Redantz, hat der nich erst vor kurzem geheiratet?« fragte Papa Fehse. »Eine Dame vom mecklenburgischen Adel?«
»Das ist sein Bruder.«
»Richtig ja... Der die Kabelwerke hat«
Loisl saß unter einer Fichte, wo er gute Deckung und freien Überblick über etliche Schläge und Waldwiesen hatte. Vom Wege, der zum Bauern in der Au führte, tönte Geschrei und Juchzen zu ihm herauf. Er sah helle Kleider, bunte Sonnenschirme. »Plärrete Luada!« brummte er vor sich hin. »Staad geh' kunnten de Leut net.«
Plötzlich gab es ihm einen Riß; drüben am Waldrand war ein roter Fleck aufgetaucht und wieder verschwunden.
Er zog schnell sein Perspektiv aus dem Futteral, stellte es ein und wartete. Da kam es wieder rot unter den Boschen, und dann ins Freie heraus.
»Deifi! Is scho... Herrgott, bis da umma blitzt dös Gwichtl... er is scho, der guate Bock. Wia leicht kunnt man sie zuawi pürsch'n! Waar dös net was anders, als wia dahoam hocka und poussier'n? Jetzt wirft er auf: aha, de Goas...«
Loisl steckte ärgerlich das Perspektiv zusammen und sah mit freiem Auge, wie der Bock hinter der Gais herjagte, bergauf, bergab, hinter den Bäumen verschwand und wieder herauskam.
»Da is er. Aber ob si mei Baron net wieder anderst b'sinnt...«
Er stand auf und pürschte von dem Platze weg, langsam aufwärts.
Er war noch nicht weit gekommen, als der Hund die Leine straff anzog.
»Was hast denn, Lalli?«
Loisl blieb vorsichtig stehen und horchte nach dem Dickicht hinüber, das durch ein trockenes Bachbett von ihm getrennt war.
Es war wie leises Fiepen gewesen... da! noch mal und lauter.
Gleich darauf brach ein Schmalreh in voller Flucht aus dem Dickicht heraus, die Rinne hinauf, daß die Steine zappelten.
Ein starker Bock hintendrein, brunftend mit keuchenden Lauten.
»Jetza!« sagte Loisl, und ein frohes Lachen ging über sein gebräuntes Gesicht.
»Der waar glei no der besser... 's Gwichtl is vielleicht net ganz so hoch, aber no stärker und ganz dunkel... Herrgottsakra! Kannt dös a Freud sei... den schiaß'n und nacha den andern o'pürschen. Aber na... bei de Weibsbilda muaß er hocka... Brav! Hirschmanndl, brav!«
Der Hund zitterte vor Aufregung, blieb aber unbeweglich stehen.
Loisl wartete. Als sich nichts mehr hören ließ, ging er vorsichtig zurück und kam auf den Weg hinunter, der zum Bauern in der Au führte.
»Was tua'r i jetzt? I muaß's an Baron z'wissen macha, daß erma morg'n net wieder umsteht... Hoam geh? Na... i schreib eahm an Zettl, den muaß ma da Hansgirgl abi trag'n. So mach i's. Kaff ma'r ins a Maß Bier, schadt aa net, und na schreib i eahm...«
Er schritt besser aus und war bald beim Bauern in der Au.
Im Garten saßen Sommergäste, viele Damen darunter. Alle wandten sich nach dem reckenhaften Burschen um, der es nicht zu beachten schien und doch beachtete.
Seine Haltung straffte sich, und in seinem Gange lag noch mehr geschmeidige Kraft.
»Nelly, das ist er!« sagte Herr Fehse laut.
»Wer?«
»Der Jäger, der mir gestern auffiel. Ein Prachtskerl...«
Frau Fehse musterte ihn durchs Lorgnon.
»Ein strammer Bauernbursche«, sagte sie nicht ohne Anerkennung.
»'n bißchen mehr sogar. Noble Rasse...«
»Was heißt nobel?«
»Herr Stresow, Ihr unparteiisches Urteil.«
Der junge Herr sah dem Jäger gleichgültig nach.
»Nich übel. Man sieht hier überhaupt ab und zu gute Figuren. Macht auch die Tracht.«
Er trug sie selbst, und da er ein Bein übers andere gelegt hatte, quetschte sich das Fleisch in die Breite.
»Der würde im Frack erst recht Aufsehen erregen«, opponierte Fehse.
»Weiß ich nicht«, erwiderte Stresow höflich, aber mit betontem Zweifel. »In der Uniform, das ist wenigstens meine Erfahrung, sehen die Kerls alle plump aus.«
Henny schwieg.
Junge Damen können sich nicht sachverständig zeigen, aber junge Damen haben flinke Augen, und Henny hatte bemerkt, daß der bildschöne Bursche sie mit einem bewundernden Blick gestreift hatte.
Und sie hatte ihn erwidert, deutlich, mit einem fröhlichen Aufleuchten.
Loisl ging ins Haus; an der Türe wandte er sich um, und ihre Blicke kreuzten sich wieder.
Da wurde ihm eigen zumut.
Schon oft hätte ihn ein Stadtkind lustig und keck angesehen, aber die da kam ihm anders vor.
Viel hübscher, viel... ja, was denn gleich?
Jedenfalls dachte er darüber nach, und das hatte er sonst nie getan.
Er stand in der Küche vor der Hauserin und wußte beinahe nicht mehr, warum er gekommen war.
»Loisl, was geit's?« fragte die behäbige Frau.
»Ah so... ja... kunnt ma net da Hansgirgl a Botschaft an mein Baron abi bringa? I muaß auf d'Hütt'n und sollt eahm aba was z'wissen macha.« –
»Warum net? Da Bua hat leicht Zeit.«
»Da Baron werd eahm scho a Trinkgeld geb'n.«
»Braucht's net; der lafft leicht abi und versammt nix. Hast d' ebbas Schriftlichs?«
»I schreib's glei, wann'st mir a Babier gibst und a Dint'n.«
Die Hauserin kramte in einem Kasten herum und fand bloß einen Briefbogen, der mit schnäbelnden Tauben und Blumen verziert war.
»Er is no von da Leni«, sagte sie. »De sell hat oiwei was zu'n schreib'n g'habt. Tuat's der?«
»Leicht. I dank dir schö.«
Loisl setzte sich an den Tisch und schrieb langsam und mit Bedacht.
»Werther Herr Barahn!
Heite in Namittag habe in einer Reißen vorn Zwergelgraben noch einen andernen Bock gesehen und ist selbiger gleich noch der besserne, wie der anderne vom Zwergelgraben, wo aber auch noch da ist und fleißig trieben hat. Und kennte der Herr Barahn die zwei Böcke leicht schießen. Bitte daher instendig, das Sie ja gewiß kohmen. Ich warte um drei Uhr beim Moarstadei, wo Herr Barahn schon wissen. Mit heflichster Bitte nochmals
Loisl Heiß.
Bald Herr Barahn bis um vieri nicht da sind, weis ich, das Sie nicht komen und wäre aber sehr draurig darieber. Wann Sie dem Bothen etwas geben möchten. Er ist ekstra deßweng hinunter.«
Loisl steckte den Brief in ein kleines Kuvert, das etliche Fettflecken hatte, und gab ihn dem Hansgirgl, einem vierzehnjährigen Buben, dessen sommersprossiges Gesicht durchtriebene Schlauheit verriet.
»Da... schaugst d', daß d' an Herrn selber triffst, und gibst eahm dös Briafel. Sag no, es hätt pressiert, und es waar dringend. Er gibt dir scho a Trinkgeld.«
Hansgirgl schlug von der Küche weg einen guten Trab an und verfiel erst, als er außer Sicht war, in ein gemächliches Schlendern.
»Trinkst a Maß, Loisl?« fragte die Hauserin.
»Kannt net schad'n.«
»Bleibst d' bei mir herin?«
»Na, i bin liaba draußd; heut is mir z'hoaß in da Kuchl...«
Er ging hinaus und setzte sich an einen Tisch vor die Küche. Man übersah von da aus den Garten und konnte auch die Familie Fehse im Auge behalten.
Aber so hin und her mit Blicken ging es nicht; das hübsche Mädel redete mit ihrem Tischnachbar und sah nicht herüber.
Loisl ärgerte sich, daß er so vor allen Leuten da saß, und trank seinen Krug ziemlich rasch aus.
Als er aufstand und sich auf den Weg machte, traf ihn doch noch ein ausgiebiger Blick, an den er lange denken mußte.
Und wie er am Abend vor der Jagdhütte saß und sah, wie die Dämmerung vom See herauf über die Berge bis zur letzten verglühenden Spitze kletterte, fielen ihm wieder die fröhlichen Mädchenaugen ein.
Die Weiberleut können viel ausrichten, hatte der alte Festl gesagt.