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Im Berufe

Zwei Semester war ich an der Forstakademie in Aschaffenburg, dann ging ich zur Rechtswissenschaft über, studierte in München und Erlangen, wo ich nach Ablauf der vorgeschriebenen Zeit das Examen bestand.

Meine Erlebnisse auf der Hochschule waren die herkömmlichen, so sehr, daß ich sie nicht zu schildern brauche.

Damals, als ich die Schlußprüfung ablegte, war es noch Sitte, dem erfolgreichen Kandidaten den Zylinder einzutreiben.

Meine Freunde harrten vor der Türe auf mich und schlugen mir den Hut bis zu den Ohren hinunter. Da wußten die Bürger, die uns begegneten, daß aus dem Studenten ein Rechtspraktikant geworden war, und nickten mir beifällig zu.

Am Abend zogen wir zum Bahnhofe hinaus, und ich fuhr heim ins Berufsleben, das mit der Praxis beim Amtsgerichte Traunstein anfing.

Rückblickend auf mein Studium, kann ich sagen, daß ich das meiste aus Büchern lernte und vom bestimmenden Einflusse eines Lehrers nichts zu fühlen bekam.

Wenn ich lese, daß jemand durch eine führende Persönlichkeit aus dem Dunkel ins Licht geleitet wurde, kann ich mir keine rechte Vorstellung davon machen, denn was ich vom Katheder herunter vortragen hörte, war trockene Wissenschaft, die man nachschrieb, um dann zu finden, daß es gedruckt nicht anders zu lesen war. Dagegen habe ich mir persönliche Erinnerungen an etliche Professoren bewahrt.

Sie waren ziemlich alte Herren und wirkten auf mich wie Überbleibsel aus der Uhlandzeit, paßten auch in das Bild der kleinen Universitätsstadt, in der man so viele Erinnerungstafeln an berühmte Theologen, Mediziner und Juristen sieht.

Sie waren Sonderlinge von einer Art, nach der man Heimweh haben darf.

Der alte Gengler mit seinen langen, weißen Haaren und den blanken Kinderaugen war der Gelehrte aus der Biedermeierzeit, weltfremd, verloren und verträumt, ganz in seine Welt der Deutschen Rechtsgeschichte eingesponnen, und doch recht lebhaft, fast leidenschaftlich, wenn er von Freiheiten sprach, die es einmal gegeben hatte. Man belegte damals die Collegia persönlich bei den Professoren. Als ich Gengler besuchte, war er schüchtern wie ein Kandidat, saß ganz vorne auf dem Stuhlrande und hielt das Gespräch mit Mühe im Gange.

Vom alten Makowitzka, dem Nationalökonomen, ging die Sage, er sei Anno 48 zum Tode verurteilt und begnadigt worden.

Das stimmte nicht, wie ich später hörte, vielmehr hatte er eine geringe Freiheitsstrafe erhalten, aber in Erlangen, wo man noch Erinnerungen an Sand hochhielt, ließ man nicht ab vom Glauben an das Henkerschwert, das über dem braven Herrn geschwebt haben sollte.

Er empfing mich im Lehnstuhl sitzend, die fast erblindeten Augen durch einen Schirm geschützt.

Mehrmals wiederholte er die Frage, ob es mein ernster Vorsatz und Wille sei, bei ihm zu belegen, und als ich höflich darauf bestand, sagte er: »Ja, also dann lese ich … es war nämlich noch ein Herr da, und da Sie nun zu zweit sind, werde ich die Vorlesung abhalten.«

Der andere und ich, wir sahen uns im ersten Kolleg etwas süß-säuerlich an, denn da gab es nun einmal kein Schwänzen, wenn wir nicht unsern Lehrer kränken wollten.

Professor Lüders, Philister der Hannovera und Korpsbruder Bismarcks, war ein distinguiert aussehender, sehr wohlhabender Herr bei hohen Jahren.

Er lehrte Strafrecht, sprach sehr gemessen, mit hannöverschem Akzente, und wenn sich Unruhe bemerkbar machte, konnte er würdevoll sagen: »Meine Herren, ich muß um Ruhe bitten … übrigens, mein Name ist Lüders, ich wohne in der Friedrichstraße Nummer 2 …«

Von seinem einzigen Leibeserben sprach er als von seinem Sohne und Korpsbruder Karl …

Zu den Originalen, an denen es in Erlangen nicht fehlte, gehörte der Anatomiediener, ein alter Student und Korpsphilister; dann waren sehr hohe Semester vertreten, verbummelte Herren von vierzig und mehr Jahren, darunter ein Grieche, der Papadakis oder so ähnlich hieß und, als obdachlos aus der Stadt verwiesen, sich in den Bierdörfern herumtrieb, bis er eines Tages erschlagen wurde.

Von besonderer Art waren auch die Bürger, die sich über Mensuren und Abfuhren unterhielten; die Handlungsdiener und Friseurgehilfen, die Verbindungen gründeten, Wein- und Bierzipfel trugen und sich studentisch gebärdeten, und die jungen Damen, die für Burschenschaft oder Korps eintraten, kurz diese kleine Welt, die ich nun verließ, um sie nirgends mehr zu finden.

In mein letztes Semester fiel die Erregung über die Entlassung Bismarcks, vielmehr der Mangel an Erregung darüber, und gerade der blieb nicht ohne Einfluß auf meine Entwicklung. Ich war nicht naseweis, und ich harrte auf die bedeutenden Worte der Älteren.

Da sah ich mit Erstaunen, wie ein ganzes Volk den Verlust seines größten Staatsmannes und seines Kredits im Auslande wie eine Schicksalsfügung hinnahm, ich sah, wie man hausbackene Erklärungen dafür, daß ein junger Kaiser keinen alten Kanzler wollte, suchte und fand, wie man die Willkür eines Dilettanten zufrieden oder unzufrieden, aber jedenfalls ergeben trug.

Nicht der Triumph der Gegner Bismarcks, die Geduld seiner ehemaligen Anhänger brachte mich um alles gläubige Vertrauen und schärfte mir den Blick für die Knechtseligkeit des deutschen Spießbürgers.

Ein englisches Witzblatt brachte damals ein Bild, wie der Lotse das deutsche Schiff verläßt. Es traf den Nagel auf den Kopf; aber in Deutschland sah man schweigend zu, wie unberufene Hände das Steuer ergriffen, und wie im gefährlichsten Fahrwasser der Zickzackkurs begann.

Manches Mal noch hörte ich in der folgenden Zeit jeder Taktlosigkeit gemütvoll und loyal Beifall spenden, und ich fragte mich bescheiden, ob diese erfahrenen Männer nicht am Ende besser sähen als ich.

Nur allmählich löste sich aus Zweifeln der gründlichste Abscheu vor dem Treiben los, dem ich später, so oft ich konnte und so scharf ich konnte, Ausdruck gab.

Ein Vorfall, den ich bald nach der Heimkehr erlebte, zeigte mir, daß es nicht lauter Gleichgültige und Ängstliche gab.

Ich saß mit den Forstmeistern der traunsteiner Gegend in einem Bierkeller, und das Gespräch kam selbstverständlich auf die Entlassung des Reichsgründers, auf Undank und Jämmerlichkeit, und es wurde mit Schärfe geführt.

Schweigend saß ein alter Forstmann aus Marquartstein am Tische, der sich, wie man mir erzählte, im Kriege von 1870 oft bewährt und ausgezeichnet hatte; er trank still, aber grimmig und reichlich Bier, und plötzlich sprang er auf seinen Stuhl und schrie saftige Majestätsbeleidigungen übers Publikum hinweg.

Erschrocken faßten ihn die andern am Rockschoß und wollten ihn herunterziehen, aber der alte Krieger war in Feuer geraten und wiederholte hartnäckig seine Worte, bis man ihn endlich in die Versenkung brachte.

»Und von mir aus passiert mir, was mag!« schrie er. »Das is mir wurscht …« Es passierte ihm nichts, und es war schön, daß sich unter den Hunderten nicht einer fand, der den Alten denunzierte oder ihn durch leichtfertiges Erzählen des Vorfalls in Verlegenheit brachte.

Für gewöhnlich aber und besonders im Kreise von Juristen hörte ich nur lederne Unterhaltungen über das Geschehnis, als hätte sich's irgendwo in der Fremde zugetragen, außerhalb der Interessensphäre dieser wackeren Beamten, und der immer wiederkehrende Refrain vom neuen Herrn und alten Faktotum wirkte beschwichtigend auf alle.

*

Für meine Mutter hatte es den Verzicht auf lieb gewordene Vorstellungen bedeutet, als ich dem Forstwesen den Rücken kehrte; meine Ausführungen, gegen die sie etwas mißtrauisch war, wurden jedoch unterstützt durch die Klagen aller in der Post einkehrenden Forstleute über das neue Schreibwesen und die miserablen Gehälter.

So fand sie sich darein; leichter wie die alte Viktor, die sich ihre Hoffnungen auf einen Lebensabend in der Vorder-Riß schon allzuschön ausgeschmückt hatte, um sich mit einem Male davon trennen zu können.

Als ich aber im Frack vor ihr stand und zur Ablegung des Staatsdienereides ins Amtsgericht schreiten mußte, verzog sich ihr Gesicht zu einem zufriedenen Lächeln, und sie erinnerte sich, daß mein Vater nach einem lebhaften Streite, den ich als Kind mit meinen Geschwistern durchgefochten hatte, der Meinung gewesen war, es könne ein Advokat aus mir werden.

Ich selber nahm den Eintritt in die Praxis sehr ernst, und ich kam mir wohl bedeutend vor, als ich, den Bäcker Jäger grüßend und dem Kaufmann Fritsch dankend, dahinschritt, um eidlich Wahrung der Dienstgeheimnisse und Fernbleiben von geheimen Verbindungen zu geloben.

Dem Amtsvorstande stellte ich mich freudig zur Verfügung, und ich wollte ein unbeugsamer Hüter der Gerechtigkeit sein.

Von da ab brachte mir fast jeder Tag Enttäuschungen, bis ich von allen Illusionen geheilt war.

Der Chef des Amtsgerichtes war nicht bloß ein trockener, unbedeutender Mensch, sondern auch ein Bürokrat von der Schadenfreude, die sich vor 48 mit Prügelstrafen hatte ausleben dürfen und nun zurückgedämmt das Gemüt verfinstern mußte. Mitleidlos und sackgrob gegen die kleinen Leute, mißtrauisch gegen jedermann, selbstgefällig, unwissend und geschwätzig, so war der Mann, der mich bei den ersten Schritten in eine mit viel Respekt betrachtete Welt leiten sollte.

Von der Geistlosigkeit und dem Unwerte der Praxis bei einem solchen Gerichte macht sich der Außenstehende doch wohl keinen Begriff.

Ich lernte nichts von allem, was ich für später hätte lernen müssen.

Zuerst nahm mich der Chef in Beschlag.

Ich mußte bei den Pflegschaftsverhandlungen Protokolle schreiben und durfte zuhören, wie die Kindsväter sich sperrten, die üblichen acht bis zehn Mark monatlich für das illegitime Kind zu bezahlen.

Bei den Schöffengerichtsverhandlungen war ich stellvertretender Gerichtsschreiber, und das war immerhin noch unterhaltender als das Nachschreiben der Urteile, die mir mein Vorgesetzter diktierte.

Er tat sich was darauf zugut, ellenlange Sätze zu bilden, und schwelgte wie ein alter Gendarm in eingeschachtelten, zusammengestopselten Perioden.

Was sich alles über die verbrecherischen Absichten eines Landstreichers sagen ließ, der ein Hufeisen gefunden, selbiges aber nicht abgeliefert hatte, das erfuhr ich damals mit Unbehagen. Mein Chef aber wiegte sich in den Hüften, hing noch ein paar Relativsätze, schlauen Verdachtes voll, an die Hauptwörter, und wenn die lange Periode hinkend und mühsam bis an den Schluß gelangt war, forderte er meine Bewunderung heraus: »Han, was sag'n Sie jetzt?«

Mein Ersuchen, selber einmal ein Urteil anfertigen zu dürfen, wies er barsch zurück.

Nach ein paar auf die Art zugebrachten Monaten mußte ich im Hypothekenamt unter ängstlicher Aufsicht des Amtsrichters und des Aktuars ein paar Einträge in die heiligen Bücher machen.

Meine respektlose Art zu schreiben erregte ihr Entsetzen, und sie waren beide froh, wenn ich ausblieb.

In den Zivilverhandlungen lernte ich die Dehnung der Bagatellsachen durch Advokaten kennen. Wie lange konnte sich ein Prozeß um zwanzig Mark hinschleppen! Wie bald verschwand die Streitsumme neben den Kosten der Zeugen, Sachverständigen und Anwälte, womöglich gar eines Augenscheines! War man endlich ans Ziel gelangt, nämlich dahin, daß es den Streitenden zu dumm wurde, dann stellte sich heraus, daß die Brühe viel teurer geworden war als der Fisch, und aus Scheu vor den Kosten prozessierte man weiter, bis es den Streitteilen abermalen zu dumm wurde. Wenn zuletzt der Amtsrichter und die beiden Anwälte gemeinsam den Geist der Versöhnlichkeit heraufbeschworen, kam er mit einer langen Rechnung, und die Parteien mußten sein verspätetes Eintreffen beklagen. Es gab damals in Traunstein ein paar Advokaten, die sich an Saftigkeit überboten und dafür sorgten, daß ihre bajuwarischen Bonmots die Runde machten.

Keiner wollte leiden, daß der andere der Gröbere war, und ich hegte manchmal den Verdacht, daß ihre Derbheiten nicht frisch aus dem Gemüte sprudelten, sondern sorgsam vorbereitet waren.

Dem Publikum gefielen sie.

Als die Herren älter, kränklich und sanfter wurden, konnte man oft mit Bedauern sagen hören: »Ja … früher! Wie die Herren noch beim Zeug waren, da hat ma was hören können … aba jetzt is ja gar nix mehr …«

Zuweilen erhielt ich vom Landgerichte den Auftrag, vor der Strafkammer eine Verteidigung zu führen.

Ich ging es das erstemal mit Eifer an, konferierte mit dem gefangenen Klienten, suchte nach juristischen Finessen und nach Mitleid erregenden Momenten, setzte eine wohlgeformte Rede auf und nahm mir vor, Pathos zu entwickeln, bis ich merkte, daß alles, was ich sagte, den fünf Herren oben am langen Tische wurscht und egal war.

Auch der Klient, der dem Verteidiger gerührt die Hand drückt, blieb ein schöner Traum, und der einzige Mensch, auf den ich als forensischer Redner Eindruck machte, war der alte trinkfeste Förster Schwab, den die Freundschaft zu mir in den Gerichtssaal geführt hatte. Er faßte die Sache als großartigen Spaß auf, denn für ihn war ein Angeklagter ein Lump und damit fertig. Er verzog seinen Mund zu einem breiten Lachen, zwickte die Augen zu und sagte: »De hast amal schö ang'logen … Herrschaftssaggera … wia's d'as no so daherbracht host …«

Ich habe die fünf Herren noch öfter anlügen müssen, aber der Eifer flaute ab, und ich lernte verstehen, daß Gewohnheit alle Feuer löscht.

Als Praktikant am Landgerichte mußte ich den geheimen Beratungen, in denen die Urteile gefällt wurden, beiwohnen. Es sollte dem jungen Manne einen Begriff davon geben, wie man's mache. Ich sah noch einiges andere und dachte darüber nach.

Draußen im Saale saß ein Angeklagter, der angstvoll seinem Schicksale entgegensah, denn mehr wie einmal handelte es sich um Reputation und Existenz. Es wäre unnatürlich gewesen, wenn ein junger Mann sich nicht stärkeren Empfindungen hingegeben und Partei für den armen Teufel genommen hätte. Ich wartete ungeduldig auf das erste Votum des jüngsten Beisitzers und hoffte, er möchte sich auf meine Seite schlagen. Das ging aber nicht so rasch mit dem Beraten.

Die Herren hatten über der Tragik des Falles nicht den Appetit verloren, holten sich die Gaben der Hausfrauen aus den Taschen und aßen erst einmal. Öfters hörte ich mit gleichmütigen Worten auf Strafen erkennen, deren Folgen ich mir vielleicht übertrieben vorstellte, und ich konnte auf die scharfen wie auf die pomadigen Richter einen starken Groll werfen.

Um so mehr begeisterten mich andere, die bei gerechtem Abwägen immer noch Güte zeigten, und wenn sie gar dem Vorsitzenden mit höflicher Bestimmtheit entgegentraten, war ich gerne bereit, sie zu bewundern. In solchen Dingen sah der grüne Praktikant scharf genug, und er machte sich Begriffe, die von ihm nicht verlangt wurden.

Wenn ich der Wahrheit streng die Ehre gebe, muß ich sagen, daß ich nie böswillige Härte sah, wohl aber Engherzigkeit und Mangel an Verständnis für die Motive strafbarer Handlungen.

Leidenschaften, denen eine Tat entsprungen war, wurde man selten gerecht, und oft sah man abschreckende Roheit, wo sich ein starkes Temperament hatte hinreißen lassen. Gefährlich waren erzieherische Gesichtspunkte; denn durch Strenge gegen den einzelnen bessernd auf die Allgemeinheit wirken zu wollen, führt von gerechten Maßen ab.

Befremdend und manchmal komisch war es, wie wenig ein verbeinter Jurist von dem Volke wußte, in dessen Mitte er lebte. Sitten, Gebräuche und Mißbräuche, die Art zu denken und zu reden, das alles konnte gröblich mißverstanden werden, und es kam vor, daß der Praktikant im Beratungszimmer, durch Räuspern die Aufmerksamkeit auf sich lenkend, Auskunft über dies und das erteilen durfte.

Natürlich gab man ihm zu verstehen, daß die andere Ansicht auch richtig, ja, wenn man logisches Denken beim kleinen Volke voraussetzen könnte, allein richtig wäre.

Von ungewöhnlicher und überragender Begabung war unter den Herren eigentlich nur einer, der Erste Staatsanwalt v. A.

Der schweigsame, in sich gekehrte Junggeselle konnte aber zuweilen bedenklich über die Schnur hauen, wenn er alle Quartale – hie und da öfter – sich einen gewaltigen Haarbeutel anschnallte.

Er wurde grölend in einer Wirtschaft sitzend von den Bürgern angestaunt, ja, einmal hantelte er sich am hellen Morgen an der eisernen Barriere entlang, die um die Hauptkirche angebracht war. Ein anderes Mal retteten ihn ein Bierbrauer und ich vor dem Angriffe, den hitzige Bauernburschen auf ihn unternahmen. Kurz vorher waren Leute aus dem Dorfe, wo der Herr Staatsanwalt zechte, zu empfindlichen Strafen verurteilt worden, und da schien den Krakeelern, die auch nicht mehr nüchtern waren, eine günstige Gelegenheit zur Rache gegeben. Er sprach nie darüber, aber eines Tages lud er mich ein, ihm einige Arbeiten vorzulegen, über die er sich dann auf Spaziergängen eingehend mit mir unterhielt.

Das war sein Dank für meine Hilfe an jenem unangenehmen Abend.

Nach der landgerichtlichen Praxis trat ich beim Bezirksamte ein.

Obwohl oder vielleicht weil ich einiges von den Wünschen und Bedürfnissen der Landbevölkerung kannte, blieben mir Zweck und Nutzen der Verwaltungstätigkeit ein Rätsel.

Da saß in Traunstein ein Herr, ohne dessen Genehmigung kein Anbau an einen Schweinestall, kein Neubau einer Waschküche erfolgen durfte, der die Gemeindeverwaltung überwachte und die Schulen überwachte, der überall dreinzureden und zu befehlen hatte, meist in Dinge, von denen er sicherlich weniger verstand als die Interessenten, und über die er immer Sachverständige das eigentliche Urteil abgeben lassen mußte.

Er war recht eigentlich der Repräsentant einer anfechtbaren staatlichen Bevormundung.

Während meiner Praxis erlebte ich einen mich persönlich schmerzenden Beweis von der Schädlichkeit des Systems, das einem Juristen die letzte Entscheidung überwies, wo nur sehr geschulte Fachleute hätten zum Worte kommen dürfen.

Eine sehr populäre Forderung ging seit Jahren auf die Tieferlegung des Chiemsees.

Das Populäre ist nicht immer das Kluge oder das Nützliche. Am Südufer des Sees sahen die Bauern einen großen Gewinn in der Trockenlegung ihrer Streuwiesen; Landtagskandidaten hatten ihre Gunst mit Versprechungen erworben, viel Papier war verschrieben worden, Projekte lagen vor, aber der alte Bezirksamtmann ging nicht mehr an das schwierige Werk heran.

Der neue sah darin die Gelegenheit, sich hervorzutun; er betrieb die Sache mit Eifer, und der Chiemsee wurde tiefer gelegt.

Auf Jahre hinaus waren die Inseln und die Nordufer verunstaltet; lange Sandbänke, Schilffelder zerstörten das schöne Bild, und eine rechte Fliegenplage kam dazu.

Die erhofften Vorteile blieben großenteils aus, die Nachteile übertrafen die Erwartungen.

Freilich hätten sich die Anwohner stärker gegen den Plan auflehnen müssen, aber auch an der Teilnahmslosigkeit war das System schuld.

Wer unter Vormundschaft gehalten wird, bleibt unmündig.

Ich brachte der Verwaltung weder Verständnis noch Neigung entgegen; nur einmal erwarb ich mir Anerkennung, als ich die eben in Kraft tretende Alters- und Invaliditätsversicherung im Amtsblatte in gemeinverständlicher Sprache erläuterte.

Die treuherzigsten Stellen strich mir der Assessor, aber das Ganze klang immer noch unjuristisch genug, um Aufsehen zu erregen. Mit mir war ein Freiherr von G. als Praktikant eingetreten, dem ich zu viele Bären aufband, als daß ich ihn für sehr klug hätte halten können.

Aber er besaß eine hereditäre Anpassungsfähigkeit an das seltsame Geschäft im Bezirksamte.

Die Kunst, Akten zu erledigen und den Schein einer umfassenden Tätigkeit für sich und das Amt zu erregen, hatte er sofort heraus.

Jeder Antrag wurde brevi manu an den Bürgermeister, den Distriktstechniker, die Gendarmerie usw. geschickt zur näheren Berichterstattung, oder ergebenst an Behörden mit dem Ersuchen um Auskunft. Wenn sie zurückkamen mit den eingeforderten oder erbetenen Berichten, fand sich gleich wieder ein Häkchen, über das erneute Auskunft verlangt werden konnte. So waren die Akten immer auf der Reise, und immer schien was zu geschehen, und nie geschah was.

Herr v. G. betrieb das Rotierungssystem so eifrig und auffällig, daß ihm der Chef sein Erstaunen über diese Geschäftsgewandtheit mit schmeichelhaften Worten ausdrückte.

Zu den Bären, die ich dem gutmütigen Baron aufband, gehörte auch die Geschichte von unserm wackern Gendarmeriewachtmeister in Traunstein, einem fidelen Rheinpfälzer, mit dem wir Rechtspraktikanten gerne zusammen saßen.

Herr v. G. hatte wenig Verständnis für diesen Verkehr und sprach mich daraufhin an.

Ich erzählte ihm, daß der Wachtmeister ein hochgebildeter Mann sei, der sechs Sprachen, darunter alle slawischen, beherrsche; er habe ein großes Vermögen verloren und sei zur Gendarmerie gegangen, um sein Leben fristen zu können.

Der Roman machte Eindruck.

Eines Tages wurde ein böhmischer Landstreicher eingeliefert, der kein Wort Deutsch verstand, und unser Assessor, der Amtsanwalt war, äußerte sich verdrießlich über die Schwierigkeit, einen Dolmetscher aufzutreiben.

Da konnte Herr v. G. wieder einmal hilfreich einspringen, und er meldete, daß der Wachtmeister alle slawischen Sprachen beherrsche.

Der Assessor war freudig überrascht und wollte unsern pfälzer Krischer vors Amtsgericht laden; hinterher kam ihm die Sache verdächtig vor; er schickte nach dem Wachtmeister, der dem Schwindel gleich ein Ende machte.

»Das hawwe mer wieder die Praktikante eingebrockt,« sagte er. »Das G'sindel kann doch kein Ruh gewwe …«

Herr v. G. wurde von da ab vorsichtiger gegen meine Erzählungen.

*

Was werden?

Gewöhnlich entschied sich darüber der Rechtspraktikant erst nach dem Staatskonkurse und der Bekanntgabe der Note, die den Pegelstrich seiner Fähigkeiten und Aussichten bildete.

Einem Zweier stand alles offen, einem Dreier war beinahe alles verschlossen.

Sogar die Post und Eisenbahn kaprizierte sich auf intelligente Juristen; beim Notariat, beim Auditoriat, bei der Intendantur, von Justiz und Verwaltung nicht zu reden, überall begehrte man die Marke »zwei«.

In vergangenen Zeiten brannte man Galeerensträflingen ein entehrendes Zeichen auf die Schultern; sie trugen nicht schwerer daran, als geprüfte Juristen an einem Dreier.

Ich brauchte nicht erst das Ergebnis des letzten Examens abzuwarten, um zu wissen, daß ich weder Richter noch Verwaltungsbeamter werden mochte.

In beiden Berufen sah ich Beschränkungen der persönlichen Freiheit, gegen die ich mich auflehnte; die Vorstellung, daß ich mir den Aufenthaltsort nicht selbst sollte wählen können, hätte allein genügt, mich abzuschrecken.

Und dies und das im Leben der Richter und Beamten, das ich täglich beobachten konnte, sagte mir nicht zu; es schien sich doch in einem engen Kreise zu drehen, von einer Beförderung und Versetzung zur andern, und alles Interesse, das sich über den Beruf hinaus erstreckte, starb von selber ab.

Ich floh, wenn ich irgend konnte, die Gesellschaft der Juristen.

Jede Unterhaltung mit Bürgern, Handwerksgesellen oder Bauern war unvergleichlich anregender als ein Gespräch mit trefflichen Räten. Wie Schüler von ihren Aufgaben unterhielten sich die Herren von ihren Fällen, die älteren mit Genugtuung, weil sie noch, die jüngeren, weil sie schon so klug waren.

Die Medisance, die auch in diesem Kreise blühte, bestand immer darin, daß einem Abwesenden nachgesagt wurde, er habe oberstrichterliche Entscheidungen nicht gekannt oder falsch verstanden.

Nachmittags gegen fünf verließ der Staatshämorrhoidarius die Kanzlei, schloß sich einem Gleichgesinnten an und spazierte auf dem Bürgersteige auf und ab, Fälle erwägend, Sätze abrundend, Deduktionen zum logischen Ende führend.

Eine Karawane von Paragraphenkennern pilgerte so zum Bahnhofe, grüßte sich, verlästerte sich, sagte sich Unkenntnis einer Bestimmung und Verkalkung nach und wartete auf den großen Schnellzug Paris – Wien, der hier eine halbe Minute lang hielt.

Man sah verächtlich auf die fremdartigen Menschen, die keine Ahnung von Einführungs- und Ausführungsgesetzen hatten, und die Fremden sahen verächtlich auf die Havelocks und abgelatschten Schuhe der Schriftgelehrten.

Man stieß sich gegenseitig ab, bis der Zug weiterfuhr.

Die Fremden zogen gen Wien, die Räte gen ein Bräuhaus, wo neue Gedanken über alte Entscheidungen aufblitzten.

Ich wußte, daß ich dieses Leben nicht führen würde, und so malte ich mir meine Zukunft als Rechtsanwalt aus, bescheiden, mit gemütlichem Einschlag.

Eine auskömmliche Praxis in Traunstein, die mir Muße ließ zu kleinen schriftstellerischen Versuchen, denn an die dachte ich damals schon.

Wenn ich mit meiner Mutter über kommende Zeiten sprach, überlegten wir uns, wo ich etwa einmieten, und wieviel Zimmer ich brauchen würde, denn es galt mir als ausgemacht, daß sie dann die Wirtschaft aufgeben und zu mir ziehen sollte.

Der Kupferstecher Professor Hecht aus Wien, der in der »Post« ein paar Sommermonate wohnte, lächelte zu meinen Plänen und sagte: »Sie werden sich nicht als Advokat in das kleine Nest verkriechen! Sie gehören in die Welt hinaus, und ich weiß gewiß, daß Sie in München als Schriftsteller oder Leiter einer Zeitung einen Namen haben werden.«

Ich hörte die Prophezeiung gerne, wenn ich auch nicht zuversichtlich daran glaubte.

Ein anderer ständiger Gast in der »Post« und Freund der Familie, Assessor F., mußte wohl eine ähnliche Meinung haben, denn er redete mir zu, das letzte Jahr meiner Praktikantenzeit in der Hauptstadt zu verbringen, und gab mir die Mittel dazu.

Ich glaube nicht, daß irgendein Ereignis so bestimmenden Einfluß auf mein Leben gewonnen hat wie die Übersiedlung nach München; ich fand dort Anschluß an Männer, die mich zur Schriftstellerei ermunterten, und vor allem, ich fand selber den Mut, zu wollen, und verlor den Geschmack daran, mich unter die Decke eines behaglichen Philisterlebens zu verschliefen.

Ein anderes Ereignis mit seinen Folgen trug auch etwas dazu bei.

Mein zweiter Bruder war nach zehnjähriger Abwesenheit aus Australien zurückgekehrt; er war als junger Kaufmann hinübergegangen, mußte sich aber später als Matrose, Fischer und Jäger durchschlagen. Um ihn daheim zu halten, erwarb meine Mutter das Postanwesen in Seebruck am Chiemsee und zog selber mit meinen zwei jüngeren Schwestern dorthin.

Ich war viel bei ihnen draußen und verlor etwas den Zusammenhang mit Traunstein.

Das Seebrucker Anwesen war vom Vorbesitzer vernachlässigt worden; es gab Sorgen genug, die mich deshalb bedrückten, weil ich mir die alten Tage meiner Mutter ruhevoller und heiterer gedacht hatte.

Darüber verblaßten die Bilder eigener Behaglichkeit, die vielleicht am Ende, nicht aber am Anfange eines tätigen Lebens ihren Platz finden durften.

Ich dachte ernsthafter ans Vorwärtskommen und ergriff dankbar die Gelegenheit dazu, die mir Assessor F. bot, der damals Junggeselle war und, wie er sagte, mich vorm Versauern in den kleinen Verhältnissen bewahren wollte.

Klein und eng war es in Traunstein und von einer Gemütlichkeit, die einen jungen Mann verleiten konnte, hier sein Genüge zu finden und auf Kämpfe zu verzichten. Es ist altbayrische Art, sich im Winkel wohlzufühlen, und aus Freude an bescheidener Geselligkeit hat schon mancher, um den es schad war, Resignation geschöpft.

In dem Landstädtchen schien es sich vornehmlich um Essen und Trinken zu handeln, und alle Tätigkeit war auf diesen Teil der Produktion und des Handels gerichtet. Am Hauptplatz stand ein Wirtshaus neben dem andern, Brauerei neben Brauerei, und wenn man von der Weinleite herabsah, wie es aus mächtigen Schlöten qualmte, wußte man, daß bloß Bier gesotten wurde.

Durch die Gassen zog vielversprechend der Geruch von gedörrtem Malz, aus mächtigen Toren rollten leere Bierbanzen, und am Quieken der Schweine erfreute sich der Spaziergänger in Erwartung solider Genüsse.

Der Holzreichtum der Umgegend hatte schon vor Jahrhunderten die Anlage einer großen Saline, wohin die Sole von Reichenhall aus geleitet wurde, veranlaßt.

Sie förderte das Emporblühen der Stadt, die auch jetzt im Wohlstand gedieh. Als Sitz vieler Behörden, sehr günstig zwischen Gebirg und fruchtbarem Hügellande gelegen, bildete sie den Mittelpunkt einer volkreichen Gegend.

Zur allwöchentlichen Schranne und zu den Märkten strömten die Bauern herein, und dazu herrschte ein starker Verkehr von Musterreisenden, die von hier aus die chiemgauer Orte besuchten.

Ein anheimelndes Bild der alten Zeit boten die zahlreichen Omnibusse, die von blasenden Postillionen durch die Stadt gelenkt wurden, denn damals waren die Kleinbahnen nach Trostberg, Tittmoning, Ruhpolding noch nicht gebaut.

Hier saß nun ein besitz- und genußfrohes Bürgertum, das sich den Grundsatz vom Leben und Lebenlassen angeeignet hatte. Genauigkeit und ängstliches Sparen erfreuten sich keines Ansehens, und war man stolz auf den Wohlstand eines Mitbürgers, so verlangte man auch, daß er nicht kleinlich war.

Rentamtmann Peetz, der Chronist Traunsteins, erzählt eine Geschichte, die für altbayrische Lebensauffassung bezeichnend ist.

In den siebziger Jahren spielten zwei gutsituierte Bürger, der Mittermüller und der Untermüller, regelmäßig Tarock mit einem jungen Advokaten. Sie fühlten sich verpflichtet, für den Mann ein übriges zu tun, und fingen in Frieden und Eintracht miteinander einen Prozeß über Wasserrechte an.

Die Geschichte hätte sich auch später genau so zutragen können, denn die Lust, etwas springen zu lassen, und die gewisse unbekümmerte Art lagen in der Rasse begründet.

Zum Oktoberfestschießen meldete sich beim Höllbräu alljährlich ein Traunsteiner Bürger, denn da es Brauch war, daß ein Leibjäger für den König etliche Schüsse abgab, machte es sich gut, wenn auch der Höllbräu einen Vertreter dort hatte.

Wenn dieser, der Eigentümer der größten Brauerei, zum »Bierletzt«, das ist zum letzten Sommerbier, in ein Dorf fuhr, wo er einen Kunden hatte, mußte ich öfter mithalten. Es wurden riesige Platten, angehäuft mit Gans- und Entenvierteln, Hühnern, Schweinernem und Geräuchertem aufgetragen und die Honoratioren des Ortes, Pfarrer, Lehrer und Gendarm, waren eingeladen.

Der Höllbräu hatte weder zu bestellen noch nachzurechnen, wenn am Schlusse der Betrag von ein paar hundert Mark verlangt wurde. Gewöhnlich hingen etliche Pfennige daran, damit es nach Gewissenhaftigkeit aussah.

In kleineren Maßen hielt es jeder so, daß er im angenehmen Wechsel von Geben und Nehmen der Kundschaft Gelegenheit bot, ihn zu schröpfen.

Mit den Beamten hatte man sich in früheren Jahren besser verstanden; nunmehr schlossen sich die Herren Juristen ab, und die Bürger erwiderten die Zurückhaltung mit herzlicher Abneigung gegen die Hungerleider.

So hieß der königliche Beamte. Für die pensionierten Offiziere, an denen kein Mangel war, hatte man den Namen Schwammerlbrocker erfunden.

In ihren politischen Meinungen unterschieden sich die Traunsteiner nicht von den übrigen Oberbayern. Tiefe Abneigung gegen alles Leidenschaftliche in diesen Dingen vereinigte sich mit dem üblichen Maße von Wurstigkeit und Partikularismus, und das ergab bei Wahlen eine sichere ultramontane Mehrheit.

Daneben konnte sich der mit Beamten, Pensionisten und etlichen Rentnern eingewanderte Liberalismus nicht sehen lassen.

Er gab nur einige Lebenszeichen von sich, und man verzichtete schmerzlich lächelnd im vorhinein auf jeden Erfolg, agitierte nicht und stellte Kandidaten auf, denen die bescheidenste Rolle in der Öffentlichkeit Ersatz für den Durchfall bot.

Mehr Lärm erregte der damals neu auftauchende Waldbauernbund, der sich bald darauf mit dem niederbayrischen Bauernbund in den Zielen zusammenfand. Professor Kleitner, Eisenberger, der Hutzenauer Bauer von Ruhpolding, und ein kleiner Geschäftsmann, der Melber Jehl von Traunstein, waren die Führer der gleich mit grobgenagelten Schuhen auftretenden Partei.

Durch sie wurde das politische Phlegma etwas aufgerüttelt.

An Respektlosigkeiten, Kraftsprüchen und Widerhaarigkeiten hatte man doch seine landsmännische Freude.

Von einem Schreinermeister, einem braven Familienvater und fleißigen Handwerker, wurde mit einer gewissen Scheu erzählt, er sei Sozialdemokrat, der einzige in der Stadt, die König Ludwig I. als treu gesinnt vor allen andern belobt hatte, weil eine Traunsteiner Deputation zu ihm nach seiner Abdankung gekommen war.

An König Max bewahrte man freundliche Erinnerungen.

Nach dem großen Brande im Jahre 1851 war er in die Stadt gekommen und hatte den Unglücklichen Trost zugesprochen.

In den neunziger Jahren, als man allerorts nach Motiven für Feste suchte, kam ein Pläne ersinnender Mann auf die Idee, dem gütigen Landesherrn ein Denkmal zu errichten.

Das Denkmal fiel sehr klein aus, das Einweihungsfest sehr groß.

In der Zeit des allgemeinen Aufschwungs gab es natürlich Leute, die den Fremdenverkehr auf alle unmögliche Weise heben wollten.

Er hielt sich jedoch in mäßigen Grenzen, obwohl man Reunions veranstaltete, bei denen wir Rechtspraktikanten das Ballkomitee bilden mußten.

Wenn es herbstelte, versank die Stadt wieder in stillen Frieden, in dem es nichts Fremdes und Neuzeitliches gab und von dem umfangen man zwischen Tarockrennen und Kegelscheiben vergessen konnte, daß ihm der Kampf vorangehen müsse.

*

Im Februar 1893 trat ich beim Stadtmagistrat in München, zwei Monate später bei Rechtsanwalt Löwenfeld als Praktikant ein.

Da waren also nun die größeren Verhältnisse, die ich kennenlernen sollte, allein bei Amt und Gericht merkte ich wenig davon.

Der Fabrikbetrieb im Labyrinth des Augustinerstockes, wo die Gerichte untergebracht waren, verwirrte mich wohl anfangs, allein ich merkte bald, daß die Herren auch mit Wasser kochten, und die erste Zeugenvernehmung, die ein buchgelehrter Konkurseinser in meinem Beisein vornahm, erregte in mir den Verdacht, daß es jeder Dreier besser gemacht hätte.

Der Verdacht hat sich späterhin gefestigt und ist zur sicheren Überzeugung geworden.

Vielbeschäftigte und berühmte Anwälte gab es zu bewundern, darunter manchen, dessen Gewandtheit und Wissen exemplarisch waren.

Unter den Verteidigern ragten Wimmer, Bernstein, Angstwurm hervor und wurden in Aufsehen erregenden Prozessen viel genannt.

Der beste forensische Redner, den ich kennengelernt habe, war der joviale Justizrat Wimmer, dem die glücklichste Mischung von Sachlichkeit und Pathos eigen war.

Die witzige Schärfe Bernsteins machte viel von sich reden, und ganz öliges Pathos hatte Angstwurm, der einen Komödianten und einen Pfarrer hätte lehren können, ein Mann, der in Bildern schwelgte, bis ein anderer kam, der ihn darin weit übertraf.

Gerade damals ging der Stern des Mößmer Franzl auf, des Vaters der Gerichtshofblüten.

Unzählig sind die gewagten Vergleiche, Bilder und Parabeln, die von ihm erzählt werden, aber die Art, wie er sie mit feierlichem Ernste, losbrechender Heftigkeit und wieder mit dumpfer Resignation vorbrachte, machte sie erst zu den Ereignissen, von denen sich die Herren Kollegen Vormittage lang unterhielten.

Rechtsanwalt Bernstein, der mit Löwenfeld assoziiert war, galt mir als Mann, der alles, was ich heimlich wünschte, erreicht hatte.

Schriftsteller, Kritiker von Ruf, und dabei berühmter Anwalt sein, das hielt ich für ein zur Höhe geführtes Leben. Zuweilen mußte ich ihn vertreten, und es wunderte mich nicht, daß ein handfester Sozialdemokrat und Vorstadtmaurer, den ich verteidigen sollte, grimmig losbrach, weil er »den Moasta verlangt und an Lehrbuab'n gekriegt hatte«.

Am Stammtisch im »Herzl«, wo ich einen Kreis alter und neuer Freunde gefunden hatte, verkehrte der Vertreter der »Augsburger Abendzeitung« Joseph Ritter.

Er fand Gefallen an meiner Art, über allerhand Dinge zu urteilen, und forderte mich auf, ganz so wie ich redete, auch einmal zu schreiben und es ihm für seine Zeitung zu geben.

Ich versuchte mich in Plaudereien über Zustände, die ich kannte, und die Artikel erschienen zu meiner großen Genugtuung in der Abendzeitung. Der Redaktion sagten sie zu, und damit war eine Verbindung hergestellt, die für mich wichtig wurde.

In Freundeskreisen machten zuweilen Gedichte von mir die Runde, die, meistens im Dialekt, bald derb, bald hanebüchen lustig waren, und von denen mir das eine und andere nach langen Jahren wieder unterkam, wenn es jemand vortrug.

So waren sie ungedruckt erhalten geblieben, und ihren Vater kannte nur ich, der ich schweigend zuhörte.

Die literarische Bewegung, die damals in Deutschland einsetzte, erregte mein lebhaftes Interesse.

Von Hauptmann hatte ich »Vor Sonnenaufgang« und »Einsame Menschen« gelesen, von Sudermann »Die Ehre« gesehen. »Vor Sonnenaufgang« packte mich stark, gegen »Die Ehre« lehnte ich mich auf, und ich erregte Widerspruch, wenn ich etwas schroff erklärte, der Graf Trast sei eine ausgestopfte Marlittfigur; die hausbackenen Halbwahrheiten, die er deklamiere, seien unerträglicher als ganze Dummheiten.

Den stärksten Eindruck machte Fontanes »Jenny Treibel« auf mich; in dieser abgeklärten, lächelnden Schilderung sah ich, was Goethe als das Reizvollste und Wichtigste hervorhebt, die Persönlichkeit, und zwar eine recht überlegene und sympathische zugleich. »Jenny Treibel« ist mir ein Lieblingsbuch geblieben, auch deswegen, weil es mich zuerst und auf die angenehmste Art lehrte, wie nur eine souveräne Darstellung wirklichen Lebens wertvoll sei, und wie langweilig und gleichgültig sich daneben Stimmungen und Gefühle ausnehmen.

Je weiter wir uns von jener Zeit entfernen, und je mehr und Größeres sich zwischen sie und uns stellt, desto klarer sehen wir, daß in der scheinbar so leicht hingeworfenen Schilderung mehr Kulturgeschichte steckt als in gelehrten Werken.

Darum werden solche Bücher für später Lebende noch erhöhten Wert haben, wenn man längst nichts mehr weiß und wissen will von den tiefen Gedanken und Schmerzen eines Ästheten.

Von Berlin her klangen damals Namen, die einen aufhorchen machten.

Neben den Eroberern der Bühne, Hauptmann und Sudermann, neben Liliencron die Dehmel, Hartleben, Schlaf, Holz; und von der freien Bühne las man, von Schlenther und Brahm.

M. G. Conrad, dem es nie am Brustton fehlte, war in seiner »Gesellschaft« bemüht, in München die Schläfer zu wecken.

Es war damals sehr viel die Rede vom Naturalismus und Realismus im Gegensatze zum Idealismus, der dahinsiechte.

Auch an Stammtischen sprach man darüber und äußerte Gram über das »Aufsuchen des Schmutzes«, wie über das Schwinden idealer Anschauungen, und da im »Herzl« etliche Maler einkehrten, setzte man Seufzer über den Impressionismus drauf.

Ich trat keck für das Neue ein, und wenn der Streit lichterloh brannte, war ich sehr unzweideutig und ließ Worte fahren, die Staunen und Unbehagen erregten.

Das Bemerkenswerteste an den Diskussionen war das Interesse, das man in München auch in Kreisen fand, die sich anderswo sicherlich nicht um künstlerische Streitfragen kümmerten.

Im Dezember begann die letzte Prüfung, die ich abzulegen hatte, der gefürchtete Staatskonkurs.

Ich eilte jeden Morgen, noch vor es hell wurde, in die Schrannenhalle, half andern und ließ mir helfen, schrieb Kommentarstellen ab und fand, daß auch diesmal das Wetter nicht so schlecht war, wie es von weitem ausgesehen hatte.

Ich habe mich damals zum ersten, aber auch zum letzten Male über Rechtsfragen mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit verbreitet, wenn ich in der Mittagspause das Prüfungslokal verließ.

Die Aufsicht wurde milde gehandhabt; man konnte sich fast ungestört unterhalten, sich Mitteilungen zukommen lassen, ja, wenn es die Zeit erlaubte, auch einmal die Arbeiten zum Vergleiche zuschieben.

Unvergeßlich bleibt mir ein phlegmatischer Kollege, der mit einem stumpfsinnigen Lächeln unserm Eifer zusah und selber kaum etliche Worte hinmalte. Ich bot ihm mitleidig einen Bogen an, den ich schon hastig vollgeschrieben hatte. Er schob ihn mir zurück und sagte: »Dös hilft mir aa nix.« Ich verstand seine Resignation, als ich erfuhr, daß er der einzige Sohn eines reichen Münchner Hausherrn wäre und keinen Wert auf eine glänzende Laufbahn legte.

Nach etlichen Wochen war die Prüfung beendet, und ich fuhr heim.

Mit tiefem Schmerze mußte ich sehen, wie meine Mutter, die seit dem Sommer kränkelte, in ihren verfallenen Zügen die Spuren eines nahen Endes zeigte.

Ich blieb in Seebruck, und es folgten bittere Monate, in denen ich mir Gewalt antun mußte, um eine Zuversicht zur Schau zu tragen, die ich aufgegeben hatte.

Im darauffolgenden Juni ging ich hinter dem Sarge meiner Mutter her.

Lange Zeit klang mir ihre müde Stimme in den Ohren, mit der sie mich fragte, was der Arzt nach dem Besuche gesagt habe, lange Zeit sah ich ihr Lächeln, mit dem sie meinen tröstenden Bericht anhörte, und eigentlich bin ich heute noch nicht darüber weggekommen, daß sie sterben mußte, bevor sie irgendeinen Erfolg gesehen hatte.

In ihren letzten Tagen konnte ich ihr noch eine Zuschrift der »Augsburger Abendzeitung« und einige Artikel vorlesen, und sie legte ihre abgemagerte Hand in die meine. »Es wird alles recht werden,« sagte sie und nickte mir freundlich zu.

Ich kehrte nach München zurück, wo ich eine Konzipientenstelle bei einem Rechtsanwalt angenommen hatte.

Zweifel über das, was ich nun eigentlich tun sollte, drückten mich schwer; unselbständig bleiben, hieß Zeit verlieren, in der Hauptstadt eine Praxis eröffnen, war aussichtslos, und mir fehlten zum Abwarten alle Mittel; in Traunstein anzufangen, sagte mir auch nicht zu. So dachte ich bald an dies, bald an jenes, kam zu keinem Entschlusse und fühlte mich unglücklich.

An einem Augustabend fuhr ich mit einem Freunde nach Dachau, um von da weiter nach Schwabhausen zu gehen.

Wie wir den Berg hinaufkamen und der Marktplatz mit seinen Giebelhäusern recht feierabendlich vor mir lag, überkam mich eine starke Sehnsucht, in dieser Stille zu leben.

Und das Gefühl verstärkte sich, als ich andern Tags auf der Rückkehr wieder durch den Ort kam.

Ich besann mich nicht lange und kam um die Zulassung in Dachau ein.

Alte Herren und besorgte Freunde rieten mir ab, allein ich folgte dem plötzlichen Einfalle, und ich hatte es nicht zu bereuen.

Mit nicht ganz hundert Mark im Vermögen zog ich zwei Monate später im Hause eines dachauer Schneidermeisters ein und war für den Ort und die Umgebung das sonderbare Exemplar des ersten ansässigen Advokaten.

Als ich beim Vorstande des Amtsgerichtes meinen Besuch machte, strich der alte Herr seinen langen, grauen Schnauzbart und sagte brummig: »So? Sie san der?«

Er versprach sich offenbar weder Nutzen noch Annehmlichkeit von der neuen Erscheinung, und als echter Oberpfälzer hielt er mit seiner Meinung nicht hinterm Berge.

Wir haben uns später gut vertragen und verstanden.

In den ersten Tagen wartete ich mit Beklemmung auf Klienten. Auf den Schrannentag hatte ich meine Hoffnungen gesetzt, und es kam auch ein stattlicher, wohlgenährter Bauer in die Kanzlei, setzte sich auf mein Ersuchen und erzählte irgendwas von einem alten Kirchenweg.

Als ich zur Feder griff, legte er seine Hand auf meinen Arm und sagte: »Net schreib'n! Na … na … net schreib'n!«

Ich verstand, daß er bloß gekommen war, um den neuen Advokaten kostenlos anzuschauen; nach seiner Meinung war die Sache erst brenzlig, wenn was geschrieben wurde.

Er ging und versprach wiederzukommen.

Die Tage schwanden, die Mittel auch, und ich wurde ängstlich.

Noch dazu hatte ich Schulden gemacht, als der Vertreter einer Buchhandlung zu mir gekommen war und mich bestimmt hatte, eine Bibliothek anzulegen.

Als ich schon recht verzagt wurde, kam ein Lehrer aus der pfaffenhofener Gegend und übertrug mir seine Verteidigung in einem Beleidigungsprozesse, den ihm Bürgermeister und Bezirksamtmann aufgehängt hatten.

Ich erfuhr bald, warum der Mann aus einem andern Bezirke just mich aufgesucht hatte; in der Bahn war ihm von dem Reisenden der Buchhandlung der junge dachauer Anwalt so gerühmt worden, daß er seine Fahrt nach München unterbrach und in Dachau ausstieg.

Von nun an ging's, wenn auch nicht über alle Maßen gut, doch ordentlich und so, daß ich nach einer Weile die alte Viktor einladen konnte, mir den Haushalt zu führen. Sie kam mit Freuden, und wenn's auch nicht beim Oberförster in der Vorder-Riß war, so war es doch im ersten selbständigen Hauswesen des Herrn Anwalts, den sie als Kind auf dem Arm getragen hatte.

Als »d' Frau Mutter« genoß sie Ansehen und Vertrauen bei allen Bauernweibern, die ein Anliegen zu mir führte, und die nach der Aussprache mit mir erst noch die richtige und ausgiebige mit ihr in der Küche abhielten.

Und jede brachte, wie es damals schöner Brauch war, etwas im Korbe mit, einen Gockel oder eine fette Ente oder in Blätter eingeschlagen frische Butter.

Ihre alte Tugend, tätigen Anteil am Leben zu nehmen, hatte Viktor nicht abgelegt, und sie kümmerte sich um Gang und Stand der Prozesse, besonders, wenn es eine ihrer Schutzbefohlenen recht dringlich gemacht hatte.

Eine besondere Freude war es ihr, wenn sie Klagen oder Erwiderungen abschreiben durfte.

Dann saß die Alte stundenlang an ihrem Schreibtische, ganz eingenommen von der Wichtigkeit ihrer Aufgabe und ihrem Anteile an meinen Erfolgen.

War ich bei Gericht und kam in meiner Abwesenheit ein Klient, so brauchte er nicht ohne Bescheid wegzugehen, denn Viktor nahm ihn ins Gebet, ließ sich seine Schmerzen vortragen und flößte ihm das Vertrauen ein, daß er an die rechte Schmiede gekommen sei. Wenn's irgend zu machen wäre, dann würde es der Herr Doktor machen, und meine Dachauer faßten schon gleich Zuversicht, weil »d' Frau Mutter« sie so gut angehört hatte.

Es war eine stille, liebe Zeit, ganz so, wie ich sie mir vorgestellt hatte an jenem ersten Abend, als ich die gepflasterte Gasse hinuntergegangen war an den Bürgern vorbei, die ausruhend vor den Haustüren saßen.

Hinter Dachau, dem das große Moos vorgelegen ist, dehnt sich ein welliges Hügelland von großer Fruchtbarkeit aus, in dem Dorf an Dorf bald zwischen Höhen, bald hinter Wäldern versteckt liegt.

Hier lebt ein tüchtiges Volk, das sich Rasse und Eigenart fast unberührt erhalten hat, und ich lernte verstehen, wie sein ganzes Denken und Handeln, wie alle seine Vorzüge begründet liegen in der Liebe zur Arbeit und in ihrer Wertschätzung.

Arbeit gibt ihrem Leben ausschließlich Inhalt, weiht ihre Gebräuche und Sitten, bestimmt einzig ihre Anschauungen über Menschen und Dinge.

Es liegt eine so tiefe, gesunde, verständige Sittlichkeit in dieser Lebensführung eines ganzen zahlreichen Standes, in dieser Auffassung von Recht und Unrecht, von Pflicht und Ehre, daß mir daneben die höhere Moral der Gebildeten recht verwaschen vorkam.

In dem, was Leute, die Redensarten und Empfindelei schätzen, als Rauheit, Derbheit, als Mangel an Kultur und Feinnervigkeit, als Urzuständliches betrachten wollten, trat mir ungeschriebene Gesetzmäßigkeit eines tüchtigen Sinnes entgegen. So, wie das Bauernvolk natürliches Geschehen hinnimmt, wie ruhig es sich über Krankheit und Sterben wegsetzt, wie es nur die Nützlichkeit des Daseins schätzt, zeigt es wahre Größe.

Und Klugheit darin, daß ihm nie Worte für Begriffe gelten.

Derb zugreifende altbayrische Lebensfreude, aufgeweckter Sinn, schlagfertiger Witz und eine Fülle von Talenten vervollständigen das Bild.

Im Verstehenlernen faßte ich Lust, dieses Leben zu schildern.

Auf einer Fahrt nach München kam mir ganz plötzlich der Gedanke, es ließe sich am Ende versuchen, etwas über die Bauern zu schreiben.

Daraus entstanden die Erzählungen, die zuerst im »Sammler«, später in einem Buche unter dem Titel »Agricola« erschienen sind. Im Kreise der dachauer Freunde fanden sie beifällige Aufnahme, aber der Ton war nicht auf Enthusiasmus gestimmt, den sie am Ende auch nicht erregen mußten. Eher machte sich im »Stellwagen« – so nannte sich unsere Gesellschaft, die sich allabendlich beim Zieglerbräu versammelte – sachliche Kritik geltend, denn jeder der Beamten kannte doch die Bauern oder wollte sie kennen. Natürlich waren die Herren vom Bezirksamt geneigt, mich zurechtzuweisen, wenn ich ihren widerspenstigen Untertanen im lebhaften Wortwechsel zu viel Ehre erwies.

So konnte nur der Laie urteilen, der keine Ahnung davon hatte, wie viele Hindernisse der Bauer einer wohlmeinenden Erziehung entgegenstellte, wie bockbeinig und hintersinnig er war, wie mißtrauisch gegen die wohlwollende Regierung.

Der Bezirksamtmann war Bürokrat, wie aus den »Fliegenden Blättern« von 1850 herausgeschnitten, lieblos und ganz Herrscher. Der Assessor sehnte sich nach der Stadt unter Menschen. Was ihn hierorts mit kleinlichen Anliegen plagte, war Untertan und konnte gerade noch für zweibeinig gelten. Die Sprache war schauderhaft, der Begriffsmangel erschreckend.

Gehorchen und Zahlen konnte man von den Leuten verlangen, und dann kam die Scheidewand, diesseits derer die Intelligenz thronte.

Der Assessor verdiente sich einen Spitznamen, den wir ihm verliehen. Er hieß »der Durrasch«.

Und wie er dazu kam, das verriet sein herzliches Verständnis für das Volk und seine Sprache.

In einer Strafsache, bei der unser Assessor als Amtsanwalt den Staat vertrat, erzählte ein Bauernbursche, er habe von einer Rauferei nichts gesehen, weil er immer hinausgelaufen sei. Er habe den Durchmarsch gehabt.

Nach seiner Vernehmung erhob sich der Assessor und verlangte zu wissen, was dieser Zeuge unter einem »Durrasch« verstehe. Es handle sich offenbar um eine faule Ausrede.

Vergeblich bemühte sich unser alter Oberamtsrichter klarzulegen, daß der Zeuge Durchmarsch gesagt und Diarrhöe gemeint habe. Er wählte bei der Wiederholung sogar ein deutsches Wort, das der Sache ganz auf den Grund ging. Half nichts. Der Herr Assessor hatte deutlich Durrasch verstanden und verlangte unter drohendem Hinweis auf den geleisteten Eid genaue Auskunft über das seltsame Wort.

Ein tiefes Mißtrauen gegen den hinterlistigen Burschen blieb in ihm zurück.

Von ganz anderem Schlage war der prächtige Vorstand des Amtsgerichtes, in dem ich den letzten einer aussterbenden Rasse, der urbayrischen Landrichter älterer Ordnung, kennen und schätzen lernte.

Er stand gut mit den Bauern. Seine Derbheit verletzte sie nicht, ja, ich glaube, sie hatten Spaß an seiner Art, alle Dinge beim rechten Namen zu nennen, und an Schrannentagen hatte er viel Zuhörer.

Immer hatte man den Eindruck, daß er es gut meinte; am besten, wenn er Leute, die wegen eines Schimpfwortes Prozesse anfingen, so zusammenstauchte, daß sie aus dem Gerichtssaal verletzter herauskamen, als sie hineingegangen waren.

Von der einmal sprichwörtlichen Prozeßwut der Bauern merkte ich kaum mehr etwas; insbesondere waren die Grundstreitigkeiten fast ganz verschwunden.

Gerade die Wohlhabenden und Angesehenen in den Gemeinden redeten immer zum Frieden, wenn Zwistigkeiten über Wege und Fahrtrechte entstehen wollten. Auch von dem großen Einflusse der Geistlichkeit wurde und wird mehr erzählt, als wahr ist.

Ich fand, daß sich die Bauern in Gemeindeangelegenheiten recht ungern dareinreden ließen und daß sich eifrige Pfarrer damit schnell mißliebig machten. Hier wußte jeder einzelne, was er wollte, und konnte sich über die Folgen eines Beschlusses ein Urteil bilden; sich zu beugen und gegen die eigene Meinung Gehorsam zu leisten, lag den Leuten ganz und gar nicht im Sinne.

Gewiß wählten sie, vor die Caprivischen Handelsverträge abgeschlossen wurden, fast ausnahmslos die klerikalen Kandidaten in den Landtag und in den Reichstag. Weil sie sich mit Politik nicht befaßten, weil sie bei keiner andern Partei die Interessen ihres Standes berücksichtigt sahen, und weil Pfarrer wie ultramontane Kandidaten immer noch die einzigen waren, mit denen sie Fühlung hatten.

Das wurde anders, als infolge jener Handelsverträge die Getreidepreise stark zurückgingen und der Bauernbund gegründet wurde.

Der eingewurzelte Respekt vor der Geistlichkeit, über den man so viel hören konnte, war wie weggeblasen, und der Zorn wurde nicht im mindesten durch Rücksichten in Schranken gehalten.

Geistliche, die damals in Versammlungen auftraten, mußten mit Staunen wahrnehmen, wie ihnen ein grimmiger Haß entgegengebracht wurde.

Sie kannten dieses Volk nicht mehr.

Sie hatten es unterschätzt, hatten an eine Fügsamkeit geglaubt, die dem Stamme fremd war, und die Erfahrungen, die man nunmehr machte, übten einen starken, nachhaltigen Einfluß auf die Haltung des Zentrums aus. Auffällig war, wie viele schlagfertige, wirksame Redner sogleich aus dem Bauernstande hervorgingen. Wenn man auf der gegnerischen Seite, durch einen gewissen Bildungsdünkel verleitet, glaubte, leichtes Spiel mit den unwissenden Leuten zu haben, so wurde man schnell eines Bessern belehrt. Auch ein dachauer Herr mußte daran glauben.

Ein ultramontaner Rheinpfälzer, sonst ein umgänglicher Mann, aber sprudelnd vor Eifer, in Ausdrücken und Gebärden sich gehen lassend, meinte er, den aufgebrachten Bauern einmal die Leviten lesen zu müssen. Ein Bürgermeister aus der Umgegend deckte ihn aber unter dem schallenden Gelächter der Hörerschaft so zu, daß man ihm hinterher nahelegte, er möge im Interesse der Autorität und des Ansehens der Beamtenschaft nicht mehr auftreten.

Und da ich nun gerade von Reden und Rednern erzähle, will ich anfügen, daß ich mich auch einmal hören ließ.

Zur Feier des 25. Jahrtages des Frankfurter Friedens hielt ich auf dem Marktplatze eine Ansprache an die Veteranen.

Den größten Erfolg hatte ich damit bei der alten Viktor, die an einem Fenster des Zieglerhauses stand und Tränen der Rührung vergoß und zu den Umstehenden sagte, nur das hätte meine Mutter noch erleben müssen.

Nach dem Umzug und der Pflanzung einer Friedenseiche war Festessen.

Als ich etwas verspätet den Saal betrat, standen alle Veteranen auf, um den Redner zu ehren.

Den Bezirksamtmann, der schon anwesend war, verdroß das, und er erhob sich, um von seinem höheren Standpunkte aus den Tag zu beleuchten.

Zuerst war es still, aber wie der Mann im trockensten Amtsstil über den Krieg sprach, als hätte das Königliche Bezirksamt Dachau nachträglich seine Billigung auszudrücken, fingen alle Veteranen wie auf ein gegebenes Zeichen an, mit klappernden Löffeln die Suppe zu essen. Und in dem Lärm ging die obrigkeitliche Meinung unter.

In Dachau waren damals zahlreiche Maler, darunter Dill, Hölzel, Langhammer, Keller-Reutlingen, Flad, Weißgerber, Klimsch und andere.

Bei Hölzel verkehrte ich häufig. Er malte damals pointillistisch, trug die Farben mit der Spachtel auf, und man mußte etliche Schritte zurücktreten, um zu erkennen, was ein Bild darstellte.

Später ging er unter dem Einflusse Dills zur Malweise des Schotten Brangwyn über.

In abgetönten Farben, meist in Grün und Grau, wurden überhängende Bäume an Gräben und Bächen dargestellt, und die Bilder wirkten wie Gobelins.

Mir wollte es scheinen, als hätte sich die Gegend recht wohl so malen lassen, wie sie war, und jede Stimmung so, wie sie der Künstler erlebte und empfand, aber es gab auch damals einzig richtige Methoden, hinter die die Persönlichkeit zurücktrat.

Ein Sonderling war Flad, dem es nicht zum besten ging. Mit einem dicken Knüppel bewaffnet, den er nach kläffenden Hunden warf, lief er tagelang im Moos herum und sprach eifrig vor sich hin. Zuweilen schloß er sich mir auf einem Spaziergange an und trug Stellen aus Scherrs »Blücher und seine Zeit« vor. Er schien das Buch auswendig zu können.

Bei Hölzel, einem liebenswürdigen Österreicher, der Kenntnisse und Interesse und ein lehrhaftes Wesen hatte, gab es immer anregende Unterhaltung, und ich verdankte ihm manchen Hinweis auf gute Bücher.

Besonders die Russen und einige Skandinavier lernte ich durch ihn kennen; ich bereute es nicht, ihnen erst später und mit gereifterem Urteil begegnet zu sein.

»Anna Karenina« wurde und blieb ein Lieblingsbuch von mir; aber »Raskolnikow« konnte ich nicht zu Ende lesen. Die unheimliche Schilderung jeder Regung einer Seele, die zum Verbrechen wie zu etwas Notwendigem und fast Selbstverständlichem hingedrängt wird, erschütterte mich so, daß ich das Buch immer wieder weglegte, so oft ich darnach griff.

Mit geteilten Empfindungen nahm ich Ibsens »Baumeister Solneß« auf; da schien mir zuviel mit Absicht hineingeheimnist zu sein, und die Menschen gingen auf Stelzen.

Ich glaube, solche Gedanken waren damals sehr ketzerisch, denn etliche Päpste zu Berlin hatten längst die Infallibilität des großen Norwegers verkündigt. Aber mir fehlte stets die Führung durch den literarischen Zirkel, und ich mußte alles unmittelbar auf mich wirken lassen, ohne vorher zu wissen, was die Mode verlangte.

Denke ich zurück, so meine ich fast, ich hätte damals unbewußt schon den Reiz empfunden, den, wie Gottfried Keller sagt, das Verfolgen der Kompositionsgeheimnisse und des Stiles gewährt. Heute erblicke ich jedenfalls darin das Anziehendste, hinter den Zeilen den Autor beim Schaffen zu sehen und aus dem Worte die Stimmung und aus der Stimmung Gedanken, die sich schufen, zu erraten. Wenn man das recht genossen hat, ist man gefeit gegen Literaturzirkel und ihre Dogmen.

Am 1. Januar 1896 erschien die erste Nummer der »Jugend«.

Ich kann noch heute das Titelbild dieses Heftes nicht sehen, ohne mich ergriffen zu fühlen von der Erinnerung an jene Zeit und von der Sehnsucht nach ihr, die voll Fröhlichkeit, voll Streben, voll Hoffen war. Bald darauf sah man in München überall Th. Th. Heines Plakat, ein junges Mädel an der Seite eines Teufels.

Es war die Ankündigung des »Simplicissimus«.

Was regte sich damals für eine Fülle von Talent und Können, und vor allem von Teilnahme an diesen Dingen!

Mag die Bedeutung beider Wochenschriften beurteilt werden, wie immer; auch ein Gegner kann es nicht leugnen, daß sie frisches, neues Leben brachten.

Wer erschrak und widerstrebte, war doch mit hineingezogen in den Kreis dieser neuen Interessen, die München aus dem Schlafe aufweckten.

Mit welcher Aufmerksamkeit betrachtete man die Zeichnungen, prüfte man die Beiträge, las man die Namen der Künstler und Schriftsteller!

Sie waren Ereignisse, über die man diskutierte, nicht Kaffeehauslektüre, die man durchblätterte und weglegte; sie gaben mannigfaltigste Anregung und öffneten die Bahn für die Jungen, die sich mit den Älteren messen wollten.

Ich schickte zögernd und ohne rechtes Vertrauen ein politisches Gedicht an die »Jugend« und war nicht wenig stolz, als es schon in der zweiten Nummer erschien.

Ein paar andere folgten, und meine Zuversicht wuchs.

Damals war das Gasthaus zur Post in Traunstein verkauft und der Pachtvertrag gelöst worden; meine älteste Schwester erwarb eine Fremdenpension in München, die Zuspruch fand, und wir vereinbarten, daß ich mich nach einiger Zeit in der Stadt als Anwalt niederlassen sollte.

Ein Herr, der Gast in der Pension war, fragte mich eines Tages, ob ich der Verfasser der Gedichte in der »Jugend« wäre, und als ich es bejahte, meinte er, ich sollte nicht abseits von der aufstrebenden Bewegung bleiben und mich nicht bloß gelegentlich und so von außen her daran beteiligen.

Es war Graf Eduard Keyserling, der als Verfasser feiner, von leiser Ironie durchdrungener Werke bekannt geworden ist; recht bewundern lernte ich ihn viele Jahre später, als er in seiner schweren Krankheit, die zur Erblindung führte, eine Heiterkeit bewahrte, die nur aus Überlegenheit und Größe kommen konnte.

Die Stunden, die ich in anregenden Gesprächen mit dem geistreichen, im besten Sinne vornehmen Manne verbringen durfte, sind mir in lieber Erinnerung geblieben.

Den Umzug nach München wollte ich aber nicht übereilen; es war besser, in der Landpraxis noch fester Fuß zu fassen, und zudem hatte ich mit einem Universitätsfreunde die Verabredung getroffen, mit ihm gemeinsam die Kanzlei zu eröffnen.

So blieb ich noch ein Jahr in Dachau.

Eines Tages, im Frühjahr 1896, besuchte mich Redakteur Ritter und zeigte mir ziemlich aufgeregt ein illustriertes Blatt.

Das sei denn doch zu stark! Zu solchen Dingen solle man nicht schweigen, und wenn er auch nicht nach Polizei und Zensur schreie, so meine er doch, man müsse dagegen Stellung nehmen, und ich solle ihm den Gefallen tun, einen kräftigen Artikel gegen dieses neuzeitliche Gebilde zu schreiben.

Ich sah mir das Blatt an. Es war die Nummer 1 des »Simplicissimus«. Eine Erzählung, »Die Fürstin Russalka« von Frank Wedekind, hatte den guten Ritter in Harnisch gebracht.

Er war etwas gekränkt, als ich ihm sagte, daß ich seine Ansicht nicht teilen könnte.

Im Frühjahr 1897 kam der Abschied von Dachau; ich hatte doch das Gefühl, aus sicheren, wenn auch kleinen Verhältnissen heraus ins Ungewisse zu gehen, und so fiel es mir nicht leicht; noch schwerer freilich bedrückte es die alte Viktor, die es nicht verstehen wollte, warum ich mit meinem sorglosen, glücklichen Zustande nicht zufrieden war.

Es lag nicht in ihrer Art, darüber viele Worte zu machen, aber von ihren Spaziergängen im Hofgarten kehrte sie immer traurig zurück, und manchmal sah ich an ihren verweinten Augen, wie schwer ihr das Ende dieses bescheidenen Glückes fiel.

Noch dazu erlitten meine münchner Pläne eine arge Störung durch die plötzliche Erkrankung und den Tod meiner Schwester, aber zurück konnte ich nicht mehr, und so begann ich recht freudlos und sorgenvoll die Tätigkeit in meiner Kanzlei am Marienplatze.

Ich mußte bald erkennen, wie schwer es für einen jungen Anfänger ist, in der großen Stadt durchzudringen; am Ende ist es unerläßliche Notwendigkeit, auf irgendeine Art aufzufallen.

Wenn das Los der vielen, die es versuchen, nicht doch sehr bitter wäre, könnten die angewandten Mittel, die erfolgreichen wie die vergeblichen, komisch wirken.

Die marktschreierischen Volkstribunen, die sich um den Beifall im Zuschauerraume bemühten und das unwahrste Pathos in Bagatellsachen anwandten, waren arme Teufel, schon weil sie das tun mußten.

Mir bot die Praxis, die ich vom Lande hereingebracht hatte, einigen Halt, aber der Entschluß, sobald als möglich diese Tätigkeit aufzugeben, stand mir fest.

Ein Freund vom Stammtische im »Herzl«, Rohrmüller, hatte mit zwei anderen Herren die Waldbauersche Buchhandlung in Passau gekauft und erklärte sich im Sommer 1897 bereit, meine Bauerngeschichten gesammelt herauszugeben und sie illustrieren zu lassen.

Ich wandte mich brieflich an Bruno Paul, dessen Zeichnungen im »Simplicissimus« mir aufgefallen waren, und nach einer kurzen Unterredung sicherte er mir seine Mitarbeit zu.

Fürs Landschaftliche war Adolf Holzel sogleich gewonnen, und nun begann für mich die sehr anregende Tätigkeit, die beiden Künstler zur Ausführung des Versprochenen anzuhalten.

Bei Bruno Paul stieß ich dabei auf größere Schwierigkeiten, denn er war von Korfiz Holm, dem damaligen Chefredakteur des Simplicissimus, stark in Anspruch genommen.

Im Spätsommer setzte sich Paul nach Lauterbach bei Dachau, wo er im Oktober mit seinen Zeichnungen fertig wurde, so daß wir endlich daran gehen konnten, das Buch zusammenzustellen. Dabei leistete uns Rudolf Wilke, den ich nicht lange vorher kennengelernt hatte, sachverständige Hilfe, und der Sonntag, an dem wir von früh bis Abend Text und Bilder zusammenklebten, bleibt mir in fröhlichster Erinnerung.

Im Dezember war der »Agricola« gedruckt, und ich konnte das erste Exemplar dem Fräulein Viktor Pröbstl widmen und überreichen, die es zeitlebens für das beste und vollkommenste Buch hielt trotz ihrer Hinneigung zu den Klassikern.

Ich gestehe, daß es für mich ein recht erhebendes und die Brust schwellendes Gefühl war, als ich bei Littauer am Odeonsplatze zum ersten Male mein Werk in der Auslage liegen sah.

Ich bin damals nicht ganz zufällig an allen größeren Buchhandlungen Münchens vorbei gebummelt, und meine Wertschätzung der Sortimenter richtete sich danach, ob sie den Agricola ausgestellt hatten.

Es kamen auch bald Kritiken, und merkwürdigerweise die anerkennendsten in norddeutschen Zeitungen; doch fehlte es in München keineswegs an freundlichem Beifalle, und M. G. Conrad sang mir in der »Gesellschaft« ein klingendes Loblied.

Die nachhaltigsten Folgen hatte es für mich, daß ich durch die Arbeit am Agricola mit dem Simplicissimuskreise bekannt wurde.

Der Verleger Albert Langen lud mich eines Tages zu einer Unterredung ein.

Daß wir uns bei dieser ersten Begegnung gleich gefallen hätten, möchte ich nicht behaupten.

Der elegant gekleidete, mit dem gepflegten Vollbart recht pariserisch aussehende junge Herr war mir zu beweglich, sprang von einer Frage zur andern über, ohne recht auf Antwort zu warten, und leitete mir das Gespräch zu sehr von oben herab. Dabei prüften mich seine flinken Augen halb neugierig, halb mißtrauisch, und ich glaubte deutlich zu merken, daß er mich nach bekannter Manier ein bißchen unterwertig süddeutsch fand.

Weil ich das merkte, war ich schroffer und kratziger und kürzer angebunden, als es sonst meine Art war, und dieses erste Zusammentreffen endete, wenn auch nicht mit einem Mißklange, so doch mit dem Eindrucke, daß wir einander nicht viel zu sagen hätten.

Ich habe späterhin meine Ansicht über den gescheiten, heiteren und lebhaften Mann gründlich geändert, und mehr wie einmal unterhielten wir uns über jene erste Begegnung, bei der ich ihn zu sehr als feinen Hund und reichen Jüngling betrachtet hatte.

Vielleicht haben ähnliche Urteile über ihn manche Verstimmung hervorgerufen; Frank Wedekind hat seinem Ärger bekanntlich in mehreren Theaterstücken Luft verschafft, aber er hat stark danebengegriffen und ist am Äußerlichen hängengeblieben.

Über den Reichtum Langens war man sich in München einig, und Doktor Sigl schrieb in seinem »Bayrischen Vaterlande«, mehr bestimmt als unterrichtet, von den Millionen des jungen Verlegers. In Wirklichkeit hat dieser den »Simplicissimus« wie seinen Buchverlag mit den sehr bescheidenen Resten seines väterlichen Vermögens gegründet, und als die einen von seinen reichen Mitteln fabelten, andere wieder seine Zurückhaltung gegenüber kühnen Plänen oder hochgespannten Erwartungen für knauseriges Wesen hielten, war Langen mehr wie einmal vor die Frage gestellt, ob er das Unternehmen noch länger halten könne.

Im Café Heck am Odeonsplatze trafen sich damals fast alle Künstler, die am »Simplicissimus« und an der »Jugend« mitarbeiteten: zuweilen Heine, regelmäßig aber Paul, Wilke, Thöny, Reznicek, Jank, Erler, Putz, Gröber, Eichler, Georgi, Feldbauer und andere.

Den stärksten Eindruck machte der damals vierundzwanzigjährige Rudolf Wilke aus Braunschweig auf mich. Er war von einer Unbekümmertheit, die beim Fehlen jeglicher Pose, bei gründlichen Kenntnissen und beim tiefsten Ernste in künstlerischen Dingen viel ansprechender wirkte als die von Murger geschilderte Sorglosigkeit der pariser Bohemiens.

Er hätte ins elterliche Geschäft – sein Vater war Baumeister gewesen – eintreten sollen, war aber bald nach München gezogen, wo er bei Holossy studierte.

Er arbeitete zuerst für kleine illustrierte Münchner Blätter, bis ihn das Ergebnis des ersten Preisausschreibens der »Jugend« mit einem Schlage bekannt machte.

Charakteristisch für ihn war die Art, wie er sich an dem Wettbewerbe beteiligte. Er hatte das Ausschreiben übersehen oder den Termin verbummelt, setzte sich am letzten Tage hin und machte etwas ganz anderes als vorgeschrieben war, aber seine Zeichnung war so verblüffend gut, daß Georg Hirth mit Zustimmung des Preisgerichtes einen weiteren ersten Preis stiftete, der ihm zugesprochen wurde.

Von da ab war er regelmäßiger Mitarbeiter der »Jugend«, bis er zum »Simplicissimus« übertrat.

Er war von allen, die sich damals durchsetzten, sicher das stärkste Talent und übte einen sehr bemerkbaren Einfluß auf die ganze Richtung aus; er wurde nachempfunden und nachgeahmt, und am Ende hätten nur wenige bestreiten können, daß sie beim jungen Meister Rudolf Wilke in die Schule gegangen waren.

Er selber machte kein Wesen daraus, denn er wußte, daß er noch ganz anderes zu geben hatte; mochte er andern für fertig gelten, er selber arbeitete an sich weiter und reifte langsam heran, um dann von Reichtum überzuquellen.

Als er mühelos und selbstsicher das Beste schuf, mußte er sterben.

Mit ihm hat Deutschland einen großen Humoristen verloren; wer in dem Werke seines kurzen Lebens den überraschenden Aufstieg bemerkt und sich Rechenschaft darüber geben kann, wie diese liebevolle Schilderung des Komischen sich immer mehr vertiefte und immer mehr die gute Art der niederdeutschen Rasse zeigte, wer dieses stille, so gar nicht lärmende, aber doch erschütternde Lachen über die Schwächen der lieben Menschheit versteht, der weiß, welche Hoffnungen der Tod Rudolf Wilkes zerstört hat.

Auch als Persönlichkeit war er prachtvoll. Von der Gewandtheit und Kraft des hochgewachsenen Mannes wurde vieles erzählt, und kaum etwas war übertrieben; auf großen Radtouren, die wir zusammen machten, hatte ich oft Gelegenheit, mich über seine Tollkühnheit zu ärgern, aber auch immer wieder zu sehen, wie kaltblütig und selbstverständlich er jede gefährliche Situation überwand.

Schon wie er sich zu größeren Reisen anschickte, war bezeichnend für ihn; sogleich entschlossen, unbeschwert durch irgendwelche Rücksichten oder Verpflichtungen, unbekümmert um Länge der Fahrt und Dauer der Reise, setzte er sich mit in den Zug, und dann durfte es gehen, wohin es wollte.

Freilich konnte er einem dann beim ersten Frühstück in Mailand so nebenbei mitteilen, daß er ganz vergessen habe, Geld einzustecken. Einmal radelten er, Thöny und ich durch die Provence nach Marseille, setzten nach Algier über und fuhren dann über Constantine nach Biskra und Tunis.

Da war Wilke in seinem Element; seinetwegen hätte die Reise noch viele Monate dauern dürfen, und er hätte sicherlich nie gefragt, ob uns das Geld lange; wär's ausgegangen, hätte man sich schon auf irgendeine Weise geholfen.

Unvergeßlich bleibt mir sein Entzücken über einen alten Araber, dem wir in der Nähe von Bougie begegneten; er ritt auf einem Maultiere, links und rechts neben sich einen Korb mit Orangen gefüllt, über sich einen großen Sonnenschirm aufgespannt, der kunstreich am Sattel befestigt war, und so saß der alte Herr vergnügt im Schatten, las in einem kleinen Buche und aß Orangen.

So was von kluger Art, zu reisen, so selbständig ausgedacht und frei von herkömmlichen Zwangszuständen, gefiel unserm Wilke derart, daß er vom Rad herunterstieg und eine Weile neben dem alten Kerl herlief, nur um ihn recht zu beobachten.

Er wußte überhaupt den würdevollen Gleichmut der Araber, von dem wir immer wieder Beweise erlebten, nicht genug zu rühmen, und das war leicht erklärlich, denn er war darin selbst ein Stück von ihnen.

Sein unbändiger Wandertrieb ließ ihn daheim besonderen Gefallen an landstreichenden Handwerksburschen finden.

An einem warmen Märztage, wo einen Ahnungen von wundervollem Sonnenschein und blauem Himmel zum Reisen verlocken, fuhr ich mit ihm auf der Landstraße nach Dachau an zwei walzenden Kunden vorbei, die, ihre schmutzigen Bündel umgehängt, ins Weite hinein marschierten.

Wir setzten uns auf einen Schotterhaufen und ließen sie noch mal an uns vorbeistapfen.

»Die Kerle haben es doch am schönsten,« sagte Wilke mit ehrlichem Neide, und dann setzte er mir auseinander, wie es einzig weise sei, in den Tag hinein zu leben und von aller Konvention frei zu sein.

Jede Pose war ihm verhaßt, und jede sah er mit unbestechlichen Augen, auch wenn sie Leute von klingendem Namen zu verstecken suchten.

Damit war einer bei ihm sofort unten durch, und zuweilen, wenn sich uns gegenüber eine Berühmtheit wohlwollend gehen ließ, sagte Wilke, der Kerl sei doch bloß ein Hanswurst; zu dem Urteil genügte ihm irgendeine Selbstgefälligkeit im Ton oder in der Gebärde.

Das literarische Jung-München, das sich auch damals absurd gebärdete und sich bedeutender gab, als es war, bot ihm reichliche Gelegenheit zum Spotte; wenn er sich zuweilen mit übertriebener Bescheidenheit in der Torggelstube zu den Unsterblichen setzte, mit schüchternen Fragen Belehrungen anregte, ahnten die Gecken nicht, wie sehr sie die Gefoppten waren. Auch nicht, wie gründlich sie der harmlose Künstler durchschaute, und wie er ihre unmännliche Art verabscheute.

Sein ernsthaftes Wesen, das sich frei von Vorurteilen und Schulmeinungen in selbstgedachten Gedanken zeigte, trat sogleich hervor, wenn er über wirkliches Können urteilte.

Er ging immer auf das Wesentliche ein und vermied auch Großem gegenüber die Banalität des Superlatives.

Ein hoher Genuß, der bleibende Erinnerungen zurückließ, war es, ihn über ein gutes Bild reden zu hören; es war nichts von Schulmeisterei, die klassifiziert und Zusammenhänge beweist, darin, es war bei aller Zurückhaltung die Meinung des großen Könners, dem tief verborgene, unbewußte Vorgänge des Schaffens klar vor Augen standen.

Auch über Bücher habe ich nicht leicht jemand so gut urteilen hören wie Rudolf Wilke; er las gerne und mit Auswahl, am liebsten gute Memoiren, die eine vergangene Zeit zum Leben erweckten; an die Freude, die er über Platons »Laches« empfand, erinnere ich mich gerne.

Die ehrliche Gescheitheit des Sokrates, der jeden Begriff ins kleinste zerlegt und sein Eigentliches herausschält, der nie bloße Worte gelten läßt, keiner Schwierigkeit ausweicht, der nichts sich in den Nebel der Redensarten verlieren läßt, entzückte ihn, und gleich stand ihm der kluge Athenienser plastisch vor Augen, der sich von braven Spießbürgern zuerst hergebrachte Meinungen vortragen läßt, um sie dann bloß durch Fragen zu der unerquicklichen Erkenntnis zu bringen, daß sie weder etwas wirklich geglaubt, noch sich etwas gedacht hatten.

Er stellte Betrachtungen darüber an, wie uns heute die Kunst des geraden Denkens, aber auch das Verlangen darnach durch die verfluchte Phrase verlorengegangen sei, und eifrig las er mir nach ein paar Seiten aus »Laches« Proben aus dem Zarathustra vor, um daran zu zeigen, wie hoch wir das Spielen mit Worten und Stimmungen einschätzen. Natürlich sah Wilke als Maler nur in der echten Schilderung menschlicher Charaktere und der sich daraus folgerichtig aufbauenden Geschehnisse schriftstellerische Werte, und das Kokettieren mit hintersinnigen Gedanken und Weltschmerzen führte er auf künstlerische Impotenz zurück.

Ich erwähne das, um seine Stellung und damit wohl auch die der andern Künstler zu den neuen Göttern zu kennzeichnen. Eigentlich bestand wenig oder kein Zusammenhang zwischen den literarischen und den künstlerischen Mitarbeitern der »Jugend« und des »Simplicissimus«. Hirth versuchte ihn, wie mir erzählt wurde, in geselligen Zusammenkünften anzuregen, aber man fand aneinander kein übermäßiges Gefallen.

Die Herren Dichter fühlten sich wohler, wenn sie unter sich waren und sich mit ein bißchen Medisance und recht viel gegenseitiger Bewunderung die Zeit vertreiben konnten; natürlich gehörte dazu ein Auditorium von Jüngern und Jüngerinnen, die mit aufgerissenen Augen dasaßen und den Flügelschlag der neuen Zeit rauschen hörten.

In Schwabing trieb, wie erzählt wurde, der Kultus des Stefan George seltsame Blüten, und man sagte, der Dichter habe sich's bei gelegentlicher Anwesenheit gefallen lassen, daß die schwabinger Lämmer um ihn herumhüpften und ihn auf violetten Abendfesten anblökten. Andere vereinigten sich zu andern Gemeinden, und es wurden viele Altäre errichtet, auf denen genügend Weihrauch verbrannt wurde.

Das neue genialische Wesen brachte immerhin Leben und Bewegung nach München, und am Ende hatte es doch mehr Gehalt als das marktschreierische Getue der heutigen Talente, die jede Form verachten, die sie nicht beherrschen.

Viel Aufsehen erregte damals Frank Wedekind mit seinen Gedichten im »Simplicissimus«; sein »Frühlings Erwachen« hatte ihm in literarischen Kreisen schon Geltung verschafft, aber das größere Publikum wurde erst durch seine geistreichen, zuweilen recht gepfefferten Verse auf ihn aufmerksam. Ein Gedicht auf die Palästinareise des Kaisers ist wegen seiner Folgen berühmt geworden, und Wedekind hat späterhin für die Bildung einer Legende gesorgt, die schmerzhaft klang, aber der Wahrheit nicht entsprach.

Ich kam damals täglich mit Wilke, Thöny und Paul zusammen und erlebte als Unbeteiligter die Geschichte der oft erzählten und auch für die Bühne bearbeiteten Majestätsbeleidigung.

Eines Mittags im Oktober 1898 suchte Korfiz Holm die Künstler des »Simplicissimus« und mich im Parkhotel auf und zeigte mir den Korrekturabzug der späterhin viel genannten Palästinanummer, weil ich den Text zu einer Zeichnung Pauls gemacht hatte. Wir lachten über das Titelbild Heines, das Gottfried von Bouillon und Barbarossa mit dem Tropenhelm Wilhelms zeigte, und dann las ich das Gedicht Wedekinds.

Darin war der Kaiser so direkt angegriffen, daß ich sagte, wenn die Verse nicht in letzter Stunde noch entfernt würden, sei die Beschlagnahme der Nummer und eine Verfolgung wegen Majestätsbeleidigung unausbleiblich.

Holm erklärte aber, das Gedicht sei von einer juristischen Autorität geprüft worden und außerdem sei die Nummer schon im Drucke, so daß Änderungen nicht mehr möglich seien. Ich blieb auf meiner Ansicht stehen, aber am Ende war es Sache der Redaktion, ob sie die Strafverfolgung riskieren wollte oder nicht.

Die Nummer wurde sofort nach Erscheinen konfisziert; Albert Langen floh nach Zürich, Heine wurde nach Leipzig vorgeladen und dort in Untersuchungshaft genommen, späterhin auch zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Obwohl Wedekind das Gedicht unter einem Pseudonym hatte erscheinen lassen, konnte er sich doch nicht für gesichert halten, denn zu viele Leute kannten ihn als Verfasser. Eine andere Frage ist, ob er ehrenhalber nicht hätte hervortreten müssen, aber die Entscheidung darüber wurde ihm erspart, da die Polizei durch einen Übergriff des Leipziger Gerichtes hinter das Geheimnis kam. Wedekind wurde rechtzeitig gewarnt und floh von der Premiere seines »Erdgeistes« weg in die Schweiz zu Langen.

Daß er über die Aufdeckung seiner Autorschaft ungehalten war, läßt sich begreifen, aber ganz unverständlich bleibt der Vorwurf, den er später gegen Langen erhob: der habe ihn gezwungen, eine Majestätsbeleidigung zu dichten, indem er seine Notlage ausgenützt habe.

Wedekind war regelmäßiger Mitarbeiter des »Simplicissimus« und konnte darauf rechnen, daß jeder Beitrag von ihm angenommen und anständig honoriert wurde. Von einem Zwange, ein bestimmtes Gedicht zu machen, konnte schon darum ebensowenig die Rede sein wie von einer Notlage. Der Hergang war auch ein anderer. Das Gedicht auf die Palästinafahrt war in seiner ersten Fassung so scharf, daß Albert Langen Bedenken trug, es aufzunehmen, und Änderungen verlangte. Wedekind, der es in der Redaktion mit Vaterfreuden vorgelesen hatte, wollte an die Milderung zuerst nicht heran und verstand sich nur mit Widerstreben dazu. Darum blieb auch die zweite Fassung noch so gepfeffert, daß Langen die Aufnahme vom Gutachten des Herrn Justizrates Rosenthal abhängig machte.

Der gab seinen Segen dazu, vielleicht etwas zu sehr beeinflußt durch das Vergnügen an der famosen Satire und dem formvollendeten Gedichte. Damit war das Unheil im Zuge und nahm seinen Lauf.

Die Gegner, an denen es dem »Simplicissimus« nicht fehlen konnte, haben sich hinterher stark über planmäßige Majestätsbeleidigungen und geschäftliche Spekulationen aufzuregen gewußt. Daß ein aus künstlerischen Gesichtspunkten geleitetes Witzblatt sich aufs Geschäftemachen nicht einlassen konnte, war am Ende leicht einzusehen; schwieriger mußte auch für kluge Leute in Deutschland die Erkenntnis sein, daß ein sich so sehr und in solchen Formen in den Vordergrund drängendes persönliches Regime ganz von selber die Satire herausforderte. Die unnahbare Höhe des Thrones mußte zuallererst von dem Herrscher selbst gewahrt werden. Wenn er in die Niederungen der Tagesstreitigkeiten bei jeder möglichen Gelegenheit herunterstieg, rief natürlicherweise dieser Widerspruch zwischen der eigenen Unverletzlichkeit und dem Vorbringen von anfechtbaren und verletzenden und sehr konventionellen Meinungen scharfe Entgegnungen hervor.

Als Repräsentant eines großen Volkes Polemik zu treiben, in alles und jedes dreinzureden, ging nicht an. Die aufdringliche Bewunderung, die auch groben Verstößen und Fehlern gegenüber an den Tag gelegt wurde, die Manier, jeden ehrlichen Unwillen über das gefährliche, vorlaute Wesen als vaterlandslose Gesinnung zu brandmarken, verschärften den Widerspruch und mehrten den Zorn, der sich – heute dürfen wir sagen leider – viel zu wenig Luft machte. Wäre das Ersuchen um geneigteste Zurückhaltung, das 1908 zu sehr in Moll gestellt wurde, zehn Jahre vorher von Parlament und Presse mit rücksichtsloser Entschiedenheit vertreten worden, dann hätte vieles anders und besser werden müssen.

Es ist heute schwer, gerade weil es leicht ist, darüber große Reden zu halten; aber das wollte ich in diesem Zusammenhange sagen, daß jene angeblich planmäßigen Majestätsbeleidigungen bloß die Antworten auf planmäßige Herausforderungen waren. Dazu kam, daß der Ton, mit dem damals die Musik gemacht wurde, auf Künstler, denen die Persönlichkeit viel oder alles gilt, höchst aufreizend wirkte.

Die unechte Heldenpose, die einem so häufig vor Augen gestellt wurde, konnte nicht immer einem schweigenden Mißbehagen begegnen; es mußte sich äußern, und die Form des Spottes wirkte erlösender als schwerblütiger Tadel, denn er zeigte blitzartig, mit unwiderleglicher Schärfe das, worauf es ankam, und die ärgerliche Erkenntnis milderte sich durch die Möglichkeit, darüber herzhaft lachen zu können.

Spott untergräbt keine echte Autorität, weil er sie nicht treffen kann, aber dem auf Äußerlichkeiten ruhenden, konventionell festgehaltenen, dem übertriebenen und angemaßten Ansehen tut er Abbruch, und das ist nicht schädlich, denn treffender Spott heilt unklare Verstimmungen, indem er mit einem Worte, mit einer Geste die Ursachen des Unbehagens aufdeckt.

Im übrigen hätte ein von politischen Gehässigkeiten unangekränkeltes Empfinden sich wirklich darüber empören müssen, daß ein Künstler wie Th. Th. Heine für ein gutes Bild und ein Witzwort über die pompöse Reise nach Jerusalem zur Gefängnisstrafe von sechs Monaten verurteilt werden konnte. Diese brutale Vergewaltigung als Antwort auf einen mit geistigen Waffen geführten Angriff war abscheulich.

Aber man nahm damals sogar einen Rechtsbruch und eine Verletzung der bayrischen Staatshoheit geduldig hin, weil es sich um Sühne für eine Majestätsbeleidigung, und auch, weil es sich um den »Simplicissimus« handelte.

Der sächsische Untersuchungsrichter wollte noch mehr Schuldbeweise gegen Heine zusammenbringen und glaubte, daß eine gründliche Haussuchung in der Redaktion des »Simplicissimus« Erfolg verspräche; allein den bayrischen Behörden traute er nicht genug Eifer zu, und darum suchte er um die durch das Gesetz nachdrücklich verwehrte Erlaubnis nach, selber die Haussuchung vornehmen zu dürfen.

Der bayrische Justizminister ließ sich verblüffen und gab dem unverschämten Ansinnen nach; der sächsische Richter kam nach München, schnüffelte in allen Schränken und Schubladen herum und fand auch einen Brief Heines, den er brauchen konnte.

Daß weder der Landtag noch die Presse gegen diese Gesetzwidrigkeit entschieden Stellung nahm, daß das Ministerium sich feige auf einen nicht anwendbaren Paragraphen berief, das alles war wirklich verächtlicher Byzantinismus.

Das Recht mißachtet, die Würde des Staates preisgegeben, um das Ansehen eines Monarchen gegen ein Witzwort zu wahren.

*

Je intensiver mein Verkehr mit den Künstlern wurde, desto lebhafter wurde in mir der Wunsch, mit ihnen zusammenzuarbeiten, alle meine Interessen gingen darin auf, und eine immer stärkere Unlust am anwaltschaftlichen Berufe drückte schwer auf mich.

Aber noch sah ich keinen Weg, der ins Freie führte. Das Heim, das ich der alten Viktor und meiner jüngsten Schwester geboten hatte, mußte ich erhalten, und ich konnte nicht darauf rechnen, daß schriftstellerische Arbeit mir diese Möglichkeit gewährte. Ich schrieb wohl einige Erzählungen für den »Simplicissimus«, die gefielen, aber das gab mir, wie ich mir selbst gestehen mußte, noch lange nicht das Recht, darin Sicherheiten für die Zukunft zu sehen.

Frühling und Sommer 1899 waren darum recht unerquicklich für mich; ich plagte mich ab mit der Sehnsucht nach einem anderen, soviel reicheren Leben und mit den Bedenken, die gegen einen raschen Schritt sprachen.

Ich ging daran, ein Lustspiel zu schreiben, das auch im Laufe des Jahres fertig wurde, den Titel »Witwen« führte und gottlob nicht aufgeführt wurde.

Die Genugtuung darüber empfinde ich heute nicht deshalb, weil das Lustspiel nach alten Mustern auf Verwechslungen aufgebaut war, sondern weil die Ablehnung heilsam für mich wurde.

Der Oberregisseur Savits, der mir von einem Ferienaufenthalte in Seebruck her befreundet war, las die Komödie und erklärte mir bei der Unterredung im Regiezimmer des Hoftheaters, das ich mit Herzklopfen und auch mit frohen Erwartungen betrat, daß dieses Ei keinen Dotter habe.

Es seien ganz nette Sachen darin, sogar eine famose Szene zwischen einem Bauern und dem Anwaltsbuchhalter, aber das lange nicht, und kurz und gut, das Ei habe keinen Dotter, und er rate mir, es zurückzuziehen.

Ich erlebte ein paar bittere Tage, grollte über Verkennung und fand nach reiflichem Nachdenken, daß Savits recht hatte.

Ich war zu tief im Milieu gesteckt, hatte nach eigenen Erlebnissen und Stimmungen und nach Modellen gearbeitet. Dabei blieb ich im Gestrüpp.

Damals aber, im Sommer 1899, saß ich gläubig am Schreibtische, freute mich, wenn die Handlung vorwärts schritt, und sah hinter grauen Wolken ein Stück blauen Himmel. Wenn der Lärm unter meiner Kanzlei am Promenadeplatze allmählich verstummte, legte ich die mich immer mehr langweilenden Akten beiseite und holte aus der Schublade das Manuskript der »Witwen« hervor, um bis in die tiefe Nacht hinein zu sinnieren und zu schreiben. Dann traten mir aus den sich kräuselnden Tabakwolken Bilder einer freundlichen Zukunft entgegen, und oft überwältigten sie mich so, daß ich aufsprang und im Zimmer auf und ab lief und laute Selbstgespräche führte.

Die alte Viktor saß im Zimmer daneben, hörte das Gemurmel mit sorglichen und von Hochachtung erfüllten Empfindungen an, denn sie wußte, daß ich ein Lustspiel dichtete, und für sie gab es keinen Zweifel, daß es prachtvoll werden müsse.

Vielleicht knüpfte auch sie einige Hoffnungen daran auf Rückkehr zum Landleben, aus dem Lärm heraus zur Stille.

Oft höre ich noch heute die tiefen Schläge der Domuhr, die von den Frauentürmen herunter über den Platz dröhnten, und ich erinnere mich daran, wie oft ich mit heißem Kopfe am offenen Fenster stand und in die Nacht hinaussah.

Wieder war eine Szene fertig, es wollte sich runden und wollte werden, und vor mir lag die ersehnte Freiheit.

Dann klang aus der Ferne die leise Stimme meiner Mutter herüber: »Es wird noch alles recht werden.«

*

Die Erlösung kam unerwartet und auf andere Weise, als ich geträumt hatte. Eines Tages, es war im September 1899, sprach mich ein Rechtsanwalt, der meine geheimen Wünsche erraten hatte, daraufhin an und erbot sich, meine Praxis gegen eine runde Summe zu übernehmen.

Ich konnte nicht sofort zusagen und sprach darüber mit meinem Rechtskonzipienten, der mir nachdenklich schweigend zuhörte und mich am folgenden Tag um eine Unterredung ersuchte.

Er bat mich dabei, nicht jenem Anwalte, sondern ihm unter den gleichen Bedingungen die Praxis abzutreten.

Jetzt besann ich mich nicht mehr lange, und schon am nächsten Tage schlossen wir den Vertrag ab, der mir überraschend schnell die Freiheit verschaffte.

Gleichzeitig traf es sich, daß in Allershausen bei Freising, wo sich eine Schwester von mir kürzlich verheiratet hatte, ein kleines Haus um billiges Geld zu mieten war.

Ich machte Viktor den Vorschlag, mit meiner andern Schwester dorthin zu ziehen, und versprach, möglichst oft hinauszukommen; die bescheidenen Mittel, die beide zum Leben brauchten, getraute ich mich aufzubringen, da mir nunmehr auch Langen ein monatliches Fixum für regelmäßige Mitarbeit am »Simplicissimus« zugesagt hatte.

Ich selber mietete ein paar unmöblierte Zimmer in der Lerchenfeldstraße und war nun auf wenig gestellt, aber frei wie ein Vogel, und wohl nie mehr habe ich mich so glücklich gefühlt wie in jenen ersten Wochen, als ich eifrig an meinem Lustspiele schrieb, an keine Zeit und keine Pflicht gebunden war und mir auf Spaziergängen im Englischen Garten ausmalte, wie unbändig schön es erst nach einem Erfolge werden würde.

Dann kam freilich die betrübliche Erkenntnis, daß das Ei keinen Dotter hatte, aber bald trug ich den Kopf wieder hoch, und nach dem tiefen Eindrucke, den eine Bauernhochzeit in Allershausen auf mich gemacht hatte, schrieb ich »Die Hochzeit« und daran anschließend ein Lustspiel »Die Medaille«.

In der Zwischenzeit war ich auch in die Redaktion des »Simplicissimus« eingetreten.

Der Kongreß der Mitarbeiter, auf dem der Beschluß gefaßt wurde, fand in der Schweiz statt, in Rorschach am Bodensee, weil Langen deutschen Boden nicht betreten durfte.

Fünf Jahre lang mußte er im Ausland bleiben, bis er 1903 durch Vermittlung eines mächtigen Herrn in Sachsen nach Hinterlegung einer beträchtlichen Summe außer Verfolgung gesetzt wurde.

Was es für den rührigen, etwas zappeligen Mann bedeutete, sein junges Unternehmen im Stiche lassen zu müssen, kann man sich denken, und schon darum kennzeichnet sich die Behauptung, daß er zu geschäftlicher Förderung eine Majestätsbeleidigung von Wedekind erzwungen habe, als sinnloses Geschwätz.

Es ist ihm ein Vorwurf daraus gemacht worden, daß er sich nicht dem Strafrichter gestellt habe, und es gab dafür eine klingende Redensart, daß er nicht den Mut gehabt habe, die Folgen seiner Handlung zu tragen.

Es gehört aber neben Mut auch kräftige Gesundheit dazu, sich ein halbes Jahr einsperren zu lassen, und die fehlte Langen, der damals an starken nervösen Kopfschmerzen litt.

Wir haben in den folgenden Jahren noch manche Zusammenkunft in Zürich gehabt, und es war unschwer zu sehen, wie sehr die Trennung von Geschäft und Tätigkeit Langen bedrückte.

In der Redaktion des »Simplicissimus« hatte ich neben Reinhold Geheeb eine anregende Tätigkeit, die mir zusagte und die mir stets Zeit zu eigenen Arbeiten ließ.

Von maßgebendem Einflusse auf den Inhalt der einzelnen Nummern war von den Künstlern immer Th. Th. Heine, der häufig in die Redaktion kam, sich mit uns beriet und Anregungen gab.

Die andern, Paul, Thöny, Wilke, Reznicek, zeichneten entweder nach Laune und Einfall, was ihnen gerade zusagte, oder sie übernahmen es, einen vereinbarten Text zu illustrieren. Redaktionssitzungen, an denen alle Künstler teilnahmen, wurden erst später, nach Langens Rückkehr abgehalten.

Wilhelm Schulz hielt sich noch in Berlin auf, und der Verkehr mit ihm blieb aufs Schriftliche beschränkt; I. B. Engl machte selber die Texte zu seinen Zeichnungen.

Von literarischen Mitarbeitern sah man zuweilen Bierbaum, Falkenberg, Gumppenberg, Greiner, ziemlich häufig Holitscher.

Hie und da kam ein junger Mann in der Uniform eines bayrischen Infanteristen, trug einen Stoß Manuskripte, die er für den Verlag geprüft hatte, bei sich und übergab der Redaktion ab und zu geschätzte Beiträge; er war sehr zurückhaltend, sehr gemessen im Ton, und man erzählte von ihm, daß er an einem Roman arbeite. Der Infanterist hieß Thomas Mann, und der Roman erschien später unter dem Titel »Buddenbrooks«.

Mit den literarischen Vereinen kam ich nicht in Fühlung, ebensowenig mit den engeren Zirkeln um Halbe, Ruederer u. a.

Otto Erich Hartleben lernte ich in einer Gesellschaft kennen; er gab von Zeit zu Zeit Gastrollen in München, und man hörte nach seiner Abreise Erzählungen von endlosen Kneipgelagen, die von fröhlichen Philistern, die sich was darauf zugute taten, noch gehörig übertrieben wurden.

Er hatte was vom alten Studenten an sich, auch ein bißchen was vom gefeierten Genie, um das sich Kreise bilden, aber wenn er nach einer Weile die Geste beiseite ließ, konnte man sich an dem Frohsinn des hochbegabten, warmherzigen Menschen erfreuen. Zuletzt traf ich ihn in Florenz, im Frühjahr 1903, aufgelegt, wie immer, zum Schwärmen und Pokulieren, aber jede fröhliche Stunde mußte er mit körperlichen Schmerzen bezahlen, und er sah recht verfallen aus.

Bald nach meinem Eintritt in die Redaktion des »Simplicissimus« lernte ich Björnstjerne Björnson kennen.

Das heißt, um es respektvoller auszudrücken, ich wurde ihm vorgestellt, und er hatte die Güte, mir etwas Wohlwollendes über ein paar Gedichte zu sagen.

Er gehörte zu den Männern, die körperlich größer aussehen, als sie sind, und die man stets über andere wegragen sieht; in der größten Gesellschaft mußte sogleich der Blick auf ihn fallen, und das wußte er und hielt was darauf. Er sah imponierend aus mit seiner geraden Haltung, mit den blitzenden Augen unter buschigen Brauen, die ein bißchen über die kleinere Menschheit wegsahen, mit den schlohweißen Haaren auf dem stolz getragenen Haupte. Im Gespräche mit uns war er so was wie wohlaffektionierter König, aber er konnte auch aus sich herausgehen und derb und herzlich lachen.

Wer bei ihm zu Besuch in Aulestad gewesen war, rühmte seine zwanglose Gastfreundschaft; hier, in München, war er schon etwas Vertreter einer fremden Großmacht und kritisch und mißtrauisch gegen den Unteroffiziersgeist, den er diesseits der schwarzweißroten Pfähle witterte. Damals war er auf Deutschland gut zu sprechen und hielt uns für bildungs- und besserungsfähig. »Über unsere Kraft« hatte in Berlin volles Verständnis gefunden, und viele Angehörige der preußischen Nation schrieben sich die Finger schwarz über die tiefen Probleme des ersten wie des zweiten Teiles, und so sah Björnson, daß sie auf dem rechten Wege waren und sich zu einigem Werte durchringen konnten.

Immer leidenschaftlich, setzte er sich ganz für eine Sache ein und ließ am Widerparte gar nichts gelten; er besaß im höchsten Maße die Gabe, nur die eine Seite zu sehen, und war darum ein erfolgreicher Parteiführer und nebenher ein glänzender Journalist; alles sah er aus bestimmten Gesichtswinkeln und ordnete es seinem Systeme ein.

Ich besuchte einmal um Ostern 1904 mit ihm das Forum in Rom.

Professor Boni begrüßte den illustren Gast aus Norwegen mit romanischer Höflichkeit und würdevoller Devotion und machte selbst den Führer.

Wilke und ich gingen hinterdrein.

Als Boni, den die vom preußischen Unteroffiziersgeist angekränkelten deutschen Gelehrten für einen Scharlatan halten, unter anderm sagte, die Auffindung eines Altars hätte ihn zu der Überzeugung gebracht, daß die Plebejer eine andere Religion als die Patrizier gehabt hätten, daß sie überhaupt eine fremde, von den Römern unterjochte Nation gewesen seien, war Björnson über diese neuen, großen Gesichtspunkte begeistert, denn mit unterdrückten Völkern hielt er es immer.

Auf dem Heimwege fragte er mich, ob ich ihm kein gutes Buch über römische Geschichte nennen könne, »aber« – fügte er bei – »bleiben Sie mir weg mit diesen deutschen Gelehrten, mit Ihrem Mommsen! Es muß so sein, wie es Boni darstellte.«

Ich erwiderte etwas schnoddrig, daß meines Wissens in Deutschland kein derartiger Bockmist gedruckt worden sei.

Einen Augenblick war er verdutzt, dann brach er in ein schallendes Gelächter aus, und daheim rief er gleich seine herzensgute Frau Karoline herbei und erzählte ihr, daß der »onverschämte Kärl« die Erklärungen des prächtigen Professors Boni einen Bockmist genannt habe.

Einmal, als ich ihn in der Via Gregoriana besuchte, kam sein Enkel Arne Langen ins Zimmer und stellte sich ans Fenster. Man hatte von da aus einen wundervollen Blick auf die Peterskirche, und plötzlich rief der kleine Arne, auf die mächtige Kuppel hindeutend: »Großpapa, wer wohnt dort?«

»Da wohnt niemand,« erwiderte Björnson sehr ernst.

»O ja! Da wohnt der liebe Gott!«

»Onsinn! Wer hat dir das gesagt? Das war wieder dieser preußische Unteroffizier …« Björnson wurde ernstlich böse auf die deutsche Erzieherin, die seinen beiden Enkeln solche Märchen erzählte, und die ihm überhaupt viel zu korrekt und, wie er es nannte, zu preußisch war.

Bekannt ist seine leidenschaftliche Anteilnahme am Schicksale von Dreyfus; ihm teilte sich die Menschheit eine Zeitlang nur in edle, lichte Freunde des Unschuldigen und in pechrabenschwarze Anti-Dreyfusards. Björnson weilte in Paris bei Langen, als Dreyfus auf freien Fuß gesetzt wurde, und er beeilte sich, dem Märtyrer seine Sympathien mündlich kundzugeben.

Wie mir erzählt wurde, war er von der Zusammenkunft stark enttäuscht; der berühmteste Prozeßmann Europas soll sich als recht trockener Spießbürger gezeigt haben, der für die Opfer, die ihm von einzelnen, insbesondere von Picquart, gebracht worden waren, kaum Verständnis bewies.

Jedenfalls hat er durch seine dürftige Art dem großen skandinavischen Gönner die weltgeschichtliche Szene verdorben.

Mir hat Björnson im Laufe der Jahre seine freundliche Gesinnung bewahrt und zuweilen bewiesen. Als ich vom Landgerichte Stuttgart wegen Beleidigung einiger Sittlichkeitsapostel verurteilt worden war, legte er beim König von Württemberg Protest gegen die Strafe ein.

Um aber begnadigt zu werden, hätte ich selber ein Gesuch einreichen müssen, und das konnte ich aus begreiflichen Gründen nicht tun.

*

In der neuen Tätigkeit, die mir immer als begehrenswert erschienen war, fühlte ich mich glücklich.

Sehr viel trug dazu die freie Art bei, in der jeder Einzelne seiner Verpflichtung nachkam und in der alle die gemeinsame Aufgabe erfüllten.

Wir standen als angehende Dreißiger fast alle im gleichen Alter, hatten keinen Willen als den eigenen zur Richtschnur und handelten nur nach Gesetzen, die wir uns selbst im Interesse der Sache auferlegten.

Es gab keinen Chef, dessen Meinung oder Wünsche zu berücksichtigen waren; es gab keine äußerliche, außerhalb des Könnens und der Förderung des Ganzen liegende Autorität; die ruhte auf Persönlichkeit und Leistung. Gewiß überwog die Geltung Th. Th. Heines, und seine stets in urbaner Form vorgetragene Meinung war ausschlaggebend. Aber sie war es wirklich, weil sie überzeugte, und weil souveränes Können, treffsicherer Witz und ein durchdringender Verstand dahinter standen.

Der kameradschaftliche Ton, in dem wir andern miteinander verkehrten, führte keineswegs zur nachsichtigen Beurteilung eines Beitrages; Duldung auf Gegenseitigkeit gab es nicht, und wir blieben freimütig im Urteile gegeneinander. Anerkennung drückte sich am besten in herzhaftem Lachen aus, Bewundern und Anhimmeln unterblieben. Es war eine reizvolle Arbeit, die wir zwanglos, fast spielend erledigten, und bei dieser unbekümmerten Beschäftigung mit den Zeitereignissen, die wir, allen Parteidoktrinen abgeneigt, vom gemeinsamen künstlerischen Standpunkte aus beurteilten, hielten wir uns frei von Pathos und dünkelhafter Theorie.

Natürlich war uns die ziemlich weitgreifende Wirkung unserer Äußerungen nicht gleichgültig, aber dabei machte uns die sich in Phrasen austobende Entrüstung der Gegner viel mehr Spaß als die Zustimmung der Anhänger. Die aufgestörten Philister wollten den Kampf gegen Spott mit sehr plumpen Mitteln geführt haben, mit Einsperren, mit Boykott, mit Konfiskation, mit Bahnhofsverboten usw.

Katholische und protestantische Geistliche gingen in die Buchhändlerläden, verlangten Entfernung des »Simplicissimus« aus den Schaufenstern oder wollten den Vertrieb verbieten; Ministern, Polizeipräsidenten, Staatsanwälten, sogar Richtern kam es nicht darauf an, gesetzliche Bestimmungen zu umgehen oder zu verletzen, um das gehaßte, zum mindesten für verderblich gehaltene Witzblatt zu unterdrücken oder zu schädigen.

Ich sah in der stets in Superlativen schwelgenden Entrüstung den Beweis dafür, wie aus Phrasen sehr bald verlogene Empfindungen werden, und wie sie gesundes Denken und Selbstsicherheit vernichten. Es war ein Krankheitsprozeß.

Das deutsche Volk hat in seiner gelassenen Art immer Selbstkritik geübt und ertragen, damals aber versuchten die Übereifrigen es zur gereizten Empfindlichkeit aufzustacheln.

Einrichtungen, deren Nutzen und Wert kein vernünftiger Mensch bestritt, wurden gemeinsam mit Mißbräuchen als heiligste Güter für unantastbar erklärt, ganze Stände waren erhaben über Kritik und noch erhabener über den Witz.

Es war doch wirklich lächerlich, wenn ein Kriegsminister mit nachzitternder Empörung für seine Leutnants eintrat, weil im »Simplicissimus« ihre Schnoddrigkeit oder Gottähnlichkeit verulkt worden war.

Das waren dann Angriffe gegen die Armee, und man mußte dicke, schwere Worte nehmen, um die Verruchtheit des Unterfangens recht zu kennzeichnen.

Dabei hegte kaum ein Künstler ein so liebevolles Interesse für Soldaten und Offiziere wie Eduard Thöny, der, was Kenner oft anerkannten, jedes Detail von Uniformen, Waffen, von Sattel- und Zaumzeug richtig wiedergab.

Von Umsturzgedanken und fanatischen Theorien war im Kreise der jungen lebensfrohen Künstler nichts zu finden, aber auch nichts von ängstlicher Zurückhaltung, wenn es galt, einem Unfug oder einer Anmaßung entgegenzutreten.

Der Satire bot sich damals ein besonderes Angriffsziel in einer Bewegung, die angeblich auf Hebung der Sittlichkeit gerichtet war. In deutschtümelnden Kreisen hat man seit langer Zeit das Bedürfnis gefühlt, eine wohl nur eingebildete und phantastisch aufgeputzte Tugendboldigkeit der Germanen als Vorbild hinzustellen, und das wurde nun wieder einmal lebhaft erörtert. Es kam jetzt zur Gründung von Sittlichkeitsvereinen, zu Kongressen, zu Resolutionen, die strengere Gesetze verlangten.

Man erklärte das deutsche Volk für im sittlichen Niedergange begriffen, donnerte über körperliche und moralische Verderbnis und sah vor lauter germanischen Idealen die Tatsache nicht, daß diese heranwachsende Jugend ernster, strebsamer, tüchtiger war als die einer früheren Zeit, daß sie sich von alten Mißständen, vom hochmütigen Kastengeiste wie vom verderblichen Saufen abgewandt hatte und körperliche Tüchtigkeit in viel höherem Maße zu schätzen begann.

Man erblickte Gefahren in der Schund- und Kolportageliteratur, die gewiß nicht abzuleugnen waren, aber man übersah, wie gerade die sozialdemokratischen Arbeiter im ehrlichsten Bemühen sich den Schätzen der deutschen Literatur und Wissenschaft zuwandten, man schnüffelte alle Annoncenteile der Zeitungen durch, war aber nicht ehrlich genug, es zu sehen oder zu sagen, daß sich gerade die sozialistische Presse der größten Reinlichkeit befliß.

Und in der Freude an tönenden Redensarten schenkte man sich die härtere und doch allein Erfolg versprechende Arbeit, gegen die Ursachen sittlicher Schäden vorzugehen.

Die lagen in sozialen Mißständen, in Armut, in Ausbeutung, in der Wohnungsnot und anderem viel tiefer begründet als etwa in der Ausstellung einer Nudität im Schaufenster.

Es war selbstverständlich, daß die Orthodoxen beider Konfessionen mit Begeisterung an der Bewegung teilnahmen und sie gehörig ausnützten.

Die Regierung ging täppisch, wie so oft, auf die moralischen und staatserhaltenden Bestrebungen ein, und es kam zur Vorlage der berüchtigten Lex Heinze.

Den Namen leitete sie von einem berliner Kupplerprozesse her, aber ihre Tendenz richtete sich weniger gegen großstädtische Übelstände als gegen eine unbequeme Freiheit der Presse.

In Süddeutschland waren es nicht zuletzt die beiden jungen Wochenschriften »Jugend« und »Simplicissimus«, die den ultramontanen Eifer für scharfe Gesetze wachriefen und nährten.

So war es auch ein Kampf um die eigene Existenz, wenn sie gegen die offenen und noch mehr gegen die heimlichen Bestrebungen der reaktionären Parteien losschlugen.

Difficile non erat satiram scribere.

Wie da zarteste Dinge vor die Öffentlichkeit gezerrt und angegrinst wurden, wie sich wohllebige Männer als Tugendhelden aufs Podium stellten, wie man in schmalzigen Redensarten schwelgte und wiederum mit rohem Unverstande auf künstlerischem Empfinden herumtrampelte, das alles forderte den schärfsten Spott heraus.

Es kam dann auch zu großen organisierten Widerständen, und in München wurde auf Anregung Max Halbes der Goethe-Bund aller Freunde künstlerischer Freiheit gegründet.

Es ging ein frischer Zug, an den man sich gerne erinnern darf, durch jene Versammlung im Münchner Kindl-Keller, in der die Gründung beschlossen wurde.

Und wo Georg Hirth und M. G. Conrad gegen Muckerei und Schnüffelei vom Leder zogen, da durfte man sicher sein, daß es scharfe Hiebe absetzte.

Die Lex Heinze fiel, aber das Bedürfnis nach germanischer Sittlichkeit blieb erhalten, ebenso wie die Sehnsucht nach Unterdrückung unangenehmer Geister.

Von dem Hasse, den dieses Sehnen wachrief, richtete sich ein herzhafter Teil gegen den »Simplicissimus«, dessen Mitarbeiter sich nicht zum wehleidigen Dulden verstanden.

Zwischen damals und heute liegen Ereignisse, die Kaffeehausliteraten zu Leitern des Staatswesens machten, und die es vielen Bewunderern und Verfechtern des früheren Systems ratsam erscheinen ließen, es nunmehr zu verdammen.

Glückselig pries sich, wer während des Krieges den Opfermut des eigenen Volkes nicht allzu laut bewundert hatte, Gott ähnlich war, wer ein paar internationale Seufzer losgelassen hatte.

Jämmerliche Hanswurste stellten sich im Niedergange des Vaterlandes entzückt von Freiheit und Menschlichkeit, und niemand hatte mehr Anspruch auf Bewunderung des Volkes als der große Pessimist, der als erster vor allen andern am glücklichen Ausgange gezweifelt hatte.

Wie schnell hat sich das Bürgertum in den Untergang der heiligsten Güter gefunden, wie hat es sie widerstandslos aufgegeben!

Selbstgeschaffene, mit nüchternem Sinne für notwendig erkannte Einrichtungen, an denen man tätigen Anteil gehabt hätte, wären wohl anders verteidigt worden; so aber gerieten durch den im Kriege übermächtig gewordenen Haß gegen die Verlogenheit gezüchteter Begriffe die inneren Lebenskräfte miteinander in Kampf.

Ein wohlgegliederter, gewordener Organismus, in dem eines das andere unterstützte, wurde durch die Theorie zerstört.

Mögen Schwätzer ein System, das allerdings noch auszubauen war, verdammen, wir waren mächtig unter ihm und wären glücklich geworden, wenn man es auf breite Fundamente gestellt hätte.

Deutschland war in den Sattel gesetzt, aber reiten hat es nicht können; es überließ die Führung unsicheren Händen.

Dünkelhafter Dilettantismus hat die Möglichkeit unseres Unterganges geschaffen.

Keiner von uns war so weitblickend, die letzten Folgen der operettenhaft geführten Politik vorauszusehen, aber ihre Lächerlichkeit erkannten wir, und hinter dem Spotte über große Worte und Gesten steckte ein lebhafter Unmut. War es nicht natürlich, daß sich gerade Künstler am schärfsten gegen die Stillosigkeit der pompösen Aufmachung wandten?

*

Die alte Viktor konnte mein ferneres Wirken nur aus der Ferne betrachten, und zuweilen meinte sie seufzend, daß ich zu übermütig wäre, aber wenn sie ängstlich darüber sprach, tröstete sie der gute Pfarrherr von Allershausen, der lustig auffaßte, was lustig gemeint war.

Oft suchte ich das kleine Haus an der Amper auf und nahm teil an dem stillen Glück, das die Alte hier gefunden hatte.

Ein Garten, dem sie Sorgfalt erwies, ein paar kleine Zimmer, deren schönster Schmuck ihre peinliche Sauberkeit war, das war die Welt, in der sie sich wohlfühlte, und von der aus auch auf mich eine Fülle von Behagen überging.

Kam ich unangemeldet, so schmollte sie ein wenig, denn sie wollte, daß mein Besuch mit guten Dingen gefeiert würde. Ein frischgebackener Kaffeezopf gehörte auf den Tisch, und in der Küche mußte sie geheimnisvoll rumoren, um fröhlich lächelnd eine Lieblingsspeise aufzutragen. Dann saß sie mir gegenüber und hörte aufmerksam zu, wenn ich von meinem Leben berichtete. Es schien sich zum Guten zu wenden, aber – aber …

Da waren doch neulich recht unehrerbietige Verse im »Simplicissimus« gestanden, und wenn sie auch wußte, daß es nicht so schlimm gemeint war, was sollten die Leute von mir denken, die mich nicht kannten?

In solchen Fällen ergriff der Herr Pfarrer, der als lieber Gast dabeisaß, meine Partei und führte aus, daß man nicht immer fein sein könne. Er war noch aus der alten Schule, die keine Zeloten und keine Politiker erzog; er stand nicht außerhalb der Welt, in der er wirkte, sondern mit tüchtigem Verstande mitten drin. Er kannte die Bauern und verstand seine Aufgabe, in ihnen den ererbten Sinn für tätiges Leben und ehrbare Sitte wachzuerhalten. Wie sie, mochte er kein übertriebenes Wesen leiden, er war fröhlich mit ihnen, ohne seinem Stande etwas zu vergeben, er hatte volles Verständnis für ihre Vorzüge und Fehler und zeigte sich nie empört über natürliches Geschehen. In ernsten Dingen bewahrte er Ruhe, und kleine Schmerzen heilte er am liebsten mit einem Scherzworte.

Viktor schätzte ihn sehr hoch, und auch er hatte seine Freude an ihrer braven Art.

Immer bezeigte er ihr freundschaftliche Anteilnahme und holte sie, wenn es irgend ging, zum Spaziergange ab.

Er neckte sie gerne mit ihrer Zuneigung zu mir, und als ich das erstemal nach Allershausen kam, erklärte er mir lachend, daß die Vorstellung eigentlich überflüssig wäre, denn er hätte mich in- und auswendig kennengelernt aus den erschöpfenden Mitteilungen des Fräuleins Viktor Pröbstl.

Eine Unterbrechung des Stillebens wurde durch die Heimkehr meines ältesten Bruders herbeigeführt.

Er kam mit seiner Frau und seinen vier Buben von Australien herüber; und regte schon das Wiedersehen nach der langen Zeit die Gemüter auf, so brachte die fremde Art der Frau wie der Kinder allerlei Unruhe in das kleine Haus.

Die Buben, der älteste zwölf, der jüngste über drei Jahre alt, hatten sich in Katoomba in den Blauen Bergen nicht das geringste Verständnis für europäisches Ruhebedürfnis angeeignet.

Ich glaube nicht, daß sie eine Viertelstunde am Tage still waren, und Frau Jenny schien nur dann an die volle Gesundheit der Kinder zu glauben, wenn sich die Stimmen von allen vier laut und deutlich vernehmbar machten. Sie selbst, eine Engländerin aus der Kolonie, war eine sympathische, stille Frau, und es war unschwer zu sehen, daß sie in glücklicher Harmonie mit meinem Bruder lebte. Aber wenn sich Frauen schon überhaupt nicht allzuleicht verstehen, so konnte sich eine herzliche Neigung zwischen hausbackener schongauer Art und Australiertum erst recht nicht entwickeln.

Es war zwischen ihnen ein kleiner, stiller Krieg, den zwar Gutherzigkeit und Takt auf beiden Seiten nicht zum Ausbruche kommen ließen, aber der eben doch da war, der in der Luft lag und die Temperatur herunterdrückte.

Meine Schwägerin gehörte einer strengen protestantischen Sekte an, die jeglichen Bilderdienst verabscheut, und als sie in ihrem Zimmer ein ammergauer Kruzifix bemerken mußte, schlug sie zwar keinen Lärm, aber sie verhüllte den Heiland mit einer Nachtjacke.

Viktor war nicht unduldsam, ihr Katholizismus vertrug sich schlecht und recht mit liberalen Neigungen, aber diese Lieblosigkeit gegen ein Kruzifix, das jahrelang im risser Forsthause gehangen hatte, ertrug sie nicht; sie befreite es schweigend von der Hülle, nahm es an sich und trug es in ihr Zimmer.

Dabei mochten ihre Blicke und der Auftakt ihrer Schritte Empörung verraten haben, jedenfalls hatte diese Szene so etwas vom Zerschneiden des Tischtuches zwischen den beiden Weiblichkeiten an sich.

Die Neigung Jennys für lärmende Kinderstimmen teilte die Alte nicht; vermutlich hatte sie mein Geschrei dereinst liebevoll ertragen, und die Wiederholung von Brüllen und Quäken wäre ihr nach der langen Pause erträglich und nett vorgekommen, wenn es sich um Kinder von mir gehandelt hätte, aber der Milderungsgrund lag nicht vor. Sie sah und hörte die australischen Spiele ohne die Nachsicht, deren sie dringend bedurft hätten, und am Ende war die gute Alte wirklich zu jäh aus einer schönen Ruhe aufgestört worden. Sie beklagte sich nicht, wenn ich hinauskam, aber ich las in ihren Augen die stumme Frage, ob es denn wirklich für immer zu Ende sei mit den stillen, schönen Tagen.

Das und ein paar andere Beobachtungen ließen mir eine schleunige Änderung wünschenswert erscheinen.

Denn auch an meinem Bruder bemerkte ich ein seltsames Unbehagen.

Seit Jahren war es sein brennender Wunsch gewesen, wieder nach Deutschland zurückkehren zu dürfen.

Nun war er ihm erfüllt, und er mußte die schmerzliche Erfahrung an sich selber machen, daß ihm die Heimat fremd geworden war.

Hätte er gleich befriedigende Tätigkeit gefunden, so wäre alles anders und besser gewesen, aber die Erkenntnis, wie schwer es in den festgefügten, ihm gar zu systematisch geordneten Verhältnissen sei, als Mann von zweiundvierzig Jahren von vorne anzufangen, fiel ihm schon gleich schwer aufs Herz. Dazu kam eine Frage, die in den Kolonien kaum aufgetaucht wäre: Was sollte aus den Buben werden?

Drüben war Platz für kräftige Jugend, und es hätte keiner weit ausschauenden Vorbereitung bedurft, um vier gesunden Buben ein Auskommen zu verschaffen.

Drüben gab es keine konventionelle Verpflichtung, die schon in Knabenjahren zur Wahl zwischen höheren und niederen Berufen zwang.

Drüben gab es Arbeit für starke Arme; und langte es weiter, dann ging es auch weiter.

In Deutschland aber stand schon vor dem Abc-Schützen die große Frage: Was willst du werden?

Studieren oder dich gleich mit Geringerem bescheiden?

Private Stellung oder den sichern Staatsdienst wählen?

Beim Ältesten, der zwölf Jahre alt war, brannte es eigentlich schon auf die Nägel.

Wer immer in dem sich gleichmäßig drehenden Kreise blieb, dessen Leben drehte sich mit, wer aber hinausgetreten war, kam kaum mehr hinein.

Diese Erkenntnis stimmte meinen Bruder bitter und ließ ihm vieles kleinlicher und widerwärtiger erscheinen, als es war.

Ich hoffte, daß seine Sprachkenntnisse, seine Tüchtigkeit ihm zum Erreichen eines Postens förderlich sein könnten, aber die ersten Versuche schlugen fehl, und man gab ihm und mir zu verstehen, daß man in Deutschland langsam und ordnungsmäßig vorrücke. Und das muß man in der Jugend beginnen. Zu diesen Enttäuschungen kam schmerzliche Reue darüber, daß er nicht früher heimgekehrt war und unsere Mutter noch am Leben angetroffen hatte.

Meine tröstenden Worte nützten nicht viel. Oft saßen wir irgendwo im Freien, am Rande eines Waldes, und sprachen von alten Zeiten und Erinnerungen, und ich sah wohl, wie sein Herz daran hing, aber auch, wie vergeblich er sich mühte, sich das, was einmal gewesen war, wieder lebendig zu machen. Redete ich von Gegenwart und Zukunft und von Hoffnungen, die sich erfüllen sollten, dann wurde er still und blies stärkere Rauchwolken aus der Pfeife vor sich hin.

Es war einmal.

Die Art, wie er seinem Ärger über Ungewohntes, was verschieden von australischen Dingen war, Ausdruck gab, zeigte mir deutlich, daß keine Freude in ihm aufkommen wollte. Und auch, daß die Worte Jennys, die sich oft genug über die Verhältnisse in dem ihr so fremden Lande beklagen mochte, tiefer Fuß faßten als meine Tröstungen. Da ihm die Untätigkeit immer weniger zusagte, war ich froh, als ihm unsere Verwandten in Oberammergau einstweilen eine Stellung anboten.

Es war eine kleine Bosheit des Schicksals, daß meine Schwägerin dorthin übersiedeln mußte, wo man die Kruzifixe schnitzte.

Die Stellung war nur eine vorübergehende; nach einiger Zeit erklärte mir mein Bruder, daß Berichte, die er von seinen Schwägern erhalten habe, ihm für sich und seine Familie die Auswanderung nach Kanada als das Beste erscheinen ließen.

Es war mir möglich, ihm dazu behilflich zu sein, und so machte er sich im August 1902 auf die Reise; er traf Verhältnisse an, die ihm weitaus besser zusagten, und in seinen Briefen rühmte er das Entgegenkommen, das er gerade als Deutscher in Winnipeg gefunden hatte.

Später siedelte er nach S. Diego in Kalifornien über und starb dort an den Folgen eines Sonnenstiches.

Seine Buben wuchsen zu tüchtigen Männern heran, wie Jenny schrieb; sie waren ihr nach des Vater Tode treue Helfer.

Viktor zeigte sich immer besorgt um das Schicksal meines Bruders, aber ich glaube, sie atmete doch auf, als in dem kleinen Hause an der Amper keine australischen Känguruhs mehr nachgeahmt wurden, und als die Zimmer wieder still und fein säuberlich, recht sonntagsnachmittäglich dalagen.

Für manche Plage und Verdrießlichkeit konnte ich sie entschädigen, als ich mit ihr im Sommer 1902 beim Sixbauern in Finsterwald am Tegernsee Wohnung nahm; da gefiel es ihr.

Über die Vorberge schauten die Gipfel des Roßsteins und Buchsteins herüber, unter denen die Rauchalm lag, und die gehörte lenggrieser Bauern; wenn man sich da hinüberdachte, kam man an die Isar, und etliche Stunden flußaufwärts lag das Paradies, die Vorder-Riß.

Der Six war selber ein halber Lenggrieser – aus Fischbach – und kannte vertraute Namen und Menschen; den Glasl Thomas, der als Jagdgehilfe die dauernde Freundschaft des Fräuleins Pröbstl errungen hatte, und andere Jagdgehilfen und Förster, die Riesch, Sachenbacher, Murbeck, Rauchenberger, Heiß, lauter Namen, die durch ihre Verbindung mit schönen Zeiten und geliebten Persönlichkeiten ehrwürdig waren.

Der Six erzählte auch risser Wilderergeschichten, und noch lieber hörte er sie an, wenn wir auf der Bank vor dem Hause saßen und Viktor ein langes Garn spann.

Das war wirklich wie Heimkehr in die alte, so lang entbehrte Welt.

Auch die Leute waren die gleichen wie die in der Jachenau, am Fall in Wackersberg und Lenggries, hochgewachsene, stämmige Bauern, verwegene Burschen und frische Mädeln.

Am gemütlichsten saß es sich in der kleinen Küche, wenn ein paar Nachbarn zum Heimgarten kamen und die Pfeifen zu breit ausgesponnenen Reden brannten, oder wenn die Sixbäuerin mit der Viktor uralte Kochrezepte austauschte.

Wenn ich aber droben in meinem Zimmer saß und an der »Lokalbahn« herumbastelte, wurde unten mein Lebenslauf mit liebevoller Gründlichkeit geschildert, was ich daran merken konnte, daß die Sixin über alle Einzelheiten trefflich unterrichtet war.

Beim Unterbuchberger oberhalb Gmund hatte sich Georg Hirth mit seiner Frau Wally festgesetzt, und er unterhielt einen regen Verkehr mit uns, der bald zur herzlichen Freundschaft führte.

In dem temperamentvollen, sich immer mit seiner ganzen Persönlichkeit einsetzenden Georg Hirth war ein gutes Stück deutscher Vergangenheit und münchner Entwicklung verkörpert.

Als sehr junger Mann hatte er anfangs der sechziger Jahre die Aufmerksamkeit Ernst Keils, des Begründers der »Gartenlaube«, auf sich gezogen, war mit Feuereifer für freiheitliche Ideen und die deutschen Einigungsbestrebungen eingetreten und hatte dann 1866 bei Langensalza als Kämpfer auf preußischer Seite eine schwere Verwundung erlitten. Immer tätig und voll Unternehmungslust, gründete er in Berlin die »Annalen des Deutschen Reiches« und trat mit vielen hervorragenden Männern in Beziehung, siedelte dann nach München über und stand hier über vierzig Jahre lang im Mittelpunkte literarischer, künstlerischer, journalistischer und politischer Interessen als Mitbesitzer und Leiter der größten Zeitung, als Begründer der »Jugend«, als kunstverständiger Sammler und vor allem auch als Hüter und Förderer freier Gesinnung.

Als ich ihn damals an seinem geliebten Tegernsee kennenlernte, war er nicht mehr der kampflustige Streiter von ehedem, wenngleich sein Gemüt immer noch gegen Dummheit und Unterdrückung aufflammen konnte, aber er war abgeklärt, voll verstehender Güte und gerecht gegen Widersacher und gegnerische Meinungen.

Auch im Äußern eine fesselnde Erscheinung, mit dem energisch geformten Gesichte unter weißen Haaren, mit den ausdrucksvollen Augen, gewann er einen sogleich mit seinem milden Urteile über Menschen und Dinge und mit seiner lebhaften Anteilnahme an allen die Zeit bewegenden Fragen. Er verstand es prachtvoll, von seinen Erlebnissen zu erzählen, von bedeutenden Menschen, mit denen ihn das Leben zusammengeführt hatte, von Kämpfen, die überwunden waren, von politischen und kulturellen Streitfragen.

Da sah sich nun Viktor in Beziehungen zu einem von ihr stets bewunderten geistigen Leben gebracht und fühlte Interessen in die Nähe gerückt, die sie bisher ehrfürchtig von weitem angestaunt hatte. Oft sagte sie, daß diese Tage ihre glücklichsten wären.

Und es waren ihre letzten.

Mitte Oktober wurde im münchner Residenztheater meine »Lokalbahn« zum ersten Male aufgeführt.

Es war die zweite Première, die die Alte mitmachte; im Sommer vorher, am Vorabende meines Namenstages, war sie mit Herzklopfen in der Erstaufführung meiner »Medaille« gesessen. Als sich der Vorhang etliche Male hob und der Verfasser sich dankend vor dem Publikum verneigen mußte, oder durfte, wie die Kritiker schreiben, da gingen ihr die Augen über, und sie sah nicht einmal, was lieblosere Menschen bemerkten, daß ich mit staubbedeckten Lackschuhen oben auf der Bühne stand.

Ich war zur Aufführung gedankenverloren und Träumen nachhängend durch den Englischen Garten gegangen und hatte nicht darauf geachtet, wieviel Staub sich auf meine Schuhe gelegt hatte. Viktor erwartete mich neben meinen Brüdern und Schwestern vor dem Theater und konnte mir kaum die Hand zum Glückwunsch geben, so beschäftigt war sie, die Nase zu putzen und die Tränen abzuwischen.

Nunmehr kam die Première der »Lokalbahn«, und im dichtgefüllten Parkett saß sie neben festlich gekleideten Menschen, von denen nur wenige wußten, wie viel Anteil sie am Schicksale des Stückes nahm. Es ging wieder gut, und nach der Aufführung fand sich eine zahlreiche Gesellschaft in den Vier Jahreszeiten zusammen. Hirth hielt eine freundliche Rede, und wir blieben so lange beisammen, daß ich für Viktor, die sich nicht ganz wohl fühlte, keinen Wagen mehr bekam.

Auf dem Heimwege erkältete sie sich gründlich, fuhr aber trotz Abmahnens am andern Tage nach Allershausen, wo sie gleich von einer schweren Influenza befallen wurde.

Ihr Herz, das ohnehin nicht fest war, wurde in Mitleidenschaft gezogen, und nach einer Woche erhielt ich die telegraphische Nachricht, daß sie sehr schlecht daran sei.

Als ich hinausfuhr, kam mir am Dorfeingange der Pfarrer entgegen und sagte mir, daß es mit Viktor zu Ende gehe. Doch würde ich sie noch lebend antreffen, denn sie habe erklärt, daß sie erst sterben wolle, wenn sie von mir Abschied genommen habe.

Ich eilte ins Haus und stand erschüttert vor meiner alten Viktor, deren verfallene Züge mir jede Hoffnung nahmen.

Sie lächelte freundlich und streckte mir die Hand entgegen; fast unwillig wies sie meine weinende Schwester zurecht, da Klagen doch keinen Sinn hätten und mir weh tun könnten.

Ich setzte mich an den Bettrand, und sie bestand darauf, daß uns Kaffee gebracht würde.

Dann versuchte sie, sich ein wenig aufzurichten, stieß mit mir an und sah mich aus müden, halb erloschenen Augen noch einmal freundlich und voll Güte an.

Sie nickte zufrieden mit dem Kopfe, denn nun war's in Ordnung, und das Letzte, was sie gewollt hatte, war geschehen.

Bald darauf verlor sie das Bewußtsein und phantasierte.

Am Abend starb sie; die Geschichte von den vorder-risser Tagen war zu Ende erzählt.

*

Im Frühjahre 1901 war ich zu kurzem Aufenthalte in Berlin und verlebte in fröhlicher Künstlergesellschaft ein paar genußreiche Wochen. Die Reichshauptstadt, die ich zum ersten Male sah, gefiel mir außerordentlich, und es schien mir hier alles ins Große und Bedeutende zu gehen.

Ganz gewiß war vieles dazu angetan, diese Meinung hervorzurufen, aber es lag auch in meiner Art, mich neuen Eindrücken stark hinzugeben und keine Mängel zu bemerken, wo ich nur Vorzüge sehen wollte.

Ich war als eifriger Leser von Treitschke, Häuser, Förster, Kugler, Oncken, Archenholtz u. a. ziemlich vertraut mit preußischer Geschichte, und es hatte für mich einen besonderen Reiz, nunmehr an Stätten zu kommen, mit deren Namen sich mir so oft bestimmte Vorstellungen verbunden hatten.

Als eingefleischter Friderizianer erlebte ich einen eindrucksvollen Tag in Potsdam, wo, wie kaum an einem anderen Orte, noch vieles auf Geist, Wissen und Art eines großen Mannes hinweist.

Ich möchte hier sagen, daß ich mir kein dümmeres Wort als das vom Potsdamismus denken kann, mit dem man die Zeit Wilhelms II. mißbilligend oder verächtlich bezeichnet hat. Das Wort trifft in gar nichts den Charakter der Zeit und der Männer, die nach 1890 die Geschichte Preußens lenkten. Da herrschte das gerade Gegenteil vom Potsdamismus, unter dem ich mir die glücklichste Verbindung von Klugheit und festem Willen vorstelle, die aus einem armen kleinen Lande einen mächtigen Staat geschaffen hat.

Wenn Äußerliches das Wesen eines großen Mannes widerzuspiegeln vermag, so tut das Sanssouci. Alles in dem kleinen Schlosse, und nicht weniger das, was nicht darin ist, zeigt künstlerischen Takt, sich bescheidende Weisheit, Eigenschaften, die zur wahren Größe gehören.

Und es ist auch kein Zufall, daß das schöne Bild der aufsteigenden, von dem niedern Schlosse gekrönten Terrasse durch die in Marmor ausgeführte Kopie des Rauchschen Denkmals stark beeinträchtigt wurde.

Wilhelm II. hat sie dort aufstellen lassen, und sie paßt wieder einmal gar nicht hin.

Der Gefallen, den ich an Berlin gefunden hatte, blieb in mir wach, und als sich mir im folgenden Herbste die Möglichkeit bot, auf längere Zeit dorthin zu übersiedeln, besann ich mich nicht lange und entschloß mich, München auf einige Zeit zu verlassen.

Freiherr von Wolzogen hatte im Januar 1901 sein Überbrettl eröffnet, und der Erfolg des Unternehmens hatte ihn veranlaßt, in der Köpenicker Straße ein eigenes Theater zu erbauen.

Freund Rößler, der als Dichter der »Fünf Frankfurter«, des »Feldherrnhügels« und anderer Lustspiele später bekannt geworden ist, war Wolzogens Oberregisseur und machte mir den Vorschlag, ich sollte gegen ein Fixum die Verpflichtung übernehmen, jedes geeignete Gedicht zuerst dem Überbrettl zur Verfügung zu stellen und den kommenden Winter in Berlin zu bleiben. Außerdem sollte ich ihm zur Eröffnung des Theaters das Aufführungsrecht der »Medaille« überlassen.

Nach Einigung mit der Redaktion des »Simplicissimus« nahm ich das Anerbieten an, und schon Ende September 1901 bezog ich ein paar möblierte Zimmer in der Lessingstraße in Berlin, ein wenig ängstlich vor der eingebildeten Größe meiner Aufgabe in der gewaltigen Stadt und ein wenig stolz, ihr anzugehören.

Es war wieder einmal nicht ganz so, wie ich es mir ausgemalt hatte.

Das Theater in der Köpenicker Straße war noch nicht ausgebaut, gute Zeit wurde versäumt, und als es im November eröffnet wurde, war Überbrettl schon nicht mehr Mode, hatte Konkurrenten, und überdies hatte das Theater in dem Armenviertel die ungünstigste Lage.

Es mußte aufreizend wirken, wenn in dieser Straße Equipagen vorfuhren und Dämchen mit Einglasträgern ausstiegen.

Was auf der Bühne geboten wurde, war nett und unzulänglich und hätte einer heiter gestimmten Gesellschaft einen Polterabend sehr vergnüglich gestaltet, aber Berlin W war nicht so harmlos, und es hatte seine Neigung für gehobene Varietékunst bereits wieder abgelegt.

Die Konkurrenz versuchte es mit Attraktionen, und Liliencron las vor einem Parkettpöbel seine Novellen und Gedichte vor.

Mich befiel ein schwerer Katzenjammer, als ich das hörte, und schon vor der Eröffnungsvorstellung im Wolzogenschen Theater war ich mit allen Illusionen fertig.

Meiner »Medaille« ging es nicht zum besten; sie fiel nicht durch, aber sie erregte sichtlich wenig Freude, und vor allem paßte sie nicht auf diese Bühne.

Es war für mich nicht angenehm, den Kampf mit ansehen zu müssen, den Wolzogen mit der Ungunst des Publikums einige Monate hindurch führte, bis er mit einer Niederlage endete.

Ganz Berlin gab sich damals dem mächtigen Eindrucke hin, den das Lied »Haben Sie nicht den kleinen Cohn gesehn?« machte, und es war aus mit den vertonten Liedern Bierbaums und Liliencrons.

Von meiner Freude an der lauten Großstadt kam ich bald zurück.

Zwar das Berlin, wie es geschäftig war, arbeitete und bei aller Hast und Hetze Ordnung hielt, imponierte mir noch immer; erst in späteren Jahren wurde ich mißtrauisch gegen die fixen Leute, die so viel Spektakel mit ihrer Arbeit machten und immer neue, unmögliche Pläne und Ideen am Telephon hatten und sich in der Pose der unter fürchterlicher Arbeitslast Zusammenbrechenden wohl fühlten.

Aber auch schon damals sah ich Berlin, wie es sich unterhielt, mit kritischen Augen an, und es gefiel mir nicht mehr.

Selbst in Abendgesellschaften merkte ich bei den geladenen Gästen, daß sie einander weder Ernst noch Heiterkeit glaubten und sich kühl beobachteten.

Diese Leute waren einander fremd, kaum aneinander gewöhnt und ganz und gar nicht miteinander verwachsen; sie konnten nur nach Äußerlichkeiten urteilen und waren veranlaßt, ihre Art nach außen zu wenden, da sie keinen innerlichen Zusammenhang hatten. Vom berliner Nachtbetrieb wurde oft mit einem gewissen Stolze gesprochen, als wäre in ihm der weltstädtische Charakter sichergestellt und deutlich zur Erscheinung gebracht.

Ich weiß nicht, ob dieses Ziel erreicht wurde, noch weniger, ob es irgendeinen Wert hatte.

Ich sah nur dichtgedrängte Haufen von Menschen, die das eine gemeinsam hatten, daß sie sich fröhlicher gaben, als sie waren.

Daß der eigentliche, echte, alte Berliner viele Vorzüge habe, wurde mir eindringlich versichert, und ich zweifelte nicht daran, weil ich es durch den verehrten Theodor Fontane schon erfahren hatte, aber in der Völkerwanderung, die nach 1870 von Osten her einsetzte, wurden die Modelle Glaßbrenners stark in den Hintergrund gedrängt. Mir schien es, als lebten die Massen neben-, nicht miteinander, und das Auffälligste war gerade das Fehlen alles Charakteristischen.

Die Tunnelzeit war auch überwunden.

Daß sich die Schriftsteller regelmäßig hätten zusammenfinden können, wäre nicht mehr denkbar gewesen, und nichts war bezeichnender für die neue Zeit, als daß die Kritiker präponderierten. Sie waren die Berühmtheiten, auf die sich die Aufmerksamkeit des Publikums richtete, von ihnen war am meisten die Rede, ihr Ruhm überdauerte – was wenigen Autoren oder Künstlern beschieden war – mehr wie eine Saison. Ihre Geltung stand fest, die der Dichter blieb schwankend zwischen den Erfolgen, konnte abflauen und stürzen, und nach einer Niederlage sanken auch die alten Werte.

In der Première von Gerhart Hauptmanns »Rotem Hahn« saß ich neben Herrn Elias, der mir in den Zwischenakten Anhänger und Gegner des Dichters zeigte und zweifelnd, nach äußerlichen Merkmalen, den Ausgang abschätzte. Die feindlichen Mächte errangen den Sieg, und das Stück fiel durch.

Daß die Fortsetzung des »Biberpelzes« nicht gefiel, verstand ich, aber für die feindselige Wut, die sich um mich herum austobte, hatte ich keine Erklärung.

Es war so, als hätten sich die Theaterbesucher für irgendeine Kränkung zu rächen, als müßten sie einem lange zurückgehaltenen Hasse gegen den Dichter endlich Luft verschaffen. Und doch hatten sie ihm schon oft im gleichen Theater zugejubelt.

Bei Elias lernte ich Otto Brahm kennen, einen kleinen Herrn, an dem ein Paar kluge, scharf beobachtende Augen sogleich auffielen; er sprach wenig, aber was er sagte, klang trotz des ruhigen Tones sehr bestimmt.

Die Rolle, die ihm von Berlin, von Publikum und Presse, aufgedrängt wurde, Mittelpunkt des Interesses und ein bißchen Gott zu sein, führte er diskreter durch als andere, die nach ihm diesen Thron bestiegen. Die Vorstellungen in seinem Theater waren sehr gut, aber ich glaubte damals wie heute, daß die Kunst, mit tüchtigen Schauspielern Stücke, die was taugen und sich für die Bühne eignen, gut herauszubringen, für einen geschmackvollen und klugen Mann nicht allzu schwer ist.

Brahm besaß jedenfalls den Takt, sein Genie nicht aufdringlich vor die Rampe hinauszustellen; man merkte nichts von seinen besonderen Einfällen, aber desto mehr vom Willen des Dichters. Später ist das ja anders geworden.

Hinter Regie- und Dekorationskünsten, hinter Turn- und Tanzleistungen mußte sogar der alte William Shakespeare mit seinem Texte zurückstehen. Von Schriftstellern, deren Erfolge ich einmal als Gipfel des Glückes betrachtet hatte, sah ich nun auch etliche. Das Wetter ist nie so schlecht, wie es sich vom Fenster aus ansieht, und die Berühmtheiten sind nie so erhaben, wie man von weitem glaubt.

Damals stand allerdings in Berlin kein Dichter im Zenit; Hauptmann hatte Mißerfolge gehabt, Sudermann war mit einem Schlager im Rückstande, neue Götter gab es nicht, die Saison war flau, und Zugkraft hatte das Unliterarische.

Der kleine Cohn – und ein Studentenstück »Alt-Heidelberg«, das verschämt zurückgestellt worden war und nun, da man es endlich gab, in Berlin wie in ganz Deutschland einen vollen Sieg errang.

Die Kritiker zuckten die Achseln, schüttelten die Köpfe, und zuletzt lächelten sie wohlwollend.

Sudermann lernte ich in einer Abendgesellschaft kennen. Er wollte mir anfangs etwas zu dekorativ vorkommen, wie jener Mann in den »Fliegenden Blättern«, den die Hausfrau stets unter ein Makartbukett setzte, aber im Gespräche zeigte er gewinnende Natürlichkeit, und ich bat ihm heimlich das Vorurteil ab.

Ein liebenswürdiger Causeur mit altberlinischem Einschlag war Paul Lindau, der nie heimgehen wollte, immer noch eine Geschichte wußte und noch eine Zigarette rauchte.

In dem als Kritiker einmal so gefürchteten Oskar Blumenthal fand ich einen gütigen Menschen, den ich später, als ich ihn mit seiner kranken Frau in Bozen traf, liebgewann.

Frau Blumenthal hatte auf der Fahrt in eine Abendgesellschaft ganz plötzlich ihre Stimme verloren und blieb bis zu ihrem Tode stumm; es war rührend, anzusehen, mit welcher zarten Sorge ihr Mann sie pflegte, wie gelassen und heiter er blieb, um der Armen ihr Unglück nicht allzu fühlbar zu machen.

Für einige Aufmerksamkeiten, die ich ihr erwies, zeigte sich Blumenthal dankbar, und wir schlossen Freundschaft.

Mit Stettenheim, der die jüdische Gabe des Kalauerns in hohem Grade besaß und durch sie als Wippchen bekannt geworden war, traf ich öfter zusammen; das kleine, schmächtige Männchen war im hohen Alter bemerkenswert rüstig geblieben, und auch die gute Laune hatte er sich bewahrt.

Mit seinem Koätanen, dem alten Feuilletonisten Pietsch, trieb die Berliner Damenwelt einen seltsamen Kultus.

Er schrieb Plaudereien über gesellschaftliches Leben, berichtete über Bälle und Toiletten und konnte einer Schönen die begehrte Sensation verschaffen, in der Zeitung mit einigen schmückenden Beiworten genannt zu werden.

Das reichte hin, um ihn zum Löwen der Ballabende zu machen.

Wenn er im Saale auftauchte und mit den lustig zwinkernden Äuglein Ausschau hielt, umringte ihn sogleich die weibliche Jugend, die zarte wie die reifere, und schnullte den vergnügten Greis ab, nur um ja bemerkt und genannt zu werden.

Als Zeitbild war es erwähnenswert, wegen seiner Lieblichkeit brauchte man sich den Anblick nicht zu merken.

Wie in München, hatte ich auch in Berlin regeren Verkehr mit Künstlern als mit Schriftstellern.

Man kam allwöchentlich im kleinen Kreise zusammen und unterhielt sich aufs beste. Gearbeitet wurde viel, und ich konnte wohl sehen, daß man sich hier leichter und in größeren Maßen durchsetzen konnte als in München.

Die Sezession hatte neben ihrer künstlerischen auch noch die gewisse oppositionelle Bedeutung, da der Hof in Kunstfragen so bestimmt wie unpassend eingriff.

Berlin W trat, wie es ihm zusagte, für das Neue ein, und empfand sicherlich einigen Reiz in diesem ungefährlichen Frondieren. Überdies glaubte man an der Spitze einer vorwärtsdrängenden Bewegung zu stehen und tat sich was darauf zugut, Berlin als Mittelpunkt geistiger und künstlerischer Bestrebungen zu preisen. München sollte seinen Rang als Kunststadt verloren haben.

Das wurde freilich von Kritikern und Kunsthändlern eifriger behauptet als von den Künstlern, die zum größeren Teile aus Süddeutschland stammten, aber auch diese gaben sich nicht ungern der Ansicht hin.

Vielleicht entschädigte es sie für allerlei Unannehmlichkeiten ihres Aufenthaltes, über die sie trotz allem seufzten, und die Entwicklung hat gezeigt, daß zum Gedeihen der Kunst das Mäzenatentum allein nicht genügt, besonders nicht eines, das so unselbständig und lenkbar ist wie das berlinische.

Auch da gab es Mode und Saisongeltung, und die Götter von gestern wurden gestürzt, wenn die Götter von heute auf den Altar gehoben wurden.

Immer war eines nicht bloß das Beste, sondern das allein Gute, und der Herr Kommerzienrat ging willig von Manet zu Cézanne, von Cézanne zu Picasso über, nach den Dogmen, die von Kunsthändlern und Kunsthistorikern aufgestellt wurden.

Während des Krieges, und erst recht nach seinem unglücklichen Ausgange unter dem Eindrucke des Zusammenbruches, war viel die Rede von Verfallserscheinungen, die verspätete Propheten in der Weltstadt Berlin bemerkt haben wollen; davon habe ich nichts gesehen, und auch was mir nicht gefiel, hat in mir darum noch keine düsteren Ahnungen erregt.

Ich sah in allem nur die natürlichen Folgen eines großen, schnell angehäuften Reichtums, des Zusammenströmens aller Kräfte des Reiches in diese Stadt, des ungeheuren Wachstums, bei dem es zur natürlichen Entwicklung einer bodenständigen Kultur nicht kommen konnte, und obwohl es mir in dem Treiben immer unbehaglicher wurde, übersah ich doch nicht, wie viel guter Wille am Werke war, und wie trotz allem in diesem rastlosen Vorwärtsdrängen und Sichausbreiten kräftiges Leben steckte.

In dieser Riesenstadt, in der alles wie am Schnürchen ging, in deren Straßen es keine Bettler gab, keine Unordnung, keine Unreinlichkeit, die unvergleichlich besser verwaltet war wie das so viel kleinere München, konnte man eher Hochachtung vor preußischer Tüchtigkeit empfinden als Angst vor baldigem Verfalle.

Aber was sich nachträglich dozieren läßt, ist, daß man sich gerade in Berlin hätte klar werden können, wie unfruchtbar eine Opposition ist, die sich ausschließlich auf Kritik beschränkt.

Eine intelligente Bürgerschaft, die ihrer freisinnigen Tradition anhing, wirtschaftlich große Erfolge errang, in der Verwaltung Mustergültiges leistete, brachte, von jedem Einflusse auf die Geschicke des Staates fern gehalten, gegen diese schädlichste Bevormundung und ihre verderblichen Folgen lange nicht den Widerstand auf, den die vorhergehende Generation einer erfolgreichen Regierung entgegengesetzt hatte.

Ja, in dem Lächeln über die zahlreichen sehr starken Entgleisungen des persönlichen Regiments lag verzeihendes Wohlwollen und wirklich nicht die Erbitterung, die zur Befreiung von diesen unheilvollsten Dingen hätte führen können.

Der gutmütige Spott, mit dem man die Aufstellung der das Stadtbild verunzierenden Denkmäler hinnahm, wandte sich schonend gegen die Planlosigkeit der inneren wie der äußeren Politik und verkehrte sich nicht selten in ein beifälliges Schmunzeln über tönende Phrasen.

Welche ängstlichen, unschönen Rücksichten selbst solche Männer in Bann halten konnten, die mit ihrer Opposition ein bißchen kokettierten, hatte ich schon im Frühjahr 1901 gesehen.

Die Eröffnung einer Ausstellung der »Sezession« wurde durch ein Festbankett gefeiert, und es waren schon etliche Worte gegen höfische Kunst gefallen, als sich aus der Mitte der Gäste unser Münchner Georg von Vollmar erhob und eine kluge, sehr gemäßigte Rede hielt.

Die Aufnahme war freundlich, aber es gab bei allen näher oder offiziell Beteiligten derart betretene Mienen, daß es auffallen mußte.

Vollmar sagte zu mir: »Sehen S', denen is mit ihren geschmerzten Redensarten über freie Kunst nicht ernst; denen wär nix lieber, als wenn der Kaiser kommet, und wär er da, könnt er über die Rinnsteinkunst sagen, was er möcht, sie hätten alle miteinander die größte Freud drüber …«

Es zeigte sich, daß er noch mehr Recht hatte, als er vielleicht selbst glaubte. Gleich nach der Rede sah man Herren, die von einem Tisch zum andern gingen, eifrig einander in die Ohren tuschelten – und am Abend, als ich noch mit einigen Häuptern der »Sezession« in einem Kaffeehause saß, griffen diese begierig nach den Abendzeitungen und stellten aufatmend fest, daß in den ausführlichen Berichten über die glänzende Eröffnung der Ausstellung die Anwesenheit des sozialdemokratischen Führers und seine Rede mit keinem Worte erwähnt waren.

Man hatte die Berichterstatter oder Redaktionen durch Bitten dazu gebracht, daß sie das kompromittierende Ereignis totschwiegen.

Dabei hatten sich die Herren seit Jahren darin gefallen, die allerhöchste Abneigung gegen die moderne Kunst als Aushängeschild zu gebrauchen, und die größeren wie die kleinen Kapazitäten hatten gerne gezeigt, wie sie ihre Unbeliebtheit lächelnd und stark zu ertragen wüßten.

War es auch kein erschütterndes Ereignis, so zeigte es doch als Beispiel aus vielen, und auch darin, daß sehr ernsthafte und bedeutende Männer die Schwäche bewiesen, wie sehr die Ausartung des persönlichen Regimentes in den Fehlern der Regierten begründet war.

Gegen eines lehnte ich mich auch damals schon auf: daß immer wieder betont wurde, der Kaiser habe den besten Willen, meine es gut und vergreife sich nur in den Mitteln.

Es gab in Berlin sehr viel gut Unterrichtete und Eingeweihte, die ihren Herrscher zu ehren glaubten, wenn sie mit Bonhomie versicherten, er möchte wohl, aber er könne nicht.

Männer, die in ihrem Wirkungskreise das Beste leisteten und die bei keinem ihrer Angestellten den Willen für die Tat hätten gelten lassen, hegten keine Bedenken über das Schicksal des Landes, wenn die größten politischen Fehler nicht aus Böswilligkeit begangen worden waren.

Das wurde zum üblen Schlagworte, bei dem sich allzu viele beruhigten.

In Wirklichkeit stammte die Zufriedenheit oder dieser Mangel an Auflehnung aus Saturierung durch guten Verdienst und glänzende Geschäfte.

Die Sozialdemokratie aber – das habe ich damals geglaubt, und heute bin ich erst recht davon überzeugt – hat den Angriff gegen die gefährlichen Schadenstifter abgeschwächt, von ihnen abgelenkt durch maßlose und doktrinäre Polemik gegen den Kapitalismus.

Das alles ließ sich um das Jahr 1902 in Berlin schon sehr eingehend beobachten. Ich will nicht behaupten, daß ich mich hellseherisch argen Befürchtungen hingab, doch habe ich mich darüber zuweilen geärgert und meinem Ärger auch unbekümmert Ausdruck verliehen.

*

Für die ersten Tage des März 1902 hatte Langen eine Zusammenkunft in Zürich anberaumt, und ich folgte gerne der Einladung, die meinem berliner Aufenthalte ein Ende bereitete.

Von meiner heftigen Neigung für die Weltstadt war ich abgekommen, und ich saß recht undankbar vergnügt in dem Zuge, der mich an Kiefernwäldern und Windmühlen vorbei nach dem Süden führte.

Von Zürich aus reiste ich mit Langen nach Paris, wo ich zwei schöne Frühlingsmonate verlebte. Hier, wo jede Einzelheit zum Ganzen gehörte, wo zwischen allen Menschen unsichtbare und doch starke Zusammenhänge bestanden, begriff ich erst recht, wie erkältend gerade der Mangel daran in Berlin auf mich gewirkt hatte.

Bei Langen lernte ich Rodin, Carrière, Besnard, Steinlen und den fröhlichen Norweger Thaulow kennen; die Stunden, die ich mit ihnen verleben durfte, werden mir unvergeßlich bleiben.

Besonders gerne rufe ich mir einen Besuch in Rodins Atelier in Erinnerung, und nicht bloß wegen der Kunstwerke, die ich sah, fast noch mehr wegen der Art, wie der Meister alles zeigte und erklärte, wie er mit einem stillen Lächeln über den Enthusiasmus Langens wegsah und ruhig und verbindlich auf das Wesentliche zurückkam.

Ein Denkmal Victor Hugos, der dargestellt war, wie er nackt an einer Quelle liegt und träumend auf ihr Murmeln horcht, erregte die laute Bewunderung Langens. Er sprach seine Empörung darüber aus, daß die Stadt Paris dieses Monument abgelehnt und statt seiner einen schauderhaften Kitsch aufgestellt habe. Rodin lächelte nur und zog die Achseln hoch.

Zu den täglichen Gästen in Langens Haus gehörte der entlassene Oberstleutnant Picquart, der im Dreyfusprozesse berühmt geworden war.

Ein stiller Mann von zurückhaltendem Wesen und verbindlichen Manieren, der nicht gerade typisch französisch aussah; der Eindruck verstärkte sich, wenn er tadellos Deutsch ohne jeden Akzent, und noch mehr, wenn er elsässisch Dütsch sprach.

Er beobachtete viel und sprach wenig, und er war mir mit seiner schweigsamen, nachdenklichen Art fast unheimlich; er muß, wenn er dazu gebraucht worden ist, als Spion in Deutschland die besten Dienste geleistet haben.

Langen sagte einmal zu ihm: »Sie haben sicher bei uns mehr gesehen, als Sie sehen durften.«

»Man sieht nie genug,« antwortete Picquart ruhig.

Von der deutschen Armee sprach er immer mit großer Hochachtung.

Als aus irgendeinem Anlasse die Rede auf 1870 kam, sagte er, man dürfe froh sein, daß die französischen Truppen nicht über den Rhein gekommen seien; sie wären nicht zu halten gewesen, denn von deutscher Zucht und Disziplin sei bei ihnen kaum etwas zu finden gewesen.

Damals war gerade der englische General Methuen von Delarey gefangen genommen worden, aber als man bei Tische Befriedigung über diesen Erfolg der Buren äußerte, sagte Picquart kurz und bestimmt: »In sechs Wochen ist die Sache trotzdem zu Ende.«

Es hat fast auf den Tag gestimmt.

Über den Dreyfus-Prozeß wurde noch immer viel gesprochen, besonders wenn Paul Clémenceau, ein Bruder des Tigers, anwesend war.

Picquart beteiligte sich selten an dem Gespräche, doch einmal sagte er: »Man wollte mich im Gefängnisse umbringen, und man hätte es auch sicher getan, wenn ich nicht kurz vor meiner Verhaftung die Erklärung veröffentlicht hätte, daß ich unter keinen Umständen, geschehe was wolle, Selbstmord verüben würde. So konnte man keinen Selbstmord vortäuschen, wie bei Henry, und scheute sich, mich um die Ecke zu bringen.«

Georges Clémenceau, der damals ohne Mandat war und für den Senat kandidierte, sagte, wie uns sein Bruder erzählte: an dem Tage, wo er Ministerpräsident werde, erhalte Picquart das Portefeuille des Kriegsministers.

Es klang nach wenn und aber, und war zwei Jahre später Tatsache.

Picquart ist ziemlich lange vor dem Kriege gestorben; gab es französische Heerführer, die Deutschland und seine Armee so gut kannten wie er, dann waren sie gefährliche Gegner.

Bald nach meiner Ankunft in Paris kam auch der dänische Maler Kröyer zu Langen.

Der rotblonde Skandinave, ein trinkfester, gemütlicher Herr, schloß sich mir an, und wir wurden gute Kameraden, besonders als Langen mit seiner Familie eine länger währende Automobilfahrt nach Spanien unternahm. Wie wir allein waren, hielt Kröyer in seiner umständlichen und feierlichen Art eine Rede an mich: »Thöma, ich kann nicht allein hier essen, und du kannst nicht allein hier essen. Ich glaube aber, wir finden in ganz Paris kein so gotes Wirtshaus und kein so gotes Essen, und jedenfalls kein so billiges. Wir wollen uns also jeden Tag pünktlich hier treffen, Mittag und Abend und zosammen essen, und dann kann jeder gehen, wohin er mag …«

So hielten wir es auch, und wir saßen jeden Tag bei Langen und gaben dem Diener Josèphe unsere Wünsche für die nächste Mahlzeit bekannt.

Zu einem Glase guten Bordeaux' rauchten wir Importen, die auch nirgends so gut und billig waren wie in der Rue de la Pompe.

Langen kam nicht aus dem Lachen heraus, als ich ihm nach seiner Rückkehr von unseren pünktlich eingehaltenen Zusammenkünften erzählte.

Die Schilderungen Josèphes und ein paar leere Zigarrenkisten gaben die Illustrationen dazu ab.

Mein Weg führte mich fast täglich ins nahe Bois de Boulogne.

Ich wußte nichts Schöneres, als ein paar Stunden unter den grünenden Bäumen zu sitzen, in dieser Mischung von lauen Frühlingslüften und zartem Parfüm.

Die große Welt und die Halbwelt rollten in eleganten Equipagen an mir vorüber, Wagen an Wagen, aber man sah nichts gewollt Auffälliges, hörte keinen Aufsehen erregenden Lärm, es war überall wirkliche Heiterkeit, die nicht auf Zuschauer berechnet war, und wie Geläute von kleinen silbernen Glocken drang aus den Kaffeegärten das Lachen der Frauen herüber.

Aber wenn ich an stillen Frühlingsabenden auf den gepflegten Wegen spazierenging und die Amseln pfeifen hörte, überkam mich doch das Heimweh.

Es war mir erst recht wohl, als ich etliche Wochen später in Finsterwald vor dem Sixbauernhause saß. Und roch es auch nicht nach zartem Parfüm und klang es auch nicht nach silbernen Glöckchen, die Frühlingsluft wehte stärker, derber und gesünder um mich.

*

Schlenther, damals Direktor des Burgtheaters, hatte meine »Lokalbahn« zur Aufführung angenommen, und so stand ich eines Abends im Januar 1903 vor dem Wiener Prachtbau, sah Equipagen heranrollen, geputzte Damen und festlich gekleidete Herren aussteigen und ins Theater eilen, um meiner Première beizuwohnen.

Ich stand hinter einer Säule und schaute ihnen zu.

Ein in diesem Augenblicke vielleicht seltsames Gefühl von Gleichgültigkeit und Verlassenheit kam über mich.

Ging's gut oder schlecht, was konnte es mich viel kümmern?

Die liebsten Menschen, denen dieser Abend bedeutsam gewesen wäre, lebten nicht mehr, und ich hatte recht eigentlich niemand, der ein tieferes Interesse am Ausgange genommen hätte.

Ich dachte daran, wie es wohl meiner Mutter zumut gewesen wäre, wenn sie mich vor dem berühmten Theater der alten Kaiserstadt unmittelbar vor der Aufführung meines Stückes gesehen hätte.

Wie ein unglaubwürdiges Glück wär's ihr vorgekommen, wie eine märchenhafte Fügung des Schicksals, das den Buben aus der Vorder-Riß in dieses marmorne Prachtschloß geführt hatte. Und war's auch nicht ganz so wundersam, wie sie es empfunden hätte, merkwürdig war es doch, und das Erreichen eines Zieles war es doch, und darum zog es mir das Herz zusammen, daß ich mich nicht darüber freuen konnte.

Es schneite in dichten Flocken, und ich stand immer noch hinter der Säule und träumte vor mich hin. Die letzte Equipage war längst weggefahren, ein paar verspätete Fußgänger eilten noch ins Theater, als ich mich aufmachte und hinter die Bühne ging.

Man führte mich in die Direktionsloge, da der Autor im Burgtheater erst nach dem zweiten Akte erscheinen durfte. Schlenther war über meinen Gleichmut erstaunt und sagte mir hinterher beim herkömmlichen Glase Pilsner, Kaltblütigkeit in Ehren, aber so was von Wurstigkeit sei ihm doch noch nicht vorgekommen.

Ich mochte ihm die Gründe nicht sagen, warum ich still war, und ließ ihn bei seiner Ansicht.

Die »Lokalbahn« hatte Erfolg und wurde ziemlich oft aufgeführt; aus den Kritiken erfuhr ich, daß das Lustspiel nicht von überwältigender Bedeutung wäre.

Ich hatte es schon vorher gewußt, und recht eigentlich wollte ich auch gar nicht überwältigen.

Ich lernte in Wien Schönherr, Pernerstorfer, David kennen, Busson war mir schon befreundet, Karl Kraus und der wunderliche Peter Altenberg waren mir bekannt.

Schönherr, in Art und Sprache ein echter Nordtiroler, redet nicht mehr, als man um Imst und Stams und Telfs herum zu reden pflegt, hie und da ein bedächtiges Wort.

Sehr lebhaft war der alte Pernerstorfer, der merkwürdigste Sozialdemokrat, den ich gesehen habe. Denn er war ganz und gar völkisch bajuwarisch und sagte mir einmal ums andremal, daß die Ober- und Niederösterreicher, Steirer und Oberkärntner waschechte Bajuwaren wären, genau so vollgültig wie wir hinter unsern weiß-blauen Grenzpfählen.

Ich mußte mit ihm das Parlamentsgebäude ansehen, und er zeigte mir die historischen Stätten, wo zappelnde Volksboten an Händen und Füßen ergriffen und hinausgetragen worden waren, und wo der Bahöll immer zum Staatsereignisse wurde.

Als ich neben ihm durch die Gänge schritt, merkte ich was von der Krakeelstimmung, die hier herrschte. Man wurde so grimmig fixiert wie an scharfen Ecken in kleinen Universitätsstädten, drohende Blicke richteten sich auf mich, und ich hätte gleich ein paar Kontrahagen haben können, weil ich mit Pernerstorfer ging.

Als mein Mentor führte er mich in eine Frühschoppengesellschaft, die mich kennenzulernen wünschte; darunter waren der Lyriker David und ein Benediktiner, der von seinem Kloster beurlaubt war und an der Universität Geschichte lehrte.

David bewies sein Interesse an meinem Schaffen, indem er ein paar schnoddrige Gedichte von mir lückenlos hersagte.

Ich fühlte mich damals wie später heimisch in dieser Atmosphäre herzlicher und jovialer Teilnahme.

Was waren Pötzl, Chiavacci und andere Altwiener für schlichte, natürliche Menschen!

Sie stammten aus einer andern Zeit, in der man sich gemeinsamen Strebens bewußt geblieben war, und in der einer den andern hatte gelten lassen.

Das Theaterwesen in Wien war, wie ich damals und später bemerken konnte, recht verschieden von dem berlinischen. Das Ausleihen der Schauspieler, das Starsystem, das Setzen auf Saisonschlager und Serienspiel gab es nicht; um illustre Direktoren und Regietalente kümmerte man sich weniger als um die Künstler, von denen jeder bekanntere eine große Gemeinde hatte.

Die höchste Verehrung genoß neben Girardi mit Recht der alte Baumeister am Burgtheater, der mich als Richter von Zalamea verstehen lehrte, wie hoch die feine, diskrete Schauspielkunst einer früheren Zeit gestanden hatte.

Bei der Hauptprobe meiner »Lokalbahn« entstand plötzlich Bewegung auf der Bühne.

Sonnenthal war hinter den Kulissen hervorgekommen und wurde von allen freundlich und ehrerbietig begrüßt. Er ließ sich den Autor vorstellen, sprach ein paar verbindliche Worte mit ihm, ganz Grandseigneur, und drückte den Mitwirkenden seine Anerkennung aus.

Der Auftritt war vielleicht ein bißchen feierlich, aber er hatte Stil.

Schlenther, einst Bahnbrecher der Moderne und strenger Kritiker, Ostpreuße und gar nicht auf Wien zugeschnitten, war als Burgtheater-Direktor in einer falschen Lage, was ihm auch häufig von den Zeitungen bestätigt wurde.

Die einst nachdrücklich betonten Prinzipien und Lehrsätze konnte er nicht verwirklichen; kaum etwas von dem, was er verlangt hatte, konnte er selbst erfüllen.

Zwischen Untunlichkeiten und Rücksichten war er eingeklemmt. Dabei mußte er die Empfindung haben, daß er Usurpator war oder Platzhalter. Denn der richtige, echte Burgtheater-Direktor saß in Hamburg, Herr von Berger, und es war bloß eine Frage der Zeit, wann er seinen Einzug halten und den falschen Waldemar entthronen würde.

Ich glaube, daß Schlenther herzlich froh war, als er wieder als P. S. mit Strenge seines Amtes walten und als Kritiker den Direktoren zeigen konnte, was der Direktor den Kritikern nicht hatte zeigen dürfen. Damals aber mußte er immer wieder die düstere Frage anhören, was er mit dem Geiste des alten Burgtheaters angefangen habe.

Er hat ihn wirklich nicht verscheucht, allerdings: er hat ihn auch nicht herzitiert.

Der Gute blieb verschwunden; irgendwas im neuen Wien mißfiel ihm so, daß er nicht mehr darin umgehen mochte. Vielleicht hat ihn das neue Haus vertrieben, vielleicht der Operettenblödsinn; jedenfalls, er kam nicht wieder, und auch an die Nachfolger Schlenthers, den echten Thronerben nicht ausgenommen, mußte die peinliche Frage gestellt werden.

Wien war für uns Süddeutsche noch immer die Hauptstadt geblieben, der Sitz der Freude, des Reichtums, des Wohllebens, das Ziel der Wünsche.

Auch meine Phantasie hatte die Stadt mit Reizen geschmückt, und oft hatte ich mich hingeträumt, wenn ich als Rechtspraktikant auf dem Traunsteiner Bahnhof stand und in den eleganten Kupees Reisende auf schwellenden Polstern sitzen sah. Wenn ich jetzt in der Dämmerstunde die Rothenthurmstraße und den Graben entlang schritt, konnte ich mir gestehen, daß mir das Leben mehr gehalten als versprochen hatte.

Von dem alten Wien, das ich aus vergilbten Bänden von »Über Land und Meer« und aus Beschreibungen Hackländers kannte und liebte, fand ich nicht mehr vieles, aber ich stieß doch auf einige Kneipen, die gemütliche Namen trugen, und in denen man sich in die Nestroyzeit zurückversetzt fühlen konnte.

Und der schönen Stadt, die zwischen Waldhügeln und Weinbergen gebettet liegt, ist eine Eigenart geblieben, die ihr auch moderne Architekten nicht nehmen können.

*

Der Première in Wien war die in Stuttgart vorausgegangen. Im Spätherbste 1902 besuchte ich zum erstenmal die schwäbische Residenz, in die mich der Staatsanwalt späterhin öfter als Angeklagten holte.

Ich lernte dabei Friedrich und Conrad Haußmann kennen und durch sie einige andere Führer der demokratischen Partei, v. Payer, Liesching u. a. Und ich trat in Beziehungen zu einem regen politischen Leben, das für mich als Altbayern neu und ungewohnt war, denn bei uns drehte sich doch viel oder alles um ausgeleierte Gegensätze. Wenn ich es vermeide, über Lebende ein Urteil abzugeben, darf ich doch von dem nachhaltigen Eindrucke sprechen, den Friedrich Haußmann, der vor mehr als zehn Jahren gestorben ist, auf mich gemacht hat.

Er war der stillere von den beiden Zwillingsbrüdern, die in ihrem Äußeren wie in ihren Meinungen, in ihrer beruflichen wie in ihrer politischen Tätigkeit die auffälligste Ähnlichkeit miteinander hatten.

Friedrich war minder lebhaft, und wenn sein Bruder meinen oft zu bestimmt vorgebrachten Ansichten widersprach oder beipflichtete, hörte er lächelnd zu.

Meine Laufbahn vom Anwalt herüber zum Schriftsteller sprach ihn an, da er selbst Neigung und Beruf zum literarischen Schaffen in sich fühlte.

An der Art, wie ich über die Schnur zu hauen pflegte und nicht leicht einem Dinge seine zwei Seiten ließ, hatte er Vergnügen, wenn er sie auch nicht als die einzig richtige gelten ließ. Ein geradsinniger und gütiger Mann, hielt er sich selbst vom raschen Urteile zurück, aber er war dabei in seinen Ansichten unverrückbar fest gerichtet; und gegen alles, was einer Überheblichkeit und dem Willen zur Unterdrückung ähnlich sah, konnte er trotz der Milde seines Wesens eine Schärfe zeigen, die jedes Paktieren ausschloß. Er erschien mir als der geborene Führer, als ein Mann, der den Willen vieler zu leiten berufen war, und dem viele unbedenklich überallhin folgen durften.

Weder Eiferer noch Phantast, zeigte er im Angriffe wie in der Abwehr den schalkhaften Humor, der aus tiefem, gütigem Verstehen kommt und immer Überlegenheit gewährt.

Daß ein Mann wie er zeitlebens in Opposition gegen die Reichsregierung und ihre Politik stehen mußte, beweist deutlich, wie verfehlt das System war.

In Stuttgart hatte der Simplicissimus vom ersten Tage seines Bestehens an eifrige Freunde, und es lag in der schwäbischen Freimütigkeit begründet, daß Saftigkeit des Ausdruckes und Schärfe des Angriffs hier keine Schauer des Entsetzens erregten.

Man verstand hier besser als manchen Ortes, daß sich hinter dem Spotte ein ernster Unwille, den man teilte, verbarg.

Schon darum war die gerichtliche Entscheidung, daß Stuttgart, wo der »Simplicissimus« gedruckt wurde, zuständig sei, für die Redaktion günstig.

Ein Verfahren mit solchen Mitteln, wie man sie in Leipzig für zulässig gehalten hatte, war hier ausgeschlossen. Es kam allerdings zu einer Reihe von Strafverfolgungen, aber die Verhandlungen wurden sachlich geführt, und sie blieben frei von dem behördlichen Entsetzen über die ganze Richtung.

Es handelte sich immer um den gegebenen Fall, und war Anlaß zu Strafen gegeben, so griffen die Richter nicht zimpferlich ein. Freilich, auf sechs und sieben Monate Gefängnis erkannten sie nicht; es fehlte ihnen an der Schadenfreude, mit der man in Sachsen beschwingten Meinungen die Federn ausrupfte.

Man war ruhig, manchmal ein wenig nüchtern.

Ich erinnere mich eines Vorsitzenden, der seine liebe Not hatte mit den getragenen, in die Höhe strebenden Ausführungen literarischer Sachverständiger; er zog sie immer wieder aus der Region freiheitlicher Gedanken auf den Boden der Tatbestandsmerkmale nieder.

Es handelte sich um eine Beleidigung der Sittlichkeitsprediger, und bei dem Thema konnte man warm werden.

Ludwig Ganghofer, der als sachverständiger Zeuge vor den Schranken stand, wurde warm und schlug mit der Faust auf den Richtertisch, daß die Tintenfässer klirrten; die Richter waren erstaunt, aber nicht gerührt und brummten mir sechs Wochen auf.

Meine Stellung als Angeklagter konnte mir sonderbar scheinen in Erinnerung an vergangene Jahre, wo ich als Protokollführer oben auf dem Plateau der Erkenntnis oder unten im Anwaltstalar gesessen hatte.

Nach einer stuttgarter Verhandlung, in der die Rede war von Ludwig Pfau, vom Rechte der politischen Satire und von ihren Aufgaben, vom Kampfe für die Freiheit der Meinungen, war die Begründung des Freispruches noch nicht beendet, als ein junger Landstreicher hereingeführt wurde und meinen Platz einnahm.

Haußmann sah mich lächelnd an, das Publikum kicherte, und ich dachte an den Wandel des Schicksals.

*

Meine Erlebnisse im Gerichtssaale liegen nach der Zeit, von der ich erzähle.

Vom Herbste 1902 ab war ich wieder eifriger in der Redaktion des »Simplicissimus« tätig.

Obwohl ich als Anfänger mit dem Erfolge der »Lokalbahn« zufrieden sein konnte, fühlte ich keinen Drang in mir, festen Fuß auf der Bühne zu fassen. Erst sechs Jahre später versuchte ich es wieder mit der »Moral«.

Ich kam bis zum Herbste 1904, wo ich meinen »Andreas Vöst« begann, überhaupt nicht zu größeren Arbeiten, schrieb kleinere Erzählungen, die Erlebnisse eines Lausbuben, später den »Heiligen Hies«.

Der Tod der alten Viktor wirkte lange auf mich nach, um so mehr, als er für mich den Verlust des letzten Stückes von Heim und Häuslichkeit bedeutet hatte.

Ich war nicht gerne allein und suchte Zerstreuung, ging auch mehr in Gesellschaft als früher.

Gerne schloß ich mich an Ludwig Ganghofer an; eigentlich war es sonderbar, daß wir uns nicht früher gefunden hatten, denn schon von Großvaters Zeiten her hatte es zwischen unsern Familien Beziehungen gegeben, und beide Schriftsteller, beide Jäger, beide aus sehr ähnlicher Umgebung stammend, hätten wir uns in Wien sicherlich sofort, in Berlin bald einander genähert. In München lebt aber jeder auf seiner Insel.

Er lud mich in sein Jagdhaus Hubertus ein, wo ich schöne Wochen verbrachte, und wo mir Umgebung und Leben alte Kindererinnerungen an weltverlorene Bergtäler wachriefen.

*

Im Frühjahr 1903 machte ich mit Heine, Wilke und Thöny eine Radtour über Mailand, Genua, die Riviera entlang, dann zurück über Pisa nach Florenz, wo wir etwa sechs Wochen blieben. Ich bin die folgenden elf Jahre bis zum Ausbruche des Krieges in jedem Frühling nach Italien gereist, habe manche Freude dort gefunden, aber nie mehr habe ich sie mit der sorglosen Fröhlichkeit ausgenossen wie bei jenem ersten Male.

Von der Riviera allerdings war ich nicht in dem üblichen Maße entzückt; das schönste war die Fahrt bergauf, bergab die Küste entlang durch die kleinen Nester. Am lauen Abend, nachdem einen tagsüber die Sonne tüchtig verbrannt hatte, durch Pinienwälder zu fahren, tief unten das Meer gegen die Felsen branden zu hören, das war wundervoll.

Und wie war man in eine andere Welt versetzt, wenn man durch die engen Gassen der Fischerdörfer schritt, an den Gruppen schwatzender Menschen vorbei, die einen neugierig betrachteten.

Bunte Farben, das Trällern eines Liedes und immer wieder der Lärm eines Orgelklaviers, der einem lange nachfolgte, das alles mutete einen fremd und wieder vertraut an, wie etwas, das man sich in Sehnsucht so ausgemalt hatte.

Weiterhin, etwa nach Albenga, wurde es schon zu sehr Hotelpepiniere, um anzusprechen, und die Landschaft, immer tiefes Blau und grelles Weiß, ermüdete den Blick; am wenigsten gefielen mir die vielgerühmten Palmen.

In Bordighera, das damals noch nicht auf großen Fremdenverkehr eingerichtet war, fanden wir in einer deutschen Pension gutes Unterkommen, blieben etwa eine Woche und besuchten das Paradies der Faulenzer und Gauner, Monte Carlo, das mich nicht bloß enttäuschte, sondern auch gründlich anwiderte.

Ich hatte ein recht unangenehmes Gefühl, weil ich nicht von dem Eindrucke loskam, daß diese aufdringliche Eleganz um mich herum zum großen Teil mit gestohlenem und unterschlagenem Gelde bestritten war; und wenn ich auch nicht an Prüderie kränkelte, so fand ich es keineswegs erhebend, von einer Gesellschaft umgeben zu sein, in der man die Diebe längst nicht mehr an den Fingern zählen konnte. Als ich das in einem Feuilleton so schilderte, wie ich es empfunden hatte, und die Meinung vertrat, der erhabene Fürst von Monaco, der von der Spielbank ausgehalten wird, lebe von recht unschönen Mitteln, kanzelte mich ein Journalist in einer berliner Zeitung ab. Es sei unerträglich spießbürgerlich, sich als deutscher Moralphilister dagegen aufzulehnen, daß die amerikanischen Milliardäre in diesem Paradiese ihre Dollars sitzen ließen. Vielleicht kamen die Yankees zuweilen nach Monte Carlo; ihre Anwesenheit machte nichts besser, aber jedenfalls gaben sie dem Leben dort nicht das Gepräge. Ganz gewiß stellten das größte Kontingent Betrüger und Leichtsinnige, und auf sie war auch der ganze Betrieb zugeschnitten, auf sie machten die kostümierten Kokotten und die Händler mit Schwindelwaren Jagd. Gewiß auch auf zahlreiche Neugierige und Dumme, die sich Romane zusammengeträumt hatten vom großen Leben, das in Monaco berückend schön und angenehm gruselig anzustaunen sei. Am Ende war es nichts als ein Markt der Gemeinheit, und ein recht langweiliger obendrein.

Es kam mir auch so vor, als hätte tout Berlin, das sich im Vorsaale drängte, den eigentlichen prickelnden teuflischen Reiz vermißt.

Wenigstens versicherte mir das Herr Alfred Holzbock, der plötzlich vor mir auftauchte, ganz so wie auf einem berliner Balle, wo er den ausgelassenen Champagnergeist im ganzen Saale wie eine Stecknadel suchte und nicht fand.

Die Fahrt nach Florenz führte uns über Sestri Levante aufwärts durch entlegene Apenninendörfer, in denen wir manches anmutige und wieder belustigende Erlebnis mit dem neugierigen und naiven Volke hatten. Wilke hatte eine Kurbel abgetreten, und wir mußten in einem kleinen Dorfe haltmachen und versuchen, den Schaden reparieren zu lassen. Unsere Zweifel, ob das wohl in diesem Neste möglich wäre, zerstreute der Wirt, der uns mit großen, ausholenden Gesten und in feuriger Rede versicherte, es wäre der beste Mechaniker des Landes im Orte.

Wir brachten das Rad zu dem berühmten Künstler und ließen es uns in der Wartezeit wohl sein bei den trefflichen Makkaroni, die uns der Herbergsvater vorsetzte.

Wir mußten ihm viele Fragen nach unserer Herkunft, unserem Berufe, unseren Reiseplänen, auch nach dem Leben, das man in dem hyperboräischen Deutschland führe, beantworten; er hatte gehört, daß es auch dort trotz unwirtlicher Kälte viele Menschen, große Städte und sonderbarerweise ungemessenen Reichtum gebe.

Wir erzählten ihm Wahres und Unwahres und mehrten seinen Respekt vor den Nordmännern, die im Gelde schwimmen und trotzdem in der frostigen Gegend wohnen bleiben.

Ein paar Stunden später kam die ganze Einwohnerschaft die enge Gasse herunter zum Wirtshaus gezogen, Männer, Weiber, Kinder, alles was gehen konnte und Zeit hatte, und Zeit hatten sichtlich alle.

Voran schob triumphierend der Mechaniker das Rad Wilkes und übergab es feierlich dem Wirte, der es uns mit sichtlichem Stolze vorwies. Hatte er zuviel gesagt, daß der trefflichste Künstler des Landes in seinem Heimatorte zu finden sei?

Dann hielt er von der Freitreppe herunter eine Ansprache an die Einwohner, sagte ihnen, daß wir von weit her, aus dem großen Monaco di Baviera, nach dem schönen Italien gefahren wären, um uns an den Reizen dieses einzigen Landes zu erfreuen, daß wir nach dem altberühmten Florenz reisen wollten, wo reiche Menschen aus allen Ländern der Erde zusammenkämen, um die Kunstschätze zu bewundern. Er wünschte uns Glück zur Fahrt, schöne Tage und fröhliche Heimkehr. Die ganze Dorfschaft hörte andächtig zu und klatschte am Schlusse lebhaft Beifall, winkte uns zu und rief uns glückliche Reise nach, als wir aufstiegen und weiterfuhren.

Diese Leute waren so unverbildet, gutmütig und neugierig wie Kinder; und wie sie fand ich noch viele, ja eigentlich alle, besonders auf dem Lande.

Wie leicht hätte es sein müssen, mit ihnen stets im Frieden zu leben, – wenn es in Italien keine abgefeimten Advokaten und in Deutschland keine Diplomaten und Esel gegeben hätte.

Wie sonderbar aber die Ansichten über Volk und Land verbildet waren, das sah ich ein paar Wochen später in Florenz, als ein tiroler Arzt uns mit sichtlichem Entsetzen fragte, ob es denn wahr sei, daß wir zu Rad durch die Apenninentäler gefahren wären.

Und er wollte es kaum glauben, daß wir das Wagnis ohne Abenteuer, ohne gefährliche Begegnungen mit Räubern bestanden hätten.

Ein Jahr später beschwor mich ein römischer Hotelier, ein geborener Italiener, ich möchte doch um Gottes willen von dem Plane abstehen, allein durch die Campagna gegen Amelia hin zu fahren, da ich sonst bestimmt Räubern in die Hände fiele.

So glücklich wirken die Zeitungen, und so bringen sie die Menschen einander näher.

Ich habe gerade auf jener Fahrt durch Umbrien und Toskana unter dem Landvolke die höflichsten, gastfreundlichsten Menschen gefunden, die kennenzulernen ebenso angenehm wie lehrreich war.

Denn Abkömmlingen Fra Diavolos bin ich nirgends begegnet.

Nach einer heiteren, durch ihre Sorglosigkeit beglückenden Fahrt ins Unbekannte hinein, die uns auf Schritt und Tritt noch mehr als die mit Sternen versehenen Baedekerwunder bot, überließen wir uns in Florenz mit freudigem Verständnisse dem Faulenzen und Schlendern, das sich in dieser Stadt zur wirklichen Kunst ausgebildet hat.

Wir suchten nicht mit unschöner Hast die Museen ab, wir besorgten das mit gelassener Ruhe, ohne Gewissensbisse, wenn wir es einmal an einem Vormittage versäumt hatten; wir lernten auf gut florentinisch, mit den Händen in den Hosentaschen, an einer schwärzlichen Toskana schnullend, durch die engen Gassen bummeln, an den Ecken stehen, wir spielten Boccia mit kleinen Handwerkern, wir schütteten gewandt wie die Ureinwohner das Öl aus den langhalsigen Fiaschi ab, um uns den trefflichen Chianti einzuschenken, wir wurden Kenner der Tortellini und Spaghetti und lernten diese widerspenstigen Nudeln elegant um die Gabel wickeln.

An einigen Mitgliedern der deutschen Künstlerkolonie fanden wir gute Berater und Wegweiser im süßen Nichtstun, und fast jeden Abend saßen wir im Keller des Palazzo Antinori, wo man zur Weltweisheit und Kunstgeschichte ziemlich viel Rotwein trank.

Wir waren bald Stammgäste und konnten uns an dem Empfange beteiligen, den man dem General von Mussinan bereitete, als er auf seiner Hochzeitsreise nach Florenz gekommen war und der Einladung der würdigen Künstlerkolonie folgend in unseren Keller hinunterstieg. Leere Fässer dienten als Trommeln, Gießkannen als Trompeten, als sofort bei seinem Erscheinen der Mussinanmarsch intoniert wurde; alle bemühten sich, dem alten Soldaten einen guten Begriff von deutscher Künstlerfröhlichkeit zu verschaffen, als sich Wilke erhob und ganz in der Manier eines Oberlehrers mit unerschütterlichem Ernste einen Vortrag über die Entstehung Fiesoles hielt. Der General hörte mit höflicher Aufmerksamkeit zu, bis man ihm ins Ohr flüsterte, daß dieser sich als Gelehrter gehabende Herr ein Mitarbeiter des »Simplicissimus« sei und den größten Blödsinn auftische.

Unter den Künstlern, mit denen wir täglich verkehrten, war einer, der bei knappen Mitteln unbekümmert in den Tag hineinlebte und im Genusse einer frohen Stunde sich nie um die kommende sorgte. Wilke hatte ihn gleich am ersten Tage ins Herz geschlossen, weil ihm ein Vorfall gezeigt hatte, daß er hier eine verwandte Natur getroffen habe. Wir gingen nach San Miniato hinauf, und ein Herr der Gesellschaft, der mit jenem Maler befreundet war, machte ihn darauf aufmerksam, daß der Sommerüberzieher, den er anhatte, doch eigentlich zu abgetragen und schäbig wäre. Der Maler lächelte zu dem Vorhalte, zog den Mantel aus und warf ihn seelenruhig in den Straßengraben.

Von der Stunde an hatte er in Wilke einen Freund.

Unser besonderes Vergnügen hatten wir an den deutschen Reisenden, die nach Florenz gekommen waren, um eine unumgängliche Pflicht zu erfüllen, die immer Vergleiche mit den soviel besseren Zuständen daheim, die sie leider auf Wochen entbehren mußten, anstellten, und die gewissermaßen unter der Aufsicht eines sie unsichtbar begleitenden Bildungsüberwachungsorganes alle Museen rastlos durchjagten. Man konnte jedoch feststellen, daß sich die englischen Besucher, die stets in zahlreichen Trupps in die Kunststätten einfielen, noch unberührter und dämlicher zeigten. Die hatten immer einen Führer dabei, gewöhnlich einen, der vom vielen Laufen und Reden schwindsüchtig geworden war, und dem sie mit Hilfe ihrer Baedeker genau aufpaßten, ob er auch alle besonders angemerkten Bilder und Plastiken in seinem monoton abgeleierten Vortrag erwähnte.

Wirkliches Interesse sah man nur im Kloster San Marco, wenn die Ladies und Gentlemen die verkohlten Reste des Hemdes anstarrten, das Girolamo Savonarola bei seiner Hinrichtung angehabt hatte.

Da umwehte sie nervenkitzelnd der Geist vergangener Zeiten, den der schwindsüchtige Führer vor den Mediceergräbern mit dem längsten Vortrag nicht herbeizitieren konnte.

Es war bei uns Sitte – und wenn es zur Besserung beitrug, war's auch recht –, daß man sich über die deutschen Touristen im Auslande aufregte, aber wer die amerikanischen und englischen besser fand, hatte schlechte Augen.

Sie waren geschmackvoller angezogen, aber sonst boten diese zusammengetriebenen Herden von Gewohnheitsmenschen, die sich keiner Sitte des Landes anpaßten, nirgends dem Volke und seinem Leben nähertraten und wie Sträflinge die von Hoteliers vorgeschriebenen Dinner- und Supperstunden einhielten, begieriger nach ihren gewohnten jams als nach allen Kunstschätzen, wirklich kein Bild, das man den Deutschen vorhalten konnte.

Unter denen gab es immer noch viele kunstfrohe, kenntnisreiche Leute, die abseits vom Haufen stille Freuden und wirklichen Gewinn fanden, und mit Bemerkungen über Jägerwäsche war es nicht abzutun, daß am Ende doch der deutsche Professor vieles in Italien für die Italiener zu neuem Leben erweckt hatte.

Mir war lange Jahre, vor sich der Wunsch verwirklichen ließ, eine Wanderung durch Italien in Aussicht gestellt worden, und ich hatte mich, glückselig über das Versprechen, monatelang auf die Reise vorbereitet, die zuletzt unterbleiben mußte.

Was ich damals und später lernte, blieb nicht ohne Früchte. Besonders Victor Hehn hatte mich zur Vorliebe für Italien erzogen und mich schon im vorhinein von Vorurteilen kuriert, durch die sich viele Freude und Genuß verkümmern lassen. Ich sah mich nicht auf Schritt und Tritt enttäuscht, brachte nicht jedem Einheimischen Mißtrauen entgegen und konnte mich über bodenechte Lässigkeit und Unordnung freuen; die einförmige, alle Eindrücke verwischende Hotelkultur vermißte ich gerne.

Wer Italien wie ein Museum durcheilt, in dem er nur die Kostbarkeiten einer vergangenen Zeit findet, indes er sich von allem Lebendigen abgestoßen fühlt, beraubt sich der Möglichkeit, die Eigenart des Landes wie des Volkes, die tiefen Zusammenhänge zwischen ihr und der einstigen Größe und so aus der Gegenwart die Vergangenheit verstehen zu lernen.

In den Museen waren mir meine Freunde die besten Führer, da sie unbeschwert durch Baedeker und gültige Anschauungen das Rassigste zu finden wußten, und ich erinnere mich gerne daran, wie mich Heine in den Uffizien aus den Sälen der toskanischen Meister holte, um mir die wundervolle »Anbetung der Hirten« von van der Goes zu zeigen. Neben den disziplinierten Leuten, die sich unverbrüchlich an die Sterne Baedekers hielten, waren nicht wenige Jünger der Kunstgeschichte zu bemerken, die es sich vorgenommen hatten, durch eine Entdeckung bekannt zu werden, und die in unbeachteten, irgendwo in einer Kapelle verborgenen Kunstwerken die eigentlichen Wunder des Quattrocento auffanden. Darüber ließen sich dann beachtenswerte Artikel schreiben.

Wenn man darüber lächelt, überkommt einen doch die unbändige Sehnsucht nach jener schönen Zeit, in der diese Dinge etwas bedeutet haben.

Auch strengen Richtern begegnete man, die mißtrauisch die Bilder musterten, und als ich wieder einmal vor dem großen Bilde des van der Goes stand, klopfte mir Karl Voll auf die Schulter und sagte im brunnentiefen Basse: »Ja, ja, Sie haben es schön; Sie dürfen hier alles bewundern, unsereiner aber muß die Bilder auf ihre Echtheit untersuchen.« Und dann ging er gleich daran, seinem Verdachte gegen einen Memling neue Nahrung zu geben.

Durch Zufall fand ich in Florenz bei einem Antiquar etliche Bände Vasaris in deutscher Übersetzung und ging nun daran, mit der Lebensgeschichte alter toskanischer Meister ihre Werke an den von Vasari angegebenen Stätten kennenzulernen und sie aufzusuchen, wenn sie dort nicht mehr zu finden waren. Dieser Anschauungsunterricht verschaffte mir schöne Stunden, dabei auch die bleibende Überzeugung, daß die erzählende, von Kritik und vordringlicher Klugheit freie Kunstgeschichte Vasaris unendlich lehrreicher, vornehmer und verdienstlicher ist wie alles, was moderne Weisheit über Kunst zusammengeschrieben hat.

Von den Werken der in Florenz lebenden deutschen Künstler sah ich nicht viel, und mancher der trefflichen Meister erinnerte mich an Gottfried Kellers Bildhauer, der in Rom viele Jahre an einer Statue arbeitete und immer italienischer und dolcefarnienter wurde. Es mußte sehr schwer sein, sich an sonnigen toskanischen Tagen in ein Atelier gebannt zu sehen.

Auch wir seufzten über die Beiträge, die wir doch für die münchner Redaktion zu machen hatten, und Mama Frattigiani, bei der wir wohnten, hatte das ganz echte florentinische Mitleid mit den armen Menschen, die arbeiten mußten. Der faulste war ihr Liebling, und diesen Rang nahm unbestritten Rudolf Wilke ein, den man nur durch furchtbare Drohungen mit Entziehung von Geld, Nahrung und Chianti dazu brachte, eine Zeichnung anzufangen oder gar zu vollenden.

Für Thöny war die gegenüberliegende Kaserne eines Kavallerieregimentes eine wahre Fundgrube der Unterhaltung und Belehrung.

Was man sah, war in allem das Gegenteil vom deutschen Drill; eigentlich geschah nie etwas, und immer schien das Wichtigste zu geschehen. Wenn ein Heuwagen einfuhr, schmetterten die Trompeten, Soldaten liefen durcheinander, Offiziere kommandierten, Signal auf Signal ertönte, bis endlich der Wagen in der Remise war. Dann breitete sich wieder unendliche Ruhe über dem Kasernenhofe aus.

Carlo Böcklin, der Sohn des Maestro Arnoldo, und Peter Bruckmann, sein Schwiegersohn, bereiteten uns eines Abends ein Fest in Fiesole, wozu sie die Liedertafel des Ortes eingeladen hatten.

Lauter Handwerker, Maurer, Schuster, Schneider, zeigten uns diese Leute soviel vornehme Höflichkeit, wie sie wohl in keinem anderen Lande bei ihresgleichen anzutreffen ist. Sie sangen wundervoll und nahmen unsere Begeisterung darüber gelassen auf, nippten nur ein wenig an dem Wein, der ihnen vorgesetzt wurde, um uns freundlich Bescheid zu geben, und als ein Deutscher die unvermeidliche Rede auf Bündnis, Freundschaft und Garibaldi gehalten hatte, erwiderte ein Maurerpolier, mit edler Gebärde aus der Schar vortretend, mit einer Rede von Sonne und Mond, die über allen Ländern schienen, und vom Gesang, der aller Menschen Herz erfreue.

Alles, was wir kennen und besser verstehen lernten, war dazu angetan, uns Liebe zu Land und Leuten einzuflößen und in uns, als wir scheiden mußten, den Wunsch nach baldiger Wiederkehr wachzuhalten. Wir durften ihn auch gemeinsam erfüllt sehen, aber so fröhlich haben wir den Aufenthalt nie mehr genossen wie bei jenem ersten Male.

*

Wir waren noch in Florenz, als wir die Nachricht erhielten, daß Albert Langen nach München zurückgekehrt sei. Er war zwei Monate vorher zu uns nach Bordighera gekommen und hatte damals Andeutungen gemacht, daß vielleicht die Strafverfolgung gegen ihn eingestellt und ihm die Heimkehr gestattet werde.

Ich glaubte nicht daran, weil ich keine Ahnung davon hatte, daß dem König von Sachsen ein Recht zustand, im Gnadenwege Prozesse niederzuschlagen. Auf Verwendung Björnsons und eines einflußreichen sächsischen Herrn wurde von diesem Rechte Gebrauch gemacht, und gegen Bezahlung einer ziemlich hohen Summe durfte Langen nach fünf Jahren wieder nach Deutschland kommen.

Er lebte wieder auf, und wer ihn nunmehr geschäftig, voll von Plänen, rastlos und glücklich zugleich sah und die völlige Veränderung in seinem Wesen bemerkte, der konnte wirklich die Anschuldigung, als habe er absichtlich durch eine Majestätsbeleidigung Geschäfte machen wollen, rechtschaffen dumm finden.

Die lange Abwesenheit hätte das Bestehen seines Unternehmens gefährden können, wenn nicht der Konzern der Mitarbeiter den »Simplicissimus« unabhängig von geschäftlicher Leitung erhalten hätte.

Als das Blatt drei Jahre später in die Hände der aus Langen und den Mitarbeitern bestehenden Gesellschaft überging, fehlte es nicht an Leuten, die in dieser Transaktion eine Vergewaltigung sehen wollten, und Wedekind hat diese Meinung zu einem Stücke verwendet.

Wer gerecht urteilen will, mag sich sagen, daß wir, wenn wir von Langen schon etwas erzwingen wollten, nie eine bequemere Gelegenheit dazu gehabt hatten als in der Zeit, wo er in Paris weilte und alles von unserem guten Willen abhing.

Der Anspruch auf Beteiligung war vollauf begründet, als Langen den Preis des »Simplicissimus« erhöhte. Darin lag ein Risiko, das wir mitzutragen hatten, und so konnten wir auch ein Recht auf den Vorteil beanspruchen.

Damals also nach der Rückkehr aus Italien fand ich Langen glückselig in neu erwachter Unternehmungslust vor; auch äußerlich hatte er sich völlig verändert, da er den gepflegten, etwas pariserisch anmutenden Vollbart abgetan hatte und glattrasiert eher einem amerikanischen Geschäftsmanne glich.

Er war mit Elektrizität geladen, brachte jeden Vormittag neue Vorschläge ins Bureau, hielt Conseils ab und fühlte sich pudelwohl, wenn er mit sprunghaften Ideen Redaktion und Verlag in Bewegung erhielt.

Der Kreis der Mitarbeiter hatte in Olaf Gulbransson Zuwachs erhalten.

Im März 1902 hatte mir Langen in Paris ein von Gulbransson illustriertes Buch gezeigt und schon damals die Absicht geäußert, den Künstler für den »Simplicissimus« zu gewinnen; im Sommer darauf lud er ihn nach Aulestad ein und überredete ihn, schon im Herbste nach Deutschland zu übersiedeln.

Gulbransson kam im November nach Berlin, wo er nach Langens Meinung zuerst einmal Studien machen sollte, aber der Aufenthalt behagte ihm so wenig, daß ihn die übernommene Verpflichtung beinahe reute.

Kaum war er im Januar 1903 in München angelangt, fühlte er sich, obwohl er kein Wort deutsch sprach und verstand, heimisch und zeigte auch gleich das lebhafteste Verständnis für die Freuden des Karnevals, der damals reizvoller war als späterhin, wo er für die herbeieilenden Fremden originell werden mußte.

Ich erinnere mich an sehr ernsthaft ausgesponnene Beratungen, die von namhaften Männern über einen Künstler- und Schriftstellerball abgehalten wurden, und die ein solches Fest als wichtige Haupt- und Staatsaktion erscheinen ließen.

Die Vorbereitungen dazu führten mich mit Ignatius Taschner zusammen, mit dem mich bald eine Freundschaft verband, die für mich zum Lebensereignisse und wertvollsten Besitztume geworden ist.

Als er damals mit dem Bildhauer August Heer zu einer Besprechung kam, war's mir nach den ersten Worten, als hätten wir uns zeitlebens gekannt und wären als Nachbarkinder mitsammen aufgewachsen.

In einer entbehrungsreichen Jugend und in den härtesten Kämpfen hatte er sich eine Fröhlichkeit bewahrt, die jedes Zusammensein zum Feste machte.

Sein Vater stammte aus Niederbayern, seine Mutter war Fränkin, und die Eigenschaften der beiden Rassen waren in ihm auf das glücklichste vereint.

Übermütig, derb, ungemein tätig und arbeitsfroh, und wieder so ernsthaft, pflichttreu, aufs Kleinste bedacht, schien er in seinem Charakter wie in seiner Kunst aus einer vergangenen, soviel schöneren Zeit zu stammen.

Wenn er von seiner Lehrlings- und Gesellenzeit erzählte, war's wie eine Dreingabe zu Kellers »Gerechten Kammachern«, und wie klang es dann wieder ernsthaft und zum Herzen dringend, wenn er über künstlerische Dinge sprach!

Keiner hat wie er die heimlichen Zusammenhänge von Heimat und Rasse mit der Kunst gekannt, keiner so verstanden, wie sie über tüchtiges Handwerk hinaus zur höchsten Kunst führen, und das war bei ihm angeborenes oder durch Arbeit errungenes Wissen, weit weg von angelernter Doktrin.

Darum war er unbeirrbar durch alles, was Mode oder Richtung heißen mag, und zeigte in seinem Leben wie in seinem Schaffen die Art der hohen fränkischen Meister, deren Geist in ihm wieder lebendig geworden war. Ich verdanke ihm viel.

Anregung, Belehrung, Freude, die fröhlichsten, wie die inhaltsreichsten Stunden, Verständnis für die Kunst und ihre Wirkungen auf alle Erscheinungen des Lebens.

Im Umgange mit ihm fand ich Sicherheit; er lehrte mich durch Wort und Beispiel, strenger gegen mich sein.

Er nahm einige Monate, nachdem wir uns kennengelernt hatten, einen Ruf nach Breslau an; zwei Jahre später ging er nach Berlin, wo er die fruchtbarste Tätigkeit entfaltete. Aber wenn er nur irgend konnte, kehrte er nach Süddeutschland zurück, und immer war mir ein Heimweh gestillt, wenn er bei mir war.

Viele Pläne hatten wir gefaßt; sie sollten ausgeführt werden, wenn er, aller Verpflichtungen ledig, in seinem Hause in Mitterndorf endlich zu freier, durch keine Aufträge festgelegter Arbeit gekommen wäre. Die Erfüllung unserer Wünsche war nahegerückt, als er starb.

Mit ihm ging mir manche lieb gewordene Hoffnung zu Grabe, doch am härtesten traf es mich, daß ich seine ehrliche, kluge Freundschaft verlieren mußte.

Damals im Januar 1903 half er froh und ausgelassen an den Karnevalsunterhaltungen mit.

Auf seine Anregung veranstalteten wir einen Veteranenball, bei dem es wie in einem altbayrischen Dorfe hergehen mußte; wir stellten lebende Bilder aus dem Jahre 1870, und das Fest gefiel so, daß wir es die folgenden drei Jahre wiederholten.

Derartige Dinge wurden ja in München sehr ernst genommen, und zu ihrem Gelingen wurden Mühe und Fleiß und sehr viel Können aufgewandt.

Ich erinnere mich an ein antikes Fest im Hoftheater, das Lenbach und Stuck und alle bekannten Künstler wochenlang vorbereiteten.

Natürlich hat man das in der Hauptstadt der Kritik ein bißchen ironisch beurteilt, aber wo immer Künstler die Bedingungen fröhlichen Zusammenlebens gefunden haben, sind Feste gefeiert worden, und wo das unterblieben ist, hat es nicht der Ernst der Arbeit verhindert.

In München ist auch mehr und mehr die Lust zu größeren Veranstaltungen geschwunden; die Zerwürfnisse in der Künstlerschaft, die Spaltung in zahlreiche Gruppen trugen viel dazu bei, und ich glaube nicht, daß sich bei den jüngeren Leuten soviel Phantasie finden ließe, wie ehedem zu Festen aufgewandt wurde; übersprudelndes Talent und Humor wird niemand von den Kümmerlingen erwarten, die sich heute gegenseitig ihre expressionistische Bedeutung aufschwätzen.

*

Langen konnte sich ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr recht in sein Element, in das bewegteste Leben, versetzt fühlen, da wir mit einer gegen die Zentrumsherrschaft gerichteten Nummer großen Aufruhr erregten.

Ich hatte mit einer im Stile Abrahams a Santa Clara gehaltenen Predigt gegen die Dunkelmänner Veranlassung zur Konfiskation gegeben. Eine heftige Polemik setzte in den Zeitungen ein, der Minister von Feilitzsch wurde in der Kammer interpelliert, ein Abgeordneter las im Landtag Bruchteile der Predigt vor, und als der Präsident von Walther dagegen einschritt, ließ er sich irgendwelche Verstöße gegen die Geschäftsordnung zuschulden kommen und mußte abtreten; die Frage, ob München oder Stuttgart zuständig sei, führte zu lebhaften Kontroversen, der Generalstaatsanwalt lud mich sogar zu einer Besprechung ein, die er mit den Worten schloß: »Vive la guerre!«

Ich beteiligte mich ausgiebig an der Zeitungspolemik und handelte nach dem Grundsatze, daß die beste Abwehr der Hieb sei.

So griff ich auch ohne Federlesen den Richter an, der im Ermittelungsverfahren tätig gewesen war und, als Sohn eines ultramontanen Abgeordneten selbst mit einem Zentrumsmandat behaftet, seine politische Abneigung deutlich genug ins Amtliche übersetzt hatte.

Das löste natürlich erneutes Zetergeschrei aus, und wochenlang blieb das Feuerchen angefacht, bis die Sache zuletzt wie das Hornberger Schießen ausging.

Langen glänzte vor Vergnügen.

Wenn unsere Feinde, die sich gewiß herzliche Mühe gaben, äußerst bittere Sätze gegen uns zu konstruieren, gehört hätten, wie ihre saftigsten Artikel unter schallendem Gelächter vorgelesen wurden, dann hätten sie wahrscheinlich den Kampf aufgegeben.

Aber die Herren vom Zentrum waren selber so empfindlich, daß sie sich jene Wirkung ihrer Angriffe niemals hätten vorstellen können.

Gute Hasser waren sie. Als ich ein Jahr später wegen Beleidigung einiger Sittlichkeitswächter unter den Pastoren verurteilt wurde, rauschte Beifall durch die Zentrumspresse, und manches Blatt stellte sich entsetzt über mein Vergehen, wenn es auch anderen Tages wieder die ausgiebigsten Beschimpfungen gegen den Protestantismus brachte.

Mir aber war das ganz und gar nicht in den Sinn gekommen; ich hatte mich nur gegen die unverschämte Rede eines Einzelnen gewandt, der sich als Tugendbeispiel und ganz Deutschland als sittlich verkommen bezeichnet hatte.

Nach meiner Verurteilung beschäftigte sich ein Sittlichkeitskongreß in Magdeburg mit mir, und ein berliner Hofprediger sprach der Vorsehung, die meine Bestrafung herbeigeführt hatte, seine wohlwollende Anerkennung aus. Ich wollte dazu nicht schweigen und brachte in einem von Gulbransson illustrierten Flugblatte jener Magdeburger Versammlung einen größeren Mangel an Ehrerbietung entgegen.

Das Blatt war in München gedruckt, und ich mußte mich vor dem Schwurgericht verantworten. Von einer erhöhten Bank aus, auf der sonst Mörder und Diebe saßen, blickte ich hinüber zu den Geschworenen, unter denen ich recht behäbige, einem derben Spaß wohlgeneigte Landsleute bemerkte. Ich wäre als dreizehnter unter ihnen vielleicht der gewesen, dem eine saftige Geschichte das geringste Vergnügen bereitet hätte.

Als mein Gedicht vom Protokollführer im trockensten Tone vorgelesen wurde, schlugen sogleich einige hanebüchene Stellen ein; verschiedene Geschworene hatten Mühe, ernst zu bleiben, und kämpften mit blauroten Gesichtern gegen den Lachreiz an; die ehrbaren Volksrichter waren wie Schulkinder, die heimlich kichern.

Die Verhandlung, welche übrigens mit einem Freispruche endete, wurde im Landtag und bei ultramontanen Parteitagungen recht abfällig kritisiert, weil zwölf Sachverständige, darunter Professor Forel aus Zürich, Dr. Hirth, Ganghofer und andere Stellung gegen die Anklage genommen hatten.

Außerdem kam es zu einer Beschwerde beim Justizminister, da der Staatsanwalt einige Sachverständige angeflegelt hatte.

Das Bezeichnendste dafür, wie töricht damals Parteipolitik getrieben wurde, ist, daß man, wütend über den Ausgang des Prozesses, die in Bayern gesetzlich festgelegte Zuständigkeit der Schwurgerichte für Preßvergehen am liebsten aufgehoben hätte. In einer verärgerten Stimmung wollte man ein wichtiges Volksrecht aufgeben und vergaß völlig, daß ihm die ultramontane Presse in der Ära Lutz sehr viel zu verdanken gehabt hatte.

Damals schrieb ein klerikales Provinzblatt, daß Religion und Sitte in Bayern durch meine Freisprechung für vogelfrei erklärt worden seien; so dick trug die Partei auf, als es sich nicht einmal um eine sie nahe berührende Sache handelte.

Freilich hatte man etliche Monate vorher vergeblich die Lärmtrommel gegen den Verfasser des »Andreas Vöst« gerührt, und der »Bayerische Kurier« hatte das Ministerium erfolglos aufgefordert, die Kirche und ihre Diener pflichtgemäß gegen die Veröffentlichung des Romans zu schützen.

Die Feindseligkeiten verschärften sich, und der Ton wurde grob und gröber, als ich die Briefe eines ultramontanen Abgeordneten veröffentlichte. Ich war nicht wehleidig und konnte es verstehen, daß mir aus dem Zentrumswalde kein liebreiches Echo entgegenschallte, aber imposant fand ich die mächtigen Gebieter des Landes nicht, die so wenig innerliche Stärke bei so viel äußerlicher zeigten.

Wenn wir im Januar 1906 bei Gründung der Gesellschaft geglaubt hatten, daß nunmehr ein lange dauerndes gemeinsames Schaffen gesichert wäre, so zeigte uns das Schicksal wenige Jahre später, daß sich auf die Zukunft nicht bauen läßt.

Seit 1907 kränkelte Wilke, im November 1908 starb er an einer Lungenentzündung.

J. B. Engl war ihm vorausgegangen, und Ende April 1909 folgte ihm Albert Langen, dessen Leiche Ferdinand von Reznicek nach Köln überführte. Vierzehn Tage darauf starb auch er in einer Münchner Klinik an Magenblutung.

Wilke war vierunddreißig Jahre alt, Langen neununddreißig, Reznicek vierzig; allen dreien schien nicht nur das blühende Alter, sondern auch Kraft und Gesundheit langes Leben zu verbürgen. Wilke allerdings, dessen Stärke und Gewandtheit einmal vorbildlich waren, hatte uns schon ein Jahr vor seinem Tode Grund zu Befürchtungen gegeben, aber ganz unvermutet kam das Ableben Langens und Rezniceks.

Dieser war der typische Österreicher von guter Familie; taktvoll, liebenswürdig, heiter, in Manieren wie im Charakter vornehm. Ich habe ihn nie laut oder heftig gesehen, und ich glaube, er wäre gegen Brutalität völlig hilflos gewesen. Die Grazie, die seine Zeichnungen auch denen, die herbere Kunst schätzen, wertvoll machte, lag in seinem Wesen.

Von den Künstlern, die durch den Simplicissimus und die Jugend bekannt wurden, war er sogleich der populärste, und er ist es geblieben.

Daß er, verhätschelt und umworben, von Eitelkeit völlig frei blieb und ganz und gar nicht zügellos lebte, bewies seinen wirklichen Wert, den nur die anzweifelten, die ihn nicht persönlich kannten. Die Art und das Gegenständliche seiner Kunst veranlaßten manchen Sittenrichter, der sehr unangefochten leben konnte, in dem guten Ferdinand von Reznicek einen Wüstling zu vermuten, und zuweilen wurde ihm das auch gedruckt unterbreitet.

Derlei Vorwürfe verletzen die Ehre der Männer nicht, vielen erscheinen sie so schmeichelhaft, daß sie sie mit diskretem Lächeln entgegennehmen, Reznicek aber blieb davon unberührt. Er war weder der »verfluchte Kerl«, noch wollte er es zu sein scheinen.

Ohne Launen, immer aus dem Herzen heraus liebenswürdig, hilfsbereit und empfänglich für jede heitere Stimmung, war er der beste Kamerad, in dessen Gegenwart Mißmut nie aufkommen konnte.

Krankheit und Tod lassen den Charakter eines Menschen erst recht erkennen.

Alle drei, Wilke, Langen und Reznicek, haben die härteste Prüfung würdig bestanden, und sie sind ohne zweckloses Klagen tapfer gestorben, und die letzten Dinge waren für die Art eines jeden von ihnen bezeichnend.

Wilke lehnte sich mit einer unmutigen Gebärde gegen den Tod auf; als er auf dem Krankenlager in seiner Heimatstadt Braunschweig fühlte, daß es zu Ende gehe, sagte er nur: »Das ist dumm.«

Und es war töricht, daß ein genialer Mensch, als er sein Bestes erst noch zu geben hatte, weg mußte.

Langen traf ruhig Anordnungen über seinen Nachlaß, und von dieser Sorge befreit, dankte er höflich lächelnd dem Anwalte, der das Testament aufgesetzt hatte; keine Klage, kein wehleidiges Wort entschlüpfte ihm.

Reznicek, der sich in einer Klinik operieren lassen wollte, schrieb mir zwei Tage vor seinem Tode, daß er der Sache mit der üblichen Fassung entgegensehe; als dann ein heftiger Blutsturz jede Hoffnung vereitelte, bat er den Arzt, daß er ihm nach dem Ableben das Herz mit einer Nadel durchstechen solle, und bestellte Grüße an uns alle.

Der Tod dieser drei Männer, wie der von J. B. Engl, war ein harter Schlag für den »Simplicissimus«, und wenn er auch überwunden wurde, so bleibt es doch wahr, daß Künstler wie Wilke und Reznicek unersetzlich waren.

Mit der Erinnerung an sie soll das Buch enden; durch ihr Hinscheiden waren Lücken in den einst so fröhlichen Kreis gerissen, die nichts mehr schließen konnte, und manche Änderung, die eintrat, läßt mich in jenen Ereignissen den Abschluß einer heiteren, erfolgreichen Zeit sehen.

Spätere Erlebnisse haben kaum mehr Einfluß auf mein Schaffen gehabt; was nun kam, war Arbeit und Ernte, kein Kampf mehr ums Werden.

Das Schicksal des Vaterlandes hat fast alle Zusammenhänge zwischen damals und heute zerrissen; es führt keine Entwicklung aus jener nahen Vergangenheit, die uns doch so weit entrückt wurde, herüber.

Ich fühle mich umso mehr vereinsamt, als ich alles, was sich heute in der Literatur, in der Kunst, in der Politik lärmend vordrängt, verabscheue.

In dieser Zeit, in der das Ungeheuerlichste alltäglich wurde, haben unbeschäftigte Gemüter Muße gefunden, dem »Simplicissimus« wie mir persönlich vorzuwerfen, daß wir im Kriege unsere Ansichten geändert, unsere einmal heftig verfochtenen Grundsätze aufgegeben hätten.

Es ist ein Laster politisierender Spießbürger, im Festhalten an einer Meinung ein Verdienst zu erblicken.

Es liegt im Lernen und im Bekennen.

Und zudem ist der Vorwurf unbegründet.

Im »Simplicissimus« sind wir alle – ich weder allein, noch vorzugsweise – für die Erhaltung des Friedens eingetreten, wir haben ohne ängstliche Rücksichten das persönliche Regiment mit seinen schädlichsten Begleiterscheinungen, dem aufdringlichen Reden, der Heldenpose, der Gottähnlichkeit, der Operettenpolitik, dem Mangel an Verantwortlichkeitsgefühl, angegriffen, wir haben das rückgratlose Philistertum, die verlogene Phrase, wir haben jede Schnoddrigkeit und Selbstgefälligkeit bekämpft, aber als der Krieg da war, gab es nichts mehr als das Schicksal des eigenen Landes.

War es ein Fehler, daß wir ebensowenig blind waren gegen das Heldentum des deutschen Volkes wie gegen den giftigen Haß der Feinde?

Oder war es ein Verbrechen, Vertrauen zu haben, wenn Mißtrauen und Zweifel nur Verwirrung anrichten konnten?

Wer das heute behauptet und alle Meinungen hinterher nach dem endlichen Ausgange korrigiert haben will, ist doch nur ein Schwätzer, und sein Tadel trifft nicht hart. Ich glaube heute, was ich immer geglaubt habe, daß auf dem Boden der alten Gesellschaftsordnung recht wohl die Reformen zu erreichen waren, die das Glück und die Größe Deutschlands sichergestellt hätten.

Der Kampf für sie mußte am 1. August 1914 nicht aufgegeben werden, aber er mußte aussetzen, und Schweigen war Pflicht.

International zu empfinden, gerecht gegen die verderblichsten Feinde zu sein, war nie in meiner Natur gelegen, und es fiel mir wirklich nicht schwer, ihnen den Untergang, Deutschland aber den vollen Sieg zu wünschen.

So mag sich, wer will, über meine Wandlungen und meine Wandlungsfähigkeit aufregen.

Von dem Drucke, den ich wie alle nach dem Zusammenbruche des Vaterlandes auf mir lasten fühle, suchte ich und fand ich zeitweilige Befreiung in der Erinnerung an die Vergangenheit.

Ich habe dem Schicksal für vieles dankbar zu sein, am meisten für eine Jugend, in der ich wie in frischen Quellen Erquickung finde, und die mir durch das Andenken an die Eltern verschönt bleibt.

In dem schlichten Wesen meines redlichen Vaters zeigt mir jeder Zug die staubfreie, aller Engherzigkeit abholde Art des Forstmannes vom alten Schlage.

Ich war noch ein Kind, als er starb, und ich lernte ihn lieben aus der Schilderung, die mir meine Mutter von ihm gab; sie hatte seinen gütigen, alles exaltierte Empfinden ausschließenden Humor um so besser würdigen können, als er in ihrer heiteren Natur den schönsten Widerklang gefunden hatte.

Ihr Leben ist Mühe und Arbeit und Freude daran gewesen. Als ihr nach dem Tode meines Vaters die Sorge für sieben unmündige Kinder überlassen blieb, bei einer Witwenpension von nicht ganz hundert Mark im Monat, griff sie tapfer zu und pachtete den Gasthof »Zur Kampenwand« in Prien.

Zu unserer Erziehung hatte sie kein anderes Mittel als ihre Herzensgüte; Schärfe lag nicht in ihrem Wesen, aber ebensowenig blinde Liebe, die sich an Fehlern ergötzt oder darüber wegsieht.

Ihr überlegener, ganz auf Tüchtigkeit gerichteter Verstand ließ sie manches heitere, treffende Wort finden, das einen jungen Menschen von verstiegenen Ansichten heilen mußte. Wie wertvoll ihr gesundes Urteil war und was es bedeutete, daß sie nie landläufige Meinungen nachsprach und nie Redensarten gebrauchte, das lehrte mich erst das Leben verstehen.

Ich habe späterhin zuweilen gehört, wie dieser und jener Wunsch nach Zerstreuung und Vergnügen berechtigt sei, ich habe erfahren, daß eine gewisse Bildung verschiedene Ansprüche erfüllt sehen müsse, um fortdauern zu können; meine Mutter hat nie Ansprüche gestellt, und doch besaß sie eine Herzensbildung, die ihr Leben wie das ihrer Kinder verschönte. Ich durfte in meiner Jugend das hohe und bleibende Glück genießen, an ihrem Beispiele den Segen eines bescheidenen Sinnes kennenzulernen.

Den Schatz, der in der Erinnerung an edle Eltern liegt, hat mir ein gütiges Geschick verliehen.

Und auch dafür bin ich ihm dankbar, daß es mich in die engste Heimat zurückgeführt hat.

Aus den Fenstern meines tegernseer Hauses sehe ich zu den Bergen hinüber, die das lenggrieser Tal einschließen, und sie tragen vertraute Namen; in den Wäldern, die sich an ihren Hängen hinaufziehen, lief ich neben meinem Vater her, und das stille Forsthaus, in dem ich die Kinderzeit verlebte, liegt nicht allzuweit von hier. Wo ich auch war, und was mir das Leben auch gab, immer hatte ich Heimweh danach, immer regten sich in mir Neigungen, die aus jenen frühesten Eindrücken herstammen.

Viele Wünsche gingen mir in Erfüllung, anders und schöner, als ich erwartet hatte, auch der Wunsch, der am tiefsten in mir wurzelt: hier leben und schaffen zu dürfen.

Je enger sich der Kreis von Ausgang und Ende schließt, desto stärker empfinde ich es, wie darin das beste Glück enthalten ist.

Um mich ist Heimat.

Und ihre Erde kann einmal den, der sie herzlich liebte, nicht drücken.

*


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