Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Vorfahren meines Urgroßvaters waren Klosterjäger bei den Zisterziensern in Waldsassen; einer von ihnen wird um 1618 im Pfarrbuche als Venator regius aufgeführt und war demnach ein Jagdknecht des böhmischen Winterkönigs Friedrich, der als Kurfürst von der Pfalz das schon im Jahre 1560 säkularisierte Kloster Waldsassen mit seinem riesigen Waldbesitze von seinen Vorgängern übernommen hatte. Erst nach einem vollen Jahrhundert, um 1669, wurden die Zisterzienser wieder in ihre Rechte eingesetzt, und die Klosterjäger Thoma fanden wohl genug Ursache zu Verdruß und Streit mit den rauhhaarigen Hintersassen, die sich nur langsam an Gesetz und Recht gewöhnten. Schon 1525 hatte der Pfälzer Kurfürst mit grobem Eingriff in die Machtsphäre der Abtei den Bauern die Jagd freigegeben, die sie wie überall und immer mißbräuchlich ausnützten.
»Die Äcker lagen brach, auf den Wiesen flog der Wald an, und die Bauern taten nichts mehr als jagen,« erzählt der Chronist.
Allmählich mag's wieder besser geworden sein, denn als am 4. September 1786 Herr Wolfgang von Goethe auf seiner Fahrt nach Italien von Karlsbad her durchreiste, fand er in dem Stifte Waldsassen ein »köstliches Besitztum der geistlichen Herren, die früher als andere Menschen klug waren«. Vielleicht stand unter irgendeinem Torbogen der noch nicht zwanzigjährige Sohn des Joseph Adam Thoma und sah die Eilkutsche vorüberrollen, in der der Olympier saß und sich freute, daß ihm die heimliche Abreise so wohl gelungen war.
Die Begegnung ließe sich einbilden, denn mein Urgroßvater hielt sich dazumal in Waldsassen auf. Über ihn, den Geheimen Oberforstrat Joseph Ritter von Thoma, besitze ich genauere Nachrichten aus Familienpapieren und aus dem Buche von Dr. Heß: »Lebensbilder hervorragender Forstmänner«.
Er wurde in Waldsassen im Januar 1767 geboren – genau hundert Jahre vor mir –, trat 1791 in kurbayrische Dienste, kam 1799 nach München als Rat der Landesdirektion Bayerns und trat 1817 an die Spitze der bayrischen Forstverwaltung.
In dieser Stellung verblieb er bis 1849.
Er heiratete Sabina Freiin von Heppenstein und führte mit ihr eine glückliche, mit Kindern gesegnete Ehe.
»Er starb,« heißt es bei Heß, »an demselben Tage, an welchem der König das Dekret über die von ihm erbetene Versetzung in den Ruhestand unter Anerkennung seiner großen Verdienste durch Verleihung des Komturkreuzes des Verdienstordens der bayrischen Krone unterzeichnete.
Am 7. Mai 1841 hatte er unter großer und freudiger Teilnahme der Forstbeamten im ganzen Königreiche sein 50jähriges Jubiläum begangen.«
Als sein hervorragendes Werk wird ihm die Forstorganisation von 1822 nachgerühmt, durch welche erst die Einheit der bayrischen Forstverwaltung geschaffen wurde, und die in ihren Grundzügen bis 1885 erhalten blieb. Auch als Jäger genoß er hohes Ansehen, und als um 1841 die Verhältnisse in der Leibgehegsjagd zu starken Klagen Veranlassung gaben, wandten sich die Revierförster und Jagdgehilfen vertrauensvoll an meinen Urgroßvater, der Abhilfe schuf.
Der König verlangte von ihm ein Gutachten über einen passenden Vorstand der Hofjagd-Intendanz. Es handelte sich um zwei Bewerber, Forstmeister Kaltenborn von Freising und Forstmeister Reverdys von Berchtesgaden, die beide ihre Laufbahn als königliche Leibjäger begonnen hatten, dann Revierförster und Forstmeister geworden waren.
Nach der in unserer Familie erhaltenen Überlieferung war mein Urgroßvater ein stattlicher Mann von würdevollem Wesen, gütig, wortkarg, doch geselligen Freuden nicht abgeneigt, ein eifriger Jäger bis ins hohe Alter und ein geschätzter Musiker.
Ich besitze eine nach der Natur gezeichnete Lithographie von ihm, die von der hohen Porträtkunst jener Zeit ein sprechendes Zeugnis ablegt.
Das kräftig geschnittene Gesicht, an dem die hohe Stirn und ein Paar kluge, versonnene Augen auffallen, zeigt keinen bürokratischen Zug und ließe in ihm, wenn die Unterschrift fehlte, einen Künstler vermuten.
Sein ältester Sohn, mein Großvater Franz Thoma, war viele Jahre Forstmeister in Schongau und hatte ausgedehnte Jagdreviere, die vor dem Jahre 1848 sehr wildreich waren; ein alter Jagdgehilfe von ihm, der in Oberammergau im Ruhestande lebte, erzählte mir davon Wunderdinge, und wenn auch einiges Latein gewesen sein mag, so blieb noch genug Wahrheit übrig, um mir zu zeigen, daß damals das goldene Zeitalter der Jäger war. Bei den Treibjagden mußten die Bauern noch Dienste leisten, und die Beute war so groß, daß man etliche Leiterwagen zum Heimschaffen brauchte. Das berühmte Freiheitsjahr brachte das große Schinden und die Vernichtung des Wildstandes auf lange Zeit hinaus; es war kaum mehr Übertreibung, wenn die »Fliegenden Blätter« einen Förster zeigten, der im Tiergarten den letzten Rehbock im Käfig betrachtete.
Die Verwüstung seiner Jagd griff meinem Großvater ans Herz, und er mochte nicht mehr in den ausgeschossenen Revieren bleiben.
Er gab um Versetzung ein und kam nach Kaufbeuren, wo der spätere Ministerialrat August von Ganghofer, der Vater Ludwig Ganghofers, sein Aktuar wurde.
Meine Mutter wußte mir viel Freundliches von ihrem Schwiegervater, der sie sehr geschätzt haben muß, zu erzählen. Er war ein temperamentvoller Herr, und meine Neigung zum Jähzorn soll ich von ihm geerbt haben, aber für gewöhnlich zeigte er eine gewinnende Fröhlichkeit, und ein Schreiben der Bürger Schongaus, die ihrem Forstmeister zum 25jährigen Jubiläum gratulierten, rühmt ihm besonders Herzensgüte gegen Arme nach.
Meine Mutter hieß ihn einen Kavalier von der alten Schule, ohne mir den Unterschied von den neueren zu erklären, und meine Tante Friederike, die als »königliche Forstmeisterstochter älterer Ordnung« erst vor einigen Jahren im Damenstifte Neuberghausen starb, rühmte ihrem Vater peinliche Akkuratesse in der äußeren Erscheinung nach.
Im Jahre 1862 starb er. Seine Witwe, Henriette Thoma, lebte bis 1871 in Lenggries, treu und liebevoll behütet von ihrem ältesten Sohne Max, der in der nahen Vorder-Riß als Oberförster hauste.
Er war mein Vater.
Aus seinen Zeugnissen und Briefen entnehme ich, daß er im November 1842 die Universität München bezog. Dort hat sich der »lange Thoma« einen guten Namen als Schläger gemacht und Proben einer ungewöhnlichen Körperkraft abgelegt, sonst aber sich so geführt, daß ihm Anno 1845 der Rektor Dr. Döllinger urkundlich bestätigen konnte, »es liege hierorts nichts Nachteiliges gegen ihn vor«.
Er bestand die theoretische Prüfung der Forstkandidaten und wurde zur praktischen Vorbereitung auf den höheren Forstdienst zugelassen. Drei Wochen später wurde ihm von seinem Forstmeister und Vater Franz Thoma eröffnet, daß ihm die »Praxisnahme auf dem Forstreviere Hohenschwangau« gestattet sei, und daß er für diese Eröffnung einen Taxbetrag von 34 Kreuzern zu erlegen habe.
Im Januar 1846 wurde er zum Verweser des Gehilfenpostens beim Reviere Wies mit einer »Remuneration von täglich 15 Kreuzern« gnädigst bestimmt und avancierte dann zum wirklichen Forstgehilfen in Thierhaupten, später in Peißenberg.
Als Aktuarsverweser in Ettal bezog er bereits im Jahre 1847 eine Taggebühr von 45 Kreuzern und bewies allezeit die Wahrheit des Sprichwortes: Mit wenigem lebt man wohl.
Er galt als guter Jäger und Kugelschütze. Dagegen scheint er beim Trinken Zurückhaltung beobachtet zu haben. Ein Freund macht ihm brieflich diesen Vorwurf, woraus ich schließe, daß man damals den Fehler als ungewöhnlich rügen durfte.
In Tölz, wo der Forstgehilfe Max Thoma zu Forsteinrichtungsarbeiten im Jahre 1852 weilte, zeigte man mir in einer Weinstube noch zu Anfang der achtziger Jahre eine Kneipzeitung, die er mit Text und Karikaturen ausgestattet hatte.
Er lachte gerne und ließ sich keine Mühe verdrießen, um einen Spaß von langer Hand her vorzubereiten und sorgfältig durchzuführen.
Man war damals harmlos und fröhlich in Altbayern, gemessener im Ernste, derber im Scherze als heute. Bei Scheibenschießen und Jagden war lustige Neckerei nicht bloß gern gesehen; sie galt als notwendige Würze der Geselligkeit.
Der Liebreiz jener Zeit ist uns erhalten geblieben in den klassischen Zeichnungen Max Haiders, der Hofjagdgehilfe war, bevor ihm König Max die Mittel zur künstlerischen Ausbildung gewährte.
Das Sturmjahr 1848 ist, wie es mir scheinen will, an meinem Vater vorübergegangen, ohne ihn in seinen Tiefen aufzuwühlen.
Er war stark angefärbt von dem Humor, der damals die Gestalten des Barnabas Wühlhuber und des Kasimir Heulmaier in den Fliegenden Blättern schuf, und seiner ruhigen, festen Art sagten die Aufläufe der Philister vor dem Hause der Lola Montez so wenig zu wie die mit Tiraden gespickten Flugblätter.
Im übrigen konnte dem jungen Forstmanne das, was er zunächst vor Augen hatte, nicht als neuer Segen erscheinen.
Anno 1857 wurde er zum Revierförster in Piesenhausen, Forstamt Marquartstein, ernannt und heiratete Katharina Pfeiffer, eine Tochter der Schwabenwirtseheleute von Oberammergau.
*
Die Familie Pfeiffer, früher in Oberau ansässig und begütert, stand in gutem Ansehen. Damals waren Gastwirte Respektspersonen in der Gemeinde, die ihr Gewerbe neben der Landwirtschaft trieben und sich um des Fremdenverkehrs willen nichts vergaben.
Sie hielten scharfes Regiment im Hause aufrecht und litten keine Unordnung.
Der Schwabenwirt, ein kurz angebundener Mann, galt etwas und brachte sich vorwärts, unterstützt von einer braven Frau, die zuweilen bei so hohen Gästen wie König Max Ehre mit ihrer Kochkunst einlegte.
Es war selbstverständlich, daß die Töchter bei jeder häuslichen Arbeit mithelfen mußten, in Küche und Keller wie in der Gaststube.
Die Kinder sagten zu jener Zeit »Sie« zu den Eltern, und der Verkehr in der Familie bewegte sich in gemessenen Formen, die keine unziemliche Vertraulichkeit oder Unbescheidenheit aufkommen ließen.
Ein Brief, in dem meine Mutter als sechzehnjähriges Mädchen ihre Eltern um Beisteuer zu einem Sommerkleide bittet, zeigt nach Stil und Inhalt so viel altväterliche, strenge Zucht, daß man versucht ist, ihn sehr viel weiter zurückzudatieren.
Sie hielt sich damals in München auf, um sich nach gutem Brauche in einem renommierten Gasthause in der Kochkunst zu vervollkommnen. Es galt als Vorzug, daß sie diese Lernzeit bei Grodemange verbringen durfte.
Was sie hier sah und lernte, trug sie säuberlich in ein dickes Heft ein. Gedruckte Kochbücher hatten damals wenig Geltung, und ich habe heute noch das stärkere Vertrauen zu jenen geschriebenen Rezepten, die ich als Erinnerungen aufbewahre.
Nach einem halben Jahre kehrte meine Mutter freudig zurück. Sie hing zeitlebens mit allen Fasern an ihrem Heimatdorfe und an ihrer älteren Schwester Marie, die in jungen Jahren den k. Posthalter und Verleger Eduard Lang heiratete, früh Witwe wurde und die auf uns Kinder durch ihre vornehme, stille Art einen unvergeßlichen Eindruck machte.
Die Schwabenwirtstöchter, deren jugendliche Anmut mir eine Daguerreotypie zeigt, fanden neben ihrer Arbeit immer noch Zeit, ihren Geist zu bilden, und wenn sie nicht allzuviel lasen, so lasen sie ganz gewiß nie einen seichten Roman.
Man ergötzte sich gemeinsam mit Gleichstrebenden an einem guten Buche, und ein studierender Jüngling konnte sich in den Ferien hohe Anerkennung erwerben, wenn er seine erst kürzlich erworbenen Kenntnisse in literarhistorischen Bemerkungen zu »Werthers Leiden« oder zu »Hermann und Dorothea« zeigte. Man las neben einigen Klassikern auch Stifters Studien, dies und jenes von Jean Paul, und man führte darüber empfindsame Gespräche, bei denen die Mädchen wohl nur die Zuhörerinnen abgaben.
Dies alles bewegte sich in bescheidenen Grenzen, führte nicht zu Überklugheit und förderte eine wirkliche Herzensbildung.
Wie das im lieben Deutschland üblich ist und war, mußten auch in Oberammergau gleichgestimmte Naturen einen Verein gründen zur Pflege ihrer Ideale, oder der Liebe zum »Guten, Wahren und Schönen«, wie man damals sagte.
Der Verein erhielt den Namen »Ambronia« mit Beziehung auf den lieblichen Fluß, der sich durch das Tal schlängelt.
Hochstrebende Jünglinge, die später als Notare, Ärzte und geistliche Räte im Vaterlande wirkten, schlossen den Bund, dem auch bildungsfrohe Mädchen beitreten durften.
Wer sich geneigt fühlt, darüber zu lächeln, der lege sich die Frage vor, wo heute noch in einem kleinen, abgelegenen Dorfe eine solche Vereinigung zustande kommen könnte, und ob in diesem Streben nicht ein gesünderer Kern steckte als im Literaturklatsch und in den Moderichtungen unserer größeren Städte.
Im übrigen war Oberammergau in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ein geeigneter Platz für solche Neigungen und Ziele.
Es saßen weitgereiste Leute dort, denn ein reger Handel mit Schnitzereien, nicht zuletzt mit den reizvollen Spielwaren, ging durch ganz Europa und auch über See. Mancher hatte sich tüchtig in der Welt umgetan und den Wert gediegener Bildung schätzen gelernt, aber jeder fühlte sich erst wieder glücklich, wenn er heimgekehrt war und behaglich im Ampergrunde zu Füßen des Kofels saß.
Unter den Schnitzern gab es vortreffliche Künstler, die, weil sie sich zu bescheiden wußten, Vollendetes leisteten. Sie alle haben ihr Können der gemeinsamen Aufgabe, dem Passionsspiele, gewidmet, und dieses stand damals in seiner schönsten Blüte, denn im ganzen und in jeder Einzelheit zeigte es die aus traditioneller Kunstfertigkeit hervorgegangene Eigenart, die es später im Großbetriebe mit den von auswärts bezogenen echten Dekorationen und Kostümen verloren hat.
Die Hingabe der Gemeinde an den »Passion«, den Ruhm der Heimat, war damals frei von ungesunden Spekulationen, von Hoffnungen auf unmäßigen und leichten Gewinn.
Erst der Zustrom des englischen und des noch schlimmeren amerikanischen Sensationspöbels hat das Bild verändert.
Aber jene älteren Generationen von Aposteln und Jüngern des Herrn richteten ihr Leben ein wenig nach dem Stile ihres heiligen Spieles ein und zeichneten sich durch Wohlanständigkeit aus. Sie handelten und redeten mit einiger Getragenheit und ließen sich von dem Bewußtsein leiten, daß sie auf einem Podium stünden und von vielen beachtet würden.
Im Glauben an den besonderen Beruf des Ammergauers, der das Gefühl einer engen Zusammengehörigkeit stärkte, war man glücklich und zufrieden.
Mit den kleinen, typischen Häusern, die im Erdgeschosse eine Stube hatten, von der aus hinterm Ofen eine Stiege in die obere Kammer führte, ist auch anderes verschwunden.
Ich darf einer edlen Persönlichkeit nicht vergessen, die von größtem Einflüsse auf das patriarchalische Leben in der Gemeinde war und ihm ein besonderes Gepräge gab.
Ich meine den geistlichen Rat Joseph Aloys Daisenberger, der manches Jahrzehnt Pfarrer in Oberammergau war und als hoher Achtziger dort starb. Von ihm ist die gegenwärtige Fassung des Passionsspieltextes sowie eine vortreffliche Geschichte des Dorfes, die man im 20. Bande des Oberbayrischen Archives findet. Außerdem hat der würdige Herr einige vaterländische Schauspiele verfaßt, die seinen Ammergauern Gelegenheit boten, ihre schauspielerischen Talente zu üben.
Ich habe noch eines gesehen und dabei meinen Onkel Hans Lang als ritterlichen Herzog von Bayern ziemlich lange Sätze sprechen hören.
Daisenberger war das Urbild eines gütigen Priesters, über dessen Lippen nie ein hartes Wort kam, nie ein unduldsames, und der mit einem stillen Lächeln es ruhig dem Leben überließ, stürmische Meinungen zu glätten.
Er kümmerte sich nicht um Ansichten, sondern um das Schicksal eines jeden, er war Freund und Vater in jedem Hause, immer bereit, zu helfen.
Die Gemeinde hat ihm auf dem Friedhofe ein Denkmal errichtet.
Die wohlgetroffene Büste ist von dem Bildhauer Otto Lang modelliert, der als Sohn des Mühlbartl Sebastian aus einer alten Ammergauer Schnitzerfamilie stammt.
Mehr noch als das Denkmal ehrt den edlen Daisenberger die Erinnerung an ihn als den Schutzgeist Ammergaus, eine Erinnerung, die manches wohltätige Beginnen veranlaßte und ihm die rechte Weihe gab.
Ich habe den alten Herrn noch gut gekannt.
Wenn meine Mutter zu Besuch im Verlegerhause weilte, durfte ich ihm die »Augsburger Abendzeitung« bringen, die er täglich von meinen Verwandten erhielt.
Er hatte stets ein gutes Wort für mich, den er getauft hat; ein Umstand, der meiner Mutter zur Hoffnung und Beruhigung diente, wenn es bei mir im Aufwachsen nicht immer schnurgerade nach oben ging.
Weil ich nun das Denkmal Daisenbergers erwähnte, will ich beifügen, daß auch dem Altbürgermeister Oberammergaus, meinem Oheim Hans Lang, dem viel gerühmten Kaiphas des Passionsspieles, ein solches errichtet werden soll, das wiederum Otto Lang modelliert und in München zur Ausstellung gebracht hat.
Es wird ausgeführt werden, wenn es wieder Bronze für diese Zwecke geben wird.
Der Bürgermeister Lang hat es wohl verdient um sein Heimatdorf, das für ihn die große und kleine Welt gewesen ist. Ich glaube nicht, daß irgend ein Ereignis auf dem Theatro mundi, über das er sich weltklug zu verbreiten wußte, sein Inneres je so gewaltig aufregte, wie etwa die Besetzung der Rollen im Passion, und kein Eingriff in die Menschenrechte konnte ihm so verbrecherisch erscheinen wie der Versuch, den Text des Spieles zu ändern und dem modernen Empfinden anzupassen.
Ein Versuch, den eingewanderte Schöngeister mehrmals unternehmen wollten.
Aber dagegen erhob sich immer der Zorn des Volkes, und Kaiphas führte eine so drohende Sprache wie vor dem Statthalter Pontius Pilatus.
Er war ein behaglicher und braver Mann, mit einem lebhaften Temperament begabt, gescheit und bildungsbeflissen, der als Jüngling in der Ambronia aus dem Wissensquell schöpfte, als Mann jedem törichten Zwange abhold blieb und sich, während er sich gerne unterrichtete, doch nach dem Goetheschen Rezept auf das Nächste beschränkte und Tüchtiges leistete.
Ammergau darf sich glücklich schätzen, wenn es auch künftig Männer findet, denen die Heimat so viel und alles gilt wie ihm.
Den Mittelpunkt im Dorfe, wie den Mittelpunkt im Leben vieler mir teurer Menschen, bildete das Verlegerhaus von Georg Längs sel. Erben.
Wie ich schon oben erwähnte, ging früher, besonders im 18. Jahrhundert, der Handel mit Ammergauer Waren durch ganz Europa, wie auch nach Nord- und Südamerika. In vielen Städten des Auslands bestanden Handelshäuser und Niederlagen der Ammergauer, so in Kopenhagen, Petersburg, Moskau, Amsterdam, Cadix, Lima u. a., und der Ammergauer Kraxenträger ging seine Wege durch vieler Herren Länder.
Das Sterbebuch der Gemeinde weist nach, daß überall in der Welt Leute aus dem Dorf tätig waren, bis sie ferne von der Heimat starben. Zur Zeit der Napoleonischen Kriege stockte der Handel, die Niederlagen im Auslande wurden größtenteils aufgegeben. Dafür wurden in Ammergau selbst Verlagshäuser gegründet, das bedeutendste von Georg Lang.
Dessen Sohn Johann Lang hat nach 1815 als rühriger und umsichtiger Geschäftsmann den Handel wieder in Flor gebracht, sich selber einen großen Wirkungskreis geschaffen und eine sichere Existenz gegründet.
Das hätte auch dem Fremden und Uneingeweihten das stattliche Haus verraten. Wie es dastand mit weit ausladendem Schindeldache, darauf die großen Steine, nur zwei Stockwerke hoch, aber in die Länge gedehnt, glich es einem behäbigen Bauernhofe, und dem Eintretenden sagten schon die prachtvolle geschnitzte Tür mit Handelsemblemen, der gewölbte Gang, die breite Treppe, daß er sich in einem ansehnlichen Bürgerhause befinde.
Gute Stiche schmückten die Wände des Treppenhauses und der in schönen Verhältnissen angelegten Zimmer und vermittelten den Eindruck, daß sich einige Generationen hier mit Geschmack wohnlich eingerichtet hatten. Zu ebener Erde waren ineinandergehend vier geräumige Läden, in denen mit Rokokoornamenten verzierte Glaskästen standen, die manches wertvolle Stück der Ammergauer Kunst enthielten.
Zwei Läden waren angefüllt mit Spielwaren, Puppen, Pferden, Botenfuhrwerken, Bogen und Pfeilen, Armbrusten, Hampelmännern und vielem anderen.
Man stelle sich einen Knaben vor, der, aus der Risser Einsamkeit kommend, plötzlich vor diesen angehäuften Herrlichkeiten stand, und man wird verstehen, wie heute noch der Eindruck in mir so stark nachlebt, daß für mich das Verlegerhaus der Inbegriff einer schönen Behaglichkeit geblieben ist.
Zu Anfang der fünfziger Jahre hatte Eduard Lang, der Sohn von Johann Lang, Anwesen und Geschäft übernommen und die Schwester meiner Mutter geheiratet.
Er muß ein edler, liebenswerter Mensch gewesen sein, denn noch viele Jahre nach seinem Tode – er starb schon 1859 – war die Erinnerung an ihn im Dorfe wie in der Familie lebendig. Meine Mutter hat mir oft die Redlichkeit seines Charakters und seinen feurigen, begeisterungsfähigen Sinn gerühmt.
Seine Witwe, der die Sorge für sechs Kinder oblag, blieb zeitlebens eine stille Frau, die ich immer ernst sah; sie genoß in ungewöhnlichem Grade Liebe und Verehrung, nicht zuletzt vonseiten meiner Mutter. Ein verhaltener, gedämpfter Ton von Trauer blieb an dem Hause haften; nicht so, daß er störend gewirkt hätte, aber doch so, daß kein lautes Wesen aufkommen konnte.
Behaglich blieb es bei alledem, und wenn der Herr Oberförster aus der Riß zu Besuch kam und im Kreise der vielen älteren und jüngeren Damen seine lange Pfeife rauchte – eine bemerkenswerte Vergünstigung –, dann gab es auch lebhafte Fröhlichkeit.
Mein Bruder und ich haben als junge Holzfüchse erfahren, wie viele erzieherische Talente in erwachsenen Kusinen stecken, denn sie verwandten einige Mühe auf die Glättung unserer Manieren.
*
Aus einem anregenden Kreise, in dem sie wohl gelitten war und herzliche Freundschaft gefunden hatte, trat meine Mutter im Jahre 1857, um ihrem Ehemanne nach Piesenhausen bei Marquartstein zu folgen.
Mein Vater hatte nach Pflicht und Brauch beim König Max um eine Audienz nachgesucht, und meine Mutter erzählte mir noch viele Jahre später mit Lächeln und Erröten, daß der König ihm zur Wahl der Gattin Glück gewünscht und gesagt habe, er sehe wohl, daß seine Revierförster einen ausgezeichneten Geschmack verrieten.
Der König kam fast alljährlich nach Ammergau, und da mochte es wohl geschehen sein, daß ihm beim festlichen Willkommen die Töchter des Schwabenwirtes Blumensträuße überreicht hatten.
Daß er sich daran erinnerte und dem jungen Forstmanne diese herzliche Freude bereitete, zeigte seine Güte und seinen Takt, die ihn, wie der alte Riehl erzählt, ganz besonders auszeichneten und ihm alle Herzen gewannen.
In Piesenhausen wohnten meine Eltern mehrere Jahre in glücklicher Ehe, der zwei Kinder, mein Bruder Max und meine Schwester Marie, entsprossen.
Mein Vater fand alles Behagen am häuslichen Herd; es ist ihm treu geblieben, und er hat es wohl zu würdigen gewußt.
Ein wertgeschätzter Freund wurde ihm der Pfarrer von Grassau, der ein passionierter Jäger war und einer von den prächtigen geistlichen Herren, die Max Haider verewigt hat. Man erzählte von ihm, daß er einmal beim Messelesen die Wandlung vergessen habe, weil vor der Kirche das Jagdhorn zum Aufbruch blies. Ich habe aber die Geschichte so oft über den und jenen Pfarrer erzählen hören, daß ich sie für erfunden halte. Sie war wohl bezeichnend für den Jagdeifer der Herren.
Die schärfere Richtung, die später kam, hat den harmlosen Freuden ein Ende gemacht, und sie hat, wie mir erzählt wurde, dem geistlichen Rat in Grassau weh genug getan.
Als er schon hochbetagt war, hetzte ein junger Kooperator die Bauern gegen ihn auf, indem er seinen Eifer oder gar seine Rechtgläubigkeit in Zweifel zog, und es fanden sich wirklich Leute, die dem gütigen Manne bei einer Katzenmusik die Fenster einwarfen zum Danke für viele Wohltaten, die er den Armen erwiesen hatte.
Damals aber, in den fünfziger und sechziger Jahren, freute man sich an den Pfarrern, die fröhliche Junggesellen waren, jeden Spaß in Ehren gelten ließen und sich beim Scheibenschießen und Jagen offenbar tüchtig zeigten.
Denn in allen Darstellungen spielt der Hochwürdige niemals etwa so wie der Landrichter, Assessor oder Lehrer eine komische Figur.
Im Jahre 1861 wurde mein Vater als Revierförster nach Partenkirchen versetzt.
Er hatte darum nachgesucht, wohl auch auf Bitten meiner Mutter, die sich glücklich fühlte, als sie wieder ins Werdenfelser Land und in die Nähe der Ammergauer Heimat kam.
Während der vier Jahre, die meine Eltern in Partenkirchen blieben, gab es vornehmlich zwei Ereignisse, von denen uns später erzählt wurde. Das eine war der große Brand, bei dem die Hälfte des enggebauten Dorfes in Asche gelegt wurde, und das andere die berühmte letzte Bärenjagd im Wettersteingebirge.
Sie ist mehrmals in Zeitschriften geschildert worden, obwohl sie ohne rechten Schluß blieb. Denn Meister Petz entkam, wenn auch schwer angeschossen, und verendete vermutlich in irgendeiner unzugänglichen Schlucht.
Einem alten Förster, der mit dabei war, kam der Bär auf dreißig Schritte nahe, aber es versagten ihm die beiden Schüsse seines Kugelzwillings; die Kapseln brannten leer ab.
Daß er Ruhm und Schußgeld verlieren mußte, verdroß den Alten so schwer, daß er wochenlang gemütskrank war und kein anderes Wort als lästerliche Flüche über die Lippen brachte.
Sobald ihm ein Bekannter begegnete, schrie er ihm von weitem zu: »Brauchst nix red'n … woaß scho … woaß scho … Himmel … Herrgott …« Nur durch Anwendung von Alkohol gelang es ihm nach und nach, sein seelisches Gleichgewicht wieder zu erlangen.
In Partenkirchen lernte mein Vater den Münchner Kunstmaler Julius Noerr kennen, der ihm in der Folgezeit ein lieber Freund geworden ist.
Noerrs Landschaften erregen neuerdings Aufsehen bei Kritikern, die jetzt die Münchner Kunst der sechziger Jahre entdecken und erstaunt über die hohen Werte sind, die sich ihnen darbieten; vielleicht können ihnen die Landschaften wie die Tierbilder Noerrs, seine reizvollen Aquarelle und Zeichnungen, seine Genrebilder zeigen, wie vielseitig dieser Künstler war, der wie kaum ein anderer die Alpenwelt kannte und in nie versiegender Freude am Malerischen jeder Spezialität abhold blieb.
Von seinen Wanderungen durch Tirol und Oberbayern brachte er Mappen voll kostbarer Studien heim. Wie er mit einfachen Mitteln in Bleistiftskizzen Stimmungen festhielt, ist bewundernswert, und keiner hat so treu und so liebenswürdig wie er Jagd und Jäger im bayrischen Gebirge geschildert.
Sein Lebenswerk kann in der Heimat kaum voll gewürdigt werden, da die meisten seiner Bilder nach England verkauft worden sind, doch vermag das, was sich bei einheimischen Sammlern vorfindet, immerhin das hohe Können Noerrs darzutun.
Ein Können, das freilich in jener Zeit mehr verbreitet und notwendige Vorbedingung war. Mit billiger Genialität durfte man sich damals nicht hervorwagen; um das zu ermöglichen, war lange Vorarbeit der segensreichen Kritik notwendig. In dem alten, noblen München, dem Pocci, Schwind, Spitzweg, Schleich, Lier, Riehl, Kobell, Lachner und manche andere das Gepräge gaben, mußte einer was können, der aus der Reihe hervortreten wollte, und sie alle, die etwas konnten, waren vornehm und hätten sich das laute Geschrei der Markthelfer verbeten.
Noerr war späterhin ein regelrechter Sommergast in der Vorder-Riß, und obgleich er sich nicht viel mit uns abgab, wurden wir Kinder ihm besonders anhänglich.
Es war eine vielbegehrte Gunst, ihm beim Malen zuschauen zu dürfen.
Seine Freundschaft hat meinem Vater viel gegolten und seine Kunst hat ihn in bescheidenen Maßen selber zum Schaffen angeregt.
Zu einigen Zeichnungen Noerrs, die in »Über Land und Meer« erschienen sind, hat er die Texte verfaßt.
In Partenkirchen blieb mein Vater, bis er im Jahre 1865 als Oberförster – der Titel war geändert worden – in die Vorder-Riß kam.
Die Familie war auf vier Kinder angewachsen, und der Umstand ließ meine Eltern wünschen, jene Oberförsterei, mit der Ökonomie und Wirtschaft verbunden waren, zu erhalten.
Der Posten war wegen seiner Einsamkeit nicht übermäßig begehrt, und doch wurde diese Einöde meiner Mutter wie uns Kindern zur liebsten Heimat, die wir in der Rückerinnerung erst recht mit allen Vorzügen ausschmückten.
Im Januar 1867 besuchte meine Mutter ihre Schwester Marie Lang in Oberammergau, um im Verlegerhause ihre Niederkunft abzuwarten, denn sie getraute sich nicht, in der Riß zu bleiben, weitab von jeder Hilfe, die bei starkem Schneefalle überhaupt nicht erreichbar gewesen wäre.
Am 21. Januar gegen Mittag kam ich zur Welt, und meine Verwandten erzählten mir, ich hätte gerade, als sie von der Schule heimkamen, so laut geschrieen, daß sie mich schon auf der Straße hörten.
Meine ersten Erinnerungen knüpfen sich an das einsame Forsthaus, an den geheimnisreichen Wald, der dicht daneben lag, an die kleine Kapelle, deren Decke ein blauer, mit vergoldeten Sternen übersäter Himmel war.
Wenn man an heißen Tagen dort eintrat, umfing einen erfrischende Kühle und eine Stille, die noch stärker wirkte, weil das gleichmäßige Rauschen der Isar deutlich herauftönte.
Hinterm Hause war unter einem schattigen Ahorn der lustig plätschernde Brunnen ganz besonders merkwürdig und anziehend für uns, weil in seinem Granter gefangene Äschen und Forellen herumschwammen, die sich nie erwischen ließen, so oft man auch nach ihnen haschte.
Drunten am Flusse kreischte eine Holzsäge, biß sich gellend in dicke Stämme ein und fraß sich durch, oder ging im gleichen Takte auf und ab.
Ich betrachtete das Haus und die hoch aufgeschichteten Bretterlager von oben herab mit scheuer Angst, denn es war uns Kindern strenge verboten, hinunterzugehen, und als ich doch einmal neugierig über den Bachsteg geschritten war, kriegte ich vom Vater, der mich erblickt hatte, die ersten Hiebe.
Noch etwas Merkwürdiges und die Phantasie Erregendes waren die rauchenden Kohlenmeiler, gerade unterm Hause, an denen rußige Männer auf und ab kletterten und mit langen Stangen herumhantierten. Hinter Rauch und Qualm leuchtete oft eine feurige Glut auf, aber trotz der Scheu, die uns der Anblick einflößte, trieben wir uns gerne bei den Kohlenbrennern herum, die in kleinen Blockhütten hausten, auf offenem Herde über prasselndem Feuer ihren Schmarren kochten und die Kleinen, die mit neugierigen Augen in den dunkeln Raum starrten, davon versuchen ließen.
Wieder andere gefährlich aussehende Riesen, die große Wasserstiefel an den Füßen trugen, fügten Baumstämme mit eisernen Klammern aneinander; wenn sie, ihre Äxte geschultert, dicke Seile darum geschlungen, in unser Haus kamen und sich im Hausflöz an die Tische setzten, hielt ich die bärtigen Flößer für wilde Männer und traute ihnen schreckliche Dinge zu.
Sie waren aber recht zutunlich und boten uns Kindern Brotbrocken an, die sie zuerst ins Bier eingetaucht hatten; allmählich gewöhnten wir uns an sie, und es mußte uns sehr streng verboten werden, im Flöz bei den Tischen herumzustehen.
Unsere besonderen Freunde waren die Jäger. Fast alle gaben sich mit uns ab, keiner aber verstand es besser, unsere Herzen zu gewinnen, wie der Lenggrieser Thomas Bauer, der immer helfen konnte, wenn ein Spielzeug zerbrochen war, und der nie ungeduldig wurde, so oft wir auch mit Bitten zu ihm kamen.
Gewiß waren die Geschichten, die uns Viktor erzählte, wunderschön, aber was waren sie gegen die Erlebnisse, die unser Bauer droben im Walde mit Zwergen und Berggeistern gehabt hatte! Wenn er vom Pürschgang heimkam, sprangen wir ihm entgegen und staunten ihn an, wenn er einen erlegten Hirsch oder einen Gamsbock brachte, und immer hatte er was für uns, eine seltsam geformte Wurzel, einen Baumschwamm oder eine Pfeife, die er unterwegs aus einer Rinde zurechtgemacht hatte.
In seinem Jägerstübchen war er nie vor uns sicher; kaum hatte er es sich auf seinem Kanapee gemütlich gemacht und seine Pfeife angebrannt, dann trippelten kleine Füße über die Stiege herauf und polterten gegen die Türe, deren Klinke nicht zu erreichen war.
Es half ihm nichts, er mußte die Quälgeister einlassen und viele Fragen beantworten, ob er den Zwergkönig mit dem langen Bart und dem spitzen Hut gesehen habe, und ob die Gams mit den goldenen Krickeln noch auf dem Scharfreiter herumspringe.
Er mußte uns vormachen, wie die Gamsböcke blädern, und auf dem Schnecken, wie die Hirsche im Herbst schreien, und wenn er sein Gewehr zerlegte oder eine Uhr reparierte oder einen Gamsbart faßte, schauten neugierige Kinderaugen dem Tausendkünstler zu.
Vertrauen und Neigung hingen sich so fest an den Mann, daß er uns allen als Sinnbild und Verkörperung des stillen Glückes galt, das wir in der Riß gefunden hatten.
Ein gern gesehener Mann war der Lenggrieser Bote. Die allgemeine Freude über diese Verbindung mit der Außenwelt ging auch auf uns Kinder über, und der mit allerlei Gaben gefüllte Plachenwagen übte großen Reiz auf uns aus.
Man lernt nur in einer solchen Abgeschiedenheit das Vergnügen am Kleinsten kennen, und Städter vermögen es sich kaum vorzustellen, wie Zeitungen, Briefe und Pakete erwartungsvolle Spannung verursachen, oder was frisch gebackene Semmeln einmal die Woche bedeuten können.
Wieviel Freude brachten damals die illustrierten Wochenschriften »Über Land und Meer« und die »Gartenlaube« in das Forsthaus!
Dazu gehörten Pfeife und duftender Kaffee und ein Kreis von Menschen, die gewillt waren, alles wohlwollend aufzunehmen, was ihnen geboten wurde, die Nachrichten aus einer fernen Welt mit Interesse zu hören und sich dabei in ihrem Winkel erst recht wohl zu fühlen.
Wie waren aber jene Zeitschriften damals im besten Sinne weltbürgerlich und wußten Eigenart und Verschiedenheit der Völker so zu schildern, daß es Teilnahme, nicht aber feindselige Gefühle erregte!
Ich blättere zuweilen noch in den alten Bänden und finde die Stimmung jener Tage wieder.
Zu den vielen gescheiten Kindern, die den Kreis ihrer Angehörigen durch tiefsinnige Fragen und Antworten immer wieder in Erstaunen versetzen, werde ich wohl auch gehört haben, doch sind mir keine erwähnenswerten Aussprüche überliefert worden; dafür etliche Schrecknisse, die ich bestand.
Ein Hafen voll heißer Milch, der mir über die Brust geschüttet wurde, spielte in der Chronik Viktors eine wichtige Rolle, daneben eine Axt, die ich mir ins Bein hackte, und ein Rausch.
Ich kam als kleiner Kerl hinter einen halben Liter Rotwein, den mein Vater eben mit einem Freunde hatte trinken wollen, als sie beide aus irgendeinem Grunde rasch aus dem Zimmer eilten. Gleich darauf aß man zu Mittag, und ich fiel vom Stuhl, so oft man mich darauf setzte; es ließ sich nicht mehr leugnen, daß ich betrunken war, und die Folgen blieben nicht aus. Mein Vater hielt mich durch sie für genügend bestraft, wie er überhaupt kein Freund vom Prügeln war, und er fragte mich am andern Morgen teilnehmend, ob ich wieder Rotwein möchte; als ich die Frage bejahte, sagte er, das sei ein gutes Zeugnis für den Wein.
Für mich mag es ein besseres sein, daß jenem ersten Rausche kaum wieder einer gefolgt ist.
Mein Interesse an Büchern soll sich sehr früh gezeigt haben, insofern ich stundenlang über Bildern sitzen und unerbittlich auf genaue Erklärung dringen konnte.
Bei Wiederholung von Erzählungen mußte sich Viktor vor Gedächtnisfehlern hüten, denn ich duldete keine Schwankungen und verlangte Genauigkeit; ich selber hielt mich nicht daran und liebte schmückende Übertreibung, wenn ich mein Wissen an unsern Jäger weitergab.
Die größte Freude bereitete man mir mit Münchner Bilderbogen, und der Eindruck, den »Max und Moritz« von Wilhelm Busch auf mich machte, war so stark, daß meine besorgte Mutter das Buch in Verwahrung nahm.
Nur zuweilen an besonderen Tagen oder zur Belohnung für gutes Betragen durfte ich es anschauen und war schon gleich von der Umschlagzeichnung freudig erregt.
Wenn ich heute die zwei Bubenköpfe sehe, überkommt mich noch immer ein stilles Behagen, und sie wirken auf mich wie ein Gruß aus der lieben Kinderzeit.
Tante Theres, eine Schwester meines Vaters, die mir das Buch geschenkt hatte, war mir dafür besonders lieb, und als sie nun gar eines Tages ein kleines Marionettentheater mitbrachte und darauf den »Freischütz« spielte, hegte ich für sie die größte Zuneigung und Bewunderung.
Manches wichtige Ereignis ist in meiner Erinnerung verblaßt, manches ganz daraus entschwunden; aber der Abend, an dem ich voll Erwartung vor dem Kunsttempel aus Pappendeckel saß und die Schicksale des braven Jägers Max miterlebte, steht immer noch lebendig vor mir.
Freilich gab sich Tante Theres, ein stattliches älteres Mädchen, große Mühe, um mit tiefer Stimme, mit bengalischen Feuern und mit Pistolenschüssen Grauen in uns wachzurufen.
Wie solche Eindrücke haften bleiben, erfuhr ich viele Jahre später, als ich zu Proben hinter die Bühne des Hoftheaters kam; in dieser Welt von Pappe und Leinwand roch es ähnlich, vielleicht recht entfernt ähnlich, so wie im Marionettentheater, und gleich stand die Aufführung des »Freischütz« vor meinen Augen.
Die Talente der Tante Theres fanden in der Riß nicht bei allen so viel Anklang wie bei mir, und ihr Zug ins Künstlerische, Geniale oder Theatralische wurde auch späterhin, als ich den Tadel verstehen konnte, mit Bedauern festgestellt; sie machte keine sehr gute Heirat, lebte in ärmlichen Verhältnissen, und das kam eben davon, wie selbst die gutmütige Viktor sagen konnte.
Erleben eigentlich Stadtkinder Weihnachtsfreuden? Erlebt man sie heute noch?
Ich will es allen wünschen, aber ich kann nicht glauben, daß das Fest in den engen Gassen der Stadt, in der wochenlang die Ausstellungen der Spielwarenhändler die Freude vorwegnehmen, Vergleiche veranlassen oder schmerzliche Verzichte zum Bewußtsein bringen, das sein kann, was es uns Kindern im Walde gewesen ist.
Der erste Schnee erregte schon liebliche Ahnungen, die bald verstärkt wurden, wenn es im Hause nach Pfeffernüssen, Makronen und Kaffeekuchen zu riechen begann, wenn am langen Tische der Herr Oberförster und seine Jäger mit den Marzipanmodeln ganz zahme, häusliche Dienste verrichteten, wenn an den langen Abenden sich das wohlige Gefühl der Zusammengehörigkeit auf dieser Insel, die Tag um Tag stiller wurde, verbreitete.
In der Stadt kam das Christkind nur einmal, aber in der Riß wurde es schon Wochen vorher im Walde gesehen; bald kam der, bald jener Jagdgehilfe mit der Meldung herein, daß er es auf der Jachenauer Seite oder hinterm Ochsensitzer habe fliegen sehen.
In klaren Nächten mußte man bloß vor die Türe gehen, dann hörte man vom Walde herüber ein feines Klingeln und sah in den Büschen ein Licht aufblitzen. Da röteten sich die Backen vor Aufregung, und die Augen blitzten vor freudiger Erwartung. Je näher aber der Heilige Abend kam, desto näher kam auch das Christkind ans Haus, ein Licht huschte an den Fenstern des Schlafzimmers vorüber, und es klang wie von leise gerüttelten Schlittenschellen.
Da setzten wir uns in den Betten auf und schauten sehnsüchtig ins Dunkel hinaus; die großen Kinder aber, die unten standen und auf einer Stange Lichter befestigt hatten, der Jagdgehilfe Bauer und sein Oberförster, freuten sich kaum weniger.
Es gab natürlich in den kleinen Verhältnissen kein Übermaß an Geschenken, aber was gegeben wurde, war mit aufmerksamer Beachtung eines Wunsches gewählt und erregte Freude.
Als meine Mutter an einem Morgen nach der Bescherung in das Zimmer eintrat, wo der Christbaum stand, sah sie mich stolz mit meinem Säbel herumspazieren, aber ebenso froh bewegt schritt mein Vater im Hemde auf und ab und hatte den neuen Werderstutzen umgehängt, den ihm das Christkind gebracht hatte.
Wenn der Weg offen war, fuhren meine Eltern nach den Feiertagen auf kurze Zeit zu den Verwandten nach Ammergau.
Ich mag an fünf Jahre alt gewesen sein, als ich zum erstenmal mitkommen durfte; und wie der Schlitten die Höhe oberhalb Wallgau erreichte, von wo aus sich der Blick auf das Dorf öffnet, war ich außer mir vor Erstaunen über die vielen Häuser, die Dach an Dach nebeneinander standen.
Für mich hatte es bis dahin bloß drei Häuser in der Welt gegeben.
*
Auch mein Vater war gerne in der Riß. Die schöne Jagd, das gute Fischwasser und die Selbständigkeit im Dienste konnten ihm wohl gefallen.
Freilich gab es auch Unannehmlichkeiten, die nicht ausbleiben konnten, nach der Erfahrung, daß mit großen Herren nicht gut Kirschen essen ist.
König Ludwig II., der sich alljährlich mehrere Wochen in der Riß aufhielt, war immer gütig, dankbar für die bescheidenste Aufmerksamkeit, und er hatte oder zeigte doch niemals Launen.
Aber im Gefolge eines Königs gibt es immer Leute, die stärker auftreten als der Herr.
Überdies lagen als Nachbarn der Herzog von Coburg und der Herzog von Nassau an, die wieder Hofmarschälle und Jägermeister hatten, die sich aufzublasen wußten und ihre Sorge um die eigene Liebhaberei hinter der um ihre Hoheiten versteckten.
Große Herren lassen sich die Mücken abwehren, aber nicht die Ohrenbläser, sagt ein deutsches Sprichwort, und so mußte sich hie und da ein bayrisches Ministerium mit Beschwerden der Hoheiten befassen, die offensichtlich nur Beschwerden ihrer Kämmerlinge waren.
Einmal wurde mein Vater zur Rechenschaft gezogen, weil er zugegeben hatte, daß Pferde des Herzogs von Nassau in der leerstehenden Stallung des Königs untergebracht wurden, und er hatte dazu ausdrücklich die Erlaubnis des Oberstallmeisters Grafen Holnstein verlangt, die um so bereitwilliger gegeben wurde, als Holnstein auch auf den Jagden des Nassauer Herzogs öfter zu Gaste war.
Irgend ein Hofstaller bemerkte den Vorfall, witterte dahinter einen Eingriff in die königlichen Rechte und machte diensteifrig Meldung.
Graf Holnstein, dem die Sache peinlich war, erinnerte sich nicht mehr an seine Einwilligung, und der Tölzer Forstmeister mußte auf Anordnung des Ministeriums meinem Vater einen Verweis erteilen. Er wehrte sich dagegen, wies aus seinen Notizen nach, daß der Oberstallmeister ohne Zögern den Wunsch des Herzogs erfüllt habe, und daß er damit zu einer Weigerung weder Anlaß noch Recht gehabt habe; allein da das unbedeutende Ereignis dem Grafen Holnstein gänzlich aus dem Gedächtnisse entschwunden war, verfügte das Ministerium, es habe bei dem Verweise zu bleiben.
Die Ungerechtigkeit ärgerte meinen Vater so sehr, daß er um Versetzung eingeben wollte, und erst nach einigem Zureden gelang es meiner Mutter, ihn zu beruhigen.
Er schätzte nun die etwas hysterische Dienstbeflissenheit der höheren Stelle gebührend ein und wurde vorsichtiger im Verkehr mit Höflingen, zuweilen auch deutlich, wenn sich ihr Eifer zu weit vorwagte.
Der Herzog von Nassau – vielleicht noch lebhafter sein Hofmarschall – wollte den zum königlichen Leibgehege gehörenden Fermerskopf an seine Jagd angliedern.
Mein Vater mußte als Verwalter des Reviers sein Gutachten abgeben.
Nun schickte, um ihn zu gewinnen, der Hofmarschall einen Hofkammerrat in die Riß, der meinem Vater nahelegte, die Oberleitung über die herzogliche Jagd am Fermerskopf und eine entsprechende Gratifikation anzunehmen.
Das Anerbieten wurde mit der Bemerkung gemacht, die bayrische Regierung brauche ja davon nichts zu erfahren.
Mein Vater wies dem Hofkammerrat die Türe und schrieb dem Hofmarschall Grafen C., er möge ihn »für alle Zukunft mit derartigen Zudringlichkeiten verschonen«.
Ich erwähne den Vorfall, mit einem wörtlichen Zitate aus dem Briefwechsel, weil er ein Bild von der Situation wie von dem Wesen meines Vaters gibt.
Heute, unter so veränderten Umständen, können den Leser die damaligen Verhältnisse interessieren, und so will ich bemerken, daß der Oberförster in der Vorder-Riß zu Anfang ein Jahresgehalt von 800 Gulden bezog, das nach und nach auf 1100 Gulden stieg.
Dazu kamen als Nebenbezüge: freie Wohnung, Dienstgründe, ein »Holzdeputat von 15 Klaftern Hartholz«, »Funktionsaversen und Bauexigenzaversen« von 200 Gulden und eine »Hochgebirgs-Leib-Reserve-Gehegsjagdetatremuneration« von 30 Gulden.
Man sieht, es war damals alles wohlgeordnet und mit dem rechten Namen versehen.
Einen sehr erheblichen Dienst leistete mein Vater dem bayrischen Staate dadurch, daß er ihn im Jahre 1871 veranlaßte, vom Bankier La Roche in Basel das Jägerbauerngut in Fall um den Preis von 50 000 Gulden zu erwerben.
Der Staat ließ sich zögernd auf das Geschäft ein, ist aber heute wohl zufrieden damit, denn die Waldungen repräsentieren einen Millionenwert.
In der Vorder-Riß gab es damals vier Hauptgebäulichkeiten. Drei auf der Anhöhe über der Isar: das von Max II. erbaute »Königshaus«, das Forsthaus und neben diesem eine Kapelle.
Dazu kamen Nebengebäude für Jagdgehilfen und Stallungen.
Im Tale, nahe dem Einflusse des Rißbaches in die Isar, lag eine Schneidsäge. Das dazugehörende uralte, mit Freskomalereien gezierte Bauernhaus fehlt in keiner Sammlung von Abbildungen altbayrischer Häuser.
Etliche Büchsenschüsse entfernt lag isaraufwärts ein Bauernhof, der »Ochsensitzer«, und sein Eigentümer, der Danner Toni, schätzte meinen Vater und war ihm auf seine Art zugetan, aber das hielt ihn nie ab, einem Wilderer Unterschlupf zu geben, und wenn er von unseren Jägern etwas erfahren hätte, wäre die Botschaft heimlich weitergegeben worden.
Auch die Jäger waren Isarwinkler und nicht minder schlau wie der Toni; sie konnten geradeso unbefangen dreinschauen, jedes Wort abwägen, sich taub stellen, indes sie den braven Ochsensitzer von weitem gehen hörten, wenn er auch noch so leise auftrat.
Von dem heimlichen Kriege, der nie zum Ende kam, ließ man nichts merken; man saß bei Gelegenheit freundlich zusammen hinterm Bierkrug und kannte einander, ohne Worte zu verlieren.
Zuweilen hat Bauer, der Glaslthomä von Lenggries, sogar dem schlauen Toni die Würmer aus der Nase gezogen.
Die Wilderer trieben in jener Zeit ein arges Unwesen im Isartal. Manches Ereignis ist von den Zeitungen berichtet, auch romantisch aufgeputzt worden, und der »Dammei« in Tölz, der die Kämpfe der Wildbratschützen besang, hatte reichlich Arbeit.
Die Verwegensten waren die Lenggrieser, Wackersberger und Jachenauer; als besonders reich an Listen galten die Tiroler aus der Scharnitz.
Es mußten schneidige Jäger sein, die gegen sie aufkommen wollten, und man fand sie unter den Einheimischen, die selber gewildert hatten, bevor sie in den Dienst traten.
Ich habe nie gehört, daß einer untreu gewesen wäre, wohl aber weiß ich, daß der eine und andere beim Zusammentreffen mit den alten Kameraden sein Leben lassen mußte.
Diese Dinge entbehrten für die Beteiligten ganz und gar des Reizes, den sie für Fernstehende hatten; es ging dabei rauher zu, als es sich ein freundlicher, vom Schimmer der Romantik angeregter Leser vorstellen mochte.
Einer von meines Vaters Jagdgehilfen, der Bartl, ein braver, bildschöner Bursche, wurde aus dem Hinterhalt auf wenige Schritte Entfernung niedergeschossen.
Ein Jachenauer, der unter den Wilderern war und die Tat, wie man erzählte, verhindern wollte, wurde später Jagdgehilfe und fand einen schlimmen Tod auf der Benediktenwand; er wurde schwer verwundet mit Steinen zugedeckt und kam so jämmerlich um.
Ein Sagknecht aus der Jachenau, der den Bartl erschossen haben soll – bewiesen konnte es nicht werden –, traf nicht lange nachher wieder mit den Jägern zusammen und wurde schwer verwundet. Er kam mit dem Leben davon, verlor aber das Gehör.
In ihrer Art berühmt geworden ist die Floßfahrt der Wilderer im Jahre 1869, von der man sich heute noch im Oberland viel erzählt.
Die zwei Söhne des Halsenbauern von Lenggries und mit ihnen einige Kameraden hatten bei Mittenwald gewildert und wollten ihre Jagdbeute auf einem Floße isarabwärts nach Lenggries oder Tölz bringen.
Sie kamen in der hellen Mondnacht in schneller Fahrt den Fluß herunter; die Ruder hatten sie mit Tüchern umwickelt.
Vor der Risser Brücke, unweit vom Ochsensitzer, wurden sie angerufen. Es kam zum Feuern heraus und hinein.
Der Mann am Steuer, der Halsen Blasi, wurde erschossen, zwei andere wurden verwundet. Der Halsen Toni erhielt einen Schuß mitten auf den Taler seiner Uhrkette, und dieser glückliche Zufall rettete ihm das Leben. Ein Fünfter versteckte sich unter das Wildbret, das auf dem Floße lag, und kam heil davon.
Sie hielten an der Schneidsäge an und schafften den Toten wie die Verwundeten ins Haus.
Die gerichtliche Untersuchung führte zu keinem Ergebnisse.
Der Vorfall kann heute, wie damals, Verwunderung über »rechtlose Zustände« erregen, die in den Zeitungen ausführlich besprochen wurden.
Rechtlos schlechthin waren die Zustände nicht, aber schwierig genug.
Anzeigen hatten keinen Erfolg, denn die Strafen waren vor Einführung des Reichsstrafgesetzbuches so gelind, daß sie keinen abschrecken konnten; trotzdem haben die unbändigen Isarwinkler sich fast immer mit der Waffe gegen die Gefangennahme gewehrt.
Die drei oder vier Jäger hatten gegen die zahlreichen Schützen einen harten Stand in dem großen Revier; selten stand einer gegen einen, und so war rasche Selbsthilfe beinahe notwendig.
Wie unbeugsam die Leute waren, mag die Tatsache beweisen, daß der Halsen Toni, der bei der Floßfahrt wie durch ein Wunder gerettet worden war, bald darauf wieder ins Revier ging und etliche Jahre später doch erschossen wurde.
Seinem Bruder Blasi hat man übrigens in Lenggries nicht nachgetrauert, denn er war als gewalttätiger Mensch gefürchtet.
Meinem Vater aber rechnete man es hoch an, daß er die Verwundeten freundlich behandelt und mit Imbiß gestärkt hatte, bevor er sie auf einem mit Betten belegten Leiterwagen nach Tölz fahren ließ.
Der »Dammei« hat es nicht unterlassen, diese Guttat in seinem Liede hervorzuheben.
An derartige Geschehnisse habe ich kaum eine andere Erinnerung, als daß ich auch später noch unsere Jäger wie sagenhafte Helden bewunderte und ihr Tun und Wesen anstaunte.
Doch steht mir noch lebhaft im Gedächtnis, daß einmal an meinem Namenstag ein Wilderer gefangen eingebracht wurde; er saß im Hausflöz und ließ mich, als ich neugierig vor ihm stand, von der Maß Bier trinken, die man ihm gegeben hatte. Vielleicht bin ich dadurch zutraulicher geworden, jedenfalls schenkte er mir die geweihte Münze, die er an einer Schnur um den Hals trug.
Er hatte sie vermutlich von den Franziskanern in der Hinter-Riß erhalten.
In diesem zutiefst ins Karwendelgebirge eingebetteten tirolischen Kloster versahen die Herren Patres ihr Amt noch in einer Art, die von jedem Zeitgeist unberührt geblieben war.
Der Bauer und der Hirte bewarben sich dort um einen wirksamen Viehsegen, um Schutz gegen Gefahr im Stall und auf den Almen, die Weiber kamen um Amulette, die sie vor häuslichen Unfällen und Krankheiten bewahren oder Gebresten heilen sollten; wo immer eine Bedrängnis des Lebens sich einstellte, suchte das Volk Rat und Hilfe bei den Jüngern des heiligen Franziskus.
Ihr unleugbares Verdienst, in dieser Einsamkeit, losgelöst von allen Freuden der Welt, ohne Scheu vor Beschwerden die Werke der Nächstenliebe zu pflegen, wird jeder gerne anerkennen.
Und etwas Rührendes hat es, eine Bevölkerung zu sehen, die in urzeitlichen Zuständen, abgeschieden von den Hilfsmitteln, die moderne Einrichtungen gewähren, lebt und nur des einen Beistandes sicher ist, dem auch die Voreltern herzlich vertrauten.
So mag man es gelten lassen, daß auch der fromme Wildbratschütze sich in der Hinter-Riß den Kugelsegen holte, der ihn vor einem jähen Tod im Hochwald oder im Kar behüten mußte.
Das Kloster liegt zwei Wegstunden von dem Forsthause in Vorder-Riß entfernt.
An Sonntagen kam der Pater heraus und las in der Kapelle für Flößer, Jäger, Holzknechte und alle, die zu unserm Hause gehörten, die Messe.
Da geschah es zuweilen, daß vorne auf einem mit Samt ausgeschlagenen Betstuhle ein hochgewachsener Mann kniete, der sein Kreuz schlug und der Zeremonie andächtig folgte, wie der Sagknecht oder Kohlenbrenner, der durch ein paar Bänke von ihm getrennt war.
Wenn der Mann aufstand und die Kapelle verließ, ragte er über alle hinweg, auch über den langen Herrn Oberförster, der doch sechs Schuh und etliche Zoll maß.
Sein reiches, gewelltes Haar und ein Paar merkwürdige, schöne Augen fielen so auf, daß sie dem kleinen Buben, den man zu einem ehrerbietigen Gruß anhielt, in Erinnerung blieben.
Der Mann war König Ludwig II.
Er weilte allsommerlich sechs bis acht Wochen in der Vorder-Riß, und erst nach Erbauung des Schlosses Linderhof hat er darin eine Änderung getroffen.
Damals fühlte er sich wohl in dem bescheidenen Jagdhause, das sein Vater hatte errichten lassen, und er suchte nichts als Stille und Abgeschiedenheit.
Seine Freude an der Natur galt in meinem Elternhause wie bei allen Leuten in den Bergen als besonderer Beweis seines edlen Charakters, und niemandem fiel es ein, an krankhafte Erscheinungen zu glauben.
Der König schloß sich auch keineswegs auffallend vor jeder Begegnung mit Menschen ab, wenn er schon gegen manches empfindlich war.
Bei seinen kurzen Spaziergängen hatte er nichts dagegen, Leuten zu begegnen, die in den Wald gehörten, und zuweilen redete er einen Jäger an.
Jedenfalls hat er alle bei Namen gekannt und sich zuweilen nach ihnen erkundigt.
Aus späteren Erzählungen weiß ich, daß während seiner Anwesenheit in Hörweite kein Schuß fallen durfte; er wollte sich Tod und Vernichtung nicht in diesen Frieden hineindenken.
Daß er selten Besuche von hochstehenden oder offiziellen Persönlichkeiten empfing, ist bekannt, ebenso, daß er sich solchen Begegnungen durch schleunige Fahrten in die Berge entzog.
Hohenlohe vermerkt in seinen Denkwürdigkeiten häufig derartige Verstöße gegen die Etikette und schüttelt den Kopf darüber, wenn der König dem Prinzen Napoleon, dem Kronprinzen von Preußen und anderen ausweicht mit der schlichten Erklärung, er müsse Gebirgsluft atmen. Unterm 3. Juli 1869 schreibt Hohenlohe ins Tagebuch, der König sei »in die Riß entflohen, um der Ankunft des Kaisers von Österreich zu entgehen«.
Wenn es dabei diplomatische Schwierigkeiten ergab, dann wußte man jedenfalls in der Riß nichts davon; diese kleine Welt freute sich, wenn der König kam. Seine Ankunft erfolgte oft unvermutet und war erst wenige Stunden vorher durch einen Vorreiter angesagt.
Die Vorbereitungen mußten dann schnell geschehen. Der mit Kies belegte Platz vor dem Königshause wurde gesäubert, Girlanden und Kränze wurden gebunden, alles lief hin und her, war emsig und in Aufregung.
Es gab für uns Kinder viel zu schauen, wenn Küchen- und Proviantwägen und Hofequipagen voraus kamen, wenn Reiter, Köche, Lakaien diensteifrig und lärmend herumeilten, Befehle riefen und entgegennahmen, wenn so plötzlich ein fremdartiges Treiben die gewohnte Stille unterbrach.
Die Forstgehilfen und Jäger mit meinem Vater an der Spitze stellten sich auf; meine Mutter kam festtäglich gekleidet mit ihrem weiblichen Gefolge, und auch wir Kinder durften an dem Ereignis teilnehmen.
Das Gattertor flog auf, Vorreiter sprengten aus dem Walde heran, und dann kam in rascher Fahrt der Wagen, in dem der König saß, der freundlich grüßte und seine mit Bändern verzierte schottische Mütze abnahm.
Meine Mutter überreichte ihm einen Strauß Gartenblumen oder Alpenrosen, mein Vater trat neben sie, und in der lautlosen Stille hörte man ein leise geführtes Gespräch, kurze Fragen und kurze Antworten.
Dann fuhr der Wagen im Schritt am Hause vor, der König stieg aus und war bald, gefolgt von diensteifrigen Männern in blauen Uniformen, verschwunden.
In uns Kindern erregte die Ankunft des Königs stets die Hoffnung auf besondere Freuden, denn der freundliche Küchenmeister versäumte es nie, uns Zuckerbäckereien und Gefrorenes zu schenken, und das waren so seltene Dinge, daß sie uns lange als die Sinnbilder der königlichen Macht und Herrlichkeit galten.
Aus Erzählungen weiß ich, daß Ludwig II. schon damals an Schlaflosigkeit litt und oft die Nacht zum Tage machte.
Es konnte vorkommen, daß mein Vater aus dem Schlafe geweckt und zum König gerufen wurde, der sich bis in den frühen Morgen hinein mit ihm unterhielt und ihn nach allem Möglichen fragte, vermutlich weniger, um sich zu unterrichten, als um die Stunden herumzubringen.
Wenn wir zu Bett gebracht wurden, zeigte uns die alte Viktor wohl auch die hell erleuchteten Fenster des Königshauses und erzählte uns, daß der arme König noch lange regieren müsse und sich nicht niederlegen dürfe.
Etliche Male wurden wir aufgeweckt und durften im dunklen Zimmer am Fenster stehen und schauen, wie drüben Fackeln aufloderten, ein Wagen vorfuhr und bald wie ein geheimnisvoller Spuk im Walde verschwand.
*
Die Zeit der sechziger Jahre war politisch so bewegt, daß sie auch auf das Risser Stilleben einwirken mußte.
Mein Vater stand mit seinen Ansichten auf Seite jener Altliberalen, die sich nach der Einigung Deutschlands sehnten, ohne sich über Ziele und Mittel völlig klar zu sein; ihre Abneigung gegen klerikale Forderungen und gegen Unduldsamkeit in jeder Form war bestimmter gerichtet. Seine politischen Meinungen fanden ihren Ausdruck in der Wahl der Zeitungen, die er las, in ein paar Briefen und in Bemerkungen, die ich von seiner Hand geschrieben in »Rottecks Weltgeschichte« finde.
Leidenschaftlichkeit war ihm fremd.
Vielleicht war sie es überhaupt jener Zeit, wenigstens in den Maßen, die wir kennen.
Ich besitze Briefe, die ein kluger und hochstehender Mann an meinen Vater geschrieben hat, und das Hervorstechendste ist der maßvolle Ton und die Art, den Gegner noch immer gelten zu lassen.
Auch als der Krieg gegen Preußen ausgebrochen war, führte die Erregung nicht zu haltlosen und wüsten Schimpfereien.
Wer sich davon überzeugen will, der nehme alte Zeitschriften zur Hand, und er wird staunen, wie darin jede Eisenfresserei glücklich vermieden ist.
Die Philister allerdings, die Hohenlohe mit viel Unbehagen in Bierkellern beobachtete, mögen sich wütend gebärdet haben, aber in der Familie war der Ton nicht auf Mord und Tod gestimmt.
In der Vorder-Riß pflegte man in dem ereignisreichen Sommer 1866 einen regen Verkehr mit den bundesbrüderlichen Grenzern und Jägern aus Tirol, und man stellte dabei mit würdigem Ernste als unausbleibliche Folge den Untergang Preußens fest.
Ein bayrischer Oberkontrolleur, der zuweilen zur Visitation kam, schüttelte zu diesen Prophezeiungen den Kopf. Er hatte sich im Dienste des Zollvereins längere Zeit in Norddeutschland aufgehalten und versicherte auf Grund seiner Erfahrungen, daß die Geschichte auch anders kommen könne.
Man nahm dem liebenswürdigen Manne diese schrullenhafte Ansicht nicht übel und lächelte darüber.
Wie es dann sehr bald wirklich anders kam, wurde der Oberkontrolleur als einsichtiger Politiker betrachtet.
Nach dem Kriege war der deutsche Frühling, den Völk im Zollparlament begrüßte, nicht durchaus hell und sonnenwarm.
Am Himmel hing als finstere Wolke die Angst vor dem Verluste der bayrischen Selbständigkeit, und sehr hohe Herren, auch der König, schauten bedenklich nach ihr und befürchteten schlimmes Wetter.
In manchen Kreisen war das ja lange noch ein anregendes Gesprächsthema; wer sich aber in den Geist jener Zeit versetzt, wird feststellen, daß der von Ludwig II. niedergelegte Wunsch, »es möge Bayern, nicht mehr als nötig, mit Preußen verknüpft werden«, jeden politischen Gedanken, zum mindesten an offizieller Stelle, beherrschte.
Der Entwurf zu einer Gründung der »Vereinigten Staaten von Süddeutschland«, den Herr von Völderndorff anfertigte, liest sich für uns wie die Vereinsstatuten einer Harmonie und Bürgereintracht; damals wurde er mit feierlichem Ernste gewürdigt.
Über die mögliche nationale Verbindung der süddeutschen Staaten, über ihr selbständiges und nicht zu nahes Verhältnis zum Norddeutschen Bunde unterhielt man sich in den Salons der Gesandten, in den Zimmern der Minister und in den Bierstuben, vielleicht nicht mit wesentlich abgestufter Einsicht.
Daß mein Vater von dieser Angstmeierei nicht angesteckt war und die deutsche Zukunft in den Händen des Fürsten Bismarck für gut aufgehoben hielt, beweist mir ein Brief, den er im Februar 1870 an seinen Freund, den Oberst Graf Tattenbach, geschrieben hat.
Darin drückt er seine Sorge aus, es könne das »weibsmäßige Getue und Sichsperren« noch einmal zu Dummheiten führen.
Das Mißtrauensvotum, das beide Kammern gegen den Ministerpräsidenten von Hohenlohe abgaben, indem sie ihm »die Fähigkeit zur Wahrung der bayrischen Selbständigkeit« absprachen, beunruhigte meinen Vater. Ganz besonders aber die Tatsache, daß alle bayrischen Prinzen, mit Ausnahme des immer für ein einiges Deutschland eintretenden Herzogs Karl Theodor, dem Mißtrauensvotum zugestimmt hatten.
Nicht nur aus Zeitungsberichten, auch aus unmittelbarer Anschauung konnte mein Vater die Erkenntnis gewinnen, wie die Sorge um die Selbstherrlichkeit maßgebende Persönlichkeiten beherrschte. Der württembergische Minister Baron Varnbühler weilte öfters als Jagdgast in der Vorder-Riß. Der war ein Partikularist von besonderen Gnaden, und in seiner gut schwäbischen Offenherzigkeit machte er kein Hehl daraus. Er war übrigens kein Bürokrat, und seine Ansichten waren nicht in der Luft der Kanzleien gediehen, vielmehr hatte er eine für damalige Zeiten sehr ungewöhnliche Laufbahn durchmessen.
Er war Direktor einer Wiener Maschinenfabrik gewesen und hatte große Reisen unternommen, ehe er ins Schwäbische heimkehrte und am Nesenbach Weltgeschichte machte.
Der Krieg von 1870 verscheuchte die Kümmernisse oder brachte sie doch zum Schweigen.
Mein Vater erlebte ihn mit freudiger Anteilnahme, und er mag oft ungeduldig auf Nachrichten gewartet haben.
Die Riß war in dem harten Winter schon im Dezember zugeschneit, und damit war der Postdienst eingestellt.
Da taten unsere Jäger ein übriges für ihren Oberförster. Sie stapften auf Schneereifen zum Forsthaus Fall hinaus und holten die Post, die von Lenggries aus dorthin gebracht worden war.
Eines Abends, als wir schon bei Lampenlicht in der Stube saßen, trat der Jäger Bauer, den Bart bereift und vereisten Schnee an den Schuhen, ein.
Er brachte die Nachricht, daß Paris gefallen sei. Daran würde ich mich vielleicht nicht mehr erinnern, aber daß mein Vater und die Jagdgehilfen hinauseilten und Schuß auf Schuß vor den Fenstern abfeuerten, machte einen so starken Eindruck auf mich, daß es mir im Gedächtnis blieb.
Und daran erinnere ich mich auch, wie völlig ich im Banne der bei Gustav Weise in Stuttgart erschienenen Kriegszeitung stand, die, zerlesen und vergilbt, mir heute noch das Andenken an meine Kinderzeit wachruft.
Ich kannte jedes Bild, und ein Gedicht, das ich damals lernte, kann ich heute noch zum Teil auswendig.
Die Hauptperson für mich war aber keiner der Herrscher oder Heerführer, sondern »der Bismarck«, den ich zur Verwunderung unserer Jäger auch aus figurenreichen Bildern sogleich herausfand.
Die leidenschaftliche Anhänglichkeit an ihn schlug Wurzeln im Kinderherzen, die mit meinem Aufwachsen erstarkten, zäher wurden und sich niemals lockern ließen.
Kluge Leute haben mir späterhin ihr Mitleid zugewandt wegen meiner unbekümmerten Hingabe an den Alten; ich habe daran festgehalten und nichts davon hergelassen bis auf heute.
Eine besondere Freude war es für meinen Vater, wenn er Nachrichten von seinem Forstgehilfen Mailer erhielt, der als Artillerieleutnant gegen Frankreich gezogen war.
Er ist nach Jahren Förster in der Valepp geworden und war dort so lange im Amt, daß ihn wohl die meisten Münchner Touristen kennen.
Nach dem Feldzuge kam er wieder in die Vorder-Riß und brachte als Trophäen einen französischen Küraß und mehrere Chassepotgewehre mit.
Der Küraß regte meine kindliche Phantasie an, weil er eine tiefe Schußbeule trug.
Mit den Chassepots aber machte mein Vater gründliche Schießproben, wie er überhaupt für Gewehre ein eingefleischtes Interesse zeigte. Jede Schußwaffe, die ein Jäger führte, wurde von ihm genau untersucht, zerlegt und ausprobiert. Das Werdergewehr, das den bayrischen Jägerbataillonen gute Dienste geleistet hatte, fand seine besondere Bewunderung, und eine Werder-Pürschbüchse, die er zu Weihnachten erhielt, machte ihm die größte Freude. Er schoß sie auf jede Entfernung ein, und als er dabei eine Henne, die sich an die Isar hinunter verlaufen hatte, auf sehr weite Distanz hinlegte, erhielt er von der Hausmutter eine eindringliche Vorlesung über Sparsamkeit und Besonnenheit in reiferen Jahren.
Zu Anfang der siebziger Jahre erregte die Welt jener Streit um das Unfehlbarkeitsdogma.
In Städten und Dörfern kam es zu heftigen Wortkämpfen und zum Eintritt in die altkatholische Kirche.
Mein Vater stand auf der Seite seines alten Rektors Döllinger und sah kopfschüttelnd, wie sich so plötzlich Gewissensfragen erheben konnten. Allein als Forstmann und Jäger befaßte er sich nicht heftig mit den Fragen, und er bedurfte auf seiner grünen Insel keines Vereins und keiner Partei, um für sich ein Gegner des unduldsamen Wesens zu bleiben.
Meine Mutter aber hing zu sehr an der alten Sitte und den alten Formen, als daß sie sich ein Urteil angemaßt hätte.
Sie hatte sich den Grundsatz zurechtgelegt, daß man sich aus den Lehren der Kirche das viele Gute und Schöne entnehmen und sonst nicht nachgrübeln und kritisieren solle.
Wenn sie das in späteren Jahren zu mir sagte, nickte sie bekräftigend mit dem Kopfe dazu, und ich sah ihr an, daß sie zufrieden war, einen so sicheren Standpunkt gewonnen zu haben. Sie hat nach ihrer Religion gelebt und faßte – tiefer als manche theologische Abhandlung – das Wesen des Christentums in dem Satze zusammen, »daß man niemandem wehe tun dürfe«. Um religiöse Meinungen anderer hat sie sich ihr Leben lang nicht gekümmert.
Eine sich mehr gegen Zwang auflehnende Natur war unsere »alte Viktor«.
Ich bin um einen Titel verlegen, der ihre Wirksamkeit richtig bezeichnen könnte.
»Stütze der Hausfrau« sagte man damals nicht, und es klänge mir zu fremdartig; »Kinderfräulein« paßte nicht zur Bescheidenheit unseres Hauses und würde ihrer Tätigkeit nicht gerecht. So will ich sie, wie ehedem im Leben, die alte Viktor heißen.
Sie war die Tochter eines Handelsgärtners und Bürgermeisters von Schongau, kam zu meinen Eltern, als ich zwei Jahre alt war, und starb vierunddreißig Jahre später in meinem Hause.
Sie war eine angehende Dreißigerin, als sie kam, nicht ganz frei von altmädchenhafter Empfindlichkeit, aber so lebenstüchtig, daß sie bald die unentbehrliche Beraterin und Helferin war.
In schweren Stunden zeigte sie ihre resolute Art, tat immer das Richtige und Notwendige, und kein Schmerz konnte sie verhindern, an alles zu denken und für alles zu sorgen.
Nur in ruhigen Zeiten und ganz besonders, wenn lebhaftere Heiterkeit vorherrschte, konnte sie in weltschmerzliches Mitleid mit sich selber verfallen und in ihr Tagebuch ein gefühlvolles Gedicht aus Zeitschriften oder Büchern abschreiben. Sie besaß eine ausgesprochene Neigung für die schöne Literatur und eine Neigung, sich darüber zu unterhalten.
Dabei war sie eine gründlich geschulte Kennerin aller Pflanzen, Kräuter und Blumen, sie botanisierte auf jedem Spaziergange und klebte die gepreßten Herbarien in ein Buch ein.
Ihr Vater war in den vierziger Jahren Landtagsabgeordneter gewesen und hatte seiner Tochter eine gründliche Abneigung gegen jede Art von Rückschritt und Tyrannei vererbt.
Sie blieb zeitlebens mißtrauisch gegen zukünftige Möglichkeiten, und sie war überzeugt, daß von irgendwoher und von irgendwem Unterdrückung drohe.
So frommgläubig sie war, nahm sie doch »eine gewisse Art von Geistlichen« von diesem Verdachte nicht aus.
Sie sah in dem Dogma und in der Art, wie es durchgesetzt wurde, nur die Bestätigung ihrer schlimmen Ahnungen und den Beweis dafür, daß es allgemach wieder finsterer werde.
Sie war glücklich, wenn sie sich darüber aussprechen konnte, oder wenn gar der Herr Oberförster ihr beipflichtend sagte, daß die »Viktor wieder einmal durchaus recht habe«.
Für die kleinen Leute trat sie immer ein, auch wenn ihnen niemand zu nahe trat; sie stellte den unwirklichen Gefahren ebenso nachdrücklich ihre Prinzipien entgegen.
Alle im Hause schätzten ihre brave Art, und der Jagdgehilfe Thomas Bauer, der ein Paar gute Augen hatte und ein sicheres Urteil, schloß mit ihr dauerhafte Freundschaft.
Wenn sich der Frühling auf den Bergen einstellte und Bauer meinen Eltern einen Strauß der frühesten Blumen brachte, vergaß er auch die »Viktori« nicht. Sie blieb ihm dankbar und anhänglich, wie allem und jedem, was im Zusammenhange mit der schönen Vorder-Risser Zeit stand.
Eine nicht unwichtige Rolle spielten in diesem kleinen Kreise auch die Jagdgäste, oder Jagdkavaliere, wie man sie nannte.
Es lag in der Abneigung des Königs gegen alles, was Verpflichtungen mit sich brachte, begründet, daß keine Mitglieder des königlichen Hauses in die Riß kamen.
Eine Ausnahme bildete nur Herzog Ludwig, der jedes Jahr zur Pürsche – Treibjagden gab es damals nicht – eingeladen war. Den württembergischen Minister von Varnbühler habe ich schon genannt. Andere Herren gab es, die nur für ein Jahr oder eine Jagdzeit Erlaubnis erhielten.
Ein regelmäßiger Gast war ein Graf Pappenheim, den die Jäger wegen seines Jagdfiebers den Grafen »Nackelheim« hießen.
Aber der Jagdkavalier für meine Eltern, und für alles, was in der Riß lebte, war der Oberst Graf Tattenbach, der in der amberger Gewehrfabrik Dienst tat.
Sein Kommen war jedesmal ein Fest.
Wir Kinder liebten den kleinen Mann, der unter den buschigsten Augenbrauen, die ich je gesehen habe, klug in die Welt schaute, und wenn wir uns auch keine Rechenschaft darüber geben konnten, so fühlten wir doch das Behagen, das er um sich verbreitete.
Er machte nicht viele Worte, aber aus seinen gutmütigen Neckereien sprach seine Zuneigung zu meinen Eltern. Er ist meinem Vater ein treuer Freund geworden und geblieben; meiner Mutter hat er nach dessen Tode Beistand und freundliche Dienste geleistet, wo er konnte.
Die Jäger schätzten ihn wegen seiner weidmännischen Fähigkeiten und wegen seines sachverständigen Urteils über Gewehre.
Seine Jagdpassion gab Anlaß zu vielen Späßen, denn in ihr ging er ganz auf, und jedes Jagdglück genoß er zweimal: wenn er es erlebte und wenn er es am Kaffeetisch erzählte.
Dabei wurde er gesprächig und schilderte – nicht in fließender Rede, sondern in häufig abgebrochenen Sätzen mit Pausen – jeden Umstand, der sich beim Pürschen, beim Schusse und bei der Nachsuche zugetragen hatte. Der Pausen bedurfte er, um am langen Pfeifenrohre zu saugen und mit dem Rauche die herrliche Erinnerung einzuschlürfen. Zuweilen dauerte eine Pause so lange, daß sich jemand mit einer Frage oder dem Glückwunsche zu früh einstellte, dann hob er beschwörend die Hand auf und sagte lachend: »Nur warten! Ich bin noch lang net fertig.«
Er war ein vornehmer Mann, dessen schlichter Charakter sich mit keiner Phrase vertrug, harmlos, von guter altbayrischer Prägung.
Wenn er nach der Hirschbrunft Abschied nahm und das Gattertor hinter seinem davonrollenden Wagen zufiel, dann waren wir allein auf viele Monate.
Es bedurfte eines guten Willens und eines tüchtigen Verstandes, um diese Einsamkeit nicht als drückend zu empfinden.
Daran fehlte es nicht, und zeitlebens haben meine Angehörigen sich gerne jener Zeit erinnert.
Und so will ich Abschied nehmen von den schlichten Menschen, die »tätig treu in ihrem Kreise nie vom geraden Wege wichen«.
Die meisten von ihnen sind tot und haben mir das Heimweh hinterlassen nach ihrer redlichen Art und nach dem Fleck Erde, der mir durch sie so teuer geworden ist.