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Aus dem Italienischen übertragen von Otto Freiherrn von Taube
von Henry Thode
»Also erkannten sie gewiß, daß dieses ein göttliches Feuer war und kein irdisches, das Gott wunderbarlich hatte erscheinen lassen, um die Flammen göttlicher Liebe darzustellen und zu offenbaren.« War und ist solche Erkenntnis nur jenen verliehen, die selbst der Liebe bedürftig sind, so muß es deren doch viele in unseren Tagen geben, denn St. Franciscus ist ein von aller Welt Verehrter geworden, ein Heiliger der Protestanten so gut wie der Katholiken: versöhnend erhebt sich über dem Widerstreit der Konfessionen sein Bild als die strahlende Gewißheit einer christlichen Gemeinschaft, welche aller Verschiedenheit religiöser Lehrmeinungen und Kultusformen zum Trotz besteht. An die Stelle der begrenzten kirchengeschichtlichen Auffassung, der er nur als ein Ordensbegründer unter vielen anderen, nur als einer unter vielen Wundertätern galt, ist die freudig begeisterte Würdigung seiner weltgeschichtlichen Bedeutung getreten: in dem Armen von Assisi preisen wir den Spender höchster Kulturgüter, in ihm, der sich zum Knechte aller seiner Menschenbrüder machte, deren geistigen Befreier, in dem Verkündiger alter geheiligter Lehre den Herold einer neuen jungen Welt.
Er erstand inmitten jener großen sozialen Bewegung, die in den aufblühenden italienischen Gemeinwesen dem Bürgertum seine freie schöpferische Tätigkeit sicherte, und gab dem äußeren Gedeihen einen ewigen inneren Gehalt. Der feurige Drang einer im bloßen Erwerb sich nicht erschöpfenden Kraft ward durch ihn auf ein hehres Ziel gelenkt, die unbändige Willkür des einzelnen durch ihn einem auf höhere Gemeinsamkeit gerichteten Willen dienstbar gemacht. Sein Wort und sein Beispiel stellten dem rücksichtslosen Sturme der Sonderinteressen die Macht der Ideen gegenüber, deren Sieg ein von dunkler Sehnsucht getriebenes Volk als die Bestätigung und Offenbarung eigenen seelischen Wertes, als die Rechtfertigung gewonnener Herrschaft empfand.
Im Kampfe mit zwei Gewalten war dieses Volk, dem durch die jugendliche Glut germanischen Blutes eine vollständige Verjüngung zuteil geworden, zu seiner Freiheit gelangt. Mit hartnäckiger Selbstbetonung hatte es die Banden der weltlichen Lehnsherrschaft zerrissen, der starren hierarchischen Bevormundung durch sektiererische Betonung geistlicher Unabhängigkeit sich zu entziehen versucht. Es handelte sich darum, ob das religiöse Leben sich zersplittern und damit alle geistige Einheit verlorengehen oder ob eine einigende Anschauung gefunden werden könne. Der in Dogmen und äußerem Kultus erstarrten Kirche konnte diese nicht verdankt werden, nur dem Volke selbst, das lehren die Waldenser, und nur in einer die freie Sittlichkeit begründenden Erneuerung des Christentums war sie zu finden. In Franz von Assisi ward dieses heiße Sehnen zur Tat: als er in der unbedingten Hingebung seines Wesens an den Christus der Evangelien dem Gesetz die Liebe gegenüberstellte, erfüllte er das unklare Verlangen seiner Zeit. Nicht als ein Kämpfer gegen die Kirche, nicht als ein zerstörender Aufwiegler, sondern als ein Bekenner, dessen rein bejahende Natur das Abgestorbene mit dem ewig Alten, ewig Neuen belebte. Nie hat sich der geniale Blick Innocenz' III. in so folgereicher Weise gezeigt, als in dem Augenblick, da er dem vor ihm erscheinenden Bettler und dessen Nachfolgern das Recht der freien Predigt gewährte. In den flammenden Worten des Gottbegeisterten vernahm er die unwiderstehliche Forderung eines ganzen Volkes, und indem er sie bewilligte, rettete er für die Kirche eine Kraft, deren Gefahren er zugleich mit allen Mitteln des Geistes und der Gewalt, die ihm der Spanier Dominicus und dessen Orden zur Verfügung stellte, begegnete. Das Waldensertum verfiel als Ketzerei der Vernichtung, indessen das Franziskanerbekenntnis, das doch ersichtlich in der Lehre des Petrus Waldus wurzelte, zum Inhalt einer volkstümlichen Reform der Kirche gemacht wurde.
Durch seine Mutter, die dem Süden Frankreichs entstammte, dürfte Giovanni, genannt Francesco, der »Franzose«, der 1181 oder 1182 geborene Sohn des dort Tuchgeschäfte betreibenden Pier Bernardone von Assisi mit des Waldus religiösen Anschauungen bekannt geworden sein. Aber erst durch eine schwere Krankheit zur tiefen inneren Einkehr und Besinnung über die Nichtigkeit seines gedankenlos weltlichen Freuden ergebenen vorherigen Lebens gebracht, ersehnte und fand er die Versöhnung mit der Tragik irdischen Daseins, die ihm während schwermütiger, ja verzweiflungsvoller Stunden erschütternd aufgegangen war, in der apostolischen Nachfolge Christi. Die ehrgeizigen Träume ritterlichen Ruhmes und glänzenden Lebensgenusses, wie sie durch Sitte und Dichtung der Provenzalen geweckt worden waren, zerfließen vor dem Lichte solcher Erkenntnis ins Nichts. Schon auf dem Wege zu einem Kriegszug nach Apulien, kehrt er plötzlich um, und ein Festmahl, das zu seinen Ehren lebenslustige Altersgenossen geben, verläßt er heimlich. In menschenferner Einsamkeit sucht er an Stelle irdischer Minne die himmlische und erwählt sich zu seiner Herrin die Armut. Alle Mahnungen, Drohungen und Gewaltakte des Vaters sind erfolglos: er bringt Gott seine Dienste dar, indem er verfallene Kirchlein wieder aufbaut, den Menschen, indem er in den Aussätzigen die seiner Pflege bedürftigsten, von allen gemiedenen Brüder verehrt. Als endlich Pier Bernardone den von den Bürgern Verlachten und für einen Narren Gehaltenen gesetzlich zum Gehorsam zwingen will, übergibt sich dieser, seine weltliche Kleidung ablegend, dem Bischof von Assisi und erkennt fortan keine Gebote mehr an als die des Evangeliums. Christus selbst spricht zu ihm, und getreu dessen Worten weiht er sich, frei von allem Besitze, nur mit einer Kutte angetan, seinen Unterhalt der Wohltätigkeit frommer Menschen anvertrauend, dem Beruf des wandernden Predigers. Bis in alle Tiefen ergreifend erklingt seine Stimme, bald gesellen sich ihm Genossen, und als er dem Widerstande der Geistlichkeit begegnet, erbittet er sich und erhält das Recht der freien Predigt.
Nur um diese, um die unverfälschte Verkündigung des Evangeliums in der Volkssprache ist es ihm zu tun gewesen. An die Begründung eines Ordens hat er zunächst gewiß nicht gedacht. Aber wie er nun von der bei Assisi entstandenen ärmlichen Zellenniederlassung, St. Maria degli Angeli, aus durch ganz Italien zieht, wie bald in allen Orten, wo seine überwältigende Rede erschallt, keine Kirche groß genug ist, das zu ihm strömende Volk zu fassen, wie immer zahlreichere Friedensbedürftige von der Welt sich abkehren und seinem Beispiel folgen, da wird eine das Leben und die Tätigkeit der Brüder, der fratres minores, ordnende Regel zur Notwendigkeit und gewinnt im Jahre 1221 die apostolische Gemeinschaft der Armen von Assisi die Form eines Ordens, dessen Bestimmungen bei strengsten Gelübden der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams die Predigt zur Hauptaufgabe machen. Dem Minoritenorden tritt der durch Chiara von Assisi begründete Klarissinnenorden zur Seite, und durch die Institution der Tertiarier, die, ohne die Welt zu verlassen, sich auf die Lehre des Franciscus verpflichten und unter ihren Gewändern den Leib mit dem Stricke umgürten, erweitert sich das Franziskanertum zu einer alle Kreise durchdringenden Genossenschaft.
Wie ein Wunder will es uns bedünken, vernehmen wir durch die zeitgenössischen Berichte von seiner Ausbreitung. Binnen wenigen Jahrzehnten ist fast das gesamte Italien franziskanisch geworden, ward des Mannes von Assisi Geist in allen christlichen Ländern wirksam. Die Erklärung hierfür ist einzig durch die schon betonte Einsicht zu gewinnen, daß sein Christentum dem seelischen und geistigen Bedürfnis des Bürgertums entsprach.
Ein an Liebe überschwengliches Herz führte Franz zu Jesus wie zu den Menschen, hieß ihn den neuen Bund zwischen irdischer Sehnsucht und göttlicher Liebeskraft schließen. Er bahnte und wies den Weg aus der Öde dürrer Gesetzesgerechtigkeit zurück zu der Fülle lebendiger unmittelbarer Anschauung der Persönlichkeit Christi. Ein tiefstes Mitleid erschloß den verschütteten Segensquell der durch Leiden und Tod besiegelten Erlösertat. Der strafende und rächende Gott der Kirche verschwand vor dem allerbarmenden des Evangeliums. Wie durfte da jeder einzelne, getröstet, dem Heilande traulich sich nahen, ihn in seiner menschlichen Brüderlichkeit als gegenwärtig empfinden. Ja, durch dieses milden Boten Predigt ward die Einbildungskraft gesteigert bis zu einem fast sichtbarlichen Gewahrwerden: man kniete mit den Hirten nieder, das Kindlein in der Krippe zu verehren, man war im Geleite der drei Könige, die, dem Sterne folgend, nach Bethlehem zogen, am Ufer des Jordan hörte man Johannes predigen und sah die Weihe der Taufe, man lauschte der freudigen Botschaft am See Genezareth, den Predigten auf dem Berge und in den Städten Galiläas, man begleitete den als König Begrüßten in die Tore von Jerusalem, empfing aus seiner Hand das Leben spendende Brot und Wein, man sank in Verzweiflung nieder am Stamme des Kreuzes. Und aus allem Miterleben und Miterleiden rang sich, wie von den Lippen des wahren Nachfolgers Christi, der bald flehende bald jubelnde Schrei der Liebe.
Eben diese Liebe, die den Menschen Christo vereinte, öffnete ihm auch den Blick in eine versöhnte Natur. Nun ward die Welt wieder Gottes voll, all ihre Herrlichkeit erschien, als des Ewigen Offenbarung, innig freudiger Betrachtung wert. Der von Inbrunst Erleuchtete erkannte in den Gestirnen, in Pflanzen und Tieren seine Brüder und Schwestern, er predigte den Vögeln auf dem Felde, vor seinem Blick legten die zagen Geschöpfe ihre Scheu und die feindlichen ihre Wildheit ab. Im Überschwange seines Gottesglückes ward Franz, durch Wälder und Wiesen wandelnd, den Blick in der seligen Bläue des Himmels verloren, zum Dichter, zum Troubadour des Höchsten. In Hymnen, wie deren eine, der Sonnengesang, uns erhalten ist, preist er die ewige Liebe.
Höchster allmächtiger gütiger Herr!
Dein ist das Lob, die Ehre und jegliche Segnung,
Dir allein gebühren sie,
Und kein Mensch ist würdig, Dich zu nennen.
Gelobt sei, mein Herr, mit allen Deinen Geschöpfen,
Vornehmlich mit unsrer Frau Schwester, der Sonne,
Die den Tag wirkt und uns leuchtet durch ihr Licht;
Und sie ist schön und strahlend mit großem Glanze,
Von Dir, o Höchster, trägt sie das Sinnbild.
Gelobt sei, mein Herr, durch unsern Bruder, den Mond und die Sterne,
Am Himmel hast Du sie gebildet so klar und funkelnd und schön.
Gelobt sei, mein Herr, durch unsern Bruder, den Wind,
Und durch die Luft und die Wolken und jegliche Wittrung,
Durch welche Du Deinen Geschöpfen Erhaltung schenkst.
Gelobt sei, mein Herr, durch unsern Bruder, das Wasser,
Das sehr nütz ist und demütig und köstlich und keusch.
Gelobt sei, mein Herr, durch unsern Bruder, das Feuer,
Durch das Du die Nacht erhellst,
Und es ist schön und freudig und sehr stark und gewaltig.
Gelobt sei, mein Herr, durch unsre Schwester, die Mutter Erde,
Die uns versorgt und ernährt
Und mannigfache Früchte hervorbringt und bunte Blumen und Kräuter.
Gelobt sei, mein Herr, durch die, welche verzeihen um Deiner Liebe willen
Und Schwachheit ertragen und Trübsal.
Glückselig die, welche sie ertragen werden in Frieden,
Denn von Dir, o Herr, sollen sie gekrönt werden.
Gelobt sei, mein Herr, durch unsern Bruder, den leiblichen Tod,
Dem kein lebender Mensch entrinnen kann.
Wehe denen, die in Todsünden sterben werden,
Selig die, so sich in Deinen heiligsten Willen finden,
Denn der zweite Tod kann ihnen nichts Böses antun.
Lobet und benedeiet meinen Herrn und dankt ihm
Und dienet ihm in großer Demut!
In Liebesglut verzehrt sich sein Leben. Dieselbe Unbedingtheit eines in jedem Augenblicke sich ganz und voll hingebenden Wesens, dieselbe Fülle der Lebensempfindung, dieselbe feurige Begeisterungsfähigkeit, dieselbe erregbarste Phantasie, die ihn in seinen frühen Jahren zum Führer einer ritterlichen Idealen und Lebensgenüssen nachjagenden Jugend gemacht, gibt seiner gottgeweihten Tätigkeit die unwiderstehlich mit sich fortreißende Gewalt, läßt ihn vor dem Geringsten sich in Selbstdemütigungen erniedrigen, deren Erscheinungsformen bis an die äußersten Grenzen des Begreiflichen gehen, treibt ihn zu einer die Kraft des Wunders in sich tragenden Selbstentäußerung, verleiht seiner rastlosen geistigen Wirksamkeit in Predigt, Lehre, Wohltun und Gebet den Sieg über alle Anforderungen seines zarten Leibes, gebietet ihm aszetische Brechung seines Willens, erweckt ihm den Wunsch des Martyriums und gewährt ihm endlich in Augenblicken höchster Entzückung das Erlebnis des mit Christus Gekreuzigtwerdens in der Stigmatisation auf dem Berge Alvernia.
Welcher Art müssen die Leiden eines solchen Mannes gewesen sein, als er, 1219 von einem Aufenthalte bei dem Kreuzfahrerheer in Ägypten zurückkehrend, Mißbräuche und Meinungsverschiedenheiten in seinem 1217 fester organisierten Orden eingerissen fand, als er mit jedem Jahr mehr erkennen mußte, wie unmöglich die Verwirklichung seines Ideales apostolischen Wandels und christlicher Liebe war. Die nähere Festsetzung der Regel 1221 und 1223 verrät die Notwendigkeit immer bestimmteren äußeren Zwanges im Gegensatz zu der freien Befolgung heiliger Gebote. Mehr und mehr trotz aller Wanderungen und predigenden Tätigkeit wird sein Leben zu einem ringenden und schauenden Sichversenken in das Innere. In der Einsamkeit der Wälder vernimmt er die Stimme seines ihm tröstend nahen Gottes, auf Bergeshöhen am 29. September 1224 empfängt er die Wundmale. Seine Sehnsucht der Einswerdung mit dem Erlöser ist erfüllt, sein Erdenwerk getan. Und wenn er, die Weihe eines reineren Daseins seinen Mitgeschöpfen spendend, fortfährt zu lehren, mahnen und trösten – der Bruder Körper, der sich für die ihm angetane Vernachlässigung rächte, verkündete ihm die nahe Stunde seines Scheidens. Von einem durch die Ärzte verschlimmerten Augenleiden gepeinigt, gebrochenen Leibes, aber ungebrochener Liebeskraft, übergab er am 3. Oktober 1226 in S. Maria degli Angeli seine Seele Gott. Der Sang der seine Zelle umflatternden Vögel geleitete sie auf ihrem Fluge.
Dieser Seele Segen aber blieb der Welt. Mochte der Franziskanerorden, der sich bald in zwei miteinander kämpfende Parteien, eine laxer und eine strenger die Regel auffassende, spaltete, den über allen Gemeinsamkeitsorganisationen waltenden Gesetzen der Veräußerlichung und Entsittlichung verfallen, einzelne große im Sinne seines Gründers wirkende Persönlichkeiten haben ihm angehört, viele seelische Wohltaten verdanken ihm die auf Franziskus folgenden Jahrhunderte. Aber dies, möchte man sagen, ist das Nebensächliche. In der geistigen Befreiung und künstlerischen Inspiration, die Franz seinem Volke und damit der Welt gebracht, liegt seine ewige Bedeutung. So gewiß wir nicht berechtigt sind, ihn von seiner Zeit zu lösen und ihm heute herrschende Anschauungen zuzuerkennen, so gewiß dürfen wir ihn als den religiösen Verkündiger eines die frühmittelalterliche Welt ablösenden Verhältnisses zu Gott und der Natur verehren. Auf seine Liebestat ist die religiöse Dichtung des 13. Jahrhunderts, ist der bis auf unsere Tage nachwirkende, »neuen Lebens« volle, künstlerische Gehalt der Danteschen Schöpfungen zurückzuführen, aus ihr ging der Drang und die Kraft des Schauens eines Menschlich-Göttlichen hervor, dem die Kunst der italienischen Renaissance erhabensten Ausdruck verlieh. Durch sie ward dem Denken der Anstoß gegeben, welcher die großen Franziskanergelehrten zu ihren die neuere Philosophie vorbereitenden Gedanken ermutigte. Sollen wir dies ein Wunder nennen, größer als alle die Wunder, von denen uns die Legende des Heiligen berichtet? Ja, wenn wir die Kraft seiner Liebe für ein Unbegreifliches halten – nein, wenn sie uns in unserem Leben das Allergewisseste und am unmittelbarsten Verständliche ist. Unbegreiflich für den, welcher, dem Metaphysischen abgewendet, dem religiösen Glauben eine entscheidene Bedeutung für die Kultur nicht zuerkennt, überzeugend für den, der alle großen Kulturfortschritte als durch Religion bedingt betrachtet. Und hierzu fordert gerade die Wahrnehmung des unverkennbaren inneren Zusammenhanges auf, in welchem alles geistige Geschehen der folgenden Jahrhunderte, selbst der scheinbar unabhängige Humanismus mit der religiösen Bewegung steht, die in Franz gipfelt und durch ihn zu bestimmtester Gestaltung gebracht ward. Die tiefste Erklärung für solch ein Phänomen dürfte, in kurzen Worten zusammengefaßt, darin gefunden werden, daß eine volle Offenbarung des eigentlichen Wesens des Christentums dem weltflüchtigen Wahne, dieses verdamme die Natur als unheilig, ein Ende gemacht hat. Der christlichste Mann verkündete kraft seiner Liebe, daß die erlösende Nächstenliebe des Evangeliums nicht nur den Menschen, sondern die gesamte Natur in sich schließt, und besiegelte solche Wahrheit durch sein eigenes Leben. Diese neue Botschaft, diese Enthüllung eines bis dahin verborgenen universalen Gehaltes des Christentums, diese Versöhnung zwischen Mensch und Natur, ja diese harmonische Einbeziehung des Menschlichen in alle Kräfte und Geschöpfe des Kosmos war es, von der die neuere Weltanschauung ihren Ausgang nahm.
In dem nun erst voll verstandenen Sinne des Stifters des Christentums ward der christliche Glaube zu jener Größe erweitert, die dem Geistesleben die vollkommenste Freiheit des Erkennens, der Seele die Freudigkeit allumfassenden Einheitsgefühles, der Einbildungskraft das künstlerisch zu verwirklichende Ideal eines in allen Erscheinungen zutage tretenden Wesens fortan schenken sollte. Und damit erst ward das Christentum die Religion, die alle Tiefen und Höhen, alle unendlichen Möglichkeiten der ethischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Bewährung, das heißt höchster Kultur, in sich umfaßt.
In seiner Weise hat das italienische Volk dem geliebten Wohltäter seinen Dank abgetragen. Noch während des Franciscus Lebzeiten begann unter dem wunderbaren Eindruck der in ihm wirkenden Segensmacht die Legende deren Äußerungen auszuschmücken, zu deuten und in typischen Bildern zu verherrlichen. In den zwei Viten des Thomas a Celano, die für unsere Kenntnis von seinem Leben einzig ausschlaggebend und vertrauenswürdig sind, sehen wir schon den verklärenden göttlichen Strahl überirdischer Kraft die schlichte Gestalt umschimmern. Indessen im Geiste kirchlicher Beglaubigung die von Bonaventura als offiziell gültig verfaßte Lebensbeschreibung alle durch den Heiligen bewirkten Wunder verzeichnet, gewinnt zu gleicher Zeit die volkstümliche Anschauung in den Liedern der Franziskaner, namentlich des Jacopone da Todi, dichterische Gestaltung. Und diese entwickelt sich, ihren Einfluß erweiternd und selbst auf Parteischriften, wie das von den Zelanten im Anfang des 14. Jahrhunderts verfaßte Speculum perfectionis, erstreckend, zu immer höherer künstlerischer Bedeutung, bis das durch seine Einfalt, Zartheit und Sinnigkeit bezaubernde Buch entsteht, welches hier in einer Übersetzung dem deutschen Volke geschenkt wird: die Fioretti di San Francesco. Es besteht aus mehreren Legendenzyklen; seinen Kern bilden die dreiundfünfzig Kapitel der eigentlichen »Blümlein«. In der Heimat des Franz, in Umbrien entstanden, sind sie im 14. Jahrhundert, wahrscheinlich vom Bruder Hugolino von Monte Giorgio aus dem Hause der Herren von Brunforte, lateinisch aufgeschrieben worden Diese lateinische Legendensammlung ist von Paul Sabatier als »Floretum S. Francisci Assisiensis Liber aureus qui dicitur i Fioretti di San Francesco« herausgegeben worden (Paris 1902, bei Fischbacher).. Die ältesten Handschriften der italienischen Version, so der Kodex des Amaretto Manelli von 1396, bringen neben den Fioretti im engeren Sinne die »Betrachtungen über die hochheiligen Wundmale«; später reihen sich andere Legenden an, von denen diese Verdeutschung das Leben Bruder Ginepros und jenes des heiligen Frater Egidio enthält Eine kritische Übersicht der verschiedenen Bestandteile der »Fioretti« gibt L. Manzoni in seiner Ausgabe des Textes von Amaretto Manelli (Rom, Loescher 1892)..
Noch heute »ein Brevier des italienischen Volkes«, sind die Fioretti, wenn auch nicht geschichtliche, so doch Zeugnisse von unschätzbarem Werte für unsere Kenntnis des großen Liebenden, denn sie zeichnen dessen Bild, wie es in der Anschauung aller fortlebte, und so enthalten sie jene tiefe Wahrheit, welche der dichtenden Schauenskraft des Volkes verdankt wird. Sie sind der in dessen Seele erweckte Widerschein des göttlichen Feuers, das Gott in dem heiligen Franz wunderbarlich hatte erscheinen lassen.