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Siebzehntes Kapitel

Die Villa Blank lag im Fahnenschmuck, und die Maisonne spielte freudig um die lebhaften Farben der Flaggentücher.

Am Eingang zur Villa von der Straße her erhob sich eine Ehrenpforte aus Tannen- und jungem Buchengrün, und der Weg bis zur Hausthür war mit Blattwerk und Blumen überstreut.

An der das Fabrikgebäude begrenzenden Gartenseite stand eine dichte Reihe Roßkastanien im ersten Blütenschmuck und verhüllte den Blick auf die Arbeitsgebäude und die prosaischen Holzlager. Die mächtigen Schornsteine der Dampfsägewerke ragten rauchlos in die sonnenklare Luft – es war Feiertag in der Villa und in der Fabrik.

In der neunten Stunde sammelten sich die Arbeiter im Sonntagsstaat, und Blank senior und junior traten grüßend unter sie.

Martin Blank war bewegt. Er nickte seinen Angestellten vertraut zu und sprach, nachdem sie sich um ihn aufgestellt hatten:

»Leute, wir haben einig zusammengehalten, so lange ich denken kann, und kein ernstlicher Mißton hat unser Verhältnis je dauernd gestört. Ich habe Teilnahme bei euch gefunden, wenn ein Leid mein Haus getroffen hatte; ich kann mich nicht freuen, ohne euch die Freude teilen zu lassen. Ihr kennt sie alle, unsere Anna Wichbern, und die meisten von euch kannten ihren Vater, verehrten in ihm den Lehrer und wahrhaft selbstlosen Freund und Berater. So nehmt denn an unserem Feste teil mit warmem Herzen, laßt unser Fest das eure sein und streut eure Wünsche auf den Weg des Brautpaars! Und mir – mir vergönnt ein Zeichen der Erkenntlichkeit und Anhänglichkeit: jeder nehme von meinem Sohne ein Monatsgehalt als Festgabe.«

Brausender Jubel dankte dem Fabrikherrn, und seine Herzlichkeit ließ erkennen, daß es nicht die Gabe allein war, die ihn hervorrief.

Ein Diener brachte einen mit Couverts gefüllten Korb. Jeder Umschlag trug den Namen des damit zu Beschenkenden und barg den für ihn bestimmten Betrag.

Blank junior verlas die Namen und der Seniorchef überreichte die Gaben jedem persönlich.

Dankbar strömten die Angestellten dann voraus nach der Dorfkirche und bildeten vor dem Gotteshause erwartungsvoll Spalier.

Frau Wichbern trat im ersten Stockwerk zu der strahlenden Braut und legte ein kostbares Armband um ihr Handgelenk.

»Ich hatte es dir mitgebracht, als ich dich – zum erstenmale sah,« sagte sie leise.

Die Braut dankte ihr glücklich.

Die Herbheit und Strenge war aus dem Gesichte der alten Dame gewichen, und sie umfaßte und streichelte die bräutliche Nichte weich und fast schüchtern zärtlich.

Das Mädchen trug ein weißes Seidenkleid, im vollen blonden Haar den Myrtenkranz. Ein kostbarer Schleier wallte lang herab.

Der offene Brautwagen war mit Flieder und Rosen über und über bekränzt. Die Schmückung war das Werk Ann-Lens. Stundenlang hatte sie dem Gärtner die Blumen zugereicht und immer neue Armevoll ihrer Lieblingsblüten herbeigeholt.

Die Hochzeitsgesellschaft war klein. Nur die nächsten Angehörigen und Freunde des Brautpaars waren mit Einladungen bedacht worden. Der Bruder des Bräutigams, der ehemals bei den Garde-Kürassieren in der Reichshauptstadt gestanden hatte, war in Uniform erschienen und zugleich mit Bernd befreundeten Kameraden angelangt, die als Brautführer viele Blicke auf sich zogen.

Die Fahrt zur Kirche glich einem Triumphzuge. Vor manchen Häusern streuten die Kinder Epheu, Feldblumen, Flieder, Narzissen und Primeln über den Weg, sobald der Brautwagen in Sicht kam.

Die Arbeiter vor der Kirche zogen die Hüte und Mützen.

Die Braut in ihrer lieblichen Schöne und der Bräutigam in der kraftvoll männlichen Haltung und mit dem feierlich ernsten Ausdruck in dem markigen Antlitz erregten Bewunderung und Stolz.

Der Geistliche sprach schlicht und verständlich. Er schöpfte die Worte aus dem Herzen und fand den Weg zu den Herzen.

Nach der kirchlichen Feier tafelten die Angestellten in dem Verwaltungsgebäude der Fabrik, und die Feststimmung war unter ihnen eine so frohe, wie in der Villa.

Ann-Len schmiegte sich nach dem Diner an den Arm der Frau Wichbern.

»Das ist der schönste Tag meines Lebens,« erklärte sie überschwänglich. »Wie rührend ist unsere Anna, wie ernst und schön der Mann,« schwärmte sie weiter. »Ob ich wohl auch einmal so glücklich werde?«

»Natürlich, meine kleine Freundin,« versicherte Frau Wichbern dem Mädchen mit dem schmalen, blassen, verklärten Antlitz.

»Ich glaube, ich mache auch keine Hochzeitsreise,« fuhr Ann-Len fort. – »Ist das nicht vernünftig von Anna und Bernd, daß sie den Unsinn nicht mitmachen? Ach ja, die sollen nur nach dem schönen Depenau gehen; und ein paar Tage – ja, wenn die um sind, dann fahren wir auch hinaus – Sie und ich – und besuchen sie. Gott, muß das reizend sein, so als Braut und Bräutigam und Frau und Mann! Ein glücklicheres Paar als die giebt's aber auch nicht. Und besser auch nicht, nicht wahr, Tante Wichbern?«

»Du wirst einmal ebenso froh und glücklich werden und du verdienst es auch, Ann-Len,« schmeichelte die alte Dame.

»Ja?« fragte Ann-Len harmlos. »Ich weiß aber nicht, wer mich gern haben könnte ...«

»Nicht? Auch keinen, dem die Ann-Len gut sein könnte?« forschte Frau Wichbern.

»Ach nein. Meinem Vater, ja, und Bernd auch. Aber sonst? Mein Bruder gefällt mir schon nicht so gut, nicht ganz so gut, und andere Männer erst gar nicht.«

»Der Rechte wird schon noch kommen, mein Kind.«

»Meinen Sie?« fragte Ann-Len zögernd. Aber dann ging sie auch schon wieder auf ein anderes Thema über. »Tante Wichbern, habe ich sehr geweint in der Kirche? Ja? Es war aber auch zu schön. Und Anna hat auch geweint – ich habe es wohl gesehen! Bloß Bernd nicht ... der machte ein Gesicht – – furchtbar ernst. Mein alter Papa sah auch ganz rot aus ...«

Sie plauderte in einem fort und Frau Wichbern horchte ihr freundlich zu. – – – –

In der Zeit, als im stillen Dorfe der Hochzeitszug sich nach dem bekränzten Gotteshause bewegte, wurde in Kiel der Advokatenbauer erneut vor die Schranken geführt, und der tödliche Ernst des Kampfes, der ihm bevorstand, spiegelte sich in seinen schlaffen Mienen. Er hielt gewaltsam an sich und suchte eine gewisse Würde zu wahren. Aber so kalt und dreist er den Gerichtshof und die Zuschauer früher gemustert hatte, so unruhig und beengt glitt sein Blick in der Stunde der erneuten Abrechnung durch den Saal.

Er gab seine Sache nicht verloren, er suchte sein Heil in starrem Leugnen.

Als der Zeuge Keßler vorgerufen wurde, fragte der Präsident kurz und scharf:

»Angeklagter, ist Ihnen der Zeuge bekannt?«

»Nein!« scholl es von der Angeklagtenbank.

»Herr Zeuge, vermögen Sie den Angeklagten so zu rekognoscieren, daß Ihnen jeder Zweifel ausgeschlossen ist?«

Der Zeuge bejahte fest und ernst.

»Erkennen Sie die in dem See aufgefischte Waffe –« der Präsident zeigte auf die auf einem Tische liegenden Fundstücke – »als von dem Angeklagten in Ihrem Geschäft gekauft wieder?«

»Ja!«

»Wann erfolgte der Ankauf?«

»Gegen Ausgang Oktober vorigen Jahres.«

Der Zeuge stand eine geraume Zeit in einem Kreuzfeuer von Fragen, zu dem Präsident, Staatsanwalt und Verteidiger gleich lebhaft beitrugen.

Die Versicherung des Angeklagten gipfelte in dem stereotypen Satze: »Der Zeuge irrt.«

Christian Tiedjohann hatte sich vor dem Auftreten in der großen Schwurgerichtsverhandlung lebhaft gefürchtet. Seine Furcht schwand, als der Vorsitzende ihm freundlich und ruhig auseinander setzte, daß er nur einfach und wahrheitsgemäß zu antworten habe!

Er vermochte nur zu bestätigen, was durch seine Mitteilungen an den Kommissar zur Ermittelung der Fundstücke geführt hatte und wie die Gegenstände gehoben waren.

Die Bezugsquelle des Schuhzeugs blieb trotz aller Recherchen in Dunkel gehüllt. Die Behauptung der Staatsanwaltschaft, der Angeklagte habe zum Zweck der Irreführung die Schuhe über seinem eigenen Fußzeug getragen, wurde von Oldekop energisch verneint; er konnte aber weder hindern, daß die geladenen Sachverständigen ihr Gutachten im Sinne des Staatsanwalts abgaben, noch, daß durch Anproben des Schuhwerks an Ort und Stelle die Möglichkeit der staatsanwaltschaftlichen Behauptung augenscheinlich demonstriert wurde.

Die Ausführungen des Staatsanwalts waren vernichtend, und selbst der gewandte Angeklagte vermochte ihre Wirkung nur zum kleinsten Teil abzuschwächen.

Der öffentliche Ankläger schloß mit den pathetischen Worten: »Der alte Gott lebt noch, dessen Richtspruch lautet: Auge um Auge, Zahn um Zahn! Und dieser Gott der Rache führte den Zeugen in die Nacht und an den Weg des Verbrechens, damit durch ihn die Wahrheit an den Tag komme und die Unthat ihre Sühne finde. Es hilft nichts mehr, wenn der Angeklagte den Richtern, den Geschworenen, den Zuhörern seine Unschuld beteuert und mit frecher Stirn zum Himmel lügt, denn er ist überführt und gezeichnet. Die Furcht vor der Rache spricht aus seinem unsteten Wesen, und der Hohn ist ihm vergangen, der ihn, als er vor Monaten an der gleichen Stelle stand, noch spöttische Wendungen und Vergleiche finden und von einem Bilde sprechen ließ, das er ›nicht gemalt‹ habe. Aber er hat es gemalt, und er wird seinen gerechten Lohn finden! Fällen Sie Ihr Verdikt auf die Schuldfrage mit energischem Ja!«

In der Antwort Oldekops fehlte die schneidende Sicherheit.

»Nichts gegen früher ist verändert,« behauptete er, »als daß die Anklage zwei neue Zeugen entdeckt hat, von denen der eine so wenig weiß wie der andere. Der eine will wissen, daß ich einmal eine Waffe bei ihm gekauft habe, und er will diese Waffe in der vom Seegrund heraufgeholten wieder erkennen: aber er ist im Irrtum hinsichtlich des Käufers, und er vermag nicht entfernt anzugeben, warum gerade ich den merkwürdigen Transport nach dem See besorgt haben, und warum es nicht ein beliebiger anderer gewesen sein sollte! – Und der zweite Zeuge! Muß er mich gesehen haben? Er behauptet es selbst nicht einmal, er weiß nichts, als daß er einen Mann beobachtet hat. Einen Mann! Einen Mann! Mich – mich – mich? Das ist himmelschreiend willkürlich gefolgert, ich protestiere! und ich versichere: nein! und hundertmal nein! ich war es so wenig, wie ich anzugeben vermag, wer an meiner Stelle stand –!«

Der Angeklagte erhielt eine kräftige Unterstützung durch den neuen Verteidiger, der an die Stelle des alten getreten war, seine frische Kraft für den Klienten einsetzte und selbst erregte Scharmützel mit dem Staatsanwalt nicht scheute.

Aber das Spiel des Advokatenbauern war zu Ende und verloren. Niemand konnte an dem Verdikt der Geschworenen mehr zweifeln.

Die einzige und Hauptfrage lautete wie in der ersten Verhandlung, die Antwort der Geschworenen entgegengesetzt: » Ja! mit mehr als sieben Stimmen.«

Unter lautloser Stille erfolgte die Verkündigung des Todesurteils.

Der Angeklagte war gebrochen und raffte sich nur mühsam zu dem heiseren Rufe: »Ich bin unschuldig!« auf.

Tiedjohann und die wenigen Reickendorfer, die Zeugen der Schwurgerichtsverhandlung gewesen waren, drängten sich, als sie mit dem Abendzuge in das heimatliche Dorf zurückkehrten, schweigend in die vor der Blank'schen Villa angesammelte Menge und atmeten in der Feststimmung wie befreit auf.

An der Ehrenpforte hielt ein mit vier Schweißfüchsen bespannter Landauer, vor und hinter dem Wagen je ein halbes Dutzend berittener Gutsleute, die dem jungen Paar das Geleit geben wollten.

Hundertstimmiger Jubel grüßte das blühende Paar, als es, von dem Hausherrn und Frau Wichbern geleitet, aus der Villa trat, und folgte ihm, als unter dem Hüteschwenken der Reiter und Zuschauer der festliche Zug sich in Bewegung setzte.

Die Villa war noch lange hell erleuchtet, und die Hochzeitsgäste erfuhren nicht, wie der dramatische Schlußakt in Kiel sich abgespielt hatte.

Die Dörfler kolportierten unter sich die Nachricht, ohne sich die Feststimmung über den Augenblick hinaus stören zu lassen.

Christian Tiedjohann erhielt die ausgesetzte Belohnung ausgezahlt. Er faßte die wertvolle Banknote mit spitzen Fingern und versenkte sie scheu in die Tasche und daheim in einen wohl verschließbaren, aber mit Trödel angefüllten Schubkasten.

Erst nach Wochen holte er sie wieder hervor, betrachtete sie von allen Seiten und schob sie sorglich in eine kleine Kassette zu seinem Ersparten. Das Gespenst des von ihm für den Verurteilten heraufbeschworenen Todes war gewichen: Der Advokatenbauer war zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe begnadigt worden und verzeichnete in der Erreichung dieses zitternd erstrebten Zieles seinen letzten Triumph. In wenigen Monden verstummte dann die Kunde von ihm, verstummten selbst seine Unschuldsbeteuerungen – und erst nach Jahren, auf dem harten, einsamen Sterbelager, preßte sich ein herbes Geständnis seiner Schuld über die blutlosen Lippen.


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