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Ein Mensch kann einen Diamanten besitzen und dennoch sehr verlegen um ein Mittagessen sein
Eine vom Fiakerstande am Findelhause geholte Droschke brachte mich an jenem unglücklichen Sonnabend aus meinem behaglichen Heim und von meinem lieben Weibchen fort, bei der Herr Smithers zurückblieb, um sie zu trösten, so gut er konnte. Er sagte ihr, ich sei genötigt, in Angelegenheit unsrer Gesellschaft eine kleine Reise zu machen, und meine arme Mary packte schnell einen kleinen Koffer voll Wäsche, band mir meinen wollenen Schal um den Hals und bat meinen Gefährten dringend, die Wagenfenster geschlossen zu halten, was der Kerl auch mit grinsendem Lächeln versprach. Unsere Reise war nicht lang; ich hatte bis Cursitor Street, Chancery Lane, nicht mehr als einen Schilling zu zahlen, und dort wurde ich abgesetzt.
Das Haus, vor dem der Wagen hielt, schien eines von dem halben Dutzend in dieser Straße zu sein, die alle demselben Zwecke dienen. Kein Mensch, mag er auch noch so reich sein, kann an diesen trostlos aussehenden Häusern vorübergehen, ohne zu schaudern, meine ich. Die Vorderfenster sind vergittert, und auf dem schmutzigen Türpfeiler befand sich ein glänzendes Messingschild, welches anzeigte, daß »Aminadab, Beamter des Sheriffs von Middlesex« dort drinnen residierte. Ein kleiner rothaariger Judenjunge öffnete, als unser Wagen anhielt, das äußere Tor und nahm mich und mein Gepäck in Empfang.
Sobald wir eingetreten waren, verriegelte er die Tür wieder, und ich sah mich einer zweiten, massiven, mit starken Schlössern versehenen Pforte gegenüber, und, nachdem wir auch diese durchschritten hatten, befanden wir uns endlich im Innern des Hauses. Dasselbe zu beschreiben ist nicht nötig. Es ähnelt genau zehntausend andern Häusern der dunkeln Londoner City. Ein schmutziger Gang und eine schmutzige Treppe und vom Gange aus zwei schmutzige Türen führten in zwei schmutzige Zimmer, deren Fenster stark vergittert waren, und die innen eine gewisse widerwärtige Eleganz zeigten, die mich noch jetzt, bei der bloßen Erinnerung, mit Ekel erfüllt. An den Wänden hingen alle Arten von schlechten Gemälden in prunkenden Goldrahmen (wie verschieden von den Meisterwerken meines Vetters Michel Angelo!); auf dem Kamin standen große französische Uhren, Vasen und Leuchter, auf den Seitenbüfetts ungeheure Präsentierbretter mit plattiertem Birminghamgeschirr, denn Herr Aminadab verhaftete nicht nur diejenigen, die kein Geld zum Bezahlen hatten, er lieh auch solchen, die ihn wiederbezahlen konnten, Geld, und hatte all diese Artikel schon viele Male ver- und gekauft.
Ich wählte für die Nacht das Hinterzimmer, und während ein junges jüdisches Mädchen das kleine unsaubere Sofabett zurechtmachte (wehe dem Unglücklichen, der darauf schlafen sollte!), wurde ich ins vordere Gesellschaftszimmer eingeladen, wo Herr Aminadab, indem er mich aufforderte, guten Muts zu sein, mir mitteilte, daß ich ein Diner haben sollte, das mich nichts kostete, nämlich als Gast einer Persönlichkeit, die soeben angekommen wäre. Ich hatte freilich keinen Appetit, aber ich war froh, nicht allein bleiben zu müssen – selbst nicht die kurze Frist, bis Gus kam, in dessen nahe Wohnung ich einen Boten geschickt hatte.
Ich fand im Vorderzimmer vier Herren versammelt, die eben, abends acht Uhr, im Begriff standen, sich zu Tisch zu setzen. Zu meiner Verwunderung erkannte ich einen Herrn B., einen jungen Mann aus vornehmer Familie, der erst vor einer halben Stunde in Begleitung des Herrn Locks, Beamten des Horshamgefängnisses, in einem Postwagen angekommen war. Herr B. war auf folgende Weise verhaftet worden: Er war ein sorgloser, gutmütiger Lebemann und hatte Wechsel von bedeutendem Betrage für einen Freund indossiert, der, als Mann von guter Familie und unzweifelhafter Ehrenhaftigkeit, diese seine Ehre sowie die heiligsten Eide dafür verpfändet hatte, daß er die fraglichen Wechsel bezahlen werde. Der junge Herr B., der die Wechsel indossiert hatte, vergaß in seiner Gedankenlosigkeit die ganze Sache, und ebenso war es durch irgendeinen Zufall dem Freunde ergangen, dem er die Gefälligkeit erwiesen hatte; denn anstatt mit dem zur Einlösung der Papiere nötigen Gelde in London zu sein, befand dieser letztere Herr sich auf Reisen im Auslande und deutete Herrn B. auch mit keinem Worte an, daß die Wechsel ihm zur Last fallen würden. Der junge Herr lag gerade zu Brighton an einem Fieber krank, wurde von einem Gerichtsdiener aus seinem Bett geholt und an einem regnerischen Tage nach dem Gefängnisse in Horsham transportiert; hier hatte er einen Rückfall und wurde, nachdem er sich einigermaßen erholt, nach London in Herrn Aminadabs Haus gebracht, wo ich ihn fand – einen blassen, mageren, gutmütig und leichtsinnig aussehenden jungen Mann, der auf einem Sofa lag und das Diner angeordnet hatte, zu dem ich eingeladen war. Der Anblick von des jungen Mannes Gesicht tat einem weh, denn man konnte sich nicht darüber täuschen, daß seine Stunden gezählt waren.
Nun hat Herr B. mit meiner einfachen Geschichte eigentlich nichts zu tun, aber ich kann nicht umhin, seiner zu erwähnen, da ich nun einmal mit ihm zusammentraf. Er schickte sofort nach seinem Anwalt und nach seinem Arzt, der erstere ordnete schnell die Forderungen der Gerichtsbeamten, Herr B. aber schloß seine sonstige Rechnung mit der Welt ab; denn er erholte sich nach dem Verlassen des Gefängnisses nie wieder von dem Schrecken über die Einsperrung und starb wenige Wochen darauf. Obgleich der Vorfall vor vielen Jahren stattfand, so werde ich ihn doch bis an mein Lebensende nicht vergessen. Den Mann, der die Veranlassung zu B.s Tode war, sehe ich noch oft, – einen wohlhabenden Herrn, der schöne Pferde im Park reitet, am Fenster eines Klublokals herumsitzt und zweifellos viele Freunde und einen guten Ruf besitzt. Ich möchte nur wissen, ob der Mann ruhig schläft und mit gutem Appetit ißt, und ob er B.s Erben die Summe zurückerstattet hat, die dieser für ihn auslegte und um derentwillen er starb.
Da B.s Geschichte nichts mit der meinigen zu tun hat und hier nur um der Moral willen ihren Platz findet, brauche ich wohl eigentlich die Einzelheiten des Diners nicht zu erwähnen, zu dem jener Herr mich im Gefängnisse zu Cursitor Street einlud? Ei, ebenfalls um der Moral willen, und nur deshalb soll der Leser doch richtig und wahrheitsgetreu erfahren, aus welchen Gerichten dieses Mahl bestand.
Wir waren fünf Tischgenossen, und es gab drei silberne Suppenterrinen, nämlich mit Mockturtlesuppe, Ochsenschwanz- und Hühnersuppe. Dann kam ein großes Stück Lachs, ebenfalls auf silberner Schüssel, eine gebratene Gans, ein gebratener Hammelrücken, Wildbraten und alle Arten von Beigaben. So kann man als Gentleman auch in einem Gefängnis leben, wenn man Lust hat, und bei dieser Mahlzeit (von der ich in Wahrheit nicht nur, weil ich schon gegessen hatte, sondern auch weil mein Herz voll Betrübnis war, keinen Bissen genießen konnte) – bei dieser Mahlzeit traf mich mein Freund Gus Hoskins, als er auf meinen Brief herbeieilte.
Gus, der nie zuvor in einem Gefängnis gewesen und dem der Mut entsunken war, als der rothaarige junge Moses die vielen äußeren Eisentüren vor ihm öffnete und schloß, traute seinen Augen nicht, als er mich in einem glänzend erleuchteten Zimmer hinter einer Flasche Claret sitzend fand; die Vorhänge waren zugezogen, so daß man die Eisengitter an den Fenstern nicht sah, und Herr B. sowie Herr Lock, der Beamte aus Brighton, Herr Aminadab und ein anderer wohlhabender Mann desselben Gewerbes und derselben Religion waren so heiter und sahen so anständig aus, wie nur irgendein Edelmann im Lande.
»Lassen Sie ihn hereinkommen, wenn er ein Freund von Herrn Titmarsh ist,« sagte Herr B., »denn, wissen Sie, ich sehe gern mal einen Schelm, und ich will mich spießen lassen, Titmarsh, wenn ich Sie nicht für einen der geriebensten in ganz London halte. Sie sind dem Brough bei weitem über, beim Zeus! Der sieht wie ein Schurke aus – jeder würde darauf schwören; aber Sie, beim Zeus! Sie sehen wie das leibhafte Bild der Ehrlichkeit aus!«
»Ein feiner Hecht,« sagte Aminadab und blinzelte, auf mich deutend, seinem Freunde Herrn Jehoshaphat zu.
»Ein famoser,« antwortete Jehoshaphat.
»Sitzt wegen dreimalhunderttausend Pfund,« antwortete Aminadab, »Broughs rechte Hand und erst dreiundzwanzig Jahr alt.«
»Herr Titmarsh, Ihre Gesundheit,« rief Herr Lock in höchster Bewunderung. »Auf Ihre Gesundheit, Herr, und besseres Glück fürs nächste Mal.«
»Bah, bah! er wird schon Bescheid wissen,« sagte Aminadab; »laßt ihn nur machen.«
»Wegen was bin ich hier?« rief ich aufs höchste erstaunt. »Ei, mein Herr, ich bin doch für eine Schuld von neunzig Pfund verhaftet worden.«
»Ja, aber es handelt sich um eine halbe Million – das werden Sie wohl wissen. Von den kleinen Schulden – von den elenden Handwerkerrechnungen rede ich nicht. Ich meine Broughs Pleite. Das ist 'ne eklige Geschichte, aber Sie werden schon durchkommen. Wir alle kennen das, und ich möchte mein Leben darauf wetten, daß Frau Titmarsh, wenn die Sache aus ist, ein hübsches kleines Vermögen besitzen wird.«
»Frau Titmarsh hat allerdings ein kleines Vermögen, mein Herr,« sagte ich. »Was hat das aber hiermit zu tun?«
Die drei Herren brachen in ein schallendes Gelächter aus, sagten, ich sei ein »verfluchter Kerl« – ein »mit allen Hunden gehetzter Fuchs«, und machten andre Bemerkungen, die ich damals nicht verstehen konnte, deren Sinn ich aber nachher verstanden habe; denn sie hielten mich, wie ich zu meinem Leidwesen gestehen muß, für einen großen Schuft; glaubten, ich hätte die I.-W.-D.-Gesellschaft bestohlen, und hätte, um meinen Raub in Sicherheit zu bringen, alles auf meine Frau übertragen. Gus trat, wie ich schon bemerkte, ein, als dieses Gespräch im besten Gange war, und tat, als er hörte, um was es sich drehte, einen scharfen Pfiff!
»Setzen Sie sich,« sagte Herr B. – »setzen Sie sich nieder und feuchten Sie Ihre Kehle an, Sie Pfeifer! Weiß Gott, Sie sind wie der Pfeifer, der vor Moses spielte! Da, Dab. Holen Sie eine frische Flasche Burgunder für Herrn Hoskins.« Und ehe Gus noch recht wußte, wo er war, saß er zum erstenmal in seinem Leben hinter einer Flasche Clot-Vougeot. Gus sagte, er hätte niemals vorher Bergamy getrunken, worauf der Gerichtsbeamte höhnisch grinste und ihm den Namen des Weines mitteilte.
»Old clo Abgekürzt für Old Clothes = Alte Kleider.! Nicht wahr?« sagte Gus, und wir lachten, was aber die jüdischen Herrschaften diesmal nicht taten.
»Na, na, mein werter Herr!« sagte Aminadabs Freund, »wir alle hier sind Gentlemen, und Gentlemen machen niemals Bemerkungen über andrer Gentlemen religiöse Ueberzeugungen.«
Nach dem Essen zog ich mich mit Gus in mein Zimmer zurück, um über meine Angelegenheiten zu sprechen. Wegen der Verantwortlichkeit als Aktionär der West-Diddlesex machte ich mir keine Sorge, denn obwohl die Sache mir jetzt etwas aufregend schien, so wußte ich doch, daß ich nicht einmal Aktionär war; die Anteile waren Inhaberpapiere, auf die die Dividende ausbezahlt wurde, und meine Tante hatte ihre Aktien zurückgenommen, folglich war ich der Sache los und ledig. Aber es war mir sehr unangenehm, daran zu denken, daß ich ziemlich hundert Pfund an allerlei Lieferanten schuldete, besonders an die von Frau Hoggarty empfohlenen; aber weil sie versprochen hatte, diese Rechnungen zu bezahlen, so beschloß ich, ihr einen Brief zu senden, sie an ihr Versprechen zu erinnern und sie gleichzeitig um Berichtigung der Forderung des Herrn von Stiltz zu bitten, derentwegen ich verhaftet worden war. Diese hatte ich allerdings nicht auf ihren Wunsch, sondern auf den des Herrn Brough gemacht; denn ohne die ausdrückliche Aufforderung dieses Herrn wäre ich wohl niemals dazu gekommen, mir etwas bei von Stiltz zu bestellen.
Ich schrieb ihr also und bat sie, all diese Schulden zu bezahlen, und hoffte bei mir selbst, am Montag früh wieder bei meiner lieben Frau zu sein. Gus trug den Brief fort und versprach, ihn Sonntag nach der Kirchzeit in der Bernard Street abzuliefern und Sorge zu tragen, daß Mary überhaupt nichts von der peinlichen Lage erführe, in die ich geraten war. Es war fast Mitternacht, als wir auseinandergingen, und ich versuchte nun, so gut zu schlafen, wie es auf dem schmutzigen kleinen Sofabett in Herrn Aminadabs Hinterstube nur möglich war.
Am folgenden Morgen war das Wetter schön und sonnig, ich hörte alle Glocken fröhlich zur Kirche läuten und sehnte mich danach, mit meiner Frau nach der Findlingskirche gehen zu können; aber zwischen mir und der Freiheit lagen drei eiserne Tore, und ich konnte nichts tun, als meine Gebete in meinem Zimmer zu lesen und dann im Hof hinter dem Hause auf und ab zu gehen. Sollte man es glauben? Sogar dieser Hof war einem Käfig ähnlich! Starke Eisenstangen bedeckten ihn von einem Ende zum andern, und nur hier durften Herrn Aminadabs gefangene Vögel Luft schöpfen.
Man hatte mich in meinem Gebetbuch lesend am Fenster des Hinterzimmers sitzen sehen, und alle brachen in lautes Gelächter aus, als ich zum Spaziergang in den Käfig hinunterkam. Einige von ihnen riefen »Amen!« als ich hinaustrat, ein andrer nannte mich einen Muff (was in der Spitzbubensprache ein »erzdummer Kerl« heißt), und ein Dritter wunderte sich, daß ich »schon jetzt« zum Gebetbuch griffe.
»Wann meinen Sie denn, daß ich's tun sollte? fragte ich den Kerl – einen groben klobigen Pferdehändler.
»Ei, wenn man Sie zum Galgen führt. Sie junger Heuchler!« sagte der Mensch. »Aber so ist mal immer alles, was zu Broughs Leuten gehört,« fuhr er fort. »Ich hatte einmal vier Grauschimmel für ihn kolossal billig, aber ich konnte ihn nicht dazu bringen, sie im Tattersall anzusehen, oder auch nur ein Wort von dem Handel zu sprechen, bloß weil es gerade Sonntag war.«
»Weil es Heuchler gibt,« sagte ich, »ist die Religion doch noch nicht zu verachten; und wenn Herr Brough am Sonntag kein Geschäft mit Ihnen machen wollte, so tat er eben nur, was recht war.«
Die Leute lachten über diese Zurechtweisung nur um so mehr und betrachteten mich offenbar als einen recht verstockten Verbrecher. Ich war froh, durch die Ankunft von Gus und Herrn Smithers aus ihrer Gesellschaft erlöst zu werden. Beide machten ziemlich lange Gesichter. Sie wurden in mein Zimmer geführt, und Herr Aminadab brachte, ohne dazu aufgefordert zu sein, eine Flasche Wein und Zwiebäcke, eine recht liebenswürdige Aufmerksamkeit, wie mir schien.
»Trinken Sie ein Glas Wein, Herr Titmarsh, und lesen Sie dann dieses Schreiben. Es war ja ein sehr hübscher Brief, den Sie heut morgen Ihrer Tante schickten, und hier ist die Antwort darauf.«
Ich trank den Wein und zitterte beinahe, als ich folgendes las: –
»Mein Herr,
wenn Sie, weil Ihnen bekannt war, daß Sie mal mein Erbe sein sollten, darauf rechneten, mich zu morden und sich so in den Besitz meines Vermögens zu setzen, so haben Sie falsch gerechnet. Ihre Schlechtigkeit und Undankbarkeit würden mich allerdings ums Leben gebracht haben, wenn ich nicht, dem Himmel sei Dank, imstande wäre, wo anders Trost zu suchen.
Fast ein Jahr lang habe ich mich für Sie geopfert. Ich habe alles für Sie aufgegeben, – mein behagliches Heim auf dem Lande, wo alles den Namen Hoggarty achtete und ehrte, meine wertvollen Möbel und Weine, mein Silberzeug, Glas- und Porzellangeschirr; ich brachte das alles – alles mit, um Ihr Haus zu einem angenehmen und anständigen Aufenthalt zu machen. Ich ließ mir das impertinente Benehmen von Frau Titmarsh gefallen; ich überhäufte sie und Sie selbst mit Geschenken und Wohltaten. Ich opferte mich selbst; ich gab die beste Gesellschaft in England auf, an die ich gewöhnt bin, um Ihnen Schützerin und Gesellschafterin zu sein, und, wenn möglich, der Verschwendung Einhalt zu tun, die, wie ich stets voraussagte, Sie einmal zugrunde richten mußte. Ich habe niemals, niemals, niemals vorher eine solche Verwüstung und Verschwendung gesehen. Mit der Butter wurde umgegangen, als wäre es Schmutz, die Kohlen wurden weggeworfen, die Lichter an beiden Seiten angezündet, und mit Tee und Fleisch ging's ebenso. Die Fleischerrechnung in diesem Hause hätte hingereicht, um sechs Familien zu erhalten. Und jetzt haben Sie die Vermessenheit, jetzt, wo Sie für Ihre Verbrechen nach Recht und Gerechtigkeit im Gefängnisse sitzen, dafür, daß Sie mich um dreitausend Pfund betrogen und Ihre Mutter um eine Summe gebracht haben, die zwar klein ist, aber für sie, die arme Person, doch das einzige war, was sie hatte (obwohl sie ihren Verlust nicht wie ich empfinden wird, weil sie ihr ganzes Leben lang fast eine Bettlerin war), dafür daß Sie Schulden gemacht haben, die Sie nicht bezahlen können, während Sie doch wußten, daß Ihr erbärmliches Einkommen solche Verschwendung nicht erlaubte – und nun kommen Sie mir und verlangen, daß ich Ihre Schulden bezahle! Nein, Herr, es ist reichlich genug, daß Ihre Mutter einst der Gemeinde zur Last fallen, und daß Ihre Frau die Straße fegen wird, und daß Sie sie dahin gebracht haben; mich haben Sie zwar um eine große Summe betrogen und mich dadurch gezwungen, meine Tage in gewisser Einschränkung zu verbringen, aber ich kann mich zurückziehen und mir immerhin noch einige Bequemlichkeiten gestatten, wie sie meinem Range zukommen. Das Möblement des Hauses ist mein, und da ich annehme, daß Sie Ihre Lady nicht auf der Straße schlafen zu lassen beabsichtigen, so zeige ich Ihnen hiermit an, daß ich morgen alles werde fortschaffen lassen.
Herr Smithers wird Ihnen sagen, daß ich die Absicht hatte, Ihnen mein ganzes Vermögen zu hinterlassen. Ich habe heut morgen in seiner Gegenwart mein Testament feierlich zerrissen und weise damit jede fernere Verbindung mit Ihnen und Ihrer bettelhaften Familie zurück.
Susanne Hoggarty.«
P. S. Ich wärmte eine Schlange an meinem Busen, und sie hat mich gestochen.
Ich gestehe ein, daß das erste Lesen dieses Briefes mich in eine solche Wut versetzte, daß ich beinahe die peinliche Lage, in die er mich versetzte, und den über mir schwebenden Ruin vergessen hätte.
»Wie konnten Sie aber auch so ein Tor sein, Titmarsh, und jenen Brief schreiben!« sagte Herr Smithers. »Sie haben sich damit selbst den Todesstoß versetzt, – sich um ein schönes Vermögen gebracht, – ja, Sie haben sich geradezu um fünfhundert Pfund jährlich geschrieben. Frau Hoggarty, meine Klientin, brachte das Testament, wie sie in ihrem Briefe sagt, geradeswegs aus ihrem Zimmer herunter und warf es vor unsern Augen ins Feuer.«
»Ein Glück, daß Ihre Frau nicht zu Haus war,« fügte Gus hinzu. »Sie ging heut morgen mit Dr. Salts Familie zur Kirche und schickte einen Boten, daß sie den Tag über bei dieser Familie bleiben würde. Sie wissen, sie war immer froh, von Frau Hoggarty loszukommen.«
»Sie wußte auch nicht, auf welcher Seite ihr Brot mit Butter gestrichen war,« sagte Herr Smithers. »Sie hätten die Dame einmal bei guter Laune herumkriegen und das Geld so lange irgendwo borgen sollen. Ei, es war mir eben beinahe gelungen, sie über ihren Verlust bei dieser verdammten Gesellschaft zu trösten. Ich hatte ihr vorgestellt, daß ich doch den größten Teil ihres noch bleibenden Vermögens aus Broughs Klauen gerettet hätte, der es in einem einzigen Tage verschlungen haben würde, der Schuft! Und wenn Sie mir die Sache überlassen hätten, Herr Titmarsh, so würde ich Sie bald gänzlich mit Frau Hoggarty ausgesöhnt haben; ich hätte all Ihre Verlegenheiten beseitigt; ich hätte Ihnen die elende Summe von meinem eignen Gelde geliehen.«
»Wollen Sie das?« sagte Gus; »das nenne ich ein Freundschaftsstück!« und damit ergriff er Smithers Hand und drückte sie so, daß dem Anwalt die Tränen in die Augen kamen.
»Großmütiger Mensch!« sagte ich, »Sie wollen mir das Geld leihen, obwohl Sie wissen, in welcher Lage ich mich befinde und daß ich nicht imstande bin, zurückzuzahlen!«
»Ja, mein guter Herr, da liegt aber der Hase im Pfeffer!« sagte Herr Smithers. »Ich sagte, ich würde Ihnen das Geld geliehen haben, würde es dem anerkannten Erben von Frau Hoggarty leihen – auch noch in diesem Augenblicke, denn nichts erfreut Bob Smithers Herz mehr, als Gutes tun zu können. Ich würde hocherfreut gewesen sein, es zu tun, und eine einfache Bescheinigung der ehrenwerten Dame hätte mir völlig genügt. Aber jetzt, mein guter Herr, steht die Sache ganz anders, – Sie haben mir, wie Sie richtig bemerken, keinerlei Sicherheit zu bieten.«
»Nicht die allergeringste.«
»Und ohne Sicherheit, lieber Herr, können Sie natürlich auch kein Geld erwarten – selbstverständlich nicht. Sie sind ein Mann, der die Welt kennt, Herr Titmarsh, und ich sehe, daß unsre Anschauungen völlig übereinstimmen.«
»Aber seine Frau hat Vermögen,« meinte Gus.
»Vermögen seiner Frau? Pah! Frau Sam Titmarsh ist minderjährig und kann über keinen Schilling verfügen. Nein, nein, mit Unmündigen will ich nichts zu tun haben! Aber halt! – Ihre Mutter hat ein Haus und einen Laden in unserm Orte. Nehmen Sie eine Hypothek darauf –«
»Das werde ich nicht tun, Herr Smithers,« sagte ich. »Meine Mutter hat um meinetwillen schon gerade genug gelitten und muß für meine Schwestern sorgen, und ich werde Ihnen dankbar sein, Herr Smithers, wenn Sie keine Silbe zu ihr über meine jetzige Lage verlauten lassen.«
»Sie sprechen wie ein Ehrenmann,« sagte Herr Smithers, »und ich werde Ihren Wünschen buchstäblich nachkommen. Ich will sogar noch mehr tun. Ich will Sie einer respektablen Anwaltsfirma hier empfehlen, meinen würdigen Freunden, den Herren Higgs, Biggs und Blatherwick, die alles tun werden, was in ihrer Macht steht, um Ihnen gefällig zu sein. Und nun, Herr Titmarsh, wünsche ich Ihnen einen recht guten Morgen.«
Damit nahm Herr Smithers seinen Hut und verließ das Zimmer, und nach einer weiteren Besprechung mit meiner Tante, von der ich später erfuhr, verließ er mit der Abendpost auch London.
Ich schickte meinen treuen Gus noch einmal aus, um meiner Frau die Sache schonend beizubringen, denn ich fürchtete, daß Frau Hoggarty ihr die Mitteilung davon ganz unvorbereitet machen könne, was sie, wie ich sie kannte, in ihrem Zorn wohl zu tun imstande war. Aber er kam nach einer Stunde, die ich in bangem Warten verbrachte, zurück und machte nur die Mitteilung, daß Frau Hoggarty ihre Koffer gepackt und verschlossen habe und in einer Mietskutsche davongefahren sei. Da wir nun wußten, daß meine arme Mary nicht vor dem Abend nach Hause kommen würde, so blieb Hoskins bis dahin bei mir und verließ mich nach einem trübseligen Tage erst um neun Uhr, um ihr die schlimme Nachricht zu bringen.
Um zehn Uhr hörte ich plötzlich ein großes Rasseln und Klingeln an der äußeren Tür, und gleich darauf fiel mein armes Weibchen mir in die Arme, und Gus Hoskins saß schluchzend in einer Ecke, während ich sie, so gut es ging, zu trösten versuchte.
Am nächsten Morgen beehrte mich Herr Blatherwick mit seinem Besuche, und erklärte mir, als er von mir hörte, daß ich nur drei Guineen in der Tasche hätte, gerade heraus, daß Advokaten nur von den Honoraren ihrer Klienten lebten. Er gab mir den Rat, Cursitor Street zu verlassen, wo das Leben sehr kostspielig wäre! Und als ich noch sehr betrübt über diesen Bescheid dasaß, trat meine Frau ein (die wir nur mit großer Mühe hatten bewegen können, mich den Abend vorher zu verlassen), und sagte:
»Die gräßlichen Männer kamen schon um vier Uhr heut morgen, vier Stunden vor Tagesanbruch.«
»Welche gräßlichen Männer?« fragte ich.
»Die Männer, die deine Tante schickte,« sagte sie, »um die Möbel fortzubringen; »sie hatten schon alles aufgepackt, als ich fortging. Und ich habe sie auch alles nehmen lassen,« sagte sie, »ich war zu traurig, um nachzusehen, was uns gehört und was nicht. Dieser schreckliche Herr Wapshot war bei ihnen, und ich ging fort, als er eben mit dem letzten Wagen von der Tür abfuhr. Ich habe nur deine Kleider und einige von den meinen weggebracht,« fügte sie hinzu, »und einige von den Büchern, in denen du immer lasest, und ein paar Sachen, die ich für das – für das Kleine gemacht habe. Der Lohn des Dienstboten war Weihnachten bezahlt worden, und ich zahlte den Rest. Und sieh! gerade als ich eben aus dem Hause gehen wollte, kam der Briefträger und brachte mir meine halbjährlichen Zinsen – fünfunddreißig Pfund, lieber Sam. Ist das nicht ein Segen?«
»Wollen Sie vielleicht meine Rechnung bezahlen, Herr Soundso?« schrie hier Herr Aminadab, die Tür ausreißend, dazwischen (er hatte, glaube ich, mit dem Herrn Blatherwick gesprochen) – »ich brauche das Zimmer für einen Gentleman. Für Leute wie Sie wird's wohl zu teuer sein.« Und damit – sollte man's glauben? – händigte mir der Mann eine Rechnung von drei Guineen für zwei Tage Pension ein, die ich in diesem entsetzlichen Hause zugebracht hatte.
Als ich aus der Tür des Hauses trat, standen eine Menge Neugierige da, und wäre ich allein gewesen, so hätte mich ihr Anblick wohl vor Scham zu Boden gedrückt; aber jetzt dachte ich nur an mein liebes, teures Weib, das sich vertrauensvoll auf meinen Arm stützte und mir mit himmlischem Lächeln ins Gesicht sah – ja, das mir den Himmel sogar ins Schuldgefängnis mitbrachte – oder doch wenigstens einen Engel des Himmels. Ach! Ich hatte sie vorher schon geliebt, und es macht selig, zu lieben, wenn man hoffnungsvoll und jung ist, inmitten von Lust und Sonnenschein; aber man muß unglücklich sein, um einzusehen, was es heißt, von einer guten Frau geliebt zu werden! Der Himmel ist mein Zeuge, daß von allen Freuden und glücklichen Augenblicken, die er mir gegeben hat, einer der allerglücklichsten war – die kleine Fahrt von Holborn Street nach dem Gefängnis, als meines Weibes Wange an meiner Schulter lehnte! Meint ihr, ich kümmerte mich da um den Schergen, der uns gegenüber saß? Nein, beim Himmel! Ich küßte sie und drückte sie an mich – ja, und weinte auch mit ihr. Aber noch ehe die Fahrt beendet war, trocknete sie ihre Augen und stieg errötend und glücklich am Gefängnistor aus dem Wagen, wie eine Prinzessin, die zum Lever einer Königin fährt.