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6.

Der Polizeirath kehrte mit dem kleinen alten Franzosen aus dem Hause zurück.

Beide gingen zu dem Baron, der noch in seinem Verstecke stand. Unterwegs hatte der Polizeirath dem Gensdarmen Schmidt gepfiffen. Der lange zugeknöpfte Mann stieß zu ihnen.

»Schmidt, führen Sie uns.«

Alle Vier gingen an der linken Seite des Hauses entlang, zwischen den Nebengebäuden hindurch an der Mauer des Gartens hinauf. Der Gensdarm Schmidt führte sie.

»Sie kennen die Oertlichkeit wieder, mein Herr?« fragte im Gehen der Baron Stromberg den Franzosen.

»Nein, mein Zerr. Durch den Neubau des Hauses hat sich hier alles verändert.«

»Aber den Stall werden Sie wiedererkennen?«

»Wenn es noch der alte ist und wenn dort keine Veränderungen stattgefunden haben. Indeß, es sind zwanzig Jahre verflossen – es war in der Dunkelheit – wir waren auf der Flucht – ich bin seitdem nie wieder hier gewesen. –«

Der Baron fragte nicht mehr. Sie gingen still weiter. Sie waren an der Mauer des Gartens vorüber, erreichten die Hecke, die ihn einschloß, und gingen an ihr entlang bis an das obere Ende des Gartens.

Der Gensdarm Schmidt machte Halt.

»Ich habe hier ein Loch in der Hecke machen lassen.«

Sie standen vor dem Loche.

»Der Stall ist in der Nähe?« fragte der Baron.

»Achtzig Schritt von hier.«

»Ist es sicher?«

»Die ganze Gegend ist besetzt.«

»Lassen Sie einen von den Leuten herbeikommen.«

Der Gensdarm Schmidt schnalzte mit der Zunge.

In dem Loche der Hecke erschien ein Gensdarm.

»Ist nichts passirt?« fragte ihn der Baron.

»Gar nichts.«

»Es hat sich Niemand blicken lassen?«

»Kein Mensch.«

»Der Stall ist besetzt?«

»Von allen Seiten.«

»Führen Sie uns hin.«

Der Gensdarm trat aus der Hecke in den Garten zurück, die Anderen traten durch die Hecke in den Garten. Der Gensdarm führte sie weiter, an der Hecke entlang, nach einem niedrigen, dunklen Gebäude hin, das in einiger Entfernung vor ihnen lag. Näher erkennen konnten sie es nicht.

Die Dunkelheit des Abends war tiefer geworden, der Himmel hatte sich mehr und mehr mit Wolken bedeckt. Der Baron verlor auf einmal eine Gemessenheit. Dunkelheit, Stille, Erwartung eines nahen, wichtigen Ereignisses machen manche Menschen aufgeregt, gesprächig. Der Baron wurde aufgeregt und gesprächig und herablassend dabei.

»Da liegt unser Ziel vor uns, lieber Polizeirath. Wir werden ein schweres Verbrechen entdecken. Zwanzig Jahre hat es im Verborgenen gelegen, gleichsam in dem Schooße der Erde geschlummert. Dort, vor uns, in dem dunklen Stalle! Heute kommt es hervor, an das Tageslicht – ich meine das figürlich, lieber Polizeirath, denn es ist dunkle Nacht um uns her. Der Verbrecher selbst soll, muß es heraus fördern. Zwanzig Jahre lang hat er sich sicher geglaubt, sein Verbrechen todt, für immer begraben. Er lebte sorglos, er genoß in Freuden, in Uebermuth den Reichthum, den er geraubt, den er durch einen blutigen Mord geraubt hatte. Nicht einmal sein Gewissen hat an jenen rohen Mann herantreten können. Auf einmal bricht das Verhängniß über ihn ein. Die Nemesis! Das Recht! Die Gerechtigkeit! Und er selbst wird, muß sich in unsere Hände liefern. Geben Sie Acht, lieber Polizeirath, in wenigen Minuten werden die Beiden hier sein, mit Schaufel und Hacke; sie werden in dem Stalle graben – sie selbst, um uns die Mühe des Suchens und Findens zu ersparen. Sie werden finden – suchen brauchen sie nicht einmal. Wir haben nur zuzugreifen. Es ist etwas Wunderbares um die unsichtbar, aber ewig waltende Gerechtigkeit.«

Der Polizeirath hatte still zugehört. Er hatte dann aber doch seine Bemerkungen.

»Hm, Herr Baron, und dennoch ist diese Gerechtigkeit oft ein eigen Ding, das mir nicht immer gefallen will.«

»Ah,« sagte der Baron, »Sie sind Polizeimann. Sie geht Ihnen nicht rasch genug; sie greift Ihnen nicht entschieden genug durch.«

»Ich meinte das Gegentheil, Herr Baron.«

»Wie so das Gegentheil?«

»Hm, wenn nun dieser rohe, gemeine Herr Sellner sich verräth, wer wird durch ihn mit ihm verrathen?«

»Seine Frau! Seine Genossin bei dem Verbrechen!«

»Die arme, kranke, unglückliche Frau!«

»Sie war seine Gehülfin!«

»Und hat seit jenem Augenblick keinen Schimmer der Freude, des Glücks mehr gehabt.«

»Sie ist Mörderin, wie er.«

»Und die arme Caroline, das Bild der Anmuth und der Unschuld? Was ist es mit ihr, wenn sie die Eltern, auch die arme Mutter das Schaffot muß besteigen sehen?«

»Hm,« sagte auch der Baron, und er setzte doch etwas langsam hinzu: »Aber das ist einmal nicht zu ändern. Der Lauf der Gerechtigkeit darf durch Rücksichten nicht aufgehalten werden. Und – sehen Sie uns am Ziele, Herr Polizeirath.«

Sie waren am Ziele. Der Baron wurde wieder vollständig amtlich ruhig und gemessen. Sie hatten das dunkle niedrig Gebäude, auf das sie zugegangen waren, erreicht. Sie standen in der That vor einem alten Stall. Die Augen des Barons leuchteten, trotz seiner Ruhe und Gemessenheit, durch das Dunkel.

Ein Gensdarm kam eilig herbei, leicht und leise, wie der Westwind, wenn ein Gensdarm und der Westwind mit einander zu vergleichen wären.

»Es nahen zwei Männer,« rapportirte er dem Baron.

»Wo?«

»Im Garten.«

»Woher kommen sie?«

»Vom Hause her. Sie gehen langsam, wie es schien, vorsichtig.«

»Und sie kommen hierher?«

»In gerader Richtung.«

»Tragen sie etwas?«

»Es kam mir so vor.«

»Ah, Schaufel und Hacke. Treten wir zurück; ganz an die Hecke heran. Niemand rührt sich ohne ein Zeichen von mir. Fort!«

» Parbleu!« rief auf einmal der Franzose, Herr Dubois. » Parbleu, Monsieur le Baron

»Was giebt es, Herr Dubois?«

»Das ist nicht der rechte Stall, mein Herr.«

»Wie?«

»Ich versichere Sie. Dieser Stall ist nicht der rechte. Hier ist der Mord nicht verübt.«

»Wie wissen Sie das?«

»Jener war von Holz. Dieser ist von Stein.«

»Sie erinnern sich genau?«

»Vollkommen genau.«

»Aber es ist nur dieser eine Stall hier!«

»Ich sehe freilich keinen zweiten.«

»Und er ist alt!«

»Alt und verfallen. Er muß schon zu jener Zeit gestanden haben.«

»So hätten damals zwei Ställe hier gestanden?«

»Wohl möglich.«

»Sie hatten aber nur einen gesehen!«

»In der Dunkelheit, in der Verwirrung!«

»Was nun?« fragte der Baron.

»Nur fort!« drängte der Polizeirath.

Er hatte doch wohl mehr Besonnenheit, als der besonnene, vornehme Baron, dem er untergeordnet war.

Sie zogen sich hinter den Stall an die Hecke zurück und verbargen sich zwischen ein paar Haselnußstauden, die dort standen.

Es war hohe Zeit gewesen. Man hörte durch das Dunkel zwei Menschen näher kommen. Sie kamen von dem Hause her. Man konnte sie bald sehen, erkennen.

»Zwei Männer sind es,« sagte der Baron, den die Erwartung wieder aufzuregen schien. »Der Herr Sellner und der alte Knecht. Sie gehen in gerader Richtung auf den Stall los. Sie tragen etwas in der Hand. Wenigstens der Herr. Sie stehen still; sie blicken umher; sie gehen um den Stall herum. An der Thür machen sie Halt. Jetzt werden sie hineingehen. Sie gehen wieder weiter. Was mögen sie noch wollen? Sie wenden sich hierher! Himmel – sie kommen gerades Weges auf uns zu. Und was der Herr, der Sellner, in der Hand trägt, es ist kein Spaten, keine Schaufel, es ist ein Stock. Was fangen wir an, lieber Polizeirath?«

»Arretiren!« sagte der Polizeirath kurz und entschieden.

Er schien keinen Augenblick seine Besonnenheit verloren zu haben.

»Ohne Weiteres?« fragte der Baron.

»Ohne Weiteres, wenn wir uns nicht gar lächerlich machen wollen.«

»Aber wenn wir keinen Beweis finden?«

»Bedenken nachher. Jetzt Muth!«

»Und dann?«

»Consequenz! Wir haben es mit einem eben so frechen, wie entschlossenen Menschen zu thun. Mit dem Stall hier ist es nichts. Da will er nun durch Trotz uns imponiren.«

»Glauben Sie?«

»Arretiren Sie ihn nur.«

Der Baron mußte keinen besseren Rath wissen. Der Herr Sellner war, gefolgt von seinem Knechte bis auf fünf Schritte an die Haselstauden herangekommen. Er blieb stehen, der Knecht hinter ihm. Er trug ein mächtiges spanisches Rohr in der Hand. Er erhob es. Er wollte etwas sagen. Der Baron trat ihm rasch aus dem Gebüsch entgegen; an seiner Seite waren zwei Gensdarmen; ihm folgte der Polizeirath.

»Sie sind arretirt!« sagte der Baron zu dem Herrn Sellner.

Er hatte seine volle Ruhe wieder. Der Herr Sellner aber hatte die seinige nicht wieder verloren.

»Ha, Sie sind es, meine Herren! Man hatte mir gesagt, daß hier fremde Menschen in meinem Garten herumschleichen. Ich mußte wissen, wer das sei. Es konnten auch Spitzbuben sein. Aber warum wollen Sie mich denn arretiren? Ich bin hier eben auf meinem Eigenthum, denke ich.«

»Sie werden es erfahren,« sagte der Baron. »Und jetzt gleich. Tragen Sie den Schlüssel zu diesem Stalle bei sich?«

»Ja.«

»Schließen Sie ihn auf.« –

Sie gingen zu der Thür des Stalles. Der Herr Sellner schloß sie auf, ruhig, ohne Zögern.

»Licht!« befahl der Baron einem der Gensdarmen.

Der Gensdarm zündete eine Laterne an, die er bei sich trug.

Sie hatten sich auf Alles vorbereitet. Der Baron hatte unterdeß schnell ein paar leise Worte zu dem Polizeirath gesprochen.

»Ich gebe doch die Hoffnung auf diesen Stall nicht auf. Gerade wegen der Frechheit des Menschen. Und der Franzose kann sich geirrt haben.«

»Möglich ist Alles,« sagte der Polizeirath.

Der Gensdarm mit der Laterne, der Baron, der Herr Sellner und der Polizeirath traten in den Stall. Der Franzose, der alte Knecht Kasper und die anderen Gensdarmen blieben draußen.

Auch das Innere des Stalles zeigte, daß er seit langer Zeit nicht mehr gebraucht war. Die Raufen hingen zerbrochen herunter. Ein alter, zersprungener Trog lag umgekehrt am Boden. In einem Winkel lagen Reiser und vor Alter grau gewordenes Stroh. Spinngewebe auf allen Seiten umher.

Der Boden bestand aber aus fest und hart getretener Erde überall. Ob aber auch unter dem Stroh und den Reisern hinten im Winkel? Des Barons Augen suchten dort aufmerksam genug. Aber er hatte zunächst noch etwas Anderes zu thun. Er stellte sich vor den Herrn Sellner.

»Sie wollten wissen, warum ich Sie verhaftet habe?«

»Ich wünschte das in der That zu wissen,« erwiderte der Gefragte ruhig und wie ein Mann, dem ein Unrecht geschieht, der sich aber seines Rechts bewußt ist.

In den Stall war er mit der gleichgültigsten Miene von der Welt eingetreten.

»Können Sie in eine Zeit von zwanzig Jahren zurückdenken?« fragte ihn der Baron.

»Warum sollte ich nicht?«

»Es war damals das Jahr 1813.«

»Ja, wir schreiben jetzt 1833.«

»Es war auch gerade in diesem Monat, im October. Die Schlacht bei Leipzig war gewesen.«

»Die Schlacht bei Leipzig war am 18. October 1813.«

»Das geschlagene Französische Heer zerstreute sich flüchtig auf allen Wegen, die nach dem Rhein, die nach Frankreich führten. Der verfolgende Feind war überall hinter den Fliehenden. Die Zersprengten mußten Schlupfwinkel aufsuchen, um sich zu retten. Sie warfen sich, wo sie konnten, in das tiefere Gebirge, in Schluchten, enge Thäler. Auch durch diese Schlucht zogen Viele, Sie erinnern sich doch noch?«

»Ich erinnere mich noch recht gut.«

»Unter den Fliehenden war ein Mann Namens Bertheau. Erinnern Sie sich des Namens?«

»Nein!« sprach der Gefragte fest, aber seine Lippen zuckten doch so sonderbar dabei. Der Baron fuhr fort, als wenn er es nicht gesehen habe.

»Der Mann war französischer Armeebeamter, Verwalter einer Brigadekasse. Er hatte aus der Kasse gerettet, was er mit sich führen konnte. Es waren immer drei-, wahrscheinlich viermalhunderttausend Franken in Gold. Hören Sie mir zu, Herr Sellner?«

»Gewiß. Ich begreife nur nicht, wozu Sie die Sachen mir erzählen.«

»Hören Sie weiter. Der Mann kam mit seinem Golde bis hier in diese Schlucht. Er hatte noch mehr bei sich als das Gold. Er war verheirathet gewesen. Seine Brigade hatte längere Zeit in Deutschland Quartiere gehabt. Seine Frau war ihm aus Frankreich nach Deutschland gefolgt mit einem Kinde. Die Frau war erkrankt, als in unmittelbarer Folge der Leipziger Schlacht die allgemeine Hetze und die allgemeine Flucht der Franzosen in Deutschland begann. Der Herr Bertheau mußte die kranke Frau mit dem Kinde auf seiner Flucht mitnehmen. Sie wollte nicht ohne ihn, er durfte nicht mit ihr zurückbleiben. Sie starb schon am zweiten Tage der Flucht. Er mußte ihr Begräbniß fremden Leuten überlassen. Er flüchtete mit seinem Kinde weiter. Es war ein Knabe von beinahe vier Jahren. Er wurde von den Verfolgern hart bedrängt. Er konnte dennoch sein Leben, seine Freiheit, sein Kind und seine ihm anvertraute Kasse retten. Bis hier.

Er hatte gegen Abend diese Schlucht erreicht. Fliehende waren vor ihm gewesen, kamen mit ihm, folgten ihm. Man wollte in der Nacht, unter dem Schutze der Nacht, jenseits der Berge den Strom passiren. Die Flüchtigen, die zuerst den Strom erreicht hatten, kamen mit der Schreckensbotschaft zurück, er sei vom Feinde besetzt, und Kosacken seien auf ihren Pferden hindurchgeschwommen und auf dem Wege gerade in diese Schlucht, durch die der Hauptzug der Flüchtigen gehe. Was sich rühren konnte, floh auf diese Nachricht zurück oder zertheilte sich nach rechts und links in die tiefsten Schluchten der Berge. Der Herr Bertheau konnte nicht weiter, er war elend, übermüdet, halb verhungert; sein Kind war krank. Er hätte keine hundert Schritte weit kommen können, Er war auf einem Wagen angekommen. Der Bauer, der ihn gefahren hatte, wollte, als er von den Kosacken hörte, für kein Geld weiter fahren, nicht vorwärts, nicht zurück; die Kosacken würden ihn erschlagen, wenn er einen Franzosen fahre.

Der Verfolgte mußte hier bleiben. Aber wo sollte er ein Unterkommen finden? Es war nur eine einzige menschliche Wohnung zu sehen: der alte, rothe Krug. Sollte er sich ihm anvertrauen? Wollte, konnte man ihn dort verbergen, wenn die Kosacken kamen und nach flüchtigen Franzosen suchten? Und in dem Kruge waren die Kosacken zu allererst zu erwarten; er lag offen und unmittelbar an der Landstraße. Aber krank und elend, wie er selbst und wie das Kind war, konnte er nicht im Freien bleiben. Es regnete: ein eisiger Wind peitschte den Regen. Er war durchnäßt. Das Kind weinte vor Kälte. Er mußte nur zunächst einen Schutz gegen das Unwetter suchen.

Er war mit seinem Kinde im Walde. Dort hatte jene Schreckensnachricht ihn und seine Fluchtgenossen erreicht. Dort hatten sie sich kurz berathen. Dort hatten die Anderen ihn verlassen. In der Noth denkt Jeder nur an sich. Er allein war zurückgeblieben, er ganz allein mit seinem Kinde.

Er hat die Schlucht nicht lebend wieder verlassen.

Was aus ihm geworden war?

Er war unter Mörderhände gefallen.

Warum können Sie mich nicht ansehen, Herr Sellner?« –

Der Baron hatte vorhin dieselbe Frage an den alten Kasper gerichtet.

»Ich sehe Sie ja an,« hatte der alte Knecht erwidert, und er hatte den Baron wie ein armer Sünder angesehen.

»Muß ich Sie ansehen?« erwiderte der Herr Sellner ohne alle Verlegenheit, und er blickte ruhig seinem Inquirenten in die Augen.

Der Baron fuhr fort:

»Der Verfolgte war in Mörderhände gefallen. Ein Zeuge sah ihn unter den Händen der Mörder. Der Zeuge lebt; er ist hier. Er steht fünf Schritte von uns. Warum werden Sie so bleich, Herr Sellner? Warum zittern Sie?«

»Zittere ich?« fragte der Herr Sellner. Er zitterte heftig und war sehr blaß geworden. Die Laterne des Gensdarmen fiel mit ihrem vollen Scheine auf ihn.

»Zittere ich?« fragte er in einer Verwirrung, die sich plötzlich zu der fürchterlichen Angst des vor seiner Ueberführung stehenden Verbrechers gesteigert hatte. Aber er war ein trotziger und ein kräftiger Mann.

Er konnte seinen Muskeln und seinen Nerven gebieten. Nur bleich blieb er.

Aber war nicht auch sein Inquirent bleich vor innerer Aufregung geworden? Und der Baron fuhr fort:

»Hören Sie mir weiter zu, Herr Sellner! Der verfolgte Franzose war von einer Art Diener, einem untergebenen Gehülfen bei seiner Kasse, begleitet gewesen. Der Mann hatte bis in diese Schlucht bei ihm ausgehalten. Dort im Walde hatte auch er ihn verlassen. Aber ein anderes Gefühl hatte ihn zurückgeführt. Er hatte sein Schicksal doch ferner mit dem seines Herrn vereinigen wollen. Er suchte ihn im Walde auf, wo er ihn verlassen hatte. Er fand ihn nicht mehr da. Er vermuthete ihn im Kruge. Zwei Stunden waren seit seiner Trennung von ihm verflossen. In der Schlucht war es still geblieben. Kosacken hatten sich nicht sehen lassen. Er ging auf den Krug zu. Er ging vorsichtig. Er kam an eine Gartenhecke und ging an ihr entlang. Er kam in die Nähe eines keinen, niedrigen Gebäudes. Er glaubte Licht darin zu sehen, durch den Sturm ein Geräusch darin zu hören und blieb stehen. Er hatte sich nicht getäuscht. Neugierde, eine dunkle Ahnung trieben ihn zu dem kleinen Gebäude. Er schlich dahin. Je näher er kam, desto deutlicher hörte er das Geräusch. Es war ein sonderbares, dumpfes Schlagen oder Stoßen auf irgend einen Gegenstand; es wiederholte sich regelmäßig und rasch; es war immer dasselbe. Stöhnen und Aechzen eines Menschen begleiteten es. Dazwischen sprachen dann und wann leise Menschenstimmen mit einander.

Dem Manne wurde es unheimlich. Aber er mußte wissen, was das war, was er hörte. Er war drei Schritte weit von dem kleinen Gebäude stehen geblieben. In der Mauer war ein schmales, niedriges Fenster, durch welches das Licht kam, das er schon vorher gesehen hatte. Er nahete sich ihm, es war hoch, aber ein Holzblock war in der Nähe. Er stieg auf diesen und er konnte nun in das Innere des Gebäudes sehen. Was er sah, erfüllte ihn mit Grausen, mit Entsetzen.

Er blickte in einen Raum, der früher als Stall gedient haben mußte. Alte Krippen, Raufen, Tröge bezeugten es. Stroh und Heu lagen noch darin. Eine Laterne, die auf dem breiten Rande eines Troges stand, erleuchtete ihn nur mit schwachem Lichte, und die Scheiben des Fensters, an dem der Diener stand, waren trübe. Aber in dem schwachen, trüben Lichte stellte sich dem Mann ein Schauspiel dar, das ihm die Haare zu Berge trieb.

Zwei Menschen waren in dem Stalle beschäftigt, ein Mann und eine Frau. Ein großer, starker Mann, eine zarte, feine Frau. Beide waren noch jung. Sie waren bei einer entsetzlichen Beschäftigung.

Der Mann hieb mit einer Hacke den aus fester Erde bestehenden Boden des Stalles auf. Das waren die dumpfen Schläge und Stöße, die der Franzose gehört hatte, die er noch hörte. Die Frau brachte mit einer Schaufel die losgehauene Erde auf die Seite. Es war schon viel Erde aufgehackt, zur Seite aufgeschichtet. Ein langes, tiefes Loch war schon gebildet. Es sah aus wie ein Grab, das die Beiden gruben. Der Mann stöhnte und ächzte bei seiner Arbeit. Die Erde war hart, fest. Die Frau war still.

Mann und Frau waren blaß. Dem Mann rann der Schweiß über die bleiche Stirn. Der Frau hing das aufgelöste Haar in das schneeweiße Gesicht. Aber blasser und weißer, als die Beiden, war ein anderes Gesicht. Hinter dem Manne und der Frau lag, an der Erde ausgestreckt, eine Mannsgestalt in der Uniform der Französischen Armeebeamten. Der Franzose erkannte seinen Herrn, den er vor zwei Stunden in dem nahen Walde verlassen hatte.

Die Gestalt lag ohne Bewegung da. Das Gesicht war entstellt, schneeweiß, auf der schneeweißen Haut sah man Blutflecken. Die Augen waren offen, aus dem Kopfe weit hervorgetreten, verglaset. Die Hände waren blutig. Die Uniform war aufgerissen und beschädigt; ob in einem Kampfe von den Händen der Mörder, oder nach dem Kampfe von den Räubern und Plünderern, wer konnte es wissen?

Der Mann, der da lag, war todt. Ihm wurde das Grab gegraben. Seine Mörder gruben es ihm.

Ihm allein?

Der Diener sah noch mehr. Neben dem Todten lag im aufgeschichteten Heu ein Kind, das Kind des Ermordeten. Es lag unbeweglich da, und auch sein Gesicht war schneeweiß, aber seine Augen waren geschlossen, es schlief; es schlief sanft und fest.

Den Diener, der das Alles sah, hatte Entsetzen ergriffen. Zu dem Entsetzen gesellte sich die Todesfurcht. Er war allein, ohne Waffen bewaffneten Mördern gegenüber. Wenn er Menschen herbeirief, rief er nicht neue Mörder gegen sich? Der rothe Krug war die einzige Menschenwohnung in der Schlucht. Er verließ still, leise seinen Posten an dem Fenster. Aber er mußte noch in der Nähe bleiben. Er mußte wissen, was aus dem Kinde wurde. Er verkroch sich in einem Gebüsch. Das Schlagen der Hacke hörte nach einer Weile auf. Es wurde still in dem Stall. Das Grab mußte fertig sein.

Nach einer halben Stunde öffnete sich eine Thür des Stalles. Sie wurde wieder verschlossen. Der Schritt zweier Menschen entfernte sich nach dem Krughause hin. Die Mörder hatten ihr Werk vollbracht Das Kind lebte. Der Diener hörte es weinen bei den beiden Menschen, die zum Kruge gingen. Einer von ihnen mußte es tragen. Der Diener wartete noch. Er hörte den Schritt der beiden Menschen am Kruge, er hörte wie eine Thür des Krughauses geöffnet und wieder zugemacht wurde. Dann hörte er nichts mehr. Er verließ seinen Versteck und die Schlucht und flüchtete weiter durch das Gebirge. Er wollte den ersten Menschen, die er treffen werde, Anzeige von dem Verbrechen machen.

Er war kaum jenseits der Berge angelangt, als er einem umherschweifenden Haufen Kosacken in die Hände fiel. Sie nahmen ihn gefangen, verwundeten, verhöhnten, mißhandelten ihn, schleppten ihn mit sich fort. Er entkam ihnen. Er wurde von Neuem gefangen. Er wurde weiter geschleppt. Er entkam nochmals, mit Gefahr seines Lebens. Er konnte nur an seine Rettung denken. Er erreichte sein Vaterland. Dort bot sich ihm erst jetzt, nach zwanzig Jahren eine Gelegenheit dar, diese Gegend wieder aufzusuchen und das Verbrechen zur Anzeige zu bringen. –

Er ist hier,« schloß er Baron seine Mittheilung. »Er ist fünf Schritte von uns. Er wird Ihnen wiederholen, was ich Ihnen erzählt habe. Er wird es Ihnen in das Gesicht sagen, daß Sie der Mörder waren. Er hat Sie wiedererkannt. Er wird es auch Ihrer Frau sagen. Er hat sie noch nicht wiedergesehen. Aber er wird auch sie wieder erkennen.

Sie wissen jetzt Alles. Ich habe es Ihnen offen und vollständig mitgetheilt, um Ihnen von vorherein die Ueberzeugung zu verschaffen, daß Sie sich die vergeblichste Mühe von der Welt machen würden, wenn Sie ferner leugneten.«

Der Baron hatte ruhig, klar, mit Nachdruck und Ueberzeugung gesprochen. Seine innere Aufregung war mehr und mehr zurückgetreten. Desto eindringender, desto ergreifender wurden seine Worte. Selbst der Polizeirath hatte sich ihrer Macht nicht entziehen können. Er war tiefernst; kein Zug von Spott war in seinem Gesichte zu entdecken.

Der Verbrecher, der Mörder – man las es in jedem seiner Züge, daß er der Mörder war – er stand leichenblaß da; auf der bleichen Stirn zeigten sich dicke Schweißtropfen. Er zitterte nicht mehr; aber er konnte sich nur krampfhaft aufrecht halten. Er fürchtete selbst, daß er bei der geringsten Bewegung zusammenbrechen werde.

Es waren zwanzig Jahre seit dem Verbrechen verflossen. Es hatte in der ganzen Zeit kein Mensch nur eine Ahnung von dem Morde gehabt. Er hatte ruhig, sicher, sorglos gelebt. Der reiche, rohe, stolze, übermüthige Mann, vor dessen Reichthum und Ansehen die ganze Gegend sich beugte, hatte da vielleicht selbst sein Verbrechen vergessen und wenn er einmal daran dachte, so lag es weit hinter ihm wie eine todte Sache, die, wie jedes Todte, aus dem Grabe nicht wieder auferstehen werde. Nur an seine eigene Todesstunde mochte er vielleicht eben dabei denken. Aber mit wie vielen Sophismen weiß der Mensch die moralischen Schrecken seiner Todesstunde sich aus dem Sinn zu schlagen! Freilich bis sie da ist, die Todesstunde.

Aus der vollsten Sicherheit und Sorglosigkeit war der Mörder auf einmal, plötzlich, jäh aufgeschreckt. Sein Verbrechen stand vor ihm, nackt und baar. Ein Zeuge war da. Der Richter war schon da, die Ueberführung, die Todesstunde, die eigene, entsetzliche Stunde des Todes, des Todes durch Henkershand.

»Nun?« fragte ihn der Baron.

Aber der Mörder hatte eine außergewöhnliche Kraft, und die Furcht vor dem Tode stählt die Kraft eines jeden Menschen. Er war noch kein gebrochener Mann. Er war noch nicht vernichtet.

Er schüttelte sich auf einmal, wie aus einem Schlafe, aus einem schweren Traume erwachend. Damit hatte er seine volle Gewalt über sich wiedergewonnen, über seinen Geist, über seinen Körper. Er fuhr mit der Hand über seine Stirn, er wischte den kalten Schweiß ab. Er stand gerade aufrecht. So sah er den Baron mit festem Blicke an, und mit sicherer, ruhiger Stimme antwortete er:

»Wenn Sie einen Zeugen haben und wenn es kein falscher Zeuge ist, so hat sich der Mann geirrt. Ich weiß von keinem Franzosen und von keinem Morde.«

Die Antwort war nach den letzten Bewegungen zu erwarten gewesen. Auch der Baron hatte sie erwartet. Er blieb ruhig.

»Sie leugnen dennoch? Sie wollen es auf einen Kampf mit der Gerechtigkeit ankommen lassen? Wohlan! Ich will Ihnen nicht ausführlich die Thatsachen vorhalten, welche die Aussage des Zeugen unterstützten, nicht Ihren plötzlichen Reichthum, der sich aus jener Zeit herschreibt, und dessen anderen Erwerb Sie nicht werden nachweisen können; nicht das fremde Kind, das seit jenem Tage in Ihrem Hause war. Aber glauben Sie, daß ein einziges Verhör mit Ihrer Frau mir nicht die volle Wahrheit in die Hand geben werde?«

Da war der Verbrecher doch auf einmal gebrochen, vernichtet.

»Herr! Herr, Sie wollten –?« rief, schrie er auf. Seine Brut wogte, der Athem wollte ihm vergehen. Er hielt beide Hände vor die Augen, als wenn ihm das Licht der Augen entschwunden sei. Was so nahe, was am nächsten lag, daran hatte er nicht gedacht. Da er daran denken mußte, sah er sich verloren. Der Baron erwiderte auf den Schrei nichts.

Er sah den gebrochenen Mann, der sich nicht wieder fassen konnte, stumm an. Als der Verbrecher nichts mehr sprach, sagte der Baron zu seinen Begleitern:

»Folgen Sie mir!« Er verließ den Stall. Der Polizeirath und der Gensdarm mit der Laterne folgten ihm. Der Herr Sellner blieb allein zurück.

»Schließen Sie den Stall ab!« befahl der Baron.

Der Stall wurde abgeschlossen.

»Gensdarmen, Sie sind mir für den Gefangenen da drinnen verantwortlich.« Es waren vier Gensdarmen da, zu denen er es sagte.

»Zu Befehl,« antworteten sie ihm. Einer der Gensdarmen bewachte den alten Kasper.

An den Knecht wandte sich der Baron noch. »Es stand früher noch ein zweiter Stall bei dem alten Kruge.«

»Ich weiß es nicht, Herr.« Es war die verstockte Angst eines Kindes oder der momentane Stumpfsinn, in welchen manche Menschen die Angst bringt, was den alten Mann gefaßt hatte. Mochte es das Eine oder das Andere ein, der Baron schien einzusehen, daß vor der Hand von dem Manne keine Antwort zu erhalten sei. Er stand von weiteren Fragen an ihn ab.

»Die Frau!« sagte der Baron zu dem Polizeirath. »Die Mitmörderin! Sie wird keinen Widerstand leisten können. Verhören wir sie.«

»Nein, sie wird nicht!« sagte der Polizeirath. Er folgte gebeugten Hauptes dem Baron nach dem Kruge.



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