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3.

Ein enges Thal, oder wenn man will, eine weite Schlucht war auf allen Seiten von hohen, waldbedeckten Bergen eingefaßt. Eine Landstraße durchzog sie. In der Mitte lag ein großes, langes Haus mit Nebengebäuden. Es war das einzige Haus in der ganzen Schlucht.

Es war noch ziemlich neu, wohlgebaut, wohlerhalten, mit seinen Scheuern, Remisen und Stallungen zu ländlicher Wirthschaft eingerichtet. Es diente aber auch zum Wirthshause. »Im rothen Krug« war in großen Buchstaben auf einem Schilde über der Hausthür zu lesen. Große Holzlager umher gaben zu erkennen, daß der Besitzer zugleich einen bedeutenden Holzhandel treibe; mitten zwischen den waldigen Bergen leicht erklärlich.

Haus und Nebengebäude lagen mit der Front nach der Landstraße; ein offener Hof, etwa vierzig Schritte breit, trennte sie von dieser.

An das Haus lehnte sich ein großer Garten, nach der Landstraße hin von einer hohen Mauer, auf den anderen Seiten von einer nicht minder hohen, dichten Hecke umschlossen.

Wenn man durch die Hausthür in das Haus trat, so gelangte man zuerst in einen geräumigen Flur, in welchem, nahe am Eingang, zwei Thüren einander gegenüber lagen. Die eine rechts führte in das für die einkehrenden fremden Herrschaften bestimmte gemeinschaftliche Fremdenzimmer, die andere links in die für die Aufnahme von Gästen geringeren Ranges bestimmte sogenannte Fuhrmannsstube. Fuhrleute waren die meisten Gäste dieser Klasse.

In der Fuhrmannsstube befanden sich ein Paar alte Leute, denen man es ansah, daß sie als Knecht und Magd vielleicht schon seit langer Zeit zum Hause gehörten. Sie unterhielten sich mit einander.

»Er ist ein Narr, Kasper,« sagte die Magd.

»Sie wird es sehen, Kathrine.«

»Mit dem braven, guten Kinde sollte das Unglück in das Haus kommen?«

»Mit dem braven, guten Kinde!«

»Die keinem Menschen ein böses Wort sagen kann?«

»Heute noch, sage ich Ihr!«

»Und Er ist ein Narr, sage ich Ihm. Mit der Caroline werden Glück und Friede in das Haus einkehren. Endlich einmal! Noth thut es!«

»Ja, Noth thäte es. Aber eben darum kommen die nicht mehr hierher.«

»Er ist immer ein Unglücksbote. Was hat Er nur davon?«

»Was hat man davon, wenn man mehr weiß, als andere Leute, wenn man von solchen Geschichten weiß?«

Der alte Mann hatte finster, geheimnißvoll gesprochen. Die alte Magd wurde ärgerlich.

»Er weiß gar nichts, und Er sollte sich schämen, so etwas von Seiner Herrschaft zu sprechen.«

»Ich sage es ja nur zu Ihr,« entschuldigte er sich. »Und ich habe es Ihr schon vor so vielen Jahren gesagt, und es ist immer nur zwischen uns Beiden geblieben, und Einem in der Welt muß man doch sein Herz ausschütten können. – Aber sehe Sie einmal, da kommt Der schon zurück, und wie sieht der Bursche aus?«

»Wer kommt zurück?« fragte die Magd Kathrine.

»Der Ludwig. Er war seit drei Tagen auf der andern Seite, um Holz zu verkaufen. Und da kommt er zurück, wie das pure Unglück.«

Der schöne junge Mann mit den schwarzen Locken und dem feinen, fremdartig geschnittenen Gesichte trat in das Zimmer. Er sah wirklich aus, wie das Unglück.

»Ist der Herr zu Hause?« fragte er.

»Gewiß. Wir bekommen ja heute noch Besuch,« antwortete der alte Kasper.

»Besuch?«

»Die Caroline kommt heute.«

»Die Caroline ist doch kein Besuch im Hause?«

»Und der alte Steinauer mit Frau und Tochter.«

»Also doch?«

»Ja.«

»Der arme Friedrich!«

»Höre, Bursch, was hast Du denn? Du siehst ja aus, wie ein Topf voll Mäuse!«

»Ich? Ich habe nichts.«

Er wollte das Zimmer wieder verlassen.

»Hast Du die Caroline nicht unterwegs gesehen, Ludwig?« rief ihm die alte Magd noch nach.

»Nein!« antwortete er.

Er ging.

»Ja, ja, der arme Friedrich!« sagte der alte Knecht. »Ist das nicht schon Unglück genug?«

»Warum mag es nur gerade heute sein?« fragte die Magd.

»Frage Sie ihn, den Herrn. Er muß ja Alles, was er thut, wie zum Trotze thun, – freilich, bis es bricht, und brechen wird es, Kathrine.«

Er wurde unterbrochen. Man hörte das Nahen eines Wagens.

Er sah wieder durch das Fenster.

»Die Caroline!« rief er.

Die alte Magd sprang von ihrer Arbeit auf, ebenfalls an das Fenster.

»Die Caroline!« rief auch sie, jubelnd und mit leuchtenden Augen. »Und wie sie schön geworden ist, wie eine Mamsell, ein Fräulein. Und brav sieht sie aus, wie immer. Und mit dem Engel sollte das Unglück in das Haus kommen, alter Kasper?«

Der Wagen war im Galopp herangefahren, als wenn das Pferd die Sehnsucht des Kindes gekannt hätte, das elterliche Haus wieder zu betreten.

Caroline Sellner war aus dem Wagen gestürzt. Sie hatte die beiden alten Dienstboten an dem Fenster gesehen und warf ihnen einen freundlichen Gruß zu.

Die alte Kathrine litt es nicht mehr in der Stube. Sie eilte in den Flur, durch den das Kind kommen mußte. Der alte Kasper folgte ihr.

Das Mädchen sprang in das Haus, in den Flur.

»Guten Tag, Mamsell!« riefen ihr die beiden alten Dienstboten entgegen, und auch die Augen des alten Unglücksboten Kasper strahlten.

»Guten Tag, Kasper! Guten Tag, Kathrine!« rief wie jauchzend das glückliche Kind. »Ihr seht ja wohl aus! Wo sind die Eltern?«

»In der Wirthsstube, Mamsell!«

Sie flog an ihnen vorüber. Aber die Hand reichte sie ihnen doch noch Beiden. Und dieser Engel sollte Unglück in das Haus bringen? In das Haus ihrer Eltern? In welches Haus kam sie denn? Wer waren denn ihre Eltern? Was war es mit ihnen?

In der Wohnstube, hinten an der Rückseite des Hauses, waren die Eltern. Sie kam zu ihnen herein, ihre Eile hatte sich verloren.

»Guten Tag, Vater!« sagte sie langsam, scheu, gedrückt, und wie sie dem Vater die Hand hinhielt, nur die Hand, wußte sie nicht, ob sie es dürfe! Es drückte sie etwas schwer; es war, als ob es ihr im Herzen eisig kalt geworden sei. Der Druck, die Kälte, sie konnten nicht aus ihr selbst, sie konnten nur unwiderstehlich und plötzlich von außen her ihr an das Herz herangekommen sein.

Aber sie wichen auch ebenso plötzlich wieder. Sie sah die Mutter, das bleiche, leidende Gesicht.

»Mutter, meine Mutter! Meine liebe, liebe Mutter!«

Und der Mutter reichte sie nicht blos die Hand hin; ihr warf sie sich an die Brust, an die Lippen, an das Herz.

»Mein Kind! Meine liebe, gute Caroline!« weinte das Mutterherz.

Aber waren das Thränen der Freude, des Glücks?

Der Vater stand still und kalt daneben. Er war ein großer, breitschultriger, starkknochiger Mann, mit einem harten Gesichte, mit finsteren, stechenden Augen, mit herrischem Wesen.

»Guten Tag!« hatte er kurz und kalt den Gruß des Kindes erwidert. »Es ist gut, daß Du wieder hier bist!«

Dabei hatte er kaum ihre Hand berührt. Wie hatte sie da an das Herz der Mutter fliegen müssen, die so blaß, so abgezehrt und so ängstlich hinter dem kalten, harten Manne stand. Sie weinte mit der Mutter. Der Vater sah es zwei, drei Sekunden lang an, länger nicht.

»Nun ist es gut,« sagte er dann.

Die Mutter ließ mit einem stillen Seufzer ihr Kind aus den Armen. Laut zu seufzen, wagte sie nicht. Der Vater aber fuhr zu der Tochter fort:

»Du wirst jetzt Deiner Mutter in der Wirthschaft helfen. Sie ist kränklich; sie kann es allein nicht mehr schaffen.«

»Ich werde Alles für Dich übernehmen, meine liebe Mutter!«

»Alles auch nicht!« sagte der Vater. »Jeder an seinem Platze. Jetzt kannst Du gehen, das kleine Visitenzimmer zu ordnen. Wir erwarten noch heute Besuch. Vorher ziehe Dich an.«

»Heute Besuch?«

Sie sprach die Frage nicht zu ihm aus. Sie hatte ihn nur im ersten Augenblicke unwillkürlich darauf angesehen. Er antwortete nicht.

»Die Steinauers kommen!« sagte die Mutter ihr leise.

»Die Steinauers?«

Auch das Mädchen wiederholte das nur leise und nur für sich, aber mit einem Ausdrucke und einem Aufblicke, als wenn ihr auf einmal etwas klar werde.

»Gehe jetzt!« sagte ihr Vater. Sie verließ das Zimmer. So hatte die Tochter, das weise, siebenzehnjährige Kind, das Elternhaus wiedergefunden, die Eltern wiedergesehen. Draußen vor der Thür begegnete ihr der alte Kasper.

Sie hatte noch eine Frage an ihn, die sie an den Vater nur in seiner Gegenwart nicht gewagt hatte.

»Die Steinauers kommen hier zum Besuch, Kasper?«

»Mann, Frau und Tochter.«

»Wozu?«

»Der Herr Friedrich soll die alte Mamsell heiraten.«

»O mein Gott! Der arme Friedrich!«

»Die beiden Alten haben es abgemacht,« zuckte der alte Knecht die Achseln. »Heute soll die Verlobung geschlossen werden.«

»Gerade heute!«

Aber sie mußte in ihr Stübchen, um sich anzukleiden und dann das Visitenzimmer für den Besuch der Steinauers zu ordnen. Der alte Knecht kehrte in die Fuhrmannsstube zurück. Er setzte sich wie zuvor an das Fenster. Die alte Kathrine saß wieder am Nähen.

»Wie sah das Kind so brav aus!« sagte die alte Magd.

»Und es kommt doch heute das Unglück in das Haus,« sagte der alte Knecht.«

Die Magd erwiderte ihm diesmal nichts. Sie hörten draußen ein Geräusch.

Sie sahen durch das Fenster.

»Was ist denn das?« sagte der Knecht.

»Eine Extrapost.«

»Und gar mit vier Pferden!«

»Und nur zwei Herren darin!«

»Und Einer hat einen Orden! Aber Kathrine!«

»Was hat Er wieder?«

»Kathrine, was sehen sich die beiden Menschen so sonderbar um!«

»Sie sind wohl noch nie im rothen Kruge gewesen.«

»Aber so nach allen Seiten. Und so – so, wie ein paar Spione, oder wie ein paar Diebe. Es wird Einem ordentlich graulich dabei.«

»Ist Er wieder ein Narr, Kasper?«

»Ja, Kathrine, Sie kann spotten. Sie hat nichts gesehen.«

»Hat Er denn Etwas gesehen?«

»Gesehen nun wohl gerade nicht –«

»Dann schweige Er.«

»Aber gehört, Kathrine –«

»Schweig Er!«

Er mußte schweigen.

In die Stube traten die beiden Fremden, die mit der Extrapost angekommen waren, der vornehme Baron Stromberg und der kleine Franzose mit dem Ordensbändchen.

Hatten die beiden Reisenden wie der alte Kasper gesehen haben wollte, schon draußen so sonderbar sich nach allen Seiten umgesehen, so geschah dies nicht minder in der Stube. Der Baron von Stromberg wenigstens warf nach allen Seiten Blicke umher, als wenn er Alles darin vermessen wolle. Die beiden alten Leute waren mit in seine Beobachtung eingeschlossen. Dabei kam kein Wort über seine oder seines Gefährten Lippen.

Erst als er Alles genau betrachtet hatte, sagte er vornehm:

»Wir wünschen hier zu logiren.«

»Dann müssen die Herren auf die andere Seite des Ganges gehen,« erwiderte der alte Knecht.

»Warum?«

»Drüben ist das Fremdenzimmer.«

»Wir wollen Zimmer für uns. Zwei.«

»Ludwig!« rief der Knecht durch die Thür. »Ludwig, es sind zwei Herren da, die Zimmer wollen.«

Ludwig kam. Er sah noch verdrießlich und trübselig genug aus. Er stand plötzlich vor seinem Nebenbuhler. Dem Baron hatte die Mamsell Caroline so freundlich, .so erröthend und so dankbar zugehört. Er erschrak.

»Zwei Zimmer!« befahl ihm der Baron.

Da erkannte auch der vornehme Reisende ihn wieder. Und auch der Baron Stromberg erschrak im ersten Augenblicke. Gleich darauf mußte ihm ein anderer Gedanke eingefallen sein. Er sah den jungen Menschen mit einem auffallenden Erstaunen forschend und prüfend an. Und das that auch, wie völlig überrascht, der kleine Franzose.

»Folgen die Herren mir,« sagte seinen Unmuth verbergend, der Kellner Ludwig.

Der alte Kasper aber schüttelte sich, als sie fort waren.

»Kathrine, hat Sie sich die beiden Menschen angesehen?«

»Ja, Kasper.«

Auch der alten Magd schien es nicht mehr ganz leicht um das Herz zu sein.

»Wie sie den Ludwig ansahen! Als wenn sie etwas ganz Besonderes von ihm wollten.«

»Und der Bursch erschrak vor ihnen!«

»Es ist heute ein Unglückstag, Kathrine. Sie wird es sehen. – Aber he, wer kommt denn da wieder? Die sehen ja recht aus, mein – Gott stehe uns bei!«

Wer da wieder kam?

Um es zu erzählen, müssen wir ein halbes Stündchen weit in unserer Geschichte zurückgreifen.

Die Extrapost des Barons von Stromberg hatte die Höhe des Gebirges erreicht und fuhr, noch immer mühsam genug, den abschüssigen Weg in die tiefe Schlucht hinunter. Sie erreichte auch das Ende des steilen Bergweges.

»Darf ich bitten, hier halten zu lassen?« sagte der kleine dicke Herr zu dem Baron.

Der Wagen hielt.

Der kleine dicke Herr verließ ihn.

Mit ihm stieg der lange Schmidt aus.

Der Wagen fuhr weiter.

Der kleine dicke Herr und der lange Schmidt befanden sich auf einer kleinen Anhöhe, dem letzten Abhange des Berges. Sie übersahen die ganze, vor ihnen liegende Schlucht. Sie lag so still und so klar vor ihnen. Die Nachmittagssonne sandte noch voll ihre Strahlen hinein, über den hohen Berg links in Westen.

»Hm, Schmidt,« sagte der kleine Herr, »das sieht hier recht friedlich aus.«

»Recht einsam und still wenigstens,« meinte der lange Schmidt.

»Nun, Schmidt, der Friede ist ja eben seiner Natur nach ein stiller Bursch und was die Einsamkeit betrifft, so hat schon vor langer Zeit ein alter Philosoph von einem bellum omnium contra omnes gesprochen. Aber Sie verstehen das wohl nicht, lieber Schmidt?«

»Nein, ich verstehe es nicht.«

»Nun, es schadet nicht. Es heißt, daß in der ganzen Welt, wo nur zwei Dinge zusammenkommen, ein Streit zwischen ihnen ist. So könnte der Friede auch nur ein einsamer Bursch sein. Und da fällt mir denn doch ein, daß in der Stille und Einsamkeit gerade der Mord sein hinterlistiges, heimtückisches Wesen treibt.«

»So ist es ja auch hier gewesen,« sagte der lange Schmidt.

»So soll es gewesen sein und wenn es wirklich so war, was bringen wir dann?«

»Frieden auch wohl nicht.«

»Und doch, mein lieber Schmidt. Wir bringen dann zuletzt den Tod. Und im Tode und im Grabe, da ist der tiefste Friede.«

»Aber es bleiben welche zurück.«

»Ja, und wenn ich auch nicht gleich verliebt geworden bin, wie unser vortrefflicher Baron, das arme Kind thut mir doch in der Seele leid. Aber sehen wir uns näher um.«

Sie sahen prüfend nach allen Seiten in die Schlucht hinein.

»Passiren konnte es hier wohl, Schmidt.«

»Passiren kann so etwas überall.«

»Ja, ja. Aber gehen wir weiter.«

Sie gingen weiter, den Abhang hinunter, in die Schlucht hinein.

Eine Zeitlang folgten sie noch dem Wege, in welchem vor ihnen die Extrapost fuhr. Dann schlugen sie sich rechts in Weide- und Wiesenland, das von einzelnen Gebüschen durchbrochen wurde. Ein Pfad war nicht da; ihrem Gehen stellte sich aber auch kein Hinderniß entgegen, und das Ziel, dem sie zuschritten, lag immer vor ihren Blicken. Es war der rothe Krug mit seinem langen, hellen Haupthause und den mancherlei Nebengebäuden.

Sie gingen so, daß sie die Rückseite des Kruggebäudes gewinnen mußten. Sie erreichten sie und standen vor einer hohen, dichten Gartenhecke. Sie versuchten hinüber, hindurch zu schauen. Hinüber sahen sie nur das Dach des Krughauses. Hindurch konnten sie gar nichts sehen.

»Sie müssen durch die Hecke kriechen, Schmidt,« sagte der dicke Herr.

Die Hecke war von Dornen. Der lange Schmidt sah sie sich mit Schrecken an.

»Ich?« sagte er bedenklich.

»Ich bin zu dick dazu,« bemerkte der Andere.

»Aber auch für einen mageren Menschen ist es unmöglich.«

»Hm, Schmidt, unmöglich ist nichts, weder für dicke, noch für magere Leute. Aber so können Sie wenigstens hinein.«

»Ich werde versuchen.«

»Vor allen Dingen machen Sie aber kein Geräusch dabei. Niemand darf uns gewahren.«

»Ich werde mich in Acht nehmen.«

Der lange Schmidt war ein vorsichtiger Mensch. Er zog ein paar starke, dicke, weißlederne Handschuhe an, bog dann leise und sorgfältig die Dornen der Hecke aus einander, und konnte in der That weit und tief in sie hineinkriechen.

Der kleine dicke Herr sah ihm mit einer gewissen Spannung nach, aber auch mit einem gewissen Humor. Sein knurriges Wesen schien er ganz abgelegt zu haben, seitdem er nicht mehr in der Nähe des Barons war.

»Sehen Sie nichts, Schmidt?«

»Noch gar nichts.«

»Der verdammte Franzose! Er weiß von nichts mehr. Ich glaube, er hat eigentlich nie etwas gewußt. Diese Franzosen, sie thun zwar, als hätten sie den Muth für sich allein gepachtet, oder gar vom lieben Gott bei Vertheilung der Güter für sich allein zugetheilt erhalten, aber sie haben auch die Furcht eben so gut, wie andere Menschen und damals hatten sie sie erst recht. Sehen Sie noch nichts, Schmidt?«

»Ich sehe noch nichts.«

»So müssen Sie doch am Ende durch die Hecke.«

»Ah, da sehe ich etwas.«

»Den Stall?«

»Ein altes Ding, das so aussieht.«

»Gottlob. Wo liegt er?«

»Nach rechts dort.«

»Wie weit von hier?«

»Etwa hundert Schritt.«

»Wie weit von der Hecke?«

»Ungefähr zwanzig Schritt.«

»Sehen Sie weiter kein Gebäude in der Nähe?« –

»Es stehen überall nur Bäume in dem Garten.«

»Gut. Kommen Sie zurück. Wir müssen das rechte Ding getroffen haben. Wie doch Alles von einem alten Stall abhängen kann! Ohne ihn hätten wir nichts. – Pah, wissen Sie was, Schmidt? Ich bin nicht sentimental.«

»Ich weiß es.«

»Und wahrhaftig auch nicht verliebt. – Ich war es nie.«

»Ich glaube es.«

»Und doch will ein so recht nichtsnutziger Wunsch in mir aufsteigen.«

»Und was für einer?«

»Daß Sie den Stall nicht möchten gefunden haben.«

»Er ist nun aber einmal da.«

»Ja, und sorgen Sie nur dafür, daß nachher, gerade ihm gegenüber, also etwa hundert Schritt von hier, in der Hecke ein geräumiges Loch gemacht werde, durch das auch mein Körper bequem hindurch kann. Aber erst, wenn es dunkel ist, und empfehlen Sie den Leuten die größte Vorsicht.«

»Ich werde dafür sorgen.«

»Und nun lassen Sie uns zu dem Herrn Baron gehen, um zu rapportiren, und zugleich zu der hübschen Caroline. Das arme Kind, die mit ihrem glücklichen Herzen so gern erröthtete! Ob der Herr Baron sie schön gefunden hat? Er wird Augen gemacht haben.«

Sie gingen und zwar sehr vorsichtig von Gebüsch zu Gebüsch, um nicht gesehen zu werden. So kehrten sie zunächst auf die Landstraße zurück, die sie verlassen hatten. In dieser schritten sie sorgloser voran, wie ein paar Fußwanderer, die sich aber frei vor Jedermann dürfen sehen lassen.

Sie erreichten den Krug.

Die Sonne war schon eine Weile hinter den hohen Bergen im Westen verschwunden. In die Tiefe fielen ihre Strahlen nicht mehr hinein; sie rötheten nur noch die Kronen der Bäume oben auf den Bergen im Osten der Schlucht.

Der rothe Krug lag still vor ihnen. In dem großen Hause regte sich nichts. Aus dem Hofe, an den Nebengebäuden sah und hörte man keinen Menschen.

»Hm, Schmidt,« sagte der kleine dicke Herr, »ich bin sehr neugierig, was wir in diesem stillen Hause finden und was wir darin anrichten werden. Ich war es immer, wenn ich aus den Kreuz- und Querfahrten unseres Metiers in ein fremdes Haus zu fremden Leuten kam. Heute arbeitet es mir besonders im Kopfe herum. – Ha, da kommt ja schon ein Gesicht zum Vorschein. Und da noch eins. Alt genug sind sie. Und wie der alte Gesell erschrocken aussieht. Wie kann der Bursch vor uns erschrecken? Hm!« –

Sie traten in das Haus. Aus der Fuhrmannsstube links im Hausflur kam Ihnen der alte Knecht Kasper entgegen. Er hatte seinen Schrecken in der Stube zurückzulassen gesucht.

»Kann man hier logieren?« fragte ihn der kleine, dicke Herr.

»Wünschen Sie ein besonderes Zimmer?«

»Für die Nacht. Jetzt noch nicht.«

»So treten Sie hier ein.«

Der Knecht öffnete die Thür rechts zu dem Fremdenzimmer. Die beiden Reisenden traten hinein.

Der Knecht wollte zurückkehren. Der kleine, dicke Herr hielt ihn auf.

»Ist hier eine Extrapost mit zwei Fremden angekommen?«

»Vor einer Viertelstunde.«

»Wo logiren die beiden Herren?«

»In Nummer sechs und sieben oben.«

»Gut.«

Der alte Mann verließ das Zimmer. Aber er mußte bedenklich den Kopf schütteln.

»Die kennen sich! Warum sind sie nicht zusammengekommen? Und was wollen sie hier?«

Als er fort war, sagte der kleine dicke Herr zu dem langen Schmidt:

»Gehen Sie zu dem Herrn Baron hinauf und rapportiren Sie ihm. Ich recognoscire unterdeß hier unten.«

Schmidt ging und ließ den kleinen, dicken Herrn allein. Dieser sah sich sorgfältig in dem geräumigen Zimmer um. Er merkte sich dessen Beschaffenheit genau. Es hatte drei Fenster; sie gingen nach vorn, auf den offenen Hof, der das Haus von der vorüberführenden Landstraße trennte. Es waren drei Thüren darin. Durch die eine war er gekommen. Die zweite lag ihr gerade gegenüber, die dritte war hinten in der Ecke des Zimmers, den Fenstern gegenüber.

Er ging zu der zweiten und versuchte leise und vorsichtig, sie zu öffnen. Es gelang ihm nicht; sie mußte von der andern Seite verschlossen sein. Er war nicht unzufrieden damit. Er schob einen Riegel vor, der sich von innen befand.

Dann ging er zu der dritten Thür. Es war eine Glasthür. Aber vor dem Fenster war auf der anderen Seite ein dichter Vorhang. Er konnte nur sehen, daß auf jener Seite Licht war, und ein Schatten, der dann und wann an dem Vorhang vorüberhuschte, zeigte, daß drüben Jemand sei und sich bewege.

Der kleine, dicke Herr war neugierig, besonders heute in diesem Hause; er hatte es selbst gesagt. Er mußte wissen, was auf der anderen Seite der Glasthür war. Einen Versuch, sie zu öffnen, durfte er hier nicht wagen, weil eben Jemand drüben war. Er hatte Glück, wenigstens für seine Neugierde. An der Seite der Thür entdeckte er eine Verschiebung des Vorhanges. Sie war nur unbedeutend, die Länge eines Fingers lang, die Breite eines Fingers breit. Aber ein geübtes Auge konnte ausreichend hindurch sehen, und ein geübtes Auge hatte der kleine, dicke Polizeirath wohl. Er blickte durch die Oeffnung. Ein Ah der Ueberraschung flog über seine Lippen, ein vergnügtes und lustiges Lächeln umspielte sie. Er mußte weiter hindurch blicken; er schien von dem, was er sah, die Augen nicht abwenden zu können.

Was er sah?

Er blickte in ein kleines, freundlich eingerichtetes Gemach, in welchem eine außerordentlich freundliche Erscheinung ordnend waltete und sich bewegte.

»Caroline!« mußte der dicke Herr in seiner freudigen Ueberraschung ausrufen. Freilich rief er es leise. Die Vorsicht schien ihm überall in seinem »Metier« zur anderen Natur geworden zu sein.

Das hübsche Kind war es, das in dem freundlichen Zimmer ordnete. Sie hatte ihre Reisekleidung abgelegt und in ihrer einfachen Hauskleidung war sie doppelt reizend und lieblich.

Sie stand vor einem Tische in der Mitte des Stübchens. Auf dem Tische hatte sie eine schneeweiße, glänzende Damastdecke ausgebreitet, auf dieser stellte sie Gläser und Tassen umher. Zwischen Gläser und Tassen setzte sie große Schüsseln mit Kuchen und Körbchen mit Obst.

Das Alles war reich und kostbar. Dem Klange der Gläser hörte man den feinsten englischen Kristall an. Die Tassen waren schwer vergoldet, die Obstkörbchen von künstlich durchbrochenem Silber.

Dem reizenden Kinde ging Alles so leicht, so geschickt, so zierlich von der Hand.

Aber sie war nachdenklich, sie sah betrübt aus.

Und sie war so fröhlich und glücklich zu dem elterlichen Hause hingefahren.

»Was mag ihr begegnet sein?« fragte sich der kleine dicke Herr. »Der hübsche Ludwig? Das Findelkind? Hm, etwas hatten sie mit einander. Ich werde hier noch Vieles sehen müssen.«

Er blickte weiter durch seine Oeffnung und er sollte noch mehr sehen.

In dem kleinen Stübchen wurde leise eine Thür geöffnet. Ein junger Mann trat herein, leise, wie er die Thür geöffnet hatte. Es war ein blasser, stiller Mensch, betrübt, wie das hübsche Mädchen; ein schwerer Druck mußte ihm auf dem Herzen liegen.

Das Mädchen sah ihn. Sie mußte ihn fast erschrocken ansehen.

»Fritz, um Gotteswillen, wie siehst Du aus? Was ist mit Dir vorgegangen? Warst Du krank? Es hat mir ja Keiner davon geschrieben.«

»Ich war nicht krank,« sagte der junge Mann traurig. »Aber mein Tod wird es doch sein.«

»Aber was ist es denn, armer Bruder?«

Sie hatte ihm die Hand gereicht. Sie war wirklich erschrocken. So sah sie ihm ängstlich ins Gesicht.

Er hatte das Gesicht abgewandt. Er sah schmerzlich auf den Tisch, auf dem sie die kostbaren Sachen ordnete.

»Und Du mußt helfen, mir das Grab fertig zu machen?« sagte er.

Da wußte sie, was es war. Sie hatte in dem ersten Augenblicke, als sie den Bruder wiedersah, nicht daran gedacht.

»Ich?« rief sie. »Ich rühre nichts mehr an.«

Sie rief es muthig, entschlossen.

»Um des Himmelswillen, Caroline!« sagte der junge Mann ängstlich.

»Was ist's?«

»Ich bitte Dich, mache hier Alles in Ordnung. Wenn der Vater käme!«

»Und dann?«

»Kennst Du ihn nicht mehr? O, und es ist in dem Jahre, da Du fort warst, noch viel, viel schlimmer hier im Hause geworden.«

»Das muß es sein,« sagte auch schmerzlich das Mädchen. »Aber dennoch,« fuhr sie wieder muthig fort, »aber dennoch, Fritz, ich thäte es nicht, was sie hier heute Abend von Dir verlangen werden. Ich habe die alte häßliche Person gesehen, Fritz –«

»Hast Du unsere Mutter gesehen, Caroline?«

»Ja, ja,« rief das Kind. »Die arme Mutter! Wie sah sie aus!«

»Für sie thue ich es. Für sie wirst auch Du Alles thun, Caroline.«

»Mein Gott! mein Gott!«

»Und Du weißt noch lange nicht Alles, Caroline.«

»Auch von Dir? Ich sehe Dir an, daß Dich noch etwas drückt.«

»Auch von mir.«

»Was ist es?«

»Du erinnerst Dich der Liesbeth« –

»Um des Himmelswillen, was ist es mit ihr?«

»Nachher, Caroline. Ich höre Jemanden kommen.«

Er verließ das kleine Gemach.

Gleich nachher öffnete sich dessen Thür nochmals.

Ein hübscher junger Mann trat herein.

»Der Ludwig – ah!« rief der kleine, dicke Herr. »Das kleine Stübchen wird interessant. Was wird es da geben?«

Der Kellner Ludwig trug zwei Weinkaraffen unter dem Arm. Sie waren wohl für die Gesellschaft bestimmt, die sich in dem Stübchen versammeln sollte.

Er trat mit etwas blassem Gesichte in das Gemach. Er mußte wohl wissen, wen er darin treffen werde. Er wurde doch noch bleicher, als er das Mädchen sah. Dann wurde er glühendroth. Die Weinflaschen zitterten ihm unter dem Arme.

Und Caroline? Sie wurde nicht wieder roth, auch nicht ihm gegenüber. Aber sehr blaß war sie geworden, und ein leises Beben hatte sie ergriffen, wie ihn. Sie zupfte an dem schneeweißen Damasttischtuche, als wenn noch Fältchen darin seien, die sie ausglätten wollte; sie riß tiefe, weite Falten hinein.

So standen die beiden jungen Leute einander gegenüber.

»Guten Abend, Mamsell,« sagte der Kellner zuletzt.

Er stellte die beiden Karaffen auf den Tisch, aber er stieß sie klappernd an einander.

»Guten Abend, Ludwig,« erwiderte sie; aber sie konnte die drei Worte kaum hörbar hervorbringen und sie zog an dem Tischtuche, daß die Tassen und Gläser in Gefahr kamen, hinunter zu fallen. Sie suchte sie wieder zu ordnen

»Soll ich Ihnen helfen, Mamsell?«

»Ich danke – Ihnen.«

Das letzte Wort sprach sie noch langsam, zögernd aus. Auf einmal belebte sich ihr Gesicht, ein frischer, ein fast neckischer Zug trat hinein, es bekam seine Farbe wieder.

»Ludwig, sagten wir früher Sie zu einander?«

»Nein, Mamsell.«

»Und nanntest Du mich Mamsell?«

»Sie sind ein Jahr fortgewesen, und – und –«

»Nun, und?«

»Und als Mamsell wiedergekommen.«

»Auch für Dich?«

»Und unterwegs, Mamsell Caroline – am Posthause –«

»Ah, da sahst Du mich!«

Sie war doch wieder roth geworden.

»Und auch am Fährkruge, Mamsell.«

»Aber was soll das?«

»Und der eine Herr ist sogar mit Ihnen hierher gekommen!«

Sie konnte, sie mußte wieder neckisch lächeln.

»In den rothen Krug kann Jeder einkehren, Ludwig.«

»Ja, Mamsell, Jeder –«

»Ludwig, Du hast mir Deine Hand noch nicht gegeben.«

»Darf ich, Mamsell?«

»Und ich glaube wahrhaftig, Du hast mir auch noch nicht in die Augen gesehen. Dazu wirst Du doch meiner Erlaubniß nicht bedürfen?«

Er sah ihr in die Augen. Aber er schien ihr durch die Augen doch nicht in das Herz sehen zu können. Da sah er auch etwas Anderes. Sie hatte ihm ihre Hand hingehalten; er nahm sie und drückte sie. Er glaubte, einen Gegendruck zu fühlen. Er glaubte es; es mußte ein sehr leiser, zweifelhafter sein. Er sah ihr noch immer forschend in die Augen. Sah er jetzt in ihr Herz?

Sie war wieder roth geworden; aber auch nur das. Sie konnte sogar auch jetzt wieder lächeln.

»Caroline!« sagte er traurig.

Da wurden sie gestört.

Ein starker, derber, fast polternder Schritt war nahe gekommen. Der kleine, dicke Herr hatte ihn hören können; aber die Beiden hatten ihn nicht vernommen. Der Eine war verliebt. Die Andere –. Ist nicht die Koketterie, auch die unschuldigste, nein, gerade die unschuldige, ebenfalls ein kleines Verliebtsein, oft gar ein recht großes?

Die Thür des kleinen, hübschen Stübchens wurde mit einem kräftigen derben Ruck aufgemacht. Ein großer, starker Mann stand darin, der alte Herr Sellner. Sein Gesicht war feuerroth geworden. Auch er konnte roth werden, und wenn er roth wurde, so hatte das wohl mehr zu bedeuten, als das leichte Erröthen in dem feinen Gesichte seiner Tochter Caroline. Er erhob zugleich seine kräftige Faust. So schritt er in das Stübchen.

Die beiden jungen Leute waren weit auseinander gefahren. Er sah sie eine Weile schweigend an. Er suchte wohl den Zorn zu dämpfen, der in ihm aufgelodert war. War es Liebe zu dem Kinde, das kaum eine Stunde wieder im Vaterhause war? Oder war es etwas Anderes? Sein Zorn wich einem kalten, finstern, entschlossenen Drohen. Die erhobene Faust ließ er sinken. Er wandte sich an den jungen Mann.

»Du wirst morgen mein Haus verlassen. Geh!«

Der junge Mensch verließ stumm das Stübchen. Der Vater wandte sich an die Tochter.

»Und Du –! Auch Dich zu bändigen, giebt es Mittel.«

»Vater!« rief das Kind, entsetzt über die kalte, finstere Drohung.

»Endige Deine Arbeit hier!« befahl er.

Sie gehorchte zitternd. Der kleine, dicke Herr mußte aus seinem Versteck, in dem er lauschte, zurücktreten.

Der lange Schmidt erschien in dem Fremdenzimmer.

»Der Herr Baron ist in das Domestikenzimmer gegangen,« meldete er dem kleinen Herrn.

»Wohin?« fragte erstaunt der kleine Herr.

»In das große Zimmer drüben. Sie nennen es die Fuhrmannsstube; obgleich ich keinen Fuhrmann darin gesehen habe.«

»Und was will er dort?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hm, er wird doch keine dummen Streiche anfangen? Ich muß ihm folgen.«

Indem der kleine, dicke Herr das sagte, war er schon auf dem Wege nach der Fuhrmannsstube. Zu dem langen Schmidt sagte er noch:

»Achten Sie ja auf Alles!«



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