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Nun brauste die tolle Lust des Karnevals durch die Straßen von Nizza. Die Blumenschlacht hatte ihn eingeleitet, und im Triumph hatten die Nizzarden die Riesenpuppe des Prinzen Karneval auf rollenden Rädern vom Bahnhof her abends bei Fackelbeleuchtung und Musik in ihre Stadt geleitet. Und nun schwamm alles im Festrausch. Die Belustigungen jagten einander, und das ganze Leben schien ein einziger Taumel zu sein. Bald bewegten sich bunte Maskenzüge, Kavalkaden, riesenhafte Festwagen mit geschmackvoll dekoriertem Aufbau in langer Reihe durch die festlich geschmückten Straßen, während der Konfettiregen aus allen Fenstern niederrieselte, bald lockten Maskenbälle, Regatten und Korsofahrten. Das Vergnügungsprogramm schien unerschöpflich zu sein und stellte gewaltige Anforderungen an das Leistungsvermögen der aus allen Weltgegenden zusammengeströmten Scharen, welche die Hotels und Mietshäuser bis in die letzte Dachkammer hinauf füllten. Nie hatte Nizza einen glänzenderen Karneval erlebt. Und ein immer wolkenfreier Himmel blaute über der meerumgürteten, von blühenden Gärten durchdufteten Stadt, die ein einziger schimmernder Festsaal und nur geschaffen schien, zum Tummelplatz hellster Daseinsfreude zu dienen. Es machte den Eindruck, als ob es eine traurige oder leidende Menschheit überhaupt nicht gäbe.
Margot spürte von dem Faschingstaumel, der alle anderen ergriffen hatte, freilich nichts.
Sie war nun Arno von Meyburgs Braut. Sie sagte es sich manchmal selber vor, weil es ihr immer noch unglaublich vorkam. Man hatte ihr von allen Seiten gratuliert. Obgleich keine Verlobungskarten gedruckt worden waren – Arno hatte gewünscht, erst die Vermählungsanzeigen zu versenden –, hatte man doch alle Bekannten benachrichtigt und Aufsehen und Verwunderung waren überall groß. Die Nachricht mußte sich dank Adele Lindenthal und Herrn von Jorell durch die ganze Fremdenkolonie verbreitet haben, denn eines Tages wurde in Villa Erminia ein Riesenbukett von Gloire-de-Dijon-Rosen abgegeben, dem die Visitenkarte des Großfürsten mit zwei liebenswürdigen Zeilen beigeheftet war.
Im allgemeinen hatte man mitten im Karnevalstrubel nicht viel Zeit, sich eingehend mit fremden Angelegenheiten zu beschäftigen, man begnügte sich also meistens damit, sich zu wundern und der Meinung Ausdruck zu geben, daß Margot von Detten doch noch eine ganz andere Partie hätte machen können als diesen Herrn von Meyburg, der ja sehr elegant, weltgewandt und amüsant, aber doch schon ein bißchen verlebt war und als gewerbsmäßiger Spieler galt. Warum hatte sie nicht noch ein bißchen gewartet, bis ein anderer kam? Und glückstrahlend sah sie gerade auch nicht aus als junge Braut. Adele Lindenthal erklärte die Verbindung sogar als eine »Vernunftehe«, und Herr von Jorell war nicht abgeneigt zu glauben, es müsse etwas Besonderes dahinter stecken. Der Leutnant von Saldern aber war mitten aus dem Karneval heraus nach Mentone übergesiedelt, weil er »sich leidend fühlte«; nun, man wußte, woran er litt, der arme Kerl. Den Anblick des glücklichen Nebenbuhlers konnte er offenbar nicht vertragen, das war alles.
In Wahrheit hatte er Margot nur durch eine Karte mit einem »p. f.« gratuliert und sich nicht mehr vor ihr sehen lassen. Ein ebenso knapper Glückwunsch war ihr von Doktor Leuthold zugekommen, der ihr bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße sogar allem Anschein nach ausgewichen war. Was das bedeutete, da der alte Herr sonst immer so besonders freundschaftlich und väterlich sich zu ihr gezeigt hatte, begriff sie nicht; selbst wenn er ihre Verlobung nicht billigte, hatte er doch keinen Grund, sie zu verletzen. Viel nachhaltiger als alles dies beschäftigte sie aber das Stummbleiben Erich Holdheims.
Daß er von ihrer Verlobung trotz seiner Abgeschlossenheit Kunde erhalten hatte, entnahm sie daraus, daß von da an keine Blumen mehr aus seinem Garten bei ihr abgegeben wurden. Einer Braut gegenüber – und der Braut dieses Mannes – glaubte er wohl dazu nicht mehr berechtigt zu sein oder wollte sich doch nicht einer Zurechtweisung von Seiten Arno von Meyburgs aussetzen. Kein Wort von ihm war zu ihr gelangt. Wie sollte das auch sein? Er hatte sie vor diesem Manne gewarnt, dessen Braut sie nun war, und konnte ihr jetzt nicht Glück wünschen zu ihrer Verlobung. – Jeder andere hätte das vielleicht gekonnt, er nicht. Das war das Schwerste, daran sie trug; einem Manne gehören zu sollen, den er haßte. Sie fürchtete sich vor dem Augenblick, wo sie ihn wiedersehen würde. Sie wollte ihn nicht wiedersehen. Nicht einmal in den Garten getraute sie sich mehr. Ihr war immer, als müsse er an der Hecke stehen und sie anblicken – so voller Vorwurf, so voller Trauer. Nein, nein! Nur nicht daran denken, nur lieber vergessen, sich betäuben; dafür war ja der Karneval gut.
Arno von Meyburg kam jeden Tag, um sie abzuholen. Und jeden Tag war er gleich rücksichtsvoll, aufmerksam und ritterlich gegen sie, sie konnte sich nicht über ihn beklagen. Noch nie hatte er ihre Lippen geküßt, immer nur ihre Hände, und sie war ihm so dankbar dafür. Es war, als ob er gewußt hätte, wie er sich am besten bei ihr einschmeicheln könne. Manchmal freilich sah er sie mit Blicken an, vor denen es ihr bangte. Dann mußte sie der Zukunft denken, und ein kalter Schauer überrieselte sie, die ganze Scham des Weibes, das sich dem ungeliebten Manne ergeben soll, war in ihr. Und sie mußte in Harros glückstrahlendes Gesicht blicken, seinen zukunftsseligen Worten lauschen, um sich daran wieder Mut und Trost zu holen. »Ich habe dir mein Gelöbnis gehalten, Mutter«, sagte sie sich, »aber es ist schwer.«
Heute war letzter Konfettitag und man wollte den großen Maskenzug noch einmal sehen. Harro und Arno hatten einer Einladung zum Luncheon ins Hotel Beaurivage Folge geleistet, während Margot sich zurückgehalten hatte, um vor den zu erwartenden Anstrengungen des Tages Ruhe zu haben. In Wahrheit hatte sie sich vor all den beobachtenden Blicken der »Freunde« gefürchtet, die an der Hoteltafel auf ihr und Arno ruhen würden. Dagegen hatte sie versprochen, die Gesellschaft rechtzeitig aus dem Hotelgarten, wo nach dem Luncheon alle Welt in den großen Strandkörben saß, abzuholen.
Als sie zur bestimmten Zeit aus dem Hause trat, ihren grauen Domino und die Drahtmaske, ohne die sich heute niemand in den Stunden der Maskenfreiheit auf die Straße wagen konnte, über dem Arm, stieß sie plötzlich auf Erich Holdheim, der sich eben von Doktor Leuthold, mit dem er aus seiner Villa gekommen, verabschiedet haben mußte. Denn diesen letzteren sah Margot mit raschen Schritten die Straße hinabeilen, beinahe als ob er vor ihr fliehen wolle. Erich Holdheim seinerseits mochte: das gleiche beabsichtigt haben, konnte aber nicht an ihr vorüber, ohne sie zu grüßen. In der Verwirrung, die sich ihrer beider bei dem ebenso unerwarteten wie unerwünschten Zusammentreffen bemächtigt hatte, standen sie mit einem Male dicht voreinander, ohne selber zu wissen, wie das zugegangen. Während Margots Antlitz von heißer Glut überflammt war, sah Erich totenbleich aus. Beide zitterten leise, beide sahen aneinander vorüber.
Erich hielt seinen Hut in der Hand und zerknüllte ihn mit nervös zuckenden Fingern. Er fühlte, daß er etwas sagen müsse. Aber er konnte nicht lügen. Ein Glückwunsch wäre ihm jetzt als eine Lüge erschienen. »Wir haben uns recht lange nicht gesehen, Fräulein von Detten«, sagte er endlich leise. Es klang ihm selber wunderlich.
Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Als ob wir uns weiter nichts zu sagen hätten!« dachte sie wehmütig. Und dann, um ihm zu helfen, fügte sie hinzu: »Ich hörte durch Doktor Leuthold leider, daß Sie Sorge haben – daß der Zustand Ihrer Frau Mutter –«
Er nickte traurig. »Ja, es steht schlecht«, sagte er mit zusammengezogenen Brauen. Er schien etwas hinzusetzen zu wollen, was er aber wieder unterdrückte. Noch immer hatte er sie nicht angesehen. Mit hängenden Schultern, müde und gebrochen stand er im hellen Mittagssonnenschein vor ihr da. Margot war's, als ruhten seine Augen auf dem Domino über ihrem Arm. Sie zuckte leise zusammen. Wie es ihm wohl zu Sinne werden mochte, wenn er daran dachte, daß er selber jetzt an das Krankenbett – vielleicht an das Sterbebett – seiner Mutter zurückeilte, während sie, Margot, sich in den bunten Mummenschanz da draußen mischen wollte! Lieber Gott, wenn er freilich gewußt hätte, mit welchen Gefühlen sie an dem tollen Faschingstaumel dieser Tage sich beteiligte! »Sie haben doch noch Hoffnung?« fragte sie, da das eingetretene Schweigen sie zu ängstigen anfing.
Er schüttelte leise den Kopf und zuckte die Schultern. »Wenig.« Und wieder starrte er vor sich nieder mit dem gleichen hoffnungsleeren Blick von vorhin, der sie im Innersten erschüttert hatte.
Und dann, plötzlich, als ob sie beide noch nie von etwas anderem geredet hätten, fragte er ausbrechend: »Fräulein von Detten, lieben Sie diesen Mann?« Es klang nicht drohend oder anklagend, nur traurig war der Ton seiner Frage, unsäglich traurig. Und darum gerade ergriff er sie doppelt, gerade darum konnte sie ihm nicht antworten, woher denn er das Recht zu solch einer Frage nahm. Aber es bedurfte dessen auch nicht mehr. Denn Erich Holdheim hatte sich selber besonnen. Er hatte sich über die Stirn hingestrichen und stotterte nun: »Verzeihen Sie – ich habe mich vergessen. Natürlich lieben Sie ihn ja. Margot von Detten erhört keinen Mann anders als aus Liebe. Und Liebe erklärt alles, Liebe rechtfertigt alles. Nochmals, verzeihen Sie mir! Ich bin nicht ganz zurechnungsfähig in diesen Tagen. Ich halte Sie auch so lange auf, Sie haben sicherlich Eile. Grüßen Sie Ihren Herrn Bruder von mir. Leben Sie wohl!«
Er verneigte sich linkisch, ohne ihr die Hand zu reichen, und ging rasch auf die Straßenpforte der Villa La Paix zu.
Margot legte den kurzen Weg zum Hotel Beaurivage wie mechanisch zurück. Die Begegnung hatte alle Tiefen ihres Innern wieder aufgewühlt. Und unablässig klang es in ihr: »Margot von Detten erhört keinen Mann anders als aus Liebe!« Nun gut, mochte er es doch glauben! Und doch hätte sie aufschreien mögen in Jammer und Weh. »Mein Platz wäre jetzt dort am Krankenlager seiner Mutter«, dachte sie, »neben ihm!«
Statt dessen befand sie sich eine halbe Stunde später, die Seele immer noch wund von seinen Worten, aus denen sie neben all seinem Schmerz zum erstenmal auch seine Liebe – seine verfehlte, hoffnungslose Liebe – zu vernehmen geglaubt hatte, mitten im lauten, lustigen Maskengewühl, das alle Hauptstraßen der festfreudigen Stadt durchwogte, und um sie her lachte und neckte und schrie es in allen Sprachen, tanzten alle die kostümierten Gestalten, Pierrots und Pierretten, rieselte der Konfettiregen, kreischte, klingelte und sang das tolle Getreibe.
Masken in allen Fenstern, auf allen Baikonen der geschmückten Häuser, Masken in dichten Reihen auf den Trottoiren der beflaggten Straßen, Masken in langen Schwärmen, Arm in Arm dahinschlendernd, bald harmlose Wanderer umzingelnd und umtanzend, bald mit verstellten Diskantstimmen auf sie einredend, sie nasführend, sie ansingend, bald in ein leidenschaftlich geführtes Gefecht mit den kleinen Gipskügelchen sich verwickelnd, die zu Tausenden, zu Hunderttausenden unablässig herauf und herab, hinüber und herüber durch die Luft fliegen. Jeder hat sein Säckchen voll um den Leib geschnallt oder trägt große Papiertüten voll davon in den Händen, jeder hat seine Blechschaufel, um die Geschosse abzuschnellen; denn hier muß jeder sich wehren, verschont wird keiner. Man bewirft die Kutscher der Doktorwagen, die sich durchs Gedränge ihren Weg bahnen, man bewirft die Musikanten, die, eine lustige Weise nach der anderen blasend, die palmenbepflanzten Meerpromenaden durchziehen, die Gendarmen, die den großen Galazug anführen, und alle die phantastisch aufgeputzten Gestalten, welche die großen Karnevalswagen mit ihren allegorischen und satyrischen Darstellungen bevölkern, man wirft wahllos und rücksichtslos. Jeder weiß das, und jeder hat sich darauf vorbereitet. Wehe dem, der in eleganter Kleidung, mit feinem Hut oder ohne Drahtmaske vor dem Gesicht sich in dies kämpfende Gewühl mischt! Im Umsehen ist das Opfer so übel zugerichtet, daß es den Kampfplatz räumen muß, und der Triumphgesang der Sieger hallt hinter ihm her. Von den Baikonen schüttet man manchmal ganze Säcke voll Konfetti herab, überall entspinnen sich Einzelkämpfe, die an Erbitterung zunehmen und erst mit der Flucht der einen Partei enden. Alles ist überwölkt von feinem, weißlichem Staub. Die Straßen sehen aus, als ob es geschneit hätte, und die schweren Räder der Dekorationswagen mahlen förmlich in der weißen Masse; Mäntel und Hüte, rote Schellenkappen und phantastische Maskenkostüme sind gleicherweise bestäubt. Und immer weiter unter dem strahlenden Rivierahimmel und angesichts des Meeres, das seine blauen Wogen sonnenglitzernd gegen den Strand rollt, tobt und tanzt, lacht und singt es durch die Gassen. Ganz Nizza ist unterwegs, alle Unterschiede des Ranges und der Nationalität sind unter der Herrschaft der Pritsche, unter dem Schutz des gleichmachenden Dominos aufgehoben, ganz Nizza ist lustig.
Die Gesellschaft aus dem Hotel Beaurivage hatte sich rasch von der Welle der allgemeinen Ausgelassenheit mit fortreißen lassen, selbst die Zurückhaltendsten konnten auf die Dauer der überschäumenden Karnevalslust nicht widerstehen, die sie in tausend Gestalten umbrandete. Herr von Jorell kämpfte mit kunstgerechten Schaufelwürfen gegen ein halbes Dutzend roter Satanellas an, die ihn in die Flucht jagen wollten, und Adele Lindenthal konnte sich gegen die Versuche einiger Chinesen, die sie erst umtanzten und dann in ihren Wagen schleppen wollten, nicht anders wehren, als daß sie sich ihre Drahtmaske herabriß und ihnen ihr zorniges Antlitz zeigte – wenigstens behauptete Harro, da hätten die kühnen Piraten schleunigst die Flucht ergriffen. Er selbst war in übermütigster Laune. Arno hatte heute die Mitteilung erhalten, daß er im Crédit Lyonnais, dem angesehensten Bankinstitut Nizzas, auf seine Ansprüche an die Meyburgsche Erbschaft hin die geforderten dreimalhunderttausend Franken erheben könne, welche das Nachlaßkuratorium auf seinen Wunsch daselbst angewiesen hatte. Die Stunde der Erlösung für Eugenia hatte also geschlagen. Mußte die Arme doch auch jetzt, wo die Faschingslust die ganze Riviera entlang jauchzte und jubelte, hinter ihrem Vater am Spieltische stehen; denn die Spielbank von Monte Carlo kannte keinen Karneval, und der Fürst Caraffa, der gerade jetzt sein neu ersonnenes System erproben wollte, konnte, obgleich schwer leidend und kaum imstande, sich tagtäglich zum Kasino zu schleppen, keine Rast und keine Schonung mehr.
Es war, als ob er ahnte, daß er nicht lange mehr Zeit haben werde, seinem System zum Siege zu verhelfen; jede Stunde, die er nicht am grünen Tisch verbrachte, dünkte ihn eine verlorene.
Nur Arno selber machte auf Margot heute einen sonderbar unfrohen Eindruck, der auch mitten im johlenden Maskengewühl des Quai Masséna nicht wich. Er war wie von irgend einer Sorge gedrückt, etwas Unstetes war in seinen Bewegungen, etwas Flackerndes in seinen Augen. Er schien immer nach irgend etwas oder irgendwem zu suchen. Plötzlich mußte irgend eine Erscheinung seine Aufmerksamkeit gefesselt haben. Er betrachtete unverwandt eine Gruppe von Masken, die, Damen und Herren, in weißen Seidendominos, mit weißen Schuhen, Narrenkappen und Handschuhen, alle Arm in Arm im Takt der vorüberziehenden Musik eben die Straße herauf kam, die Pritschen schwingend und ein französisches Chanson singend, das eben im Schwünge war und in dessen Refrain die Menge lachend und johlend einfiel. Auch ihn mußte man in der Gruppe erkannt haben, trotzdem er einen schwarzen Domino trug, dessen Kapotte er über den Kopf heraufgeschlagen hatte, denn ein heftiges Konfettibombardement hob plötzlich von dort aus gegen ihn an, und man winkte und rief zu ihm herüber. Ein Kampf entspann sich, an dem sich bald auch zahlreiche andere beteiligten, die entweder in der Nähe gestanden hatten oder jetzt hinzukamen. Margot sah sich durch das heranströmende Gewühl plötzlich von Arno fortgerissen. Sie hatte außerdem Mühe, sich vor den niederprasselnden Konfettiwürfen, die an dem Geflecht ihrer Drahtmaske zerstäubten und ihr sekundenlang den Ausblick raubten, durch Niederbücken und Abwenden zu schützen. Und als sie endlich wieder frei um sich blicken konnte, gewahrte sie von all ihren Begleitern niemanden mehr. Da hörte sie sich plötzlich angeredet. Eine weibliche Gestalt in weißem Seidendomino stand neben ihr. Margot kam es so vor, als ob es eine aus jenem Schwärm sei, der vorher Arno angegriffen hatte, aber sie konnte sich täuschen; jedenfalls war auch diese vom Kopf bis zu den Füßen weiß eingehüllt, vom Gesicht unter einer weißseidenen Halbmaske nichts zu gewahren. Das Französisch, in dem die Unbekannte sie ansprach, schien Margot nicht echt zu sein.
»Ich irre mich wohl nicht? Sie sind das Fräulein aus der Villa Erminia?«
Es war nicht im Maskendiskant, sondern mit einer tiefen Frauenstimme gesprochen, die leicht vor Erregung zitterte und etwas rauh klang. Margot sagte, in der Annahme, daß es sich um eine Botschaft von Arno von Meyburg oder einem ihrer übrigen Begleiter handeln könne: »Allerdings, haben Sie mir etwas zu bestellen?«
»Nur eine Frage habe ich an Sie zu richten.« Die Stimme bebte heftiger als vorhin.
»Und die wäre?«
»Hat Ihnen Arno von Meyburg« – sie sprach diesen Namen so aus, daß Margot nicht mehr zweifelte, eine Deutsche vor sich zu haben – »ein Heiratsversprechen gemacht, Mademoiselle?«
Margot fuhr zurück und warf stolz den Kopf empor. »Ich begreife nicht, wie Sie zu dieser Frage kommen, und ich habe keine Lust, Ihnen darauf zu antworten.« Sie wollte sich abwenden. Die andere lachte kurz auf. »Sie sind sehr hochmütig, mein Fräulein«, sagte sie, sich immer dicht an Margots Seite haltend und jetzt mit zischender Stimme auf sie einsprechend, während ringsherum der Karnevalslärm sie beide umtobte, »aber ich schwöre Ihnen, daß ich ein vollbegründetes Recht auf diese Frage habe und daß es auch in Ihrem eigenen Interesse ist, mir Klarheit zu verschaffen. Und, wenn Ihnen das besser klingt, will ich Sie auch beschwören – will es als eine Gnade von Ihnen erflehen, mir die volle Wahrheit zu sagen.«
Es war etwas so Angstvolles in den Worten der Unbekannten, daß Margot seltsam dadurch ergriffen wurde. Die unbestimmte Ahnung von etwas Geheimnisvollem und Schrecklichem dämmerte in ihr auf. »Madame«, sagte sie, »ich verstehe nichts von dem, was Sie sagen und was Sie wollen. Aber ich habe auch keinerlei Grund, Ihnen zu verhehlen, was ohnehin alle Welt weiß: daß ich Arno von Meyburgs Braut bin.«
Ein Aufschrei quoll unter der weißen Seidenmaske hervor. »Also wirklich!« Die Unbekannte ließ wie zerschmettert ein paar Augenblicke lang die Arme sinken. Dann lachte sie kurz und häßlich auf. »Ein schlauer Betrüger!« murmelte sie halb für sich, »ich hab's nicht glauben wollen – ein geschickter Komödiant – aber diesmal wird es ihm nicht gelingen – diesmal nicht.« Sie legte plötzlich ihren Arm in den Margots, als ob sie sich stützen wolle. Vielleicht war es ihr auch nur darum zu tun, die andere nicht in dem verwirrenden Gedränge zu verlieren, das sie beide unablässig umbrauste. »Mademoiselle«, fing sie nach einer Weile an, während Margot schweigend die Begleitung duldete, »Sie begreifen mich nicht, sagen Sie. Soviel werden Sie aber doch wohl begreifen, daß ich auf diesen Mann, den Sie Ihren Bräutigam nennen, unveräußerliche Rechte beanspruche. Und ich möchte, Sie glaubten mir, ohne daß ich Ihnen weitere Eröffnungen mache. Es wäre für uns alle besser, wenn Sie mich nicht dazu zwängen.«
»Was verlangen Sie von mir?« fragte Margot mit Widerstreben.
»Es gibt nur eine Lösung. Sagen Sie Arno, daß Sie ihn freigeben, sagen Sie ihm, daß Sie nie die Seine werden können. Ich beschwöre Sie, tun Sie's! Denn Sie werden – dürfen nie die Seine werden, so lange ich lebe, dafür steh' ich Ihnen ein.«
»Und wenn er mich fragt, warum ich plötzlich anderen Sinnes geworden bin? Was soll ich ihm erwidern? Ich gab ihm doch mein Wort. Und nun so auf die Bitte einer Unbekannten hin – die ich nie Auge in Auge gesehen – Sie müssen doch begreifen, daß ich das gar nicht ernst nehmen kann –«
»Sagen Sie ihm, was Sie wollen! Sie werden schon etwas finden. Sagen Sie ihm, Sie seien zu der Überzeugung gekommen, ihn nicht mehr zu lieben. Lieben Sie ihn denn überhaupt – diesen Mann?«
»Ich werde Ihnen hierauf keine Antwort geben«, sagte Margot, der es dem ungestümen Drängen dieser geheimnisvollen Maske gegenüber immer beklommener zumute wurde, »und ich bitte Sie überhaupt dringend, nun zu Ende zu kommen. Ich will nach Hause.« Ein zischender Laut kam unter der Maske hervor. »Nun gut, ich sehe schon, er hat Sie völlig umstrickt. Und doch habe ich Ihnen bereits gesagt, daß Arno von Meyburg Ihnen nie gehören wird, daß es eher zum äußersten kommt. Wer auf Tod und Leben kämpft, kennt betreffs seiner Mittel keine Wahl und keine Schonung mehr – auch nicht gegen sich selbst und gegen das Liebste, was er auf Erden hat. Ich liebe diesen Mann – verstehen Sie? – Ich liebe ihn! Ich kann ohne ihn nicht mehr leben, und ich will nicht. Ich habe mir diesen Mann und seine Liebe, seinen Besitz erkauft – teuer erkauft, der Himmel weiß es. Ich geb' ihn nicht mehr preis – am wenigsten an eine andere, an eine, die ihn nicht so lieben kann wie ich.
Ich habe Jahre und Jahre auf den Tag gewartet, wo ich am Ziel sein würde, und jetzt sollt' ich ihn mir von Ihnen entreißen lassen? Wenn Sie selber liebten, würden Sie wissen, daß eher das Schlimmste geschehen wird. Und wenn ich ihn mir durch dies Schlimmste nicht zurückeroberte, Ihnen wenigstens würd' ich ihn doch entreißen. Und nun wählen Sie, ob Sie es zum Äußersten kommen lassen wollen! Noch ist es Zeit, diesen Konflikt friedlich zu lösen.«
Sie hatte in wachsender Leidenschaft gesprochen, ihr Gesicht immer näher an das Margots drängend, weil gerade jetzt der Gala-Korso mit ohrenbetäubendem Getöse neben ihnen durch die Straße zog und ihre Worte verschlang. Ihr Arm, der noch immer den Margots umklammerte, zitterte heftig. Margot war's eine Zeitlang, als wollten ihr die Sinne schwinden. Was für ein Neues, Schreckenvolles stieg da vor ihr herauf? Sollte ihr Opfer dennoch vergeblich gebracht sein? Und wodurch hatte dieses Mädchen da neben ihr sich ein Anrecht an den Mann erkauft, dessen Braut sie, Margot, geworden war? Durch eine Sünde, durch ein Verbrechen? Denn das alles war doch nicht nur ein Betrug, eine List; das klang vielmehr so wahr und echt, daß sie ein Zittern davor anflog. Oder hatte sie es etwa wirklich mit einer Rasenden zu tun? Eine verwirrende Flut von tausend sich kreuzenden Vorstellungen drang auf Margot ein. Sie mußte ja Klarheit haben! Ein heißes Verlangen stieg in ihr auf, ein Name schoß ihr durch den Kopf: »Erich Holdheim!« Wenn sie zu ihm hätte flüchten können! Er würde ihr geraten, ihr geholfen haben. Den Weg, den er sie geführt hätte, wäre sie blindlings gegangen – und wenn er durch Dornen und Dickicht geführt hätte, denn der Weg wäre der rechte gewesen.
Aber wohin verirrten sich ihre Gedanken da? »Wenden Sie sich an Arno von Meyburg selber«, stieß sie heraus, »er wird die Entscheidung treffen, die Sie fordern. Ich habe hinter seinem Rücken nichts mit Ihnen zu verhandeln. Und zeigen Sie ein offenes Visier, wenn Sie das Licht des Tages nicht zu scheuen haben! Leben Sie wohl!«
Sie hatte sich frei gemacht, ihre Brust hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen. Die andere machte eine jähe Bewegung, als ob sie sich die Maske vom Gesicht reißen wollte, führte ihren Vorsatz dann aber doch nicht aus, sondern ließ nur einen knirschenden Ton ohnmächtigen Zornes hören. »Gut denn«, sagte sie zwischen den Zähnen hindurch, »wie Sie wollen. Auf baldiges Wiedersehen!« Und sie war im Gewühl der schwärmenden Masken verschwunden, ehe Margot Zeit gehabt hätte, noch ein Wort ihr zuzurufen. In einer Schwächeanwandlung lehnte Margot sich sekundenlang gegen die Matten einer Straßentribüne, an der sie vorüberkam. Die Sinne vergingen ihr fast, aber sie wollte nicht ohnmächtig werden. Nur fort von hier mußte sie – dieser korybantische Lärm, der in so schneidendem Gegensatz zu dem stand, was ihr Innerstes durchwühlte, betäubte sie. Fort! Und sie schleppte sich mit wankenden Knien einer Seitenstraße zu.
Da hörte sie hinter sich rufen: »Margot! Margot!« Es war Harros Stimme.
»Endlich! Alle suchen dich. Wir haben uns alle untereinander verloren. Aber es ist lustig, nicht?«
»Sehr lustig.«
»Was ist dir? Du wankst ja, Mädchen. Wo ist Arno?« Er hatte den Arm um sie gelegt.
»Ich weiß nicht. Bringe mich nach Hause, ja?«
Er hatte kaum mehr Zeit, einen Wagen anzurufen, als sie ihm auch schon ohnmächtig im Arme lag.