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2.

In der Schänke ging es laut. Aus dem ganzen Dorfe strömten die Gäste herbei, die Alten nach der Schänkstube im Erdgeschoß, die Jungen nach dem darüber gelegenen Tanzboden. Nur ein Trupp munterer Bursche, aus deren Mitte ein fast elegant gekleideter Jüngling hoch emporragte, folgte dem Zuge der Alten. Als er in die Schänkstube trat, gerieth die ganze anwesende Gesellschaft in Bewegung. »Der Sacher Heinrich!« lief's von Mund zu Munde, und bald fand sich der feingekleidete Mensch umdrängt von Solchen, die ihm ihr »Grüß Gott, Heinrich!« und das Bierglas zum Willkommentrunk entgegenbrachten.

Während er allen in erwünschter Weise Bescheid that, wurde er mehr und mehr dem Hintergrunde zugeschoben, bis er dicht vor dem »Herrentisch« stand, an welchem die Angesehenen des Ortes, darunter auch der »Gimpelkönig«, ihren Platz hatten. Die gleiche Begrüßung ward ihm auch hier zu Theil; dann rückte man eng zusammen und bemächtigte sich des Ankömmlings gänzlich, indem man ihn an den Tisch zog und zwischen sich nahm, daß er weder zur Rechten, noch zur Linken entweichen konnte. Das war eine große Ehre, und Heinrich wußte sie zu schätzen; – er zog seine wohlgefüllte Cigarrentasche, damals in Wellersgrün ein unerhörter Luxus, präsentirte sie den Umsitzenden und steckte sich selbst einen der duftenden Glimmstengel an, worauf er sich in Bereitschaft setzte, auf die mancherlei Fragen, die man an ihn richten würde, bündige Antwort zu geben. Seine Begleiter pflanzten sich, die dorfüblichen Pfeifen im Munde, vor dem Tische, dem Freunde gegenüber auf.

An Fragen seitens der Tischgenossen Heinrichs fehlte es nun nicht, sie waren aber so mannigfaltig und wirr durcheinanderlaufend, daß der Gefragte gar nicht dazu kommen konnte, sie zu beantworten. Endlich machte der Wirth den Vorschlag, der Heimkömmling möge seine Reisegeschichte zum Besten geben, wogegen er sich zu einer »Stütze« Doppelbier erbot. Der Vorschlag wurde wie das Anerbieten freudig aufgenommen. Erst that man der »Stütze« alle mögliche Ehre an, und dann begann Heinrich seine Erzählung. Daraus erfuhren die Zuhörer, daß der junge Mann, nachdem er vor drei Jahren als Tischlergeselle das Felleisen genommen, sich nicht lange in den engen Grenzen seines Vaterlandes gefallen, daß es ihn in die Weite getrieben hatte, um Menschen und Sitten kennen und etwas Rechtes in seinem Fache zu lernen. Erst war er nach Wien gewandert, von da hatte es ihn nach Italien gezogen, wo es ihm aber sehr trübselig ergangen war. Unter unsäglichen Beschwerden hatte er sich nach der Schweiz durchgeschlagen und nachdem er hier wieder etwas »zu Federn gekommen«, sich der Hauptstadt Frankreichs zugewendet. So gut er es nun daselbst getroffen, so mächtig ihn anfangs das Leben in der ungeheuren Weltstadt angezogen hatte, so war doch allgemach die Sehnsucht nach der Heimath in ihm wach geworden. Sein Meister hatte ihn zum Werkführer über fünfzig Arbeiter, ja zu seinem Eidam machen wollen, aber da war plötzlich das Verlangen nach der lieben Heimath so mächtig geworden, daß er es keinen Tag mehr in Paris ausgehalten und »Knall und Fall« den Wanderstab zur Heimkehr ergriffen hatte. Die mancherlei kleinen Reiseabenteuer, welche in Heinrichs Erzählung vorkamen, verliehen derselben eine solche Würze, daß Einer von seinen Zuhörern nach Leerung der vom Wirth gespendeten Stütze gleich eine zweite bringen ließ. Heinrich schloß mit den Worten: »So bin ich denn nun glücklich wieder in Wellersgrün und denk' auch da zu bleiben, denn das können Sie mir glauben, werthe Landsleut', so schön es draußen sein mag, es bleibt doch wahr, wie man bei uns spricht: »d'rham is d'rham.« Da schüttelten ihm alle Umsitzenden die Hand, tranken auf sein Wohl, lobten seinen Entschluß und sicherten ihm zu seiner Niederlassung im Orte allen möglichen Beistand zu.

»An meiner Fürsprache beim Handwerk soll's ihm nicht fehlen, Heinrich!« sagte unter andern der Obermeister von der Zunft der vereinigten fünfzehn Handwerke.

»Und Credit, wie Empfehlungen nach Schneeberg und Auerbach finden Sie bei mir,« versprach der Krämer, oder wie er sich nannte, Kaufmann des Oberdorfes. Der Förster eröffnete ihm die besten Aussichten auf unbeschränkten Nutzholzcredit und der Zimmermeister wollte ihm sein mütterliches Häuschen herrichten, daß es eine Art hätte. Zuletzt war auch von einer Frau die Rede, und von mehr als einer Seite ließ man merken, daß er ein ganz annehmbarer Schwiegersohn wäre.

»Mit dem Heirathen,« sagte jedoch Heinrich, »hat es bei mir noch Zeit. Vor der Hand drängt's mich nicht, denn meine Mutter ist, Gott sei Dank! noch rüstig, und übrigens – kommt Zeit, kommt Rath!« Dabei warf er aber einen anhaltenden Seitenblick nach Meister Unger und nach einer Pause richtete er an diesen die Frage: »Wie geht's daheim, Meister Unger? Ist die Frau sammt den Kindern wohlauf?«

»Was soll's mit denen für Noth haben?« war die Antwort. »Man sorgt und schafft doch genug für sie! Nun, Er besucht uns doch, Heinrich – Er wird sich freuen, wenn Er meine Gimpel sieht und hört.«

Heinrich lächelte und blies eine starke Wolke vor sich hin.

»Ei, Heinrich!« sagte der Schänkwirth, »wir waren ja ehedem auch ein Vogelfreund und suchten als Steller Unsersgleichen – wir werden jetzt das edle Vergnügen doch auch wieder treiben?«

»Da sei Gott vor!« erwiederte der Gefragte. »Ich bedaure, daß ich jemals ein Vöglein seiner Freiheit beraubt habe – halten Sie mir's zu Gute, lieben Leute! – aber ich muß Ihnen sagen: mir erscheint es jetzt geradezu sündlich, das Vogelfangen.«

Dem Gimpelkönig entsank die Pfeife, der Wirth wurde kirschbraun im Gesicht und der eine und andere der Tischgenossen rief: »Wie so? Was sagt er? Sündlich?«

»Ja – nehmen Sie mir's nicht übel!« erwiederte der junge Mann fest, »so erscheint es mir, und lassen Sie sich sagen warum? Lassen Sie sich erzählen, wie ich zu dieser Ansicht gekommen bin. Sie wissen, daß ich früher auch meinen Vogel gestellt habe, wie Einer, und der Meister Unger da muß mir bezeugen, daß im Lernen der Gimpel Keiner ihm gleich kam als ich – es hat manchen kleinen Wettstreit zwischen uns gegeben, aber in aller Freundschaft – und wie ich in die Fremde ging, that mir nichts so weh, als daß ich meine Vögel da lassen mußte; ich hätte sie lieber mitgenommen, wenn es gegangen wäre. Zog ich dann auf meiner Wanderschaft durch einen Wald und hörte einen Reiterfinken schlagen oder eine Amsel singen, so zuckte es mir in allen Gliedern, ich ärgerte mich, daß ich gar kein Stellzeug bei mir hatte, aber dessenungeachtet schlich ich den Vögeln wohl stundenlang nach und so kam es oft, daß ich über einer mäßigen Tagereise zwei, auch drei Tage zubrachte. Das war viel Zeitverlust und Verlust an Geld obendrein. Nach und nach verlor sich zwar das Erpichtsein aufs Vogelstellen etwas, ganz aber konnte ich's doch nicht los werden und wenn der liebe Sonntag kam, ging ich vogelstellen, statt in die Sonntagsschulen, welche einsichtsvolle Menschenfreunde zur Fortbildung des Handwerkerstandes weit und breit ins Leben gerufen haben. So ging es, bis ich ins Welschland kam. Da hatt' ich das Unglück, der Polizei verdächtig zu werden: statt für einen ehrlichen Handwerksburschen sah sie mich für einen geheimen Revolutionär an – ich wurde verhaftet und nach Padua ins Gefängniß gebracht. Im Gefängniß, ihr lieben Leute, lernt man erst Jesum Christum erkennen. Vier Wochen mußte ich einsam in einem schauerlichen Loche sitzen – ach! ich dachte, der liebe Herr Gott habe in seinem Zorn die Tage plötzlich zu Jahren ausgesponnen, so fürchterlich lang wurde mir die Zeit. Da fielen mir alle meine Sünden ein – und auch mein Vogelstellen. Da dachte ich, wie meine armen Vöglein der Verlust ihrer Freiheit geschmerzt haben müsse, und ich mußte es als eine Strafe vom lieben Gott erkennen, daß ich jetzt auch in einem Käfig steckte, der freilich nicht von schwachem Draht oder Holz, sondern aus gewaltigen Steinen erbaut war. Als ein Tag nach dem andern dahinschlich, ohne daß ich erlöst wurde oder eine Vertröstung auf baldige Erlösung erhielt, wurde ich lebenssatt, die Verzweiflung übermannte mich, mehr als einmal war ich nahe daran, mit dem Kopfe wider die Wand zu rennen und ihn zu zerschmettern; nur der Gedanke an meine gute Mutter hielt mich davon zurück. Dann fielen mir meine Vögel immer wieder ein und ich dachte: so wie dir jetzt, so ist es auch den armen Thierlein zu Muthe gewesen, da sie deine Gefangenen waren! Du sahest wohl ihr ängstlich Flattern an der Leimruthe, im Netz oder im Bauer, du hörtest ihr kläglich Schreien, bemerktest ihre traurigen Mienen – und doch ließest du sie im Käfig, getrennt von ihren Jungen, oder das Männchen von seinem Weibchen; sie mußten ihr herbes Loos tragen – so füge nun auch du dich in dein Schicksal! Des Nachts aber kamen schreckhafte Träume; da verwandelten sich meine ehemaligen Gefangenen in gräuliche Riesenvögel, die mit ihren furchtbaren Schnäbeln nach mir hackten oder mich mit ihren Krallen packten und an den Rand eines schauerlichen Abgrundes rissen, bei dessen Anblick ich entsetzt aufschrie und erwachte. Da betete ich in meiner Angst zu Gott und schwur, nie wieder eines seiner für die Freiheit geborenen Geschöpfe dieses ersten Lebensgutes zu berauben – denn das sag' ich aus Erfahrung: es giebt kein köstlicheres Gut im Leben als die Freiheit, und ein Raub an diesem Gute wider ein Geschöpf Gottes verübt ist ein Frevel schwarz wie der Mord –«

»Einen Eibenstöcker!« rief der Gimpelkönig, und Heinrich, ohne auf dessen unwirsches Gesicht zu achten, fuhr fort:

»Endlich ward ich frei – mir war, als läge ein Zeitraum von Jahren zwischen Verlust und Wiedergewinn meiner Freiheit, und ich konnte kaum gehen, so hatte die Haft mich angegriffen. Als ich mich außerhalb der Stadt fand, kniete ich auf offenem Felde nieder und dankte Gott, daß ich wieder fessellos unter seinem Himmel und auf seiner Flur athmete, und wiederholte meinen Schwur, nie wieder Hand an ein lebendiges Wesen zu legen, um es seiner angeborenen Freiheit zu berauben. Darauf zog ich viele Tage durch herrlich bebaute Gegenden – aber so mannigfach und üppig alle Gewächse erschienen, so reizend die goldenen Früchte aus den dunkelgrünen Kronen der Bäume schimmerten, so schwellend die Matten, so gestaltenreich die Höhen sich in Aug' und Seele drängten, so fehlte ihnen doch ein Reiz, den ich mit Wehmuth vermißte: die Schwärme singender Vögel, welche unsere Heimathwälder beleben. Wichen sie vor mir als vor einem Feind oder einem Verfluchten, dessen Ohr nimmer werth war, sich an ihren Melodieen zu weiden?«

»Noch einen Eibenstöcker!« unterbrach Meister Unger den Erzähler abermals.

»Willst Du schon nach Hause?« fragte der Obermeister der fünfzehn Handwerke.

»Nein,« erwiederte der Gefragte, »es wird mir blos übel von dem Gemähre –«

»Ruhig!« riefen mehre Stimmen, »erzähl' weiter, Heinrich!«

»Ja, erzähl' Er weiter, Mosje Sacher!« stimmte der Förster bei – aus Seiner Geschichte kann Mancher 'was lernen!«

Dies beabsichtigte Heinrich eben und rücksichtslos, wie immer jugendliche Verkündiger ernster Wahrheiten, fuhr er fort: »Bald traf ich mit einem Landsmann zusammen, einem Maler, der desselben Weges zog wie ich, und als die Rede gerade auf den von mir wahrgenommenen Mangel an Singvögeln in der paradiesischen Gegend kam, fragte ich ihn nach der Ursache dieser Erscheinung. Er antwortete mir, daß nur die furchtbaren Nachstellungen der Menschen nach und nach die Wälder und Fluren dieses Striches von den kleinen Sängern entblößt hätten. Da dacht' ich an meine Heimath und den hier getriebenen Vogelfang, und mir war bange darum, daß da auch eintreten möchte, was ich dort zu beklagen fand. Später gingen wir durch eine große Kastanienpflanzung, die fast ganz abgestorben war. Die wenigen noch grünen Bäume waren mit Schaaren von Raupen bedeckt. Es war ein trauriger Anblick – ich dachte an alle die Arbeit, die hier vergebens aufgewendet, an alle die Hoffnungen, welche vernichtet waren. Offenbar war die Pflanzung ein Opfer des Raupenfraßes, und ein Landmann, den mein Gefährte fragte, bestätigte dies. »So rächt sich jetzt an den Kindern, was ihre Väter gesündigt haben,« sagte der Maler, »hätten diese die Singvögel nicht von Wald und Flur vertilgt, so hätte das zerstörende Insekt nie so mächtig werden können, als es hier geworden.« Ich schrieb mir das hinter die Ohren und will's auch mein Leben lang nicht vergessen. Und ich hab' noch viel über den Gegenstand nachgedacht, und es ist mir immer klarer geworden, daß das Wegfangen der Singvögel eine Sünde sei und daß ein Vogelsteller Gott nimmermehr gefallen, ja schwerlich in den Himmel kommen könne.«

»Hoho!« rief der Schänkwirth, »wer's glaubt, wird selig.«

»Nein, der ist ein Esel!« polterte Meister Unger.

»Es ist dummes Zeug,« sagte der Obermeister der Fünfzehnerzunft, »schmeckt nach Pfaffen – fort damit!«

»Ja, fort damit!« schrie der Gimpelmonarch. »Wirth, noch einen Eibenstöcker! Das fehlt noch, daß so ein Gelbschnabel uns Mores lehren will!«

»Der Sacher hat aber Recht,« erklärte der Förster.

»Bei Euch Grünröcken,« erwiederte Unger, das ihm gereichte Glas Branntwein hinabstürzend, »Ihr möchtet nur allein im Walde Herr sein, es soll kein anderer Mensch sein Vergnügen darin haben. – Weiß Er was. Sacher: geh' Er lieber hin, wo Er hergekommen ist, wir brauchen in Wellersgrün keine Neuerer und Weltumstürzer, wie Er ist – geh' Er wieder nach Paris, wo dergleichen hingehören!«

Heinrich schwieg, aber seine jüngern Freunde drangen jetzt ungestüm auf den Gimpelkönig ein. »Das leiden wir nicht,« schrieen sie, – »das ist schändlich, ein Wellersgrüner Kind so zu behandeln!«

»Ein Wechselbalg mag er sein und kein Wellersgrüner!« rief Meister Unger, aber sogleich saß ihm ein Schlag im Gesicht.

»Ums Himmelswillen, keine Schlägerei!« rief Heinrich und warf sich zwischen den Angegriffenen und die Angreifer – da fuhr ein Bierglas durch die Luft, im Nu war die Schänkstube in ein Schlachtfeld verwandelt, wo zwischen zwei an Stärke fast gleichen Parteien ein erbitterter Faustkampf geführt wurde. Die Ursache des Kampfes selbst, Heinrich, gab sich alle Mühe, ihn beizulegen – umsonst; er bat, er flehete, er weinte – er ließ sich sogar von dem ergrimmten Gimpelkönig einen Schlag versetzen, ohne ihn zu erwiedern, – es war vergebens, der Kampf wurde nur erbitterter – bis »Rußbuttenlobel« außerhalb eines Fensters erschien, sich durch den offenen Flügel auf die innere Brüstung schwang und mit vorgehaltenem Spieß ausrief: »Ruhe! im Namen der Obrigkeit, Ruhe! eh' Ihr's Euch versehen werdet, ist der Gensd'arm hier!«

Das wirkte. Die Parteien trennten sich; die Anhänger Heinrichs meinten, man müsse ja nicht bei den »Dickköpfen« sein, und alsbald zogen sie ab und hinauf auf den Tanzboden, wo sie, namentlich dem weiblichen Theile der Gesellschaft, ganz willkommen waren. Heinrich nahm aber traurig in einem Seitenzimmer Platz, und während seine Kameraden walzten, versank er in tiefes Sinnen.


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