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VIII.
Die Verwirklichung des Unendlichen

Die Upanischaden lehren: Der Mensch gelangt zu seinem wahren Wesen, wenn er in diesem Leben Gott zu erfassen vermag; wenn ihm dies nicht gelingt, so ist es das größte Unglück für ihn [Vgl. S. 32.].

Aber was bedeutet dies Erfassen Gottes? Es ist vollkommen klar, daß der Unendliche nicht ein Gegenstand unter vielen ist, den wir genau klassifizieren und unter unserm Besitz aufbewahren, um ihn als unsern besondern Verbündeten zu gebrauchen, in der Politik, im Kriege, beim Gelderwerb und im gesellschaftlichen Wettstreit. Wir können unsern Gott nicht in dieselbe Reihe stellen mit unsern Landhäusern und Automobilen, oder mit unserm Kredit auf der Bank, wie so viele Leute zu tun pflegen.

Wir müssen versuchen zu verstehen, welcher Art das Verlangen des Menschen ist, der sich nach Gott sehnt. Besteht es in dem Wunsche, seinen Besitz um ein wenn auch noch so wertvolles Stück zu vermehren? Ganz gewiß nicht! Dies beständige Vermehren unsrer Schätze und Vorräte ist eine unendlich ermüdende Aufgabe. Nein, wenn die Seele Gott sucht, so sucht sie auf immer frei zu werden von diesem unaufhörlichen Ansammeln und Aufhäufen und Nie-zu-Ende-kommen. Sie sucht nicht neuen Erwerb, sondern den nityo 'nityānām, den Dauernden im Vergänglichen, den rasānām rasatamdḥ, die Freude aller Freuden, die ewig ist. Wenn daher die Upanischaden uns lehren, uns alles in Brahma zu eigen zu machen, so soll das nicht heißen, daß wir nach etwas Besonderem suchen oder etwas Neues hervorbringen sollen.

Wisse, daß alles, was in der Welt ist, in Gott eingeschlossen ist īśā vāsyam idaṃ sarvaṃ yat kiñca jagatyāṃ jagat. [s. S.27.]. Genieße, was er dir gibt, und hege keine Begierde nach Reichtum, der dir nicht gehört tena tyaktena bhuñjīthā mā gṛdhaḥ kasyasvid dhanam. [s. S. 31]!

Wenn du erkannt hast, daß alles, was da ist, von ihm erfüllt, und daß alles, was du hast, seine Gabe ist, dann hast du den Unendlichen im Endlichen und den Geber in den Gaben gefunden. Dann weißt du, daß alle Tatsachen der Wirklichkeit nur ihren Sinn haben als Offenbarung der einen Wahrheit, und daß all dein Besitz nur Bedeutung für dich hat durch die Beziehung, die er zwischen dir und dem Unendlichen herstellt.

Daher dürfen wir nicht glauben, daß wir Brahma finden können, wie wir andere Dinge finden; es handelt sich nicht darum, ihn in einem besonderen Gegenstand oder an einem besonderen Platze zu suchen. Wie wir um das Morgenlicht nicht erst zum Krämer zu laufen brauchen, sondern wir öffnen nur die Augen, und es ist da, so brauchen wir auch nur uns selbst hinzugeben, um Brahma überall zu finden.

Darum ermahnt uns Buddha, uns aus der Gefangenschaft des Lebens im Ich zu befreien. Wenn wir dadurch nicht zu etwas Vollkommenerem und Beglückenderem gelangten, so wäre solche Ermahnung sinnlos. Niemand kann den Rat, alles, was er hat, aufzugeben, ernstlich erwägen oder gar mit Begeisterung befolgen, wenn er nichts dafür wiedergewinnt.

So besteht unser täglicher Gottesdienst nicht in dem Suchen nach Gott, sondern in der Hingabe an ihn; er besteht darin, daß wir alle Hindernisse unsrer Vereinigung mit ihm beseitigen und unser Bewußtsein von ihm in täglicher Anbetung und in dienender Liebe erweitern.

Die Upanischaden lehren: Verliere dich ganz in Brahma, wie der Pfeil, der ganz sein Ziel durchdringt! Dies Bewußtsein des völligen Eingeschlossenseins in Brahma läßt sich nicht auf einmal durch bloße Konzentration des Geistes erlangen. Es muß das Ziel unsres ganzen Lebens sein. Bei all unsrem Tun und Denken müssen wir uns des Unendlichen bewußt sein.

Laßt uns mit jedem Tage unsres Lebens mehr und mehr die Wahrheit begreifen, daß niemand leben oder atmen könnte, wenn die Kraft der alles durchdringenden Freude nicht den Weltraum füllte ko hy evānyāt kaḥ prānyāt yady eṣa ākāśa ānando na syāt. [s. S. 146]. Laßt uns in all unserm Tun den Antrieb dieser unendlichen Kraft fühlen und uns ihrer freuen.

Man könnte sagen, daß der Unendliche jenseits unsres Erreichens und daher für uns nicht da ist. Ja, wenn das Wort »erreichen« die Vorstellung des Besitzens mit sich bringt, so müssen wir zugeben, daß der Unendliche unerreichbar ist. Aber wir müssen bedenken, daß die höchste Freude des Menschen nicht im Besitzen besteht, sondern in einem Erlangen, das zugleich ein Noch-nicht-erlangt-haben ist. Unsre physischen Genüsse lassen keinen Spielraum für solche Freude. Sie haben wie der tote Trabant der Erde nur wenig Atmosphäre um sich. Wenn wir Speise zu uns nehmen und unsern Hunger befriedigen, so ist dies eine vollständige Besitzergreifung. Solange der Hunger nicht gestillt ist, ist das Essen eine Freude. Denn dann stößt der Genuß noch an keine Grenze und berührt so das Unendliche. Aber sobald unser Verlangen vollkommen befriedigt ist, hört der Genuß auf. Bei all unsern geistigen Freuden ist der Spielraum weiter, die Grenze entfernter. In all unsern tieferen Neigungen laufen Erlangen und Noch-nicht-er-langt-haben immer zusammen. In einem unsrer Wischnu-Lieder sagt der Liebende zu der Geliebten: »Mir ist, als hätte ich seit meiner Geburt die Schönheit deines Antlitzes geschaut, und doch sind meine Augen noch immer hungrig; als hätte ich seit Millionen Jahren dich an mein Herz gedrückt, und doch ist das Verlangen meines Herzens noch immer nicht gestillt.«

Dies zeigt, daß es in Wahrheit das Unendliche ist, was wir in unsern Freuden suchen. Unser Verlangen nach Reichtum ist nicht ein Verlangen nach einer bestimmten Summe Geldes, sondern es ist etwas Unbegrenztes, und die flüchtigsten unsrer Freuden sind nichts anderes als leise Berührungen des Ewigen. Das Tragische des Menschenlebens liegt in den vergeblichen Versuchen, die Grenzen der Dinge, die nie unbegrenzt werden können, auszudehnen – in dem Versuch, durch Verlängerung der Leiter des Endlichen das Unendliche zu erklimmen.

Danach ist offenbar, daß sich unsre Seele im tiefsten Grunde sehnt, über all unsern Besitz hinauszugelangen. Von Dingen umgeben, die sich ihr greifbar bieten, ruft sie aus: »Ich bin des Erreichens müde; ach, wo finde ich den, der sich nie erreichen läßt?«

Wir sehen überall in der Geschichte des Menschen, daß der Geist der Entsagung die tiefste Wahrheit der menschlichen Seele ist. Wenn die Seele von irgend etwas sagt: »Ich bedarf dessen nicht, ich bin darüber hinaus«, so gibt sie ihrem eigensten Wesen Ausdruck. Wenn ein Mädchen ihrer Puppe entwächst, wenn sie erkennt, daß sie in jeder Hinsicht mehr ist als ihre Puppe, dann wirft sie sie weg. Schon durch die bloße Tatsache des Besitzens wissen wir, daß wir mehr sind, als das, was wir besitzen. Es ist ein elender Zustand, wenn wir an Dinge gefesselt sind, die geringer sind als wir. Dies war es, was Maitreyī Gattin des Sehers Yājñavalkya, s. Bṛhad-āraṇyaka-Up. 2, 4 und 4, 5 (Deussen S. 416 – 9 und 481 – 5). fühlte, als ihr Gatte ihr am Vorabend seines Scheidens sein Eigentum übergab. Sie fragte ihn: »Können diese irdischen Dinge mir zur Erreichung meines höchsten Ziels helfen?« Als ihr Gatte antwortete: »Nein, aber sie machen dich reich an weltlichem Besitz«, sagte sie sogleich: »Was soll ich dann damit?« Wenn der Mensch zu der richtigen Einsicht darüber gelangt, was sein Besitz wert ist, wenn er sich keinen Täuschungen mehr darüber hingibt, dann weiß er, daß seine Seele hoch über diesen Dingen steht, und wird frei von ihrer Knechtschaft. So erkennt der Mensch in Wahrheit seine Seele, wenn er seinem irdischen Besitz entwächst, und des Menschen Weg zur Vollendung führt durch eine Reihe von Entsagungen.

Daß wir den Unendlichen nie ganz besitzen können, sondern ihn ewig suchen müssen, ist nicht bloße Verstandestheorie. Wir müssen es erfahren, und diese Erfahrung ist Seligkeit. Wenn der Vogel sich in die Lüfte schwingt, so fühlt er bei jedem Flügelschlag, daß der Raum grenzenlos ist, daß seine Flügel ihn nie ans Ende tragen können. Darin liegt seine Freude. Im Käfig ist der Raum begrenzt; er mag groß genug sein für den Vogel, um darin zu leben, aber er geht nicht über das Notwendige hinaus. Der Vogel kann innerhalb der Grenzen des Notwendigen keine Freude finden. Er muß fühlen, daß das, was er hat, viel mehr ist, als was er je brauchen oder fassen kann; nur dann kann er froh sein.

So muß auch unsre Seele ins Unendliche schweifen und jeden Augenblick fühlen, daß sie nie ans Ziel gelangen kann. Darin liegt die höchste Freude und endgültige Befreiung.

Des Menschen dauerndes Glück besteht nicht darin, daß er etwas erlangt, sondern daß er sich hingibt an etwas, das größer ist als er selbst, an Ideen, die ihn über sein individuelles Leben hinausführen, wie: Vaterland, Menschheit, Gott. Sie machen es ihm leichter, sich von allem, was er hat, zu trennen, auch von seinem Leben. Sein Dasein ist elend und niedrig, bis er eine große Idee findet, die ihn ganz ergreift und ihn von den Fesseln irdischen Besitzes freimacht. Buddha und Jesus und all unsre großen Propheten sind Träger solcher Ideen. Sie fordern uns auf, unser Alles hinzugeben. Wenn sie uns ihre göttliche Almosenschale entgegenhalten, fühlen wir, daß wir geben müssen, und wir erkennen, daß im Geben unsre wahre Freude und Befreiung liegt.

Der Mensch ist nicht vollkommen, er ist im Werden. Als das, was er ist, ist er klein, und wenn er in alle Ewigkeit auf dieser Stufe stehen bleiben müßte, so würde dies die furchtbarste Hölle für ihn bedeuten, die die menschliche Phantasie sich ausmalen kann. In seinem Werden ist er unendlich, darin liegt seine Befreiung, sein Himmel. Sein Sein ist jeden Augenblick mit dem beschäftigt, was er erlangen und erledigen kann; sein Werden hungert nach etwas, was jenseits allen Erlangens ist, was er nie verlieren kann, weil er es nie besessen hat.

Der endliche Pol unsres Seins hat seinen Platz in der Welt der Notwendigkeit. Dort geht der Mensch umher und sucht nach Nahrung, um davon zu leben, nach Kleidung, um sich warm zu halten. Auf diesem Gebiet, dem Gebiet der Natur, ist es seine Aufgabe, Dinge zu erlangen. Der natürliche Mensch ist damit beschäftigt, seinen Besitz zu vergrößern.

Aber dies Erlangen ist nur ein teilweises. Es beschränkt sich auf die Bedürfnisse des Menschen. Wir können ein Ding nur wirklich haben, soweit wir seiner bedürfen, wie ein Gefäß nur soviel Wasser enthalten kann, wie es leeren Raum hat. Die Beziehung zu unsrer Speise besteht nur im Essen, die Beziehung zu unserm Hause nur im Wohnen. Wir nennen ein Ding nützlich, wenn es nur ein besonderes Bedürfnis von uns befriedigt. So ist jedes Erlangen ein teilweises, und kann nicht anders sein, und die Begierde nach Besitz gehört zu unserm endlichen Selbst.

Der andre Pol unsres Seins jedoch, der auf das Unendliche gerichtet ist, sucht nicht Reichtum, sondern Freiheit und Freude. Hier hört die Herrschaft der Notwendigkeit auf, hier ist es nicht unsre Aufgabe, zu erlangen, sondern zu werden. Was zu werden? Eins zu werden mit Brahma. Denn die Region des Unendlichen ist die Region der Einheit. Daher lehren die Upanischaden: Wenn der Mensch Gott begreift, wird er wahrhaft er selbst. Hier handelt es sich um ein Werden, nicht um ein Haben. Obgleich das Abendland sich den zum Lehrer erwählt hat, der kühn verkündete, daß er eins sei mit dem Vater, und der seine Anhänger ermahnte, vollkommen zu sein gleich wie Gott, so hat es sich doch nie ausgesöhnt mit unsrer Idee der Einheit mit dem Unendlichen und verdammte jede Andeutung, daß der Mensch Gott werden kann als Gotteslästerung. Dies ist sicherlich nicht im Sinne Christi und vielleicht ebensowenig im Sinne der christlichen Mystiker, aber es ist die Auffassung, wie sie im christlichen Abendlande herrschend geworden ist.

Doch die höchste Weisheit des Ostens lehrt, daß es nicht die Aufgabe unsrer Seele ist, Gott zu gewinnen, ihn zu irgend einem besonderen irdischen Zweck zu benutzen. Alles, was wir je erstreben können, ist, immer mehr eins mit Gott zu werden. Auf dem Gebiet der Natur, dem Gebiet der Mannigfaltigkeit, wachsen wir durch Erwerben; in der geistigen Welt, dem Gebiet der Einheit, wachsen wir durch Selbsthingabe in der Vereinigung. Das Erwerben ist, wie wir schon sagten, von Natur immer etwas, was uns nur teilweise berührt; es beschränkt sich auf ein besonderes Bedürfnis; aber das Werden geht die Gesamtheit unsres Wesens an; es entspringt nicht einer Notwendigkeit, sondern unsrer Verwandtschaft mit dem Ewigen, die das Prinzip der Vervollkommnung in unsrer Seele ist.

Ja, wir müssen Brahma werden. Wir dürfen nicht davor zurückschrecken, dies offen zu bekennen. Unser Dasein ist sinnlos, wenn wir nie erwarten können, zur höchsten Vollkommenheit zu gelangen. Wenn wir ein Ziel haben und es doch nie erreichen können, so ist es überhaupt kein Ziel.

Aber könnte man denn sagen, daß es keinen Unterschied gibt zwischen Brahma und der Einzelseele? O nein, der Unterschied ist offenbar. Man mag sagen, daß er auf Illusion oder Unwissenheit oder wie man es nun nennen will, beruht, er ist doch da und läßt sich nicht hinwegerklären. Auch die Illusion hat als solche ihre Wahrheit.

Brahma ist Brahma, er ist das ewige Ideal der Vollkommenheit. Aber wir sind nicht, was wir unserm wahren Wesen nach sind; wir sind immer auf dem Wege zur Wahrheit, auf dem Wege zu Brahma. Zwischen jenem Sein und diesem Werden ist ein ewiges Liebesspiel, und in der Tiefe dieses Mysteriums liegt die Quelle aller Wahrheit und Schönheit, die den endlosen Gang der Schöpfung erhält.

In der Musik des rauschenden Stromes ertönt die freudige Zuversicht: Ich werde eins werden mit dem Meere! Daraus spricht keine eitle Anmaßung, sondern echte Demut, denn es ist Wahrheit. Der Fluß hat keine andre Möglichkeit. An seinen beiden Ufern hat er zahlreiche Felder und Wälder, Dörfer und Städte; er kann ihnen auf verschiedene Weise dienen, sie reinigen und nähren, ihre Erzeugnisse von einem Ort zum andern tragen. Aber seine Beziehung zu ihnen wird immer nur etwas Teilweises sein, und wie lange er auch unter ihnen weilen mag, er bleibt doch von ihnen getrennt; er kann nie eine Stadt oder ein Wald werden. Aber er kann und wird zum Meere werden. Das kleine fließende Wasser ist dem großen stillen Wasser des Ozeans verwandt. Sein Lauf geht unermüdlich weiter, vorbei an den tausend Dingen, die es berührt, bis es endlich im Meere sein Ziel findet.

Der Fluß kann zum Meer werden, aber er kann nie das Meer zum Teil seiner selbst machen. Wenn er auch zufällig einmal eine große Wasserfläche einschließt, daß es aussieht, als habe er das Meer in sich aufgenommen, so wissen wir doch, daß dem nicht so ist, daß sein Strom noch immer weiterläuft, um erst im großen Ozean, dem er keine Grenzen setzen kann, seine Ruhe zu finden.

Ebenso kann auch unsre Seele nur in Brahma ihr Ziel und ihre Ruhe finden. Alles andre berührt sie nur mit einem Teil ihres Wesens und strebt dann weiter, aber von Brahma kann sie sich nie losmachen und über ihn hinauskommen. Wenn die Seele erst einmal dies ihr letztes Ziel der Ruhe in Brahma erkannt hat, so erhält dadurch all ihr Streben Sinn und Zweck. Dieser Ozean unendlicher Ruhe ist es, der endlosen Tätigkeiten ihre Bedeutung gibt. Dies letzte Ziel, das vollkommene Sein ist es, was der Unvollkommenheit des Werdens jene Schönheit gibt, die in der Kunst ihren Ausdruck findet.

Eine Dichtung muß von einer einheitlichen Idee beherrscht sein, zu der jeder Satz seine Beziehung hat. Wenn dem Leser diese beherrschende Idee allmählich aufgeht, so wird das Lesen der Dichtung eine Quelle reicher Freude für ihn. Dann wird jeder Teil strahlend klar und bedeutungsvoll durch das Licht des Ganzen. Aber wenn die Dichtung endlos weitergeht, ohne die Idee des Ganzen zum Ausdruck zu bringen, wenn sie nur losgelöste Bilder vor uns hinstellt, so wird sie, wie schön diese Bilder auch sein mögen, doch auf die Dauer ermüdend und ganz ohne Wert für uns sein. Die Entwicklung unsrer Seele ist wie eine vollkommene Dichtung. Sie hat eine letzte Idee, die, wenn wir sie einmal erkannt haben, all unserm Streben Sinn und Freude gibt. Aber wenn wir dies Streben losgelöst von jener letzten Idee betrachten, wenn wir nur das endlose Streben und nicht die unendliche Ruhe sehen, so erscheint uns unser Dasein als ein ungeheuerliches Übel, das ohne Sinn und Ziel im ungestümen Lauf dahinrennt.

Ich weiß noch, wie wir in unsrer Kindheit einen Lehrer hatten, der uns die ganze Sanskrit-Grammatik, die in Chiffren abgefaßt ist, auswendig lernen ließ, ohne uns ihren Sinn zu erklären. Tag für Tag mühten wir uns ab, aber zu welchem Zweck, davon hatten wir nicht den geringsten Begriff. So ging es uns mit unserm Lernen wie dem Pessimisten, der immer nur das atemlose Treiben der Welt beobachtet, ohne die Ruhe der Vollendung zu gewahren, in die sich all dies Treiben harmonisch einfügt und durch die es in jedem Augenblick sein Gleichgewicht erhält. Wenn wir das Dasein so ansehen, verlieren wir alle Freude, da wir die Wahrheit nicht erkennen. Wir sehen die Bewegungen des Tänzers und bilden uns ein, sie gehorchten der Tyrannei eines unbarmherzigen Zufalls, während wir taub sind für die ewige Musik, die jede dieser Bewegungen spontan und schön macht.

Darin besteht das wahre Wesen unsrer Seele und ihre Freude, daß sie immer mehr zu Brahma werden muß, daß all ihre Bewegungen durch dies letzte Ziel gelenkt werden und daß all ihre Schöpfungen dem höchsten Geist der Vollendung als Opfergaben dargebracht werden müssen.

Es steht ein bemerkenswertes Wort in den Upanischaden: Ich glaube nicht, daß ich ihn gut kenne, noch weiß ich, daß ich ihn nicht kenne nāhaṃ manye suvedeti no na vedeti veda ca. [Kena-Up. 10.].

Auf dem Wege verstandesmäßiger Erkenntnis können wir den Unendlichen nie erfassen. Aber wenn er ganz unerreichbar für uns wäre, so bedeutete er nichts für uns. In Wahrheit ist es so, daß wir ihn zugleich kennen und doch nicht kennen.

Dies ist der Sinn eines andern Wortes in den Upanischaden: Worte und Verstand können Brahma nicht fassen, aber wer die Freude Brahmas kennt, ist frei von aller Furcht yato vāco nivartante aprāpya manasā saha, ānandam brahmaṇo vidvān na bibheti kutaścana. [Taittirīya-Up. 2. 9. 1..

Verstandesmäßige Erkenntnis ist immer Stückwerk, denn der Verstand ist ein Instrument und nur ein Teil von uns; er kann uns über Dinge unterrichten, die sich teilen und zerlegen lassen und deren Eigentümlichkeiten man der Reihe nach klassifizieren kann. Aber Brahma ist vollkommen, und eine Erkenntnis, die nur auf Teile geht, kann ihn nie erfassen. Doch er kann erkannt werden durch Freude, durch Liebe. Denn Freude ist vollkommene Erkenntnis, Erkenntnis durch unser ganzes Wesen. Der Verstand stellt sich den Dingen, die er erkennen will, gegenüber, er trennt sich von ihnen ab, aber die Liebe erkennt ihren Gegenstand dadurch, daß sie eins mit ihm wird. Solche Erkenntnis ist unmittelbar und läßt keinen Zweifel zu. Sie ist so sicher wie die Erkenntnis unsrer selbst, ja, sie ist es noch mehr.

Daher kann der Verstand, wie es die Upanischaden lehren, nie Brahma erkennen, Worte können ihn nie beschreiben; er kann nur durch unsre Seele, durch ihre Freude und Liebe erkannt werden. Oder mit andern Worten: Wir können nur durch Vereinigung zu ihm gelangen, durch Einswerden unsers ganzen Wesens mit ihm. Wir müssen eins sein mit dem Vater, wir müssen vollkommen sein, gleichwie er vollkommen ist.

Aber wie kann dies geschehen? Es kann keine Stufen geben in der ewigen Vollkommenheit. Wir können nicht allmählich Brahma werden. Er ist der absolute Eine, und es kann nicht ein mehr oder weniger von ihm geben.

Nein, die Verwirklichung des paramātman, der höchsten Seele, in unsrem antarātman, der individuellen Seele in uns, ist schlechthin vollkommen. Wir können uns nicht vorstellen, daß es diese Verwirklichung noch nicht gäbe und daß ihr allmähliches Zustandekommen von unsrer schwachen Kraft abhinge. Wenn unsre Beziehung zum Göttlichen erst durch uns hergestellt werden müßte, wie könnten wir sicher sein, daß sie bestände, und wie könnten wir daraus Kraft schöpfen?

Ja, wir wissen, daß wir in uns das haben, was jenseits der Herrschaft von Zeit und Raum und jenseits aller Entwicklung ist. In dieser ewigen Wohnung des ātman, der Seele, ist die Offenbarung des paramātman, der höchsten Seele, schon vollkommen. Daher lehren die Upanischaden: Wer Brahma, den Wahren, den Allbewußten und Unendlichen als im höchsten Himmel, das heißt, in der Tiefe der Seele verborgen erkennt, dem werden alle Wünsche erfüllt in der Vereinigung mit dem allwissenden Brahma satyaṃ jñānam ānamam brahma yo veda níhitaṃ guhāyām parame vyoman so ʼ[???]śnute sarvān kāmān saha brahmaṇā vipaścitā. [Taittirīyā-Up. 2, 1.].

Die Vereinigung ist schon geschehen. Der paramātman, die höchste Seele, hat sich diese unsre Seele zur Braut erkoren und die Ehe ist vollzogen. Das feierliche mantram ist erklungen: Laß mein Herz dein Herz sein! yad etad dhṛdayam mama tad astu hṛdayan tava. Diese Ehe ist vollendet und hat keinen Raum mehr für Weiterentwicklung. Der Eine, Namenlose, unmittelbar Gegenwärtige ist immer in unserm innersten Sein. Er ist sein höchstes Ziel, Er ist sein höchster Schatz, Er ist seine höchste Welt, Er ist seine höchste Wonne eṣāsya paramā gatiḥ, eṣāsya paramā sampat, eṣo 'sya paramo lokaḥ, eṣo 'sya parama ānandaḥ. [Bṛhad-āraṇyaka-Up.4,3,32.]. Denn die Ehe der höchsten Liebe ist in zeitloser Zeit vollzogen. Und nun geht die līlā, das Spiel der Liebe, endlos vor sich. Der, der in der Ewigkeit gewonnen ist, wird jetzt in Zeit und Raum, in Freuden und Leiden, in dieser Welt und in den jenseitigen Welten in rastlosem Spiel verfolgt. Wenn die Brautseele dies einmal ganz verstanden hat, so ist ihr Herz selig und zur Ruhe gelangt. Sie weiß, daß sie, wie der Fluß den Ozean, ihre Erfüllung am einen Ende ihres Wesens erreicht hat und am andern ewig auf dem Wege dahin ist; am einen Ende ist sie ewige Ruhe und Vollendung, am andern unaufhörliche Bewegung und beständiger Wechsel. Wenn sie weiß, daß beide Enden unzertrennlich verbunden sind, dann erkennt sie auch die Welt als ihr eigenes Heim, da sie den Herrn der Welt als ihren Gemahl erkannt hat. Dann wird all ihr Dienst ein Dienst der Liebe, dann werden alle Leiden und Drangsale des Lebens Prüfungen, die sie triumphierend und lächelnd erträgt, um die Kraft ihrer Liebe zu beweisen und von ihrem Geliebten den Preis zu gewinnen. Aber solange sie hartnäckig im Dunkel bleibt, den Schleier nicht lüftet, ihren Geliebten nicht erkennt und die Welt von ihm getrennt glaubt, solange dient sie hier als Magd, wo sie als rechtmäßige Königin herrschen könnte; so lange schwankt sie im Zweifel hin und her und weint in Leid und Traurigkeit. Sie gerät aus einer Not in die andre, aus einer Trübsal in die andre, aus einer Angst in die andre daurbhikṣād yāti daurbhiksaṃ, kleśạt kleśam, bhayạd bhayam..

Mir kommt immer wieder der Vers eines Liedes in den Sinn, den ich einst in der frühen Morgendämmerung aus dem Lärm einer Menge heraushörte, die sich am Abend vorher zu einem Fest versammelt hatte: »Fährmann, hol' mich hinüber zum andern Ufer!«

Durch das Getöse all unsrer Arbeit ertönt der Ruf: »Hol' mich hinüber!« Der Fuhrmann singt, während er seinen Wagen lenkt: »Hol' mich hinüber!« Der Hausierer teilt seinen Kunden seine Waren zu und singt: »Hol' mich hinüber!«

Was bedeutet dieser Ruf? Wir fühlen, wir haben unser Ziel nicht erreicht, und wir wissen, daß wir mit all unserm Streben und Mühen nie zu Ende kommen, nie das Erstrebte erlangen. Wie ein Kind, das seiner Puppen überdrüssig ist, ruft unser Herz aus: »Nein, dies nicht, dies nicht!« Aber was ist denn das andre? Wo ist das andre Ufer?

Ist es etwas anderes als das, was wir schon haben? Ist es anderswo, als wo wir sind? Ist es Ruhe von all unsrer Arbeit, was wir suchen, Befreiung von allen Verantwortlichkeiten des Lebens?

Nein, mitten in unsrer Tätigkeit selbst suchen wir unser Ziel. Dort, wo wir stehen, rufen wir nach dem Drüben. Während unsre Lippen beten, daß man uns hinüberhole, sind unsre geschäftigen Hände nie müßig.

In Wahrheit, o du Ozean der Freude, sind beide Ufer eins in dir. Wenn ich dies eine Ufer mein eigen nenne, so rückt das andre mir fern; und da mein Herz die Vereinigung in mir selbst nicht findet, ruft es unaufhörlich nach dem andern. Beide Ufer warten, in deiner Liebe ganz vereint zu werden.

Dies mein Ich müht sich Tag und Nacht um ein Heim, das es sein eigen nennt. Ach, seine Leiden werden kein Ende nehmen, solange es nicht dahin kommt, dies Heim dein eigen zu nennen. Bis dahin wird es sich weiter abmühen, und sein Herz wird unaufhörlich rufen: »Fährmann, hol' mich hinüber!« Sobald dies Heim zu deinem Heim gemacht ist, wird es drüben sein, wenn seine alten Mauern es auch noch umschließen. Dies »Ich« ist ruhelos. Es müht sich um Gewinn, den es nie seinem Geiste einverleiben, den es nie dauernd behalten kann. Wenn es versucht, das mit seinen Armen zu umfassen, was für alle da ist, so verletzt es andre und sich selbst und ruft aus: »Hol' mich hinüber!« Aber sobald es imstande ist zu sagen »All meine Arbeit gehört dir«, bleibt alles, wie es ist; nur es ist drüben.

Wo kann ich dich finden, wenn nicht in diesem meinem Hause, das ich zu dem deinen gemacht habe? Wo kann ich mich dir zugesellen als bei dieser meiner Arbeit, die zu deiner Arbeit geworden ist? Wenn ich mein Haus verlasse, werde ich dein Haus nie erreichen; wenn ich meine Arbeit aufgebe, kann ich dir nie bei deiner Arbeit helfen. Denn du wohnst in mir und ich in dir. Du bist nichts ohne mich, ich bin nichts ohne dich.

Daher ertönt mitten aus unserm Heim und aus unsrer Arbeit das Gebet: »Hol' mich hinüber!« Denn hier rollt die See, und hier, hier, wo wir sind, liegt das andre Ufer, das auf uns wartet, ja, hier ist die ewige Gegenwart, nicht fern, nicht anderswo.

Ende.

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Gedruckt
im Sommer 1921
bei Poeschel & Trepte
in Leipzig

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