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V.
Die Selbstverwirklichung in der Liebe

Wir kommen jetzt zu dem ewigen Problem der Koexistenz des Unendlichen und des Endlichen, des höchsten Wesens und unsrer Seele. Da finden wir den großen Widerspruch, der an der Wurzel des Seins liegt. Wir können nicht um ihn herumkommen, weil wir uns nicht außerhalb des Problems stellen und es gegen eine andere Möglichkeit abwägen können. Aber das Problem besteht nur auf dem Gebiet des Denkens; in Wirklichkeit bietet es uns nicht irgendwelche Schwierigkeit. Vom logischen Standpunkt aus können wir sagen, daß die Entfernung zwischen zwei Punkten, so gering sie auch sein mag, unendlich genannt werden kann, weil sie unendlich teilbar ist. Aber in Wahrheit überschreiten wir mit jedem Schritt das Unendliche und begegnen dem Ewigen jede Sekunde. Daher sagen einige unsrer Philosophen, es gibt überhaupt keine Endlichkeit, sie ist nur māyā, Täuschung. Das Wirkliche ist das Unendliche, und nur die māyā, das Unwirkliche bringt die Erscheinung des Endlichen hervor. Jedoch das Wort māyā ist ein bloßer Name, es ist keine Erklärung. Es sagt nur, daß neben der Wahrheit dieser Schein ist, das Gegenteil von Wahrheit, aber wie es kommt, daß beide zur gleichen Zeit existieren, ist unbegreiflich.

Wir haben in der Schöpfung eine Reihe von Gegensätzen, wie z. B. den positiven und den negativen Pol, die Zentripetal- und Zentrifugalkraft, Anziehung und Abstoßung. Auch dies sind bloße Namen, keine Erklärungen. Wir stellen nur auf verschiedene Weise durch sie fest, daß die Welt ihrem Wesen nach ein Ausgleich entgegengesetzter Kräfte ist. Diese Kräfte handeln wie die linke und rechte Hand des Schöpfers in vollständiger Harmonie, wenn auch von entgegengesetzter Richtung.

Zwischen unsern beiden Augen besteht ein Band der Harmonie, das sie im Einklang miteinander handeln läßt. Ebenso besteht auch ein ununterbrochener Zusammenhang der Beziehung in der physischen Welt zwischen Hitze und Kälte, Licht und Dunkel, Bewegung und Ruhe wie zwischen den Baß- und Diskanttönen eines Klaviers. Darum bringen diese Gegensätze nicht Verwirrung in das Weltall, sondern Harmonie. Wenn die Schöpfung ein Chaos wäre, so müßten wir uns denken, daß die beiden entgegengesetzten Prinzipien versuchen würden, übereinander Herr zu werden. Aber das Weltall steht nicht unter einem willkürlichen und provisorischen Kriegsgesetz. Hier finden wir keine Kraft, die wie ein geächteter Verbrecher unaufhaltsam vorwärtsstürzt und unbekümmert um ihre Umgebung alles niederrennt, was ihr in den Weg kommt, nein, jede Kraft muß immer wieder im Bogen in ihre Gleichgewichtslage zurückkehren. Die Wogen steigen drohend empor, als wollte keine der andern weichen, doch jede erreicht bald den Punkt, wo sie halt machen muß, und unter ihnen liegt in erhabener Ruhe die Meerestiefe, der sie alle angehören und zu der sie alle zurückkehren in einem Rhythmus von wunderbarer Schönheit.

Nein, dies Schwingen und Vibrieren, dies Steigen und Fallen kommt nicht aus den wirren Verschlingungen feindlicher Körper; es ist rhythmischer Tanz. Rhythmus kann nie aus dem Zufallsspiel des Kampfes geboren werden. Denn sein Grundprinzip ist Einheit, nicht Gegensatz.

Dies Prinzip der Einheit ist das Geheimnis aller Geheimnisse. Wo wir Dualismus finden, steigt in unserm Geiste sofort eine Frage auf, und wir suchen ihre Lösung in dem Einen. Wenn wir endlich eine Beziehung zwischen diesen beiden gefunden und sie als dem Wesen nach eins erkannt haben, so fühlen wir, daß wir zur Wahrheit gelangt sind. Und dann verkünden wir diese überraschendste aller Paradoxien, daß das Eine sich in der Vielheit offenbart, daß der Schein das Gegenteil der Wahrheit und doch untrennbar mit ihr verbunden ist.

Seltsamerweise gibt es Menschen, die das Gefühl des Geheimnisvollen, aus dem all unsre Freuden entspringen, verlieren, wenn sie die Einheitlichkeit des Gesetzes in der Mannigfaltigkeit der Natur entdecken. Als ob das Gesetz der Schwere nicht etwa noch Geheimnisvolleres wäre als das Fallen des Apfels, als ob die Entwicklung der Wesen von einer Stufe zur andern sich nicht noch mehr der Erklärung entzöge als eine Folge von Schöpfungen. Der Fehler ist der, daß wir sehr oft bei solch einem Gesetz halt machen, als ob nun damit alle Fragen gelöst wären, und dann entdecken wir, daß es noch nicht einmal der Anfang der Befreiung unsres Geistes ist. Es befriedigt nur unsern Verstand, und da es nicht zu unserm ganzen Wesen spricht, ertötet es das Gefühl für das Unendliche in uns.

Wenn wir eine große Dichtung in ihre letzten Teile zerlegen, so haben wir eine Reihe unzusammenhängender Laute. Der Leser, der den Sinn versteht, der diese Laute verbindet, hat das Gesetz, das das Ganze überall beherrscht, erkannt, das Gesetz des Gedankenganges, das Gesetz von Form und Rhythmus.

Aber das Gesetz an sich ist eine Schranke. Es zeigt nur, daß alles was ist, nicht anders sein kann. Wenn jemand sich ausschließlich mit dem Erforschen der Kausalzusammenhänge beschäftigt, so unterliegt sein Geist, nachdem er der Tyrannei der Tatsachen entronnen ist, der Tyrannei des Naturgesetzes. Wenn wir beim Erlernen einer Sprache von den einzelnen Wörtern zu den Wortgesetzen kommen, so sind wir einen ganzen Schritt weiter. Aber wenn wir da halt machen und uns nur mit den wunderbaren Erscheinungen der Sprachbildung beschäftigen, indem wir den verborgenen Gründen all ihrer scheinbaren Launen nachspüren, kommen wir nicht zum Ziel, denn Grammatik ist nicht Literatur, Metrik ist nicht Dichtung.

Wenn wir dann zu der Dichtung gelangen, so sehen wir, daß sie zwar mit den Regeln der Grammatik übereinstimmt, aber doch ein Geschöpf der Freude und eine Erscheinung der Freiheit ist. Die Schönheit eines Gedichts ist an strenge Gesetze gebunden, aber sie geht über sie hinaus. Diese Gesetze sind nicht ein Joch, das sie niederdrückt, sondern Flügel, die sie zur Freiheit tragen. Ihrer Form nach sind sie Gesetz, aber ihrem Geiste nach sind sie Schönheit. Das Gesetz ist der erste Schritt zur Freiheit, und die Schönheit ist ihre Vollendung, die auf dem Piedestal des Gesetzes steht. Die Schönheit ist die Harmonie von Schranke und Schrankenlosigkeit, von Gesetz und Freiheit.

Mit der großen Weltdichtung ist es ebenso. Unser Geist hat schon viel erreicht, wenn er ihre rhythmischen Gesetze erkannt, ihre Ausdehnung und Verkürzung, ihre Bewegung und Ruhepausen gemessen und die Entwicklung der Formen und Charaktere in ihr verfolgt hat, aber damit sind wir noch nicht am Ziel. Wir sind erst auf der Bahnstation, aber noch nicht in unserm Heim. Nur der ist zur letzten Wahrheit gelangt, der erkannt hat, daß die ganze Welt eine Schöpfung der Freude ist.

Dies führt mich zu der Betrachtung, wie geheimnisvoll doch die Beziehung des Menschenherzens zur Natur ist. In der innern Welt des Herzens sehen wir die Natur ganz anders als in der äußern Welt des Handelns.

Nehmen wir zum Beispiel die Blüte einer Pflanze. Wie zart und fein sie auch aussehen mag, sie ist zu einem wichtigen Dienst gezwungen und ihre Farben und Formen sind für diesen Dienst geschaffen. Sie muß die Frucht hervorbringen, sonst würde die Fortdauer des Pflanzenlebens abgeschnitten und die Erde bald in eine Wüste verwandelt werden. Daher sind Farbe und Duft der Blüte nur zu diesem Zweck da; sobald die Biene sie befruchtet hat und sie Frucht ansetzt, läßt sie ihre lieblichen Blütenblätter fallen, und eine strenge Sparsamkeit der Natur zwingt sie, ihren süßen Duft aufzugeben. Sie hat keine Zeit, mit ihrem Schmuck zu prunken, denn sie ist jeden Augenblick beschäftigt. Von außen gesehen, scheint die Notwendigkeit der einzige Faktor in der Natur zu sein, für den alles wirkt und schafft. Um ihretwillen entwickelt sich die Knospe zur Blüte, die Blüte zur Frucht, die Frucht zum Samen, der Same wieder zu einer neuen Pflanze, und so geht es in endloser Kette ununterbrochen weiter. Tritt eine Störung oder Hemmung ein, so gibt es keine Entschuldigung, und das unglückliche Wesen, das an seiner Weiterarbeit verhindert ist, wird sogleich als untauglich verworfen; es muß sterben und schleunigst verschwinden. In der großen Werkstatt der Natur sind unzählige Abteilungen, in denen eine endlose Arbeit vor sich geht, und die Blüte, die wir hier als prächtig geputzte und parfümierte, müßige Schönheit sehen, ist durchaus nicht das, was sie zu sein scheint, sondern vielmehr ein Arbeiter, der sich in Sonne und Regen abmüht, der genau über seine Arbeit Rechenschaft ablegen muß und keine freie Minute hat, um sich an Scherz und Spiel zu erfreuen.

Aber sobald dieselbe Blüte ins Herz der Menschen eingeht, ist jede Spur werktäglicher Geschäftigkeit von ihr gewichen, und sie wird zum Sinnbild der Muße und Ruhe. Dasselbe Wesen, das draußen die Verkörperung rastloser Tätigkeit ist, ist drinnen der vollkommene Ausdruck von Schönheit und Frieden.

Die Naturwissenschaft belehrt uns hier allerdings, daß wir im Irrtum sind, daß der Sinn und Zweck einer Blüte nichts anderes ist, als was wir von außen wahrnehmen, und daß der Begriff der Schönheit und Lieblichkeit, der sich für uns mit ihr verbindet, von unsrer Phantasie willkürlich hinzugetan wird.

Aber unser Herz erwidert, daß wir uns durchaus nicht irren. In die Sphäre der Natur bringt die Blüte zwar ein Zeugnis mit, welches ihre außerordentliche Fähigkeit für nützliche Arbeit rühmt, aber wenn sie an die Tür unsres Herzens klopft, zeigt sie einen ganz andern Empfehlungsbrief. Hier wird die Schönheit ihr einziger Ausweis. Dort erscheint sie als Sklavin, hier als freies Wesen. Wie sollten wir ihrer ersten Empfehlung Glauben schenken und der zweiten mißtrauen? Es ist unzweifelhaft wahr, daß das Dasein der Blüte ein Glied in der ununterbrochenen Kausalkette ist; aber dies ist eine äußerliche Wahrheit. Die innere Wahrheit heißt: Wahrlich, aus der ewigen Freude sind alle Wesen geboren ānandād dhy eva khalv imāni bhūtāni jāyante. [S. oben S. 109.].

Eine Blüte hat daher nicht ihre einzige Aufgabe in der Natur, sondern sie hat noch eine andere große Aufgabe in der Seele des Menschen. Und was für eine Aufgabe ist dies? In der Natur hat sie die Arbeit eines Dienstboten zu tun, der zur bestimmten Zeit erscheinen muß, aber ins Herz der Menschen kommt sie wie der Bote eines Königs. Wenn im Rāmāyana Sītā? gewaltsam von ihrem Gatten getrennt, in Rāvaṇas goldenem Palast ihr böses Geschick beklagt, kommt ein Bote zu ihr, der ihr einen Ring ihres geliebten Rāmacandra bringt. Der Anblick des Ringes genügt, um Sītā von der Wahrheit der Meldung des Boten zu überzeugen. Sie ist sofort sicher, daß er wirklich von ihrem Geliebten kommt, der sie nicht vergessen hat, sondern zu ihrer Befreiung naht.

Die Blüte ist solch ein Bote der ewigen Liebe. Umgeben von dem Pomp und Prunk der Weltlichkeit, wie von Rāvaṇas goldener Stadt, leben wir gleichsam in der Verbannung, während der freche Geist irdischen Glücks uns mit seinen Lockungen versucht und als Freier um uns wirbt. Inzwischen kommt vom andern Ufer die Blüte mit ihrer Botschaft und flüstert uns ins Ohr: »Da bin ich. Er hat mich gesandt. Ich bin ein Bote des Schönen, des Einen, dessen Seele die Liebe ist. Er hat dich nicht vergessen, er hat zu dieser Insel deines Exils eine Brücke geschlagen und wird dich erretten, gleich jetzt. Er wird dich an sein Herz ziehen und sich zu eigen machen. Diese Welt des Scheins wird dich nicht ewig gefangen halten.«

Wenn wir wach sind und die Botschaft hören, fragen wir: »Wie sollen wir wissen, daß du wirklich von ihm kommst?« Der Bote sagt: »Sieh! diesen Ring habe ich von ihm. Wie lieblich sind seine Farben und sein Reiz!«

Ach ja, es ist kein Zweifel, es ist unser Hochzeitsring. Nun ist alles andere vergessen, nur dies holde Symbol der Verbundenheit mit der ewigen Liebe erfüllt uns mit tiefer Sehnsucht. Wir erkennen, daß der goldene Palast, in dem wir sind, nichts mit uns zu tun hat – unsre Freiheit ist draußen, dort wartet die Erfüllung unsrer Liebe und unsres Lebens.

Was in der Natur für die Biene nur Farbe und Geruch ist und bunte Zeichen und Flecke, die ihr den richtigen Weg zum Honig zeigen, ist für das Menschenherz Schönheit und Freude, die durch keine Notwendigkeit gefesselt sind. Sie bringen unserm Herzen einen Liebesbrief in vielfarbiger Schrift.

Wie geschäftig also unsre Natur, von außen her gesehen, auch sein mag, so hat sie doch im Menschenherzen ein stilles Kämmerlein, wo sie frei vom Zwang der Arbeit aus und ein geht. Dort verwandeln sich die Feuer ihrer Werkstatt in festliche Lampen, und der Lärm der Fabriken wird zu Musik. Draußen in der Natur rollt die eiserne Kette von Ursache und Wirkung mit schwerem Gerassel vorwärts, aber im Menschenherzen erklingt sie in lauterem Entzücken wie die goldenen Saiten einer Harfe.

Es erscheint in der Tat wunderbar, daß die Natur für uns gleichzeitig zwei so gegensätzliche Aspekte hat, den der Knechtschaft und den der Freiheit. In denselben Erscheinungen von Form, Laut, Farbe, Geschmack nehmen wir zwei entgegengesetzte Prinzipien wahr: Notwendigkeit und Freude. Von außen ist die Natur geschäftig und ruhelos, von innen ganz Stille und Frieden. Auf der einen Seite mühevolle Arbeit, auf der andern Muße. Nur wenn wir sie von außen sehen, sehen wir sie in Knechtschaft, aber in ihrem Herzen ist ewige Schönheit.

Unser Seher sagt: » Aus der Freude werden alle Wesen geboren, durch Freude werden sie erhalten, und in Freude gehen sie ein, wenn sie von hinnen scheiden«.

Nicht, daß er das Gesetz nicht kennte oder daß seine Vision dieser unendlichen Freude aus einem Rausch geboren wäre, in den er sich durch übermäßige Hingabe an abstraktes Denken versetzt hätte. Er erkennt in vollem Umfange die unerbittlichen Gesetze der Natur an und sagt: Das Feuer brennt auf sein Geheiß, und auf sein Geheiß verrichten Wind, Wolken und Tod ihr Amt. Er regiert mit eisernem Zepter, bereit, die geringste Übertretung zu bestrafen. Und doch singt der Dichter das frohe Lied: Aus der Freude werden alle Wesen geboren, durch Freude werden sie erhalten, und in Freude gehen sie ein, wenn sie von hinnen scheiden.

Das unsterbliche Wesen offenbart sich in Gestalt der Freude ānandarūpam amṛtaṃ yad vibhāti. [S. oben S. 112].. Seine Offenbarung in der Schöpfung entspringt der Fülle seiner Freude. Es ist die Natur dieser überquellenden Freude, sich in Form, die Gesetz ist, zu verwirklichen. Die Freude, die ohne Form ist, muß schaffen, muß sich in Formen umsetzen. Die Freude des Sängers findet ihren Ausdruck in der Form des Liedes, die des Dichters in der Form des Gedichts. Der Mensch als Schöpfer schafft beständig Formen, und sie haben ihren Ursprung in seiner überquellenden Freude.

Diese Freude, die gleichbedeutend mit Liebe ist, muß ihrer Natur nach, wenn sie sich verwirklichen soll, dualistisch sein. Wenn der Sänger begeistert ist, so trennt er gleichsam einen Teil seines Selbst von sich ab, der als Zuhörer in ihm ist, und die Zuhörer um ihn herum sind nur eine Erweiterung dieses seines andern Selbst. Der Liebende sucht sein anderes Selbst in der Geliebten. Die Freude ist es, die diese Trennung schafft, um durch Hindernisse hindurch die Vereinigung zu verwirklichen.

Die ewige Liebe hat sich so geteilt. Unsre Seele ist die Geliebte, sie ist ihr anderes Selbst. Wir sind von ihr abgetrennt, aber wenn diese Trennung endgültig wäre, so gäbe es nichts als Elend und Übel in der Welt. Dann könnten wir nie hoffen, vom Irrtum zur Wahrheit und aus der Sünde zur Reinheit des Herzens zu gelangen; dann würden alle Gegensätze auf ewig Gegensätze bleiben und wir könnten nie ein Mittel finden, sie der Versöhnung entgegenzuführen. Dann gäbe es keine Sprache, kein Verstehen, kein Einswerden der Herzen, kein Zusammenwirken im Leben. Aber wir, sehen im Gegenteil, daß die Trennungsschranken nirgends feststehen. Die Individualitäten verändern sich beständig, sie vereinen sich und verschmelzen miteinander, bis die Naturwissenschaft selbst zu Metaphysik wird, die Materie ihre Grenzen verliert und der Begriff Leben immer weiter und unbestimmter wird. Ja, unsre Einzelseele ist von der höchsten Seele getrennt, aber diese Trennung hat ihren Grund nicht in Entfremdung, sondern in der Fülle der Liebe. So kommt es, daß Irrtümer, Leiden und Übel niemals dauern; die menschliche Seele kann ihnen Trotz bieten, kann sie überwinden, ja, kann sie ganz umwandeln in neue Kraft und Schönheit.

Der Sänger wandelt sein Lied in Gesang, seine Freude in Formen, und der Hörer muß den Gesang wieder in die ursprüngliche Freude zurückverwandeln, dann ist die Gemeinschaft zwischen dem Sänger und dem Hörer vollkommen. Die unendliche Freude offenbart sich in mannigfachen Formen, indem sie das Joch des Gesetzes auf sich nimmt, und wir erfüllen unsre Bestimmung, wenn wir in den Formen die Freude, im Gesetz die Liebe wiedererkennen, wenn wir uns aus den Banden des Endlichen lösen und zur Heimat im Unendlichen zurückstreben.

Die menschliche Seele ist auf der Pilgerfahrt vom Gesetz zur Liebe, von der Zucht zur Freiheit, von der moralischen Ebene zur geistlichen. Buddha predigte die Zucht der Selbstbeherrschung und des sittlichen Lebens; das bedeutet volle Unterwerfung unter ein Gesetz. Aber diese Knechtschaft des Gesetzes kann nicht Endzweck sein; dadurch daß wir das Gesetz voll erfüllen, erwerben wir die Möglichkeit darüber hinauszukommen. Wir müssen wieder zurück zu Brahma, zu der unendlichen Liebe, die sich in den endlichen Formen des Gesetzes offenbart. Buddha nennt es Brahmavihāra, die Freude des Lebens in Brahma. Wer da wünscht, zu dieser Stufe zu gelangen, soll nach Buddha »niemanden betrügen, keinen Haß gegen irgend jemand hegen und nie im Zorn jemandem Böses zufügen wollen. Er soll unbegrenzte Liebe zu allen Geschöpfen hegen, wie eine Mutter ihr einziges Kind liebt, das sie mit ihrem eigenen Leben schützt. Nach allen Seiten hin soll er seine Liebe ausbreiten, die keine Grenzen und Hindernisse kennt und frei ist von aller Grausamkeit und Feindseligkeit. Wo er geht und steht, sitzt oder liegt, bis er einschläft, soll er seinen Geist in dieser Übung der Liebe zu allen Wesen tätig halten.« Mangel an Liebe ist eine Art Stumpfheit, denn Liebe ist Vollkommenheit des Bewußtseins. Wir lieben nicht, weil wir nicht verstehen, oder vielmehr, wir verstehen nicht, weil wir nicht lieben. Denn die Liebe ist der letzte Sinn von allem, was uns umgibt. Sie ist kein bloßes Gefühl, sie ist Wahrheit, sie ist die Freude, aus der die ganze Schöpfung entspringt. Sie ist das weiße Licht des reinen Bewußtseins, das von Brahma ausstrahlt. Um daher eins zu sein mit diesem sarvānubhūḥ, diesem allfühlenden Wesen, der sowohl draußen im Raum, wie drinnen in unsrer Seele ist, müssen wir zu jenem höchsten Bewußtsein gelangen, das Liebe ist: Wer könnte atmen und leben, wenn der Raum nicht mit Freude, mit Liebe gefüllt wäre? ko hy evānyāt kaḥ prānyāt yady eṣa ākāśa ānando na syāt. [Taittirīya Up. 2, 7, 1.] Dadurch daß wir unser Bewußtsein zu Liebe steigern und es über die ganze Welt ausdehnen, können wir zu Brahma-vihāra, zur Gemeinschaft mit dieser unendlichen Freude gelangen.

Es liegt in der Natur der Liebe, sich in endlosen Gaben hinzugeben. Aber diese Gaben verlieren ihren vollen Sinn, wenn wir nicht durch sie zu jener Liebe gelangen, von der alle Gaben kommen. Dazu müssen wir die Liebe in unserm eigenen Herzen haben. Wer keine Liebe in sich hat, schätzt die Gaben des Liebenden nur nach ihrem Nutzen. Aber Nutzen ist vorübergehend und einseitig. Er kann nie unser ganzes Wesen erfassen; was nützlich ist, berührt uns nur da, wo wir ein Bedürfnis fühlen. Wenn das Bedürfnis befriedigt ist, wird die Nützlichkeit zur Last. Doch wenn wir Liebe im Herzen haben, ist ein bloßes Zeichen der Liebe uns von dauerndem Wert. Denn es wird nicht für einen besonderen Zweck gegeben. Es ist Selbstzweck; es wendet sich an unser ganzes Wesen, und daher können wir seiner nie überdrüssig werden.

Wir müssen uns fragen: Wie nehmen wir die Welt, diese vollkommene Gabe der Freude, auf? Nehmen wir sie in unser Herz auf, da wo wir all die Dinge eingeschlossen halten, die von unsterblichem Wert für uns sind? Wir mühen uns wie unsinnig, uns die Kräfte des Weltalls zunutze zu machen, um immer mehr Macht zu gewinnen, wir nähren und kleiden uns von seinen Vorräten, wir greifen gierig nach seinen Reichtümern, und es wird für uns zum Kampfplatz wilden Wettbewerbs. Aber sind wir dazu geboren, daß wir unser Besitzrecht über diese Welt ausbreiten und eine Marktware aus ihr machen? Wenn unser ganzer Sinn nur darauf gerichtet ist, Nutzen aus dieser Welt zu ziehen, so verliert sie für uns ihren wahren Wert. Durch unsre niedrigen Begierden setzen wir ihren Wert herab, und so versuchen wir unser Lebenlang nur, uns von ihr zu nähren, und erkennen nie ihr wahres Wesen, wie ein gieriges Kind die Blätter aus einem kostbaren Buch reißt und sie zu verschlingen sucht.

In den Ländern, wo der Kannibalismus herrscht, sieht der Mensch im Menschen seine Nahrung. In solch einem Lande kann nie Kultur gedeihen, denn dort verliert der Mensch seinen höheren Wert und wird ein Ding unter Dingen. Aber es gibt andre Arten von Kannibalismus, vielleicht nicht so roh, aber nicht weniger abscheulich, die man nicht weit zu suchen braucht. In Ländern, die sich einer höhern Kultur rühmen, finden wir zuweilen, daß der Mensch als bloße Ware betrachtet und nur nach dem Wert seines Fleisches auf dem Markt feilgeboten und gekauft wird. Und bisweilen wird sein Wert nur nach seinem Nutzen geschätzt; er wird in eine Maschine verwandelt, und der Geldmann treibt Handel mit ihm, um durch ihn noch mehr Geld zu gewinnen. So führen unsre Lüste und Begierden und unser Verlangen nach äußerem Behagen dazu, den Wert des Menschen auf die niedrigste Stufe herabzusetzen. Es ist Selbstbetrug im großen. Unsre Begierden machen uns blind für die Wahrheit, die im Menschen ist, und dies ist das größte Unrecht, das wir unsrer eigenen Seele antun können. Es stumpft unser Bewußtsein ab und ist nur eine langsame Methode seelischen Selbstmords. Es bringt häßliche Geschwüre am Körper der Kultur hervor, es ist die Ursache ihres Wohnungselends und Bordellwesens, ihrer rachsüchtigen Strafgesetze, ihres grausamen Gefängniswesens, ihrer systematischen Ausbeutung fremder Rassen, in der sie so weit gehen, daß sie sie des Rechtes der Selbstverwaltung und aller Mittel zur Selbstverteidigung berauben.

Natürlich ist der Mensch dem Menschen nützlich, weil sein Leib eine wunderbare Maschine ist und sein Geist ein Organ von erstaunlicher Leistungsfähigkeit. Aber er hat auch eine Seele, und diese Seele kann man nur durch Liebe wahrhaft kennen lernen. Wenn wir den Menschen nach dem Marktwert des Nutzens, den wir von ihm erwarten können, einschätzen, so kennen wir ihn nur unvollkommen. Und so werden wir leicht ungerecht gegen ihn und tun uns etwas darauf zugute, wenn wir einen Vorteil ihm gegenüber grausam ausnutzen und mehr aus ihm herausbekommen, als wir bezahlt haben. Doch wenn wir seine Seele kennen, empfinden wir uns als eins mit ihm. Dann fühlen wir: Grausamkeit gegen ihn ist Grausamkeit gegen uns selbst; wenn wir ihn verkleinern, berauben wir unsre eigene Menschheit; wenn wir ihn nur für unsern persönlichen Vorteil ausnutzen, verlieren wir das an Wahrheit, was wir an Geld oder Behagen gewinnen.

Eines Tages fuhr ich in einem Boot auf dem Ganges. Es war ein schöner Herbstabend. Die Sonne war gerade untergegangen, die Stille der Luft war voll bis zum Rande von Schönheit und unsagbar süßem Frieden. Die weite Wasserfläche war ohne das leiseste Wellengekräusel und spiegelte all die wechselnden Schattierungen des leuchtenden Abendsonnenhimmels. Eine öde, meilenlange Sandbank lag da wie ein ungeheures Amphibium aus vorsündflutlicher Zeit, dessen Schuppen in allen Farben glitzerten. Als unser Boot lautlos an dem steilen Flußufer hinglitt, das von den Nestern einer Vogelkolonie siebartig durchlöchert war, tauchte plötzlich ein großer Fisch an die Oberfläche empor und verschwand dann, indem er die ganze Farbenpracht des Abendhimmels auf seiner entschwindenden Gestalt entfaltete. Er zog auf einen Augenblick den vielfarbenen Vorhang bei Seite, hinter dem eine stille Welt voll Lebensfreude sich barg. Er kam herauf aus den Tiefen seiner geheimnisvollen Wohnung, mit schöner, tanzender Bewegung, und stimmte mit seiner eigenen Musik ein in die stille Symphonie des scheidenden Tages. Es war mir, als hätte ich einen freundlichen Gruß aus einer fremden Welt in ihrer eigenen Sprache empfangen, und mein Herz wallte auf in dankbarer Freude. Da rief plötzlich der Mann am Steuer im deutlichen Ton des Bedauerns: »Ach, was für ein großer Fisch!« Er sah sofort vor seinem geistigen Auge das Bild des Fisches, wie er gefangen und als guter Bissen für sein Abendbrot zubereitet war. Er konnte den Fisch nur durch seine Begierde hindurch sehen, und so entging ihm die ganze Wahrheit seines Daseins. Doch der Mensch ist nicht nur Tier. Er strebt einer Vision nach, der Vision vollkommener Wahrheit. Darin findet er seine höchste Freude, denn sie offenbart ihm die tiefe Harmonie, die zwischen ihm und seiner Umgebung besteht. Unsere eigenen Begierden sind es, die den Bereich unsrer Selbst-Verwirklichung einschränken, die Ausdehnung unsres Bewußtseins hemmen und die Sünde hervorbringen, die innerste Schranke, die uns von Gott fernhält und Selbstsucht und Zwietracht erzeugt. Denn die Sünde ist nicht eine einzelne Handlung, sondern eine Lebenshaltung, die es als ausgemacht betrachtet, daß unser Ziel endlich ist, daß unser Selbst die letzte Wahrheit ist und daß wir durchaus nicht dem Wesen nach eins sind, sondern daß jeder für sein eigenes, besonderes Leben da ist.

Ich wiederhole also: wir können nie den Menschen richtig erkennen, wenn wir ihn nicht lieben. Eine Kultur muß nicht nach der Summe der Macht, sondern nach der Summe der Menschenliebe beurteilt und gewertet werden, die sie entwickelt und in ihren Gesetzen und Einrichtungen zum Ausdruck bringt. Die erste und letzte Frage, die sie zu beantworten hat, ist die, ob und wie weit sie in dem Menschen mehr ein geistiges Wesen oder eine Maschine sieht. Allemal wenn eine alte Kultur in Verfall geriet und starb, geschah dies aus Ursachen, die das Herz gefühllos machten und den Wert des Menschen herabsetzten: wenn entweder der Staat oder eine Gruppe von Machthabern anfing, in dem Volk nur ein Werkzeug ihrer Macht zu sehen; wenn der Mensch dadurch, daß er schwächere Massen zur Sklaverei zwang und sie durch jedes Mittel niederzuhalten suchte, seiner eigenen Liebe zur Freiheit und ehrlichem Spiel Hohn sprach und damit das Fundament seiner Größe zertrümmerte. Die Kultur kann sich nie durch Kannibalismus irgendwelcher Form erhalten. Denn das wahre Wesen des Menschen kann nur durch Liebe und Gerechtigkeit genährt werden.

Wie mit dem Menschen, so ist es auch mit dem Weltall. Wenn wir die Welt durch den Nebel unsrer Begierden sehen, so wird ihr Bild getrübt und wir können ihr wahres Wesen nicht erkennen. Gewiß ist es richtig, daß die Welt uns dient und unsre Bedürfnisse befriedigt, aber damit endet unsre Beziehung zu ihr noch nicht. Wir sind durch ein tieferes und wesentlicheres Band mit ihr verknüpft als durch das unsrer Bedürfnisse. Unsre Seele wird zu ihr hingezogen, unsre Liebe zum Leben ist in Wahrheit unser Verlangen, mit dieser großen Welt in Beziehung zu bleiben. Diese Beziehung ist Liebe. Wir sind froh, daß wir in der Welt sind, wir sind durch unzählige Fäden mit ihr verbunden, die sich von der Erde bis an die Sterne erstrecken. Der Mensch versucht in seiner Torheit, seine Überlegenheit dadurch zu beweisen, daß er sich in Gegensatz stellt zu dem, was er seine physische Welt nennt, ja, er geht in seinem blinden Fanatismus zuweilen so weit, daß er überhaupt nichts von ihr wissen will und sie für seinen furchtbarsten Feind hält. Doch je weiter er in seiner Erkenntnis der Dinge kommt, je schwerer wird es für ihn, diese Trennung aufrechtzuerhalten, und all die eingebildeten Schranken, die er um sich aufgerichtet hatte, verschwinden eine nach der andern. Jedesmal wenn wir eins der Abzeichen unsres unbedingten Vorrangs verlieren, kraft dessen wir uns als Menschen das Recht zuerkannt hatten, uns abseits von unsrer Umgebung zu halten, empfinden wir es als einen heftigen Schlag gegen unsern Stolz. Aber darein müssen wir uns fügen. Wenn wir auf unserm Wege zur Selbstverwirklichung unsern Stolz aufstellen, daß er Trennungen und Spaltungen schafft, so muß er früher oder später unter die Räder der Wahrheit kommen und zu Staub zermalmt werden. Nein, wir sind nicht mit irgendeiner ungeheuerlichen Überlegenheit belastet, die in ihrer Isoliertheit sinnlos wäre. Es wäre äußerst entwürdigend für uns, sollten wir in einer Welt leben, die seelisch unermeßlich tief unter uns stände, ebenso wie es uns als erniedrigend abstoßen würde, sollten wir unser ganzes Leben lang Tag und Nacht nur von Sklaven umgeben und bedient werden. Im Gegenteil, diese Welt ist unsersgleichen, ja, wir sind eins mit ihr.

Durch den Fortschritt der Naturwissenschaft wird die Ganzheit der Welt und unser Einssein mit ihr unserm Geiste klarer. Wenn diese Wahrnehmung der vollkommenen Einheit nicht nur verstandesmäßig ist, wenn sie unser ganzes Wesen ausweitet zu einem lichten Bewußtsein des Alls, dann wird sie zu strahlender Freude und allumfassender Liebe. Dann findet unser Geist sein größeres Selbst in der ganzen Welt und ist von der unbedingten Gewißheit erfüllt, daß er unsterblich ist. Er stirbt hundertmal in der Hülle seines Selbst, denn Trennung ist zum Sterben verurteilt, sie kann nie ewig gemacht werden. Aber er kann nie sterben, wo er eins mit dem All ist, denn da ist seine Wahrheit, seine Freude. Wenn ein Mensch den rhythmischen Pulsschlag des Seelenlebens der ganzen Welt in seiner eigenen Seele fühlt, dann ist er frei. Dann beginnt er teilzunehmen an dem heimlichen Liebesspiel zwischen dieser schönen Weltbraut im vielfarbenen Schleier der Endlichkeit und dem paramātman, dem Bräutigam im fleckenlos weißen Gewände. Dann weiß er, daß er zu diesem prächtigen Liebesfest geladen ist und als Ehrengast am Festmahl der Unsterblichkeit teilnimmt. Dann versteht er den Sinn des Liedes, das der Seher sang: »Aus der Liebe werden alle Wesen geboren, durch Liebe werden sie erhalten, und in Liebe gehen sie ein, wenn sie von hinnen scheiden.«

In der Liebe versinken und verlieren sich alle Widersprüche des Lebens. Nur in der Liebe sind Einheit und Zweiheit nicht in Widerstreit. Die Liebe muß zugleich eins und zwei sein.

Nur die Liebe ist Bewegung und Ruhe zugleich. Unser Herz ist ewig rastlos, bis es die Liebe findet, und dann hat es seine Ruhe. Aber diese Ruhe selbst ist eine intensive Form der Tätigkeit, wo höchste Ruhe und rastlose Tatkraft sich in Liebe begegnen.

In der Liebe werden Verlust und Gewinn in Harmonie gebracht. In ihrer Abrechnung stehen Soll und Haben auf derselben Seite, und die Gaben werden zum Gewinn gezählt. Bei diesem wundervollen Fest der Schöpfung, dieser großen Opferfeier Gottes, gibt der Liebende sich beständig hin, um sich in der Liebe wiederzufinden. Ja, die Liebe ist es, die Geben und Nehmen zusammenführt und untrennbar verbindet.

An dem einen Pol der Liebe finden wir das Persönliche und an dem andern das Unpersönliche. An dem einen steht die positive Behauptung: Hier bin ich; an dem andern die ebenso entschiedene negative Behauptung: Ich bin nicht. Wenn es dieses Ich nicht gäbe, was wäre dann die Liebe? Und wiederum: wenn es nichts als dieses Ich gäbe, wie wäre dann Liebe möglich?

Freiheit und Gebundenheit sind in der Liebe keine Gegensätze. Denn die Liebe ist frei und gebunden zugleich. Wenn Gott nur frei wäre, gäbe es keine Schöpfung. Der Unendliche hat sich in das Geheimnis der Endlichkeit gehüllt; Endliches und Unendliches sind in ihm, der die Liebe ist, eins geworden.

So ist es auch nichts als ein bloßes Spiel mit Worten, wenn wir von dem relativen Wert der Freiheit und der Unfreiheit sprechen. Es ist nicht so, daß wir uns nur nach Freiheit sehnen, uns verlangt ebensosehr nach Knechtschaft. Es ist die hohe Aufgabe der Liebe, alle Schranken zu begrüßen und zugleich über sie hinauszugehen. Denn nichts ist unabhängiger als die Liebe, und wiederum, wo finden wir soviel Abhängigkeit? In der Liebe ist die Knechtschaft so erhaben wie die Freiheit.

Die Wischnu-Religion hat kühn erklärt, daß Gott sich an den Menschen gebunden hat und daß darin die größte Herrlichkeit des menschlichen Daseins besteht. Er bannt jeden seiner Schritte in den Zauber des wundervollen Rhythmus des Endlichen und strömt seine Liebe in Musik aus, in vollendeten Liedern der Schönheit. Die Schönheit ist sein Werben um unser Herz, sie kann keinen andern Zweck haben. Sie sagt uns überall, daß die Entfaltung von Macht nicht der letzte Sinn der Schöpfung ist; jedes Fleckchen Farbe, jede Note eines Liedes, jede Anmut der Form ist ein Ruf nach unsrer Liebe. Der Hunger zwingt uns, seinem Geheiß zu gehorchen, aber der Hunger hat beim Menschen nicht das letzte Wort. Es hat Menschen gegeben, die seinen Forderungen entschlossen Trotz geboten haben, um zu zeigen, daß die menschliche Seele sich nicht durch den Druck von Bedürfnissen und durch Androhung von Schmerzen bestimmen läßt. Ja, um wahrhaft als Menschen zu leben, müssen wir täglich seinen Forderungen Widerstand entgegensetzen, sowohl der Geringste unter uns wie der Größte. Aber auf der andern Seite finden wir in dieser Welt die Schönheit, die nie unsre Freiheit beleidigt, die nie den kleinsten Finger rührt, um uns ihre Herrschaft aufzuzwingen. Wir können sie durchaus unbeachtet lassen, ohne dafür bestraft zu werden. Sie ist ein Ruf an uns, aber kein Befehl. Sie wirbt um unsre Liebe, und Liebe läßt sich nicht erzwingen. Nicht der Zwang, sondern die Freude ist der endgültige Appell an den Menschen. Und die Freude ist überall; sie ist im grünen Gras der Erde und im heitern Blau des Himmels; in der sorglosen Üppigkeit des Frühlings und in der strengen Enthaltsamkeit des grauen Winters; in den pulsierenden Adern unsres Körpers, in der edlen, aufrechten Haltung der menschlichen Gestalt, in allen Funktionen des Lebens, in der Übung all unsrer Kräfte, in der Erwerbung von Kenntnissen, im Kampf gegen Übel, im Sterben für Güter, an denen wir selbst nicht mehr teilhaben können. Überall ist sie da, die Freude! Sie fragt nicht erst, ob man sie braucht, ja, sie widerspricht oft den entschiedensten Forderungen der Notdurft. Sie ist da, um uns zu zeigen, daß der Zwang des Gesetzes erst in der Liebe seine Erklärung findet; beide gehören zusammen wie Leib und Seele. In der Freude gelangt die Einheit zu ihrer Verwirklichung: die Einheit unsrer Seele mit der Welt, und die Einheit der Welt mit der ewigen Liebe.


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