Jonathan Swift
Gullivers Reisen
Jonathan Swift

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Kapitel VI.

Von den Einwohnern von Lilliput, ihrer Gelehrsamkeit, ihren Gesetzen und Sitten und der Art, wie sie ihre Kinder erzogen. Wie der Verfasser in jenem Lande lebte. Seine Ehrenrettung einer grossen Dame.

Obgleich ich die Absicht habe, die Schilderung dieses Kaiserreichs für eine besondre Abhandlung aufzusparen, so möchte ich doch den neugierigen Leser mit ein paar allgemeinen Begriffen zufriedenstellen. Wie die Durchschnittsgrösse der Eingebornen ein wenig unter sechs Zoll beträgt, so findet man auch in allen andern Tieren, Pflanzen und Bäumen das genau gleiche VerhältnisMan wird bereits bemerkt haben, dass das eindimensionale Verhältnis des Lilliputaners zum Europäer gedacht ist wie das eines Zolls zu einem Fuss oder wie 1:12.: zum Beispiel sind die grössten Pferde und Rinder vier bis fünf Zoll hoch, die Schafe anderthalb Zoll, ein wenig mehr oder weniger; die Gänse etwa so gross wie Sperlinge, und so weiter die verschiedenen Abstufungen hinab, bis man die kleinsten erreicht, die meinen Augen fast unsichtbar waren; aber die Natur hat die Augen der Lilliputaner allen Dingen, die sie sehn müssen, angepasst. Sie sehn sehr scharf, aber nicht sehr weit. Es zeigt die Schärfe ihrer Sehkraft nahen Dingen gegenüber, dass ich zu meinem grossen Vergnügen einen Koch beobachten konnte, wie er eine Lerche rupfte, die nicht einmal so gross war wie eine gewöhnliche Fliege; und ein junges Mädchen fädelte einen unsichtbaren Faden in eine unsichtbare Nadel ein. Ihre grössten Bäume sind sieben Fuss hoch: ich meine ein paar von jenen im grossen königlichen Park, deren Wipfel ich mit geballter Faust noch eben erreichen konnte. Die übrige Vegetation hält sich in den gleichen Verhältnissen, doch überlasse ich das der Phantasie des Lesers.

Ich werde gegenwärtig nur wenig von ihrer Gelehrsamkeit reden, die viele Generationen hindurch unter ihnen in all ihren Zweigen blühte; doch die Art, wie sie schreiben, ist sehr eigentümlich, denn sie schreiben weder von links nach rechts, wie die Europäer, noch auch von rechts nach links, wie die Araber; weder von oben nach unten wie die Chinesen, noch von unten nach oben, wie die KaskagierDieses unbekannte Volk wird in den späteren Ausgaben des Gulliver nicht mehr erwähnt., sondern schräg aus einer Ecke des Blattes zur andern, wie die Damen in England.

Ihre Toten begraben sie mit den Köpfen nach unten; sie glauben nämlich, dass sie in elf tausend Monden alle auferstehn werden; innerhalb dieser Zeit aber werde sich die Erde (die sie sich als flach denken) um sich selber gedreht haben, so dass sie auf diese Weise bei ihrer Auferstehung sofort auf den Füssen stehn. Die Gelehrten geben zu, dass diese Lehre absurd ist, aber der Brauch besteht fort, weil die Masse des Volks an ihm hängt.

Es gelten in diesem Kaiserreich ein paar sehr merkwürdige Gesetze und Sitten; und liefen sie nicht denen meines geliebten Heimatlandes stracks zuwider, so wäre ich in Versuchung, einiges zu ihrer Rechtfertigung zu sagen. Es wäre nur zu wünschen, dass sie ebenso gut vollstreckt würden. Das erste Gesetz, das ich erwähnen will, bezieht sich auf die Denunzianten. Alle Verbrechen gegen den Staat werden hier mit äusserster Strenge bestraft; wenn aber der Angeklagte bei der Verhandlung seine Unschuld klärlich nachweisen kann, so wird der Ankläger auf der Stelle zu einem schmählichen Tode verurteilt, und aus seinem Besitz an Waren oder Land wird der Unschuldige vierfach für den Verlust seiner Zeit, für die ausgestandne Gefahr, für die Leiden seiner Gefangenschaft und für alle Kosten, die seine Verteidigung ihm verursacht hat, entschädigt. Sollte aber jener Besitz nicht ausreichen, so wird er von der Krone reichlich ergänzt. Der Kaiser verleiht dem Unschuldigen ferner ein öffentliches Zeichen seiner Gunst, und in der ganzen Stadt wird seine Unschuld ausgerufen.

Im Betrug sehn sie ein schlimmres Verbrechen als im Diebstahl, und deshalb versäumen sie selten, ihn mit dem Tode zu bestrafen; sie begründen das damit, dass Sorgfalt und Wachsamkeit nebst dem gewöhnlichen Menschenverstand die Habe eines Menschen sehr wohl vor Dieben zu schützen vermögen, dass aber die Ehrlichkeit gegen überlegne List keinen Schutz besitze. Da nun ein beständiger Verkehr in Kauf und Verkauf notwendig ist, wobei sich die Gewährung von Kredit nicht umgehen lässt, so ist der ehrliche Händler, wo man den Betrug erlaubt und über ihn hinwegsieht, oder wo es kein Gesetz gibt, das ihn bestraft, stets verraten, und der Halunke gewinnt die Oberhand. Ich entsinne mich, dass ich einmal bei dem Kaiser für einen Verbrecher Fürsprache einlegte, der seinem Herrn eine grosse Summe Geldes entwendet hatte; er hatte sie auf eine Anweisung hin erhalten und war damit entlaufen; als ich nun Seiner Majestät als Milderungsgrund anführte, es sei ja nur ein Vertrauensbruch, fand der Kaiser es ungeheuerlich, dass ich zur Verteidigung anführte, was als erschwerender Umstand am meisten ins Gewicht fiel; und freilich konnte ich dagegen wenig mehr einwenden, als die gewöhnliche Antwort, dass verschiedene Nationen eben auch verschiedene Sitten hätten, denn ich gestehe, ich schämte mich von Herzen.

Obwohl wir in der Regel Lohn und Strafe als die beiden Angelpunkte bezeichnen, um die sich jede Regierung dreht, so habe ich doch nie bemerkt, dass dieser Grundsatz in irgend einer Nation in die Wirklichkeit umgesetzt wird, ausser bei den Lilliputanern. Wer dort ausreichenden Beweis beibringen kann, dass er die Gesetze seines Landes dreiundsiebzig Monde hindurch streng beobachtet hat, hat Anspruch, je nach seinem Stand und seiner Lebenslage, auf gewisse Vorrechte, sowie auf eine entsprechende Summe Geldes, die einem eigens für diesen Zweck reservierten Fonds entnommen wird; er erwirbt sich ferner den Titel eines »Snilpalls« oder »Gesetzmässigen«, der seinem Namen hinzugefügt wird, aber nicht auf seine Nachkommenschaft übergeht. Und diese Leute hielten es für einen ungeheuren Mangel an Staatsklugheit, als ich ihnen sagte, dass bei uns die Gesetze nur durch Strafen vollstreckt würden, ohne dass von Belohnungen je die Rede sei. Das ist auch der Grund, weshalb das Bildnis der Gerechtigkeit in ihren Gerichtshöfen mit sechs Augen versehn ist, mit zweien vorn, zweien hinten und je einem auf beiden Seiten, wodurch die Umsicht symbolisiert wird; ferner mit einem Sack Goldes, der offen auf ihrer rechten Hand liegt, und einem Schwert, das sie mit der Linken in der Scheide trägt, womit angedeutet wird, dass sie lieber belohnt als bestraft.

Bei der Wahl der Persönlichkeiten für ihre Ämter legen sie mehr Wert auf gute Sitten als auf grosse Begabung; denn da die Regierung für die Menschheit notwendig ist, so glauben sie, dass die Durchschnittshöhe des menschlichen Verstandes für die eine oder andre Stellung passt und dass es nie in der Absicht der Vorsehung gelegen hat, aus der Leitung der öffentlichen Geschäfte ein Geheimnis zu machen, das nur wenige Leute von genialer Anlage, wie ihrer nur selten drei in einer Generation geboren werden, durchschauen können. Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Mässigung und dergleichen aber, so nehmen sie an, stehn in jedermanns Macht; und die Übung dieser Tugenden müsse, verbunden mit Erfahrung und gutem Willen, jeden zum Dienst seines Landes befähigen, es sei denn, wo ein besondres Studium erforderlich ist. Den Mangel moralischer Tugenden aber hielten sie keineswegs für aufwiegbar durch besondre Begabung des Geistes; vielmehr glaubten sie, dass so veranlagten Personen niemals Ämter in die gefährlichen Hände gelegt werden dürften, und dass auf jeden Fall die Fehler, die die Unwissenheit eines tugendhaften Charakters begehn mochte, für das öffentliche Wohl niemals die verhängnisvollen Folgen haben könnten, wie die Machenschaften eines Mannes, dessen Neigungen ihn zur Verderbtheit treiben und dessen grosse Begabung ihm dabei hilft, seine Verderbtheit auszunutzen, zu steigern und zu verteidigen.

Ebenso macht der Mangel des Glaubens an eine göttliche Vorsehung den Menschen unfähig, eine öffentliche Stellung einzunehmen; denn da die Könige sich als die Vertreter der Vorsehung ausgeben, so scheint den Lilliputanern nichts so absurd, wie wenn ein Fürst Menschen verwendet, die die Macht, unter deren Auspizien er wirkt, leugnen.

Wenn ich hier diese und die folgenden Gesetze anführe, so verstehe man mich recht; ich meine nur die ursprünglichen Einrichtungen, nicht aber die höchst ärgerlichen Entartungen, denen diese Leute vermöge der verdorbenen Natur des Menschen verfallen sind. Denn was jenen schmählichen Brauch angeht, dass man grosse Ämter durch Tänze auf dem Seil und Abzeichen der Ehre und der Gunst durch Sprünge über einen Stock, unter dem man nachher wieder durchkroch, gewinnen konnte, so ist zu bemerken, dass dieser Brauch zuerst von dem Grossvater des jetzt regierenden KaisersNämlich von Jakob I. eingeführt wurde, und dass er seine gegenwärtige Bedeutung nur durch das allmähliche Anwachsen der Parteispaltungen erreichen konnte.

Undank ist bei ihnen ein Kapitalverbrechen, wie es das nach dem, was wir lesen, auch in einigen andern Ländern war; ihr Gedankengang ist dieser: wer seinem Wohltäter mit Übel lohnt, der muss auch dem Rest der Menschheit, dem er für nichts verpflichtet ist, feindlich gesinnt sein, und also ist ein solcher Mensch nicht geeignet, zu leben.

Ihre Begriffe von den Pflichten der Eltern und Kinder unterscheiden sich ausserordentlich stark von den unsern. Denn da die Verbindung der Männer und Frauen auf dem grossen Naturgesetz der Vermehrung und Erhaltung der Rasse beruht, so verlangen die Lilliputaner, dass Männer und Frauen sich wie andre Tiere auch zusammentun, nämlich den Regungen der Begierde folgen; sie behaupten, ihre Zärtlichkeit gegen ihre Kinder entspringe dem gleichen Naturprinzip; und deswegen werden sie niemals zugeben, dass ein Kind seinem Vater verpflichtet ist, weil er es erzeugt hat, oder seiner Mutter, weil sie es zur Welt brachte; denn einerseits war das in Anbetracht des Elends der Welt an sich keine Wohltat, und anderseits war es von Seiten der Eltern auch nicht als solche gemeint, denn in ihrem Liebesverkehr waren ihre Gedanken mit ganz andern Dingen beschäftigt. Auf Grund dieser und ähnlicher Gedankengänge sind sie der Ansicht, dass die Eltern von allen Menschen die letzten sind, denen man die Erziehung ihrer eignen Kinder anvertrauen kann; und deshalb haben sie in jeder Stadt öffentliche Kinderstuben, in die alle Eltern mit Ausnahme der Kätner und Arbeiter ihre Kinder beiderlei Geschlechts zu schicken verpflichtet sind, damit sie dort aufgezogen und, sowie sie ein Alter von zwanzig Monden erreichen, unterrichtet werden, denn mit diesem Alter, so nimmt man an, zeigen sich die Anfänge der Gelehrigkeit. Diese Schulen sind von verschiedener Art und den verschiedenen Ständen und den beiden Geschlechtern angepasst. Sie haben gewisse Professoren, die wohl darin bewandert sind, Kinder für einen Lebensstand vorzubereiten, der dem Rang ihrer Eltern und ihren eignen Fähigkeiten und Neigungen entspricht. Ich will erst einiges über die Knabenschulen sagen und dann über die Mädchenschulen.

Die Schulen für Knaben von vornehmer oder hoher Geburt werden geleitet von würdigen und gelehrten Professoren und deren verschiedenen Stellvertretern. Kleidung und Nahrung der Kinder sind schlicht und einfach. Sie werden in den Prinzipien der Ehre, der Gerechtigkeit, des Mutes, der Bescheidenheit, der Milde, der Religion und der Liebe zu ihrem Lande aufgezogen; sie werden stets irgendwie beschäftigt, ausser während der Zeit des Essens und Schlafens, die sehr kurz bemessen ist, und zweier Stunden für die Erholung, die in Leibesübungen besteht. Bis zu ihrem vierten Jahr werden sie von Dienern angezogen; dann müssen sie sich selbst anziehn, sei ihr Stand auch noch so hoch; und die weiblichen Dienstboten, die in dem Alter stehn, das unserm mit fünfzig Jahren entspricht, verrichten nur die niedrigsten Dienste. Man erlaubt den Knaben nie, mit Dienstboten zu sprechen; sondern sie gehn in kleinern und grössern Gruppen an ihre Erholung, und zwar stets unter der Aufsicht eines Professors oder eines seiner Stellvertreter; dadurch werden jene frühen, schlimmen Eindrücke von der Narrheit und dem Laster vermieden, denen unsre Kinder ausgesetzt sind. Ihre Eltern dürfen sie nur zweimal im Jahr besuchen, und der Besuch darf nur eine Stunde dauern. Sie dürfen ihr Kind beim Wiedersehn und beim Abschied küssen; aber ein Professor, der bei solchen Gelegenheiten stets zugegen ist, duldet nicht, dass sie flüstern, Kosenamen gebrauchen oder Geschenke mitbringen, wie Spielzeug, Süssigkeiten und dergleichen mehr.

Die Pension, die jede Familie für den Unterricht und den Unterhalt eines Kindes zu zahlen hat, wird, wenn die rechtzeitige Zahlung ausbleibt, von des Kaisers Offizieren eingezogen.

Die Schulen für die Kinder der Mitglieder des niedern Adels, der Kaufleute, Gewerbetreibenden und Handwerker werden in derselben Weise ihrem Stand entsprechend geleitet; nur werden die Knaben, die für ein Gewerbe bestimmt sind, mit elf Jahren in die Lehre gegeben, während die vornehmer Leute bis zum fünfzehnten Jahr in der Schule verbleiben, denn dieses Alter entspricht dem von einundzwanzig bei uns, aber die Einschränkung wird während der letzten drei Jahre allmählich gemildert.

In den weiblichen Internaten werden die vornehmen jungen Mädchen so ziemlich wie die Knaben erzogen, nur werden sie von ordentlichen Dienstboten ihres eignen Geschlechts angezogen, stets aber in Gegenwart eines Professors oder dessen Stellvertreters, bis sie sich selbst anziehn müssen, was mit dem fünften Jahr beginnt. Und wenn sich herausstellt, dass diese Ammen die Mädchen je mit graulichen oder albernen Geschichten unterhalten oder mit den Narrheiten, wie sie unter den Jungfern bei uns gang und gäbe sind, so werden sie öffentlich dreimal um die Stadt herumgepeitscht, auf ein Jahr gefangen gesetzt und für die Zeit ihres Lebens in den ödesten Teil des Landes verbannt. Daher schämen sich die jungen Damen dort ebenso sehr wie die Männer, wenn sie feig und närrisch sind, und ausser dem Anstand und der Sauberkeit verachten sie jeden persönlichen Schmuck; auch konnte ich in ihrem Unterricht keine durch ihr Geschlecht bedingten Verschiedenheiten bemerken, nur dass die Leibesübungen der Mädchen nicht ganz so robust waren, dass ihnen ein paar Regeln für das häusliche Leben gegeben wurden, und dass ihnen ein kleinerer Umkreis des Wissens vorgeschrieben war; es ist ihr Grundsatz, dass unter Leuten von Stande die Ehefrau eine stets vernünftige und angenehme Gefährtin sein sollte, denn jung kann sie nicht immer bleiben. Wenn die Mädchen zwölf Jahre alt sind, und das ist bei ihnen das mannbare Alter, so nehmen ihre Eltern oder Vormünder sie wieder ins Haus, wobei sie den Professoren grosse Dankesbezeugungen erweisen, und wobei es auf Seiten der jungen Dame und ihrer Gefährtinnen selten ohne Tränen abgeht.

In den Schulen für Mädchen der niedrigern Stände werden die Kinder in allerlei Arbeiten unterrichtet, die sich für ihr Geschlecht und ihren jeweiligen Stand eignen: jene, die in die Lehre gegeben werden sollen, werden mit sieben Jahren entlassen, die andern bleiben bis zum elften Jahr.

Die ärmern Familien, die Kinder in diesen Schulen haben, müssen ausser dem Jahrgeld, das so niedrig bemessen ist wie nur möglich, dem Hausvater der Schule einen kleinen Anteil ihres monatlichen Einkommens überliefern, damit er für das Kind ein Erbgut sammle; und also sind alle Eltern in ihren Ausgaben durchs Gesetz beschränkt. Denn die Lilliputaner halten nichts für ungerechter, als dass Leute im Dienst ihrer eignen Lüste Kinder in die Welt setzen und die Last ihres Unterhalts auf die Allgemeinheit abwälzen. Leute von Stande müssen eine Sicherheit stellen, dass sie einem jeden Kind eine bestimmte Summe auswerfen, die ihrem Rang entspricht; und diese Kapitalien werden stets mit grosser Sorgfalt und in strengster Gerechtigkeit verwaltet.

Die Kätner und Arbeiter behalten ihre Kinder im Hause, da sie keine andre Aufgabe haben als die, den Boden zu pflügen und zu bestellen, und da also ihre Erziehung für die Allgemeinheit nicht von Bedeutung ist; die Alten und Kranken unter ihnen aber werden in Spitälern erhalten: denn die Bettelei ist ein in diesem Kaiserreich unbekanntes Gewerbe.

Und hier mag es den neugierigen Leser vielleicht unterhalten, wenn ich ihm einen Bericht über mein Hauswesen und meine Lebensweise in diesem Lande gebe, in dem ich mich neun Monate und dreizehn Tage lang aufhielt. Da ich einen guten Kopf für technische Dinge habe, und mich ausserdem die Not zwang, so hatte ich mir einen Tisch und einen ziemlich bequemen Stuhl gemacht, und zwar aus den stärksten Bäumen im königlichen Park. Zweihundert Näherinnen waren damit beschäftigt, mir Hemden und Wäsche für mein Bett und meinen Tisch zu machen und zwar alles aus dem stärksten und gröbsten Leinen, das sie finden konnten, obwohl sie auch das noch mehrfach gefaltet zusammensteppen mussten, denn selbst das dickste war noch um einige Grade feiner als Schleierbattist. Ihr Leinen ist in der Regel drei Zoll breit, und drei Fuss ergeben ein Stück. Die Näherinnen nahmen mir Mass, wenn ich am Boden lag; eine trat neben meinen Hals, die andre an die Mitte meines Beins, und beide hielten eine starke Schnur an ihren Enden, während eine dritte die Schnur mit einem Massstab von einem Zoll Länge ausmass. Dann massen sie meinen rechten Daumen, und mehr verlangten sie nicht; denn nach einer mathematischen Berechnung, dass der doppelte Umfang des Daumens der einfache Umfang des Handgelenks ist, und so fort bis zum Hals und zum Gürtel, und mit Hilfe meines alten Hemdes, das ich als Muster vor ihnen auf dem Boden ausbreitete, lieferten sie mir genau passende Sachen. Dreihundert Schneider waren in derselben Weise beschäftigt, mir Kleider zu machen; sie aber nahmen mir nach einer andern Methode Mass. Ich liess mich auf die Knie nieder, und sie stellten mir eine Leiter vom Boden aus an den Hals; diese Leiter bestieg einer von ihnen, um dann von meinem Kragen aus eine Lotleine auf die Erde hinabzulassen, die genau der Länge meines Rocks entsprach; doch um den Gürtel und an den Armen nahm ich mir selber Mass. Als meine Kleider fertig waren (sie wurden in meinem Hause gemacht, denn das geräumigste der ihren hätte sie nicht zu fassen vermocht), sahen sie genau so aus wie das Flickwerk, das in England die Damen liefern, nur dass meine ganz aus einer Farbe waren.

Ich hatte dreihundert Köche, die mir in kleinen, bequemen, rings um mein Haus her errichteten Hütten, wo sie und die Ihren lebten, meine Speisen bereiteten; und jeder lieferte mir zwei Schüsseln. Ich nahm zwanzig der Diener mit der Hand auf und setzte sie auf den Tisch; hundert weitere warteten unten am Boden auf, einige mit Schüsseln voll Fleisch, andre mit Fässern voll Weins und andrer Getränke, die sie auf den Rücken geschlungen hatten. All das zogen die obern Diener, wenn ich es brauchte, auf eine sehr scharfsinnige Art und Weise mit Tauen empor, wie wir in Europa die Eimer eines Brunnens emporziehn. Eine Schüssel ihrer Speisen ergab einen guten Bissen, und ein Fass ihrer Getränke einen angemessenen Schluck. Ihr Hammelfleisch steht dem unsern nach, doch ihr Rindfleisch ist ausgezeichnet. Ich habe einmal einen Lendenbraten erhalten, der so gross war, dass ich mich gezwungen sah, ihn in drei Bissen zu essen; doch das ist selten. Meine Diener wunderten sich, als sie sahn, dass ich ihn mit den Knochen und allem ass, wie wir das Bein einer Lerche essen. Ihre Gänse und Truthähne ass ich in der Regel in einem Bissen, und ich muss gestehn, sie sind weit besser als die unsern. Von ihrem kleinern Geflügel konnte ich zwanzig oder dreissig Stück mit der Spitze meines Messers aufpicken.

Eines Tages sprach Seine Kaiserliche Majestät, als man ihn über meine Lebensweise aufklärte, den Wunsch aus, dass er und seine Königin-Gemahlin mit den jungen Prinzen und Prinzessinnen das Glück haben dürften (denn so beliebte es ihm, es zu nennen), mit mir zu speisen. Sie kamen also, und ich setzte sie in Prunksesseln mir gerade gegenüber auf den Tisch, wo sie von ihren Wachen umringt wurden. Flimnap, der Grossschatzmeister, stand mit seinem weissen Mantel gleichfalls bei ihnen, und ich konnte beobachten, wie er mich oft mit bitterm Ausdruck ansah; ich tat, als bemerkte ich es nicht, sondern ass noch mehr als gewöhnlich, sowohl meiner teuren Heimat zu Ehren, wie auch, um den Hof mit Bewunderung zu erfüllen. Ich habe meine Gründe, wenn ich glaube, dass dieser Besuch Seiner Majestät Flimnap Gelegenheit gab, mir bei seinem Herrn schlimme Dienste zu leisten. Dieser Minister war stets im geheimen mein Feind gewesen, obwohl er mich äusserlich herzlicher behandelte, als es seinem mürrischen Wesen natürlich war. Er hielt dem Kaiser den schlechten Stand seines Schatzes vor; er sei gezwungen, gegen hohen Diskont Geld aufzunehmen; Börsenwechsel wären nicht höher als neun Prozent unter Pari in Umlauf zu bringen; kurz, ich hätte Seine Majestät mehr als anderthalb Millionen »Sprugs« gekostet (das ist ihre grösste Goldmünze vom Umfang etwa eines Flitterchens) und im ganzen wäre es doch rätlich, wenn der Kaiser die erste gute Gelegenheit ergreifen wollte, um mich fortzuschicken.

Ich sehe mich hier gezwungen, den Ruf einer ausgezeichneten Dame zu reinigen, die um meinetwillen unschuldig zu leiden hatte. Es fiel dem Schatzmeister ein, auf sein Weib eifersüchtig zu werden und zwar, weil ihm die Bosheit einiger arger Zungen hinterbrachte, Ihre Gnaden habe eine heftige Neigung zu mir gefasst; eine Weile hindurch lief sogar ein Hofklatsch um, sie sei einmal heimlich in meine Wohnung gekommen. Das erkläre ich hier feierlichst für eine höchst niederträchtige Lüge, die keinen andern Anlass hatte, als dass es Ihrer Gnaden beliebte, mir jedes unschuldige Zeichen der Freiheit und Freundschaft zu gewähren. Ich gebe zu, dass sie oft in mein Haus kam, doch stets öffentlich und nie ohne mindestens drei Begleiter in ihrer Kutsche; es waren in der Regel ihre Schwester, ihre junge Tochter und irgend ein vertrauter Bekannter; aber das taten ausser ihr noch viele andre Damen vom Hofe. Und ich frage ferner meine Diener, ob sie je eine Kutsche an meiner Tür gesehn haben, ohne zu wissen, wer darin sass. Bei solchen Gelegenheiten war es, sowie der Diener mir Meldung erstattet hatte, meine Sitte, sofort an die Tür zu gehn; und nachdem ich meine Verbeugung gemacht hatte, nahm ich die Kutsche und die beiden Pferde sehr vorsichtig mit den Händen auf (denn wenn das Gespann aus sechs Pferden bestand, schirrte der Kutscher stets vier von ihnen ab) und setzte sie auf einen Tisch, den ich ringsherum mit einem fünf Zoll hohen, abnehmbaren Rand versehn hatte, um Unfälle zu vermeiden. Oft hatte ich vier Kutscher mit ihren Pferden auf einmal auf einem Tisch voller Gesellschaft, während ich selbst auf meinem Stuhl sass und ihnen mein Gesicht zuwandte; und während ich mit der einen Gesellschaft beschäftigt war, fuhren die Kutscher die andern langsam rings um meinen Tisch. Ich habe manchen Nachmittag sehr angenehm in solchen Gesprächen verbracht. Aber ich fordere den Schatzmeister oder seine beiden Denunzianten (ich will sie bei Namen nennen, und sie mögen sich damit abzufinden suchen), Clustril und Drunlo, auf, nachzuweisen, dass je jemand inkognito zu mir gekommen ist, mit einziger Ausnahme des Sekretärs Reldresal, der, wie ich zuvor berichtet habe, auf ausdrücklichen Befehl Seiner Kaiserlichen Majestät zu mir kam. Ich hätte nicht so lange auf dieser Einzelheit verweilt, wenn sie nicht den Ruf einer grossen Dame so nahe anginge, von meinem eignen nicht zu reden; und das, obwohl ich damals ein Nardak war, was selbst der Schatzmeister nicht ist; denn alle Welt weiss, dass er nur ein Glumglum ist; und dieser Titel ist um einen Grad geringer, genau wie der eines Marquis in England geringer ist als der eines Herzogs; dass er seiner Stellung nach vor mir den Vortritt hatte, gebe ich freilich zu. Infolge dieser falschen Denunziationen, von denen ich später durch einen unerwähnbaren Zufall erfuhr, zeigte Flimnap, der Schatzmeister, seinem Weibe eine Zeitlang ein böses Gesicht, mir aber ein noch böseres; und obwohl er schliesslich aufgeklärt wurde und sich mit ihr versöhnte, so verlor doch ich jedes Ansehn bei ihm, und ich erkannte auch, dass selbst bei dem Kaiser, der sich wirklich ein wenig zu sehr von jenem Günstling leiten liess, mein Einfluss sehr schnell sank.


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