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Vom Haus her näherte sich jetzt ein weibliches Wesen. Die große schlanke Gestalt steckte in einem dunklen Kleid, das eine ausgiebige Arbeitsschürze deckte. Auf etwa dreißig Jahre schätzte der rasche Blick des Besuchers diese Frau Ursel, die ein schönes, nur etwas zu ernstes Gesicht hatte, das gerade jetzt nicht nach Sonnenschein aussah.
Als ihre Augen die Gruppe hinter dem Tor umfaßten, wich die Ruhe daraus. Flackernd trafen sie in die des unerwarteten Gastes. Aber man merkte sofort, daß diese Frau 38 sich zu beherrschen wußte, wenn vielleicht auch ihre Hand das Schlüsselloch am Tor sonst rascher fand als eben jetzt.
Als sie auftat, stürmte neben ihr der Hund in den Garten und auf den Knaben zu, den er vor Zärtlichkeit fast umwarf.
»Rabenaas,« rief sie zürnend, »du sollst doch nicht!«
Das Wort im Munde dieser Frau war auffallend. Es paßte nicht zu ihr, etwa so wenig wie die grobe Schürze.
Der Gaul strebte vorwärts, vielleicht auch auf den Knaben zu; aber der Mann hielt die Zügel fest.
Stramm, als hätte er eine dienstliche Meldung zu machen, berichtete er: »Ich bringe den Gaul, weil Ihrem Bruder ein Mißgeschick zugestoßen ist.«
Die Frau und der näher humpelnde Knabe wechselten einen raschen, für den Boten befremdlichen Blick. Es lag nicht so viel Erschrecken, nicht so viel Teilnahme darin, als der Meldende für seinen Schützling glaubte erwarten zu dürfen. Ja, wenn die Sachlage dies nicht so gut wie ausgeschlossen hätte, es wäre ihm der Argwohn gekommen, die beiden hätten soeben gelächelt.
Mehr ärgerlich als ängstlich fragte die Frau: »Wie ging denn das wieder zu?«
»Der Nord-Süd natürlich,« warf keifenden Tons der Knabe ein, »ich habe Peter gewarnt, jetzt loszufahren.« 39
»Der Schieberzug,« ergänzte hart die Frau und blickte in die Ferne.
»Ist die Peitsche noch da?« wollte erregt der Knabe wissen.
»Ist der Wagen heil?« erkundigte sich besorgt die Frau.
Es grollte in dem Boten. Er spürte eine tiefe anteilnehmende Sympathie mit dem verunglückten Bürschlein, um das offenbar viel weniger Sorge getragen wurde als um Wagen und Peitsche.
Es bereitete ihm Genugtuung, sagen zu können: »Der Wagen ist zertrümmert und die Peitsche hat der Fuhrmann weggeworfen, als er den Gaul nicht mehr halten konnte.«
Der Knabe wimmerte auf, als sei ihm ein körperlicher Schmerz bereitet worden. Dann stieß er hervor: »Wenn meine Peitsche futsch ist, dann kann Peter etwas erleben!«
Der Mann konnte seine Entrüstung nicht mehr zurückdämmen. Es brach aus ihm heraus: »Weil Sie sich nur um Wagen und Peitsche sorgen, muß ich Ihnen doch verraten, daß Ihr Bruder ohnmächtig und stark blutend in dem Gehölz neben der Bahn lag. Er hätte vielleicht auch ein wenig Besorgnis verdient.«
Die Frau wurde blutrot. Nach einer Weile beklommenen Schweigens sagte sie fast demütig: »Peter hat uns an solche Abenteuer gewöhnt; ich dachte nicht, daß es so ernst wäre. 40 Was ist zu tun? Wo steckt –« – sie zögerte und fuhr dann fort: »der Fuhrmann – wo bleibt er?«
»Er ist drüben im Holz und schickt mich um den Fahrstuhl.«
Wieder blickten sich jetzt die Geschwister an.
»Hat sich Peter verletzt und kann nicht gehen?« fragte die Frau und hatte bange Augen.
Dem Boten lag auf der Zunge, zu sagen: wenn er gehen könnte, würde er wohl nicht den Fahrstuhl verlangen. Aber dann erinnerte er sich, daß ihm selbst der Verdacht aufgestiegen war, den er jetzt aus der Frage der Schwester herauszuhören glaubte, und er entgegnete ausweichend: »Ich kann nur berichten, daß er dringend um den Fahrstuhl bitten läßt.«
Der Knabe trat an die Frau heran und verhandelte leise mit ihr. Das empfand der Mann als Unhöflichkeit und er fragte gereizt: »Ist jemand da, um mir den Gaul abzunehmen, damit ich mich empfehlen kann?«
Aufs neue errötend wandte die Frau den Kopf und rief in die Tiefe des Gartens hinein: »Rudolf!«
Dann kehrte sie sich dem Fremden zu mit der unerwarteten Frage: »Nicht wahr, Sie sind Schwabe? – Mein Bruder sagte mir eben, daß er das vermute und mir selbst kam der Gedanke. Man hört es ja immer durch.« 41
Jetzt fangen die zwei auch noch an, dachte wenig erbaut der Mann und antwortete ironisch: »Ein Schwabe scheint hier Aufsehen zu erregen.«
»Freude,« versicherte mit aufglänzendem Blick die Frau.
Ein untersetzter Mann erschien auf dem Schauplatz. Wohl ein Knecht oder ein Gärtner. Seine Hände verrieten, daß er von der Arbeit an der Erde herkam. Das einfache Gesicht mit dem schmallippigen herben Mund trug den Stempel der Stillen im Lande.
Prüfend überblickten seine ruhigen Augen die Gruppe und blieben wie aufschlußheischend an der Herrin hängen, ohne daß eine Frage laut wurde. Sie nickte ihm zu. Das hieß wohl: Ich erkläre dir später alles. Dann gebot sie: »Rudolf, führe Satan in den Stall.«
Mit einem »Grüß Gott« trat der Knecht heran, um dem Fremden das Roß abzunehmen.
»Aha, ein Schwabe,« sagte der überrascht.
»Nein,« kam die knappe Antwort, »aus dem bergischen Land.«
Gefolgt von Berti trottete der Hengst an des Knechtes Hand dem Stall zu, sichtlich niedergeschlagen, daß die Freiheit zu Ende.
Den dreien nachschauend fragte jetzt die Frau: »Haben Sie eigentlich große Eile?« 42
»Eile – nein, Eile habe ich gerade nicht,« antwortete verwundert der Mann.
»Dann könnten Sie es vielleicht selbst übernehmen, Peter im Fahrstuhl zu holen? Rudolf hat heute sehr viel Arbeit,« erklärte sie unbefangen.
Er hatte das gar nicht anders im Sinn gehabt und war nun doch verblüfft über die selbstverständliche Art, mit der die Schöne die Leute für sich einspannte. Ihm imponierte diese Kunst, die ihm selbst nicht lag.
Er stellte sich stramm, als sei ihm ein Befehl erteilt worden. »Gewiß, Gnädigste, wenn Sie einem Fremden den Fahrstuhl und Ihren Bruder anvertrauen.«
Sie schaute ihn an und stellte fest: »Sie sind guter Leute Kind und Schwabe – also –«
Er lachte. Die Taktik dieser Frau erinnerte ihn an diejenige seiner Mutter, die auch, wie die Söhne sich ausdrückten, vom Ehrenstandpunkt aus zu kutschieren liebte.
Der Gedanke durchzuckte ihn, er sollte sich jetzt in aller Form vorstellen. Aber es fehlte ihm jede Lust. Knapp fragte er: »Wo ist der Fahrstuhl?« Schweigend ging ihm die Frau voran.
Im Hinterherschreiten ließ er die Augen wandern. Der weite alte Garten mochte eine Freude für Vögel und Menschen sein. Hinter dem goldenen Gehänge der Forsythien blühte 43 schon der Flieder, der Goldregen, die Schneeballen auf, und überall war jene schöne, im Zaum gehaltene Verwilderung, die anzeigt, daß weder der Garten die Menschen, noch die Menschen den Garten knechten.
Die kanadische Pappel war ein gewaltiger Baum, an dem die jungen Blätter lachend in der Sonne glitzerten.
Eine hölzerne Bank lief um den Stamm, deren Sitz eine Breite hatte, als sei er für Leute gezimmert, denen Satan als Reitgaul anstand.
Weiter draußen dehnte sich dunkelscholliges Gartenland einer Wiese zu, auf der ein einsamer Baum, der Form nach eine Schwarzerle, verloren stand, ein dunkler Schatten in viel strahlender Helle.
Jetzt machte die Führerin vor einem Stall und Schuppengebäude halt. Dem Mann kam es fast vor, als wolle sie ihm Gelegenheit geben, die Ordnung und Sauberkeit zu bewundern, die rundum herrschte.
Der Pfau stand mit ausgebreitetem Rad auf einem niederen Dach und ein kollernder Truthahn führte zwei Hennen vorüber.
Jetzt machte er kehrt. Vielleicht fand er, daß der Fremde seinen Harem nicht genug bewunderte; – jedenfalls wurde er blaurot vor Zorn und kratzte mit gespreizten Federn den Boden. Als er Miene machte, tätlich zu werden, kam von 44 irgendwoher der Hund herbeigestürzt und jagte den Wüterich über den Hof.
Lachend fragte der Mann die zurückblickende Frau: »Wem trauen Sie jetzt mehr Scharfblick zu, dem Vogel oder dem Hund?«
Auch sie lächelte ein wenig. »Bisher war immer der Hund der Gescheitere.« Sie schloß die Schuppentüre auf, wozu sie den Schlüssel aus der Tasche ihrer Schürze hervorholte.
Der Fremdling trat herzu. Aufgeschichtete Gartenmöbel und allerlei Gerät sah er da drinnen. Er wunderte sich, daß der Schlüssel zu solchen Dingen unter der persönlichen Obhut der Herrin stand. Er hätte es praktischer gefunden, ihn stecken zu lassen.
Die Frau zog den Fahrstuhl heraus. An der behutsamen Art, wie sie es tat, ging ihm auf, daß die verschlossene Tür diesem mächtigen Vehikel mit dem breiten, von Alter und Strapazen mitgenommenen Rohrsitz galt.
Wie zur Probe schob er den Stuhl ein Stück weit vor sich her.
»Er geht schwer,« stellte er fest.
»Ist es Ihnen zu mühsam?« fragte sie besorgt.
Der Blick, der sie dafür traf, besagte: Wie schätzest du mich eigentlich ein? Sie trat dicht zu ihm. Plötzliche Unruhe 45 schien sie zu überkommen. »Ist es doch wirklich nichts Schlimmes mit Peter?«
Aha, dachte er, jetzt kommen ihr Bedenken, weil sie mir den Stuhl und das Bürschlein anvertrauen soll.
Spottend fragte er: »Vielleicht wäre Rudolf jetzt doch abkömmlich?«
Sie verstand und wurde rot. »Er ist an den Spargelbeeten, das macht viel Arbeit,« entgegnete sie unfrei.
Er nickte ihr zu. »Na ja, riskieren wir's halt!« Und er schob den Stuhl dem Weg zu. Freudig bellend umkreiste ihn der Hund.
»Darf er mitkommen?« fragte der Mann über die Schulter.
»Der Hund gehört ins Haus,« kam die Antwort, und die Frau nahm das nur unwillig zurückbleibende Tier am Halsband.
»Legen Sie doch den Rucksack ab,« rief sie dem sich Entfernenden nach.
»Sie brauchen wohl ein Pfand, daß ich nicht durchbrenne?« klang es zurück. Aber dann legte der Mann doch den Rucksack an den Wegrand. 46
*
Als die aufkreischende Schelle am Tor anzeigte, daß der Fremdling den Garten verlassen hatte, gab die Frau den Hund frei. Er rannte, die Nase am Boden, auf der Fährte davon und winselte laut am Tor.
Aus der nahen Stalltüre trat der Knecht. Er und die Herrin lauschten. Dann schauten sie sich an.
»Du glaubst doch auch, daß er ein ordentlicher Mensch ist?« fragte besorgten Tons die Frau.
Der Knecht zuckte die breiten Achseln. »Der Mensch siehet, was vor Augen ist. Hoffentlich passiert dem Stuhl nichts!«
Sie lächelte flüchtig. »Ich dachte eigentlich mehr an Peter. Berti wird dir erzählt haben, was vorgefallen ist und daß der Mann Peter für einen Burschen hält.«
»Geschieht ihr recht,« klang des Knaben schrille Stimme aus dem Stall, »was braucht sie immer Burschenkleider anzuziehen! Sie gönnt mir nie, daß ich ein Mann werde.«
Herrin und Knecht wechselten einen Blick. Es lag viel schwere Trauer darin. Dann sagte der Knecht: »Um Peter braucht Ihnen nicht bange zu sein. Der alte Herr hat schon immer gesagt: Den Tüchtigen ist Gott so nahe wie ihr eigenes Herz.«
»Ja,« entgegnete die Frau leise, »Großvater hat kein Bange gekannt.« 47
»Weil er den Herrgott gekannt hat,« ergänzte der Knecht und trat in den Stall zurück.
Sie folgte ihm. Gewohnheitsmäßig musterten ihre Augen die weißgetünchten Wände und die Regale, auf denen Bürsten und Striegel, Riemen und Stricke lagen. Es war überall Ordnung und Sauberkeit.
Der Stand der beiden Kühe war leer, die Tiere weideten draußen. Einsam stand Satan in der Box und er hatte jetzt das Aussehen eines reumütigen Sünders, der sich der ganzen Schwere seiner Schuld bewußt geworden ist.
Der Knecht deutete auf ihm »Ich hab's ihm gesagt, dem Lumpen. Übermut tut niemals gut, hab ich ihm gesagt.«
»Es war doch nicht Übermut,« klang es aus einer Stallecke, »es war doch Angst. Peter allein ist schuldig. Aber du hältst es ja immer mit ihr.«
Der Knecht schaute nach dem Knaben und schien etwas sagen zu wollen. Aber er verschluckte es wieder und ging aus der Tür.
Die Frau rief ihm nach: »Füttere ein paar Tage weniger Hafer, Rudolf.«
Sich umwendend entgegnete der Knecht mit kurzem Lächeln: »Dann füttert Peter um so mehr nach.«
»Natürlich,« rief aufgebracht der Knabe, »weil Peter sündigte, muß Satan bestraft werden.« 48
Frau Ursel schritt hinüber in die Ecke, wo der Kranke, seine beiden Stöcke quer vor sich gelegt, rittlings auf einem plumpen Turngerät saß, das ein Kunstwerk Rudolfs war und ein Pferd vorstellen sollte.
Einem kurzen dicken Holzstamm waren vier Pfostenbeine eingedreht und vorne zwei Lederlappen als Ohren, hinten ein ausgefranstes Strickende als Schweif angenagelt.
Wenn etwas Komisches an der Sache war, so sah es doch die Herzutretende längst nicht mehr.
Der jammervoll verkürzte und oft tief verbitterte Knabe hatte sich in der halbdunklen Ecke eine Welt aufgebaut, und Frau Ursel suchte mit heimlichem Werben immer wieder in diese Welt einzudringen.
»Ach so, Berti,« sagte sie freundlich, »du bist zu Pferd? Reitest wohl hohe Schule?«
Feindselig schaute der Knabe auf. »Laß doch den Unsinn! Ich bin kein Kind mehr. Übermorgen werde ich fünfzehn. Ich sitze da, weil ich dasitze.«
Die Schwester blieb stumm. Als wolle sie die Qualität des Futters prüfen, griff sie in einen zur Seite liegenden Heuhaufen.
Alsbald sagte zeternden Tons der Kranke: »Das ließ ich mir von Rudolf aufschütten, damit ich mich hineinlegen kann, sooft ich will. Du brauchst ihn nicht dafür zu schelten.« 49
»Das habe ich gar nicht im Sinn,« gab beherrscht die Frau zurück; »ich habe andere Sorgen, wenn doch übermorgen dein Fest ist.«
Auf dem blassen Gesicht kämpfte plötzlich aufkeimende Freude mit dem nörgelnden Unmut. Belebten Tones kam es: »Ach ja, alte Ursel, was werden wir denn heuer machen? Weißt du noch: die Ausfahrt voriges Jahr!« –
Die Frau kannte diese Wetterstürze bei dem Kranken, die vom Tief ins Hoch und vom Hoch ins Tief gingen. Nicht sein Leiden allein trug die Schuld daran. Es stand auch ein Erbe von der Mutter dahinter, an dem Petronella, die kerngesunde Schwester Bertis, redlich Anteil hatte.
Die Mutter der Geschwister war wie ein Meteor durch das Leben des verwitweten Arztes Bernhard Löser und seines damals zehnjährigen Töchterleins Ursula gegangen.
Nach kurzen vier Jahren war die schöne junge Frau, die Waise eines österreichischen Rittmeisters, wieder ausgelöscht gewesen und hatte die dreijährige Petronella und den Säugling Berti zurückgelassen. Frau Ursel setzte sich in den Heuhaufen und sah zu dem Stiefbruder auf. Nichts an ihr ließ erkennen, wie weh ihr ums Herz war.
»Die Ausfahrt war schön,« sagte sie, »aber heuer müssen wir uns noch etwas Schöneres ausdenken.«
Schon wieder flatterte Schatten über das Knabengesicht. 50 »Das müßtet ihr euch schon ausgedacht haben, du und Peter,« kam es vorwurfsvoll.
Die Frau lachte. »Bis übermorgen lassen sich noch eine Menge Dinge ausdenken. Hast du eigentlich keinen Wunsch?«
Der Knabe reckte sich langsam auf. In seine Augen kam ein dunkles Leuchten. »Auf Satan reiten – nur ein einziges Mal!« –
Es klang so flehend aus der Tiefe der jungen Seele heraus, so nach verzehrender Sehnsucht, daß es der Frau wie herbe Qual ans Herz griff. Sie mußte schlucken, ehe sie sagen konnte: »Dafür bist du noch nicht stark genug, Bertilein. Bedenke doch, welch ein mächtiges Tier Satan ist. Später vielleicht.«
»Später bin ich tot,« sagte still der Knabe.
Die Frau machte eine Bewegung, als wolle sie dem Bruder die Rede verbieten, aber der fuhr schon fort: »Erst fragst du mich nach einem Wunsch und nachher schlägst du ihn mir aus. So ist das immer. Peter ist gescheit und fragt nie lang, wenn sie etwas will.«
»Dafür hat sie jetzt wohl einen verstauchten Fuß!«
»Na und ich? – Wofür habe ich zwei lahme Beine? Weißt du dafür auch die Erklärung?« –
Die Frau kannte und fürchtete den Ton mit seiner fressenden Bitterkeit. 51
Sie hätte sagen können, aber sie sagte nicht: Ja, du armer Kerl, ich weiß die Erklärung. Als Vierzehnjährige habe ich miterlebt, was – mit irdischen Augen gesehen – dein Geschick verschuldete.
Ich habe miterlebt, wie deine Mutter, die leidenschaftliche Pferdefreundin, damals, als sie dich unter dem Herzen trug und mit Peter und mir in Grünhaus bei Großvater, ihrem Schwiegervater, zu Besuch war, täglich die tragende Stute im Stall besuchte und streichelte.
Rudolf hat damals mißbilligend den Kopf geschüttelt, und sogar Großvater habe ich einmal zu deiner Mutter sagen hören: Das Volk sagt, eine werdende Mutter soll keine tragende Stute streicheln.
Deine fröhliche Mutter lachte. Da setze ich Aberglauben gegen Aberglauben, entgegnete sie hell, ich will durch meine Stallbesuche meinem erhofften Sohn die Liebe zu den Pferden einpflanzen. Reiteroffizier soll er einmal werden, wie mein jungverstorbener Vater gewesen ist.
An jenem Tag, als deine Mutter mit uns wieder zu Vater reisen wollte, ging sie morgens noch einmal in den Stall. Und da – kein Mensch war dabei und sah wie es zuging – geschah das furchtbare Unglück.
Mit einem gellenden Schrei, der mir zeitlebens in den Ohren liegen wird, stürzte die Unselige aus dem Stall. 52
Stunden nachher war ihr Knabe geboren. Nach zwei Tagen war sie tot.
Als nach der schrecklichen Verwirrung, die das Haus erfüllte, Rudolf in den Stall kam, fand er ein nasses, zitterndes Fohlen und eine verendete Stute.
Mit unsäglicher Mühe wurde das mutterlose Tier hochgebracht.
Der mutterlose Knabe brauchte noch aufreibendere Pflege.
Das Fohlen hatte ein paar Tage lang zitternde Beine. Du aber, armer Knabe, warst lahm für dein Leben.
Rückgratverletzung stellte der Vater fest, und keiner der vielen Ärzte konnte nachher die böse Diagnose umstoßen. Dazu warst du um Wochen zu früh geboren.
Du wurdest nach dem Vater Berthold genannt. Das Fohlen mußte auf Großvaters Befehl Satan heißen. Der alte Herr brachte für den prachtvoll heranwachsenden Hengst nie wärmere Gefühle auf, sosehr der Pferdefreund und einstige Tierarzt den Gaul bewunderte.
Erst als Satan als Artilleriepferd in den Krieg geholt wurde, – zur gleichen Zeit, da Vater als Stabsarzt hinauszog –, erst da söhnte sich Großvater einigermaßen mit dem damals siebenjährigen Hengst aus, der mit seiner Kraft nicht wußte, wohin. –
Dann kam jenes Unbegreifliche: Daß die gleiche verirrte 53 Granate, deren Splitter den Gaul verletzte, Großvaters Sohn, unsern Vater, tötete.
Damit war die unverwüstlich scheinende Kraft des alten Herrn gebrochen. Sein mächtiger Körper, der schon vielen Lebensstürmen getrotzt hatte, versagte den Dienst. Noch zwei Jahre Fahrstuhl und dann das sanfte Ende. –
In das trübe Gedankenspiel der verstummten Frau hinein fragte Berti: »Glaubst du, daß der Schwabe jetzt merkt, daß Peter ein Mädchen ist?«
Frau Ursel erschrak. Auch sie hatte, in Anknüpfung an Großvaters Fahrstuhl, soeben wieder an Peters Abenteuer gedacht.
Ehe sie Antwort gab, fuhr der Knabe fort: »Woran sollte er es merken? Peter hat eigentlich kein Gesicht wie ein Mädchen. Er hat Vaters Stirne und Nase und eine dunkle Stimme.«
Ein herrlicher Gedanke schien ihn in die Höhe zu treiben. »Hast du gehört: eben habe ich selbst ›er‹ gesagt, statt ›sie‹. – Weißt du, Ursel, was wir machen?« –
Von seinem jähen Eifer ahnungsvoll beunruhigt, blickte ihn die Schwester fragend an. »Nun?« –
»Wir tun, wenn die beiden kommen, als ob Peter ein Junge wäre.« Wie elektrisiert von seinem Einfall klatschte er in die Hände. 54
Aber die Frau meinte unbehaglich: »Ob wir Petronella damit einen Gefallen tun? – Berthold – ich weiß nicht! Der fremde Mann ist doch dabei.«
»Du sollst ja nicht Petronella, du sollst mir einen Gefallen tun! Mein Geburtstag ist, nicht Peters. Daß der Fremde dabei ist, bedeutet ja gerade den Spaß. Aber ich weiß schon: Wenn du Berthold sagst, willst du nicht.«
Sie seufzte. »Ich möchte schon, aber bedenke!« –
»Nein, nein. Ich will nichts bedenken. Meinen Wunsch sollst du mir erfüllen! Übermorgen ist mein Geburtstag. Der Schwabe muß da bleiben.«
»Glaubst du denn, daß er das will?«
»Der Hamburger kürzlich hat doch auch gewollt.«
»Das war ein anderer Fall. Der Hamburger war ein reisender Zimmermann ohne Arbeit.«
Der Knabe fuhr auf. »Also, du willst wieder nicht! Sag es doch klipp und klar und ohne Umschweife. Peter und ich wissen genau, daß es dir Spaß macht, uns jede Freude zu verderben.«
Die Frau schloß wie in großer Ermüdung die Augen und stand dann auf. Sie schüttelte sich das Heu aus den Röcken und sagte ruhig: »Gut, ich werde den Mann fragen, ob er bleiben will.«
Sofort strahlte das kranke Gesicht auf. 55
»Und Peter ist solang ein Junge.«
Sie nickte stumm.
»Schwör mir's.«
»Du kannst mir doch glauben.«
»Nein, das kann ich eben nicht. Du hast mir kürzlich erzählt, mein Rehkitz sei durchgebrannt, und derweil hat es des Postjochen Hund zerrissen.«
»Wer hat das gesagt?« rief sie erregt.
Hämisch klang's: »Das brauchst du nicht zu wissen.«
Sie blickte weg und schwieg.
»Schwörst du jetzt?«
»Erst muß ich wissen, ob Peter einverstanden ist.«
Der Knabe stieg von seinem Holzpferd herunter, vielleicht noch etwas mühseliger, als unbedingt nötig war. Zu den Stöcken greifend, sagte er klagend: »Daß Peter einverstanden ist, ist doch klar; aber du willst eben wieder nicht, sonst würdest du doch schwören.«
Jetzt trat der Knecht in den Stall.
»Rudolf,« rief ihm eifrig und aufgehellt der Knabe entgegen, »komm rasch her, wir haben dir etwas zu sagen.«
»Laß ihn,« wehrte die Schwester, »er hat zu tun.«
»So sagst du immer. Er darf doch auch einmal für mich Zeit haben.« Herrin und Knecht wechselten einen Blick, in dem es lag wie gegenseitiger gütlicher Zuspruch. 56
»Ich habe mir etwas für meinen Geburtstag ausgedacht,« trumpfte der Kranke auf.
Der Knecht wischte die erdbeschmutzten Hände an der Schürze ab, als sei er bereit, sofort irgendwo anzufassen.
»Nun – und?«
»Sag's du,« bat oder befahl der Knabe.
Die Schwester begann: »Berti hat sich ausgedacht, wir sollten, wenn der Schwabe Peter im Fahrstuhl bringt, so tun, als ob sie ein Junge wäre, weil der Fremde das bis jetzt glaubt.«
»Ja,« unterbrach überstürzt der Kranke, »und der Mann muß da bleiben über meinen Geburtstag und muß im Heu schlafen wie neulich der Hamburger.«
Der Knecht schien ernstlich zu überlegen. »Ne,« sagte er dann, »ne, dat geit nich. Hei is en Herr.«
Der Knabe hob den Stock. »Du sollst nicht Platt reden, das lieben wir nicht, Peter und ich.«
»Ei ja,« entgegnete mit einem Lächeln, das ihn verschönte und verjüngte, der andere, »ihr liebt ja nur Schwäbisch.«
»Glaubst du, daß er da bleiben wird?« drängte fast ängstlich der Knabe. Der Knecht nickte. Etwas Schelmisches, das man auf diesem Gesicht nicht gesucht hätte, trat flüchtig hervor. »Ich glaube, denn ich stamme aus dem Wuppertal, wo man stark im Glauben ist.« 57
»Siehst du,« wandte sich der Knabe aufglänzend an die Schwester. »Rudolf glaubt, daß der Schwabe bleibt; nun schwört mir noch – –«
»Ne,« fiel rasch der Knecht ein, »schwören, das ist vom Teufel.«
Die Frau lachte. »Mir hat aber jemand geschworen, daß er von des Postjochen Hund und dem Rehkitz nichts verraten wolle.«
Der Knecht fuhr sich übers Haar. »Geschworen war's gerade nicht,« meinte er bedächtig, »und dann – Peter ist ohnedies dahintergekommen.«
»Peter kommt immer dahinter, – bei allem,« stieß der Knabe hervor, und man wußte nicht recht, klang es feindlich oder anerkennend.
»Also, Rudolf und ich schwören nicht wegen einer Lappalie,« entschied jetzt die Frau, »aber wir werden dir deinen Spaß nicht stören, solang es irgend angeht.«
Ein feindseliger Blick streifte die beiden, dann humpelte der Knabe hinüber gegen die Box, wo Satan ihm entgegenschnupperte. Ehe er bei dem Tier war, hielt ihn Rudolf zurück. »Nicht von hinten und nicht mit den Stöcken!« wehrte er.
»Geht's dich etwas an?« brauste der Kranke auf, »der Gaul tut mir nichts, immer nur ihr!« – 58
Ruhig und fast würdevoll sagte der Knecht: »Mich geht's schon an. Ich bin deinem Großvater verantwortlich.«
»Bei dem tust du dir nicht schwer. Der liegt unter der Erde,« klang es hart und unkindlich.
»Was soll das ausmachen?« fragte der andere, »er ist noch immer dein Großvater und noch immer mein Herr.«
»Schafskopf,« rief der Knabe grob und humpelte aus dem Stall.
Der Knecht blickte hinter ihm her und dann der Herrin ins Gesicht. »Hei glöwt nichts,« sagte er leise.
»Nein,« bestätigte sie ebenso leise, »er glaubt nicht, daß wir es gut mit ihm meinen und erst recht nicht das andere.«
Nachdenklich nickte Rudolf. »Er wird wohl zu krank sein zum Glauben.«
»Vielleicht. Man braucht viel Kraft zum Glauben,« meinte die Frau und schaute mit dunklem Blick ins Leere.
Der Mann reckte sich. Seine untersetzte Gestalt wurde größer, seine Züge schärfer. »Wenn es einer aber erst gelernt hat, der kann's im Schlaf,« sagte er ernst und entschieden, und dann setzte er noch hinzu: »Sein Großvater wird es ihm später drüben beibringen, denke ich.«
Ein heller Schein ging über das Gesicht der Frau. »Großvater,« sagte sie verloren, »wenn Grünhaus keinen Großvater gehabt hätte!« 59
Sie gingen miteinander zur hinteren Stalltür hinaus. Weithin erstreckten sich die Spargelbeete. Überall war der mit Sand durchsetzte Boden gelockert und frei von Unkraut.
Die Herrin begriff, daß der Knecht jetzt gelobt sein wollte. Aber es wurde ihr schwer, die Worte zu formen. Bitter klang es in ihr auf: So einfach ist das auf der Erde nicht, daß man seine Pflicht tut und dann auch dafür gelobt wird.
In ihre Gedanken hinein sagte der Knecht: »Wenn ihr alles getan habt, so denkt: wir sind unnütze Knechte gewesen, denn wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren.«
Sie war gewöhnt, daß er Bibelworte gebrauchte; aber es traf sie, daß er gerade das gesagt hatte, was ihr nottat.
»Gut hast du deine Sache gemacht, Rudolf,« lobte sie befreit, und der Knecht konnte nicht wissen, daß es mehr seinem Ausspruch als seiner Arbeit galt.
»Und wie halten wir es denn nun mit Berti und Peter?« fragte er vertraulich.
»Tun wir Berti den Gefallen,« meinte sie mit halbem Lachen.
»Spaß muß sein,« pflichtete er bei.
Jetzt lachte sie richtig. »Wenn Berti oder Peter einen Mord wollten, würdest du wahrscheinlich sagen: Mord muß sein. Es ist nur gut, daß ich auch noch da bin. Im übrigen glaube ich bestimmt, daß der Schwabe sich weigert, zu bleiben.« 60
»Ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Er sieht mir so aus, als ob Grünhaus für ihn das Richtige wäre.«
»Woher willst du das wissen?«
»Na, woher weiß man denn, daß einer ein Spitzbube ist, oder ein Raufbold, oder ein Säufer? Es hat alles seine Zeichen.«
»Aber zu sehen, ob einer nach Grünhaus paßt, ist doch wieder eine andere Sache.«
Er zuckte die Achseln. »Warum mag man den einen und den andern mag man nicht?« Er deutete nach der Brust. »Etwas da drinnen sieht alle Zeichen noch besser, als die Augen das können, und darauf verlaß ich mich.«
Sie widersprach nicht. Seine Ausführungen, so unbeholfen sie waren, trugen den Stempel der Ehrlichkeit und des Selbsterworbenen.
Sie redeten jetzt von den Spargeln, ob ein guter Ertrag zu erwarten und wohin die Ernte zu liefern sei. Der Knecht erzählte von unvorstellbaren Zahlen, die er als Preis hatte nennen hören.
Dann spuckte er aus und sagte verächtlich: »Schwindel!«
Die Frau bückte sich und streichelte die Erde. »Gesegnete, wie gut ist es doch, daß wenigstens du nicht rechnest.« 61
»Sie rechnet schon auch, nur wuchern tut sie nicht,« belehrte Rudolf und fuhr dann warnend fort: »Aber streicheln ist nichts. Schlagen muß man sie, zerreißen, zerhacken, dann gibt sie Frucht. So ist des Herrgotts Gesetz.«
Wie erschreckt stand Frau Ursel aufrecht. »Ihr vom Wuppertal kennt ja des Herrgotts Gesetze,« sagte sie seltsamen Tons.
»Sie sind leicht zu kennen, man braucht sich nur umzusehen,« gab der Knecht zurück.
In der Ferne klang jetzt ein Laut auf. Zum Horchen mahnend hob Rudolf die Hand.
»Der Fahrstuhl,« sagte er dann kurz.
»Du hast ihn nicht geschmiert,« tadelte die Herrin.
»Gestern.«
Sie lauschten wieder. Dann flüsterte der Knecht: »Akkurat so, als wenn der alte Herr drin säße.«
Stumm, mit Augen voll Tränen, schaute die Frau ins Weite.
Jetzt schüttelte Rudolf den Kopf, als sei ihm etwas rätselhaft.
»Warum schreit nur der Stuhl so? Peter hat doch keinen Doppelzentner wie der alte Herr.«
Der Hund bellte irgendwo.
Erregt raunte der Knecht: »Hei glöwt, et is Großvater.« 62
»Großvater,« kam es wie ein Echo aus dem Mund der horchenden Frau.
Es wurde jetzt still. Nur Hundewinseln kam vom Garten her. –
»Der Stuhl ist schwer – der Schwabe ruht aus,« stellte leis der Knecht fest.
Die Frau atmete tief. »Ach, Rudolf, wenn Großvater käme!«
Der Blick, mit dem sie einander ansahen, war schwer von jener heißen Sehnsucht, die wie ein Strom täglich und stündlich von der Erde zu den Jenseitigen geht.
Dann sagte der Knecht: »Es heißt: kommen dürfen sie nicht, aber Boten dürfen sie schicken.«
Von der Stalltür her rief der Knabe: »Sie kommen, vergeßt nicht!«
Es legte sich wie Ernüchterung über die beiden Lauschenden.
»Ich muß ans Tor,« sagte erwachend Frau Ursel.
Als sie den Kiesweg entlang schritt, sah sie zur Seite unter den blühenden Forsythien Rucksack und Mantel des Fremden liegen.
Umherliegende Papiere, Strümpfe, Taschentücher zeigten an, daß sich der Hund mit der Untersuchung des Gepäcks befaßt hatte. 63
Erschrocken blieb sie stehen. »Rabenaas«, sagte sie halblaut mit jenem Wort des Großvaters, das sie einst häßlich gefunden und sich nun angewöhnt hatte, wie um die Erinnerung an Liebes festzuhalten.
Ärgerlich und zugleich befangen, als sei es für sie unziemlich, sammelte sie die umhergestreuten Dinge aus. Reste zeigten an, daß sich der Hund das Eßbare hatte schmecken lassen.
Sie wollte die Wäsche nicht besehen und merkte doch, daß sie von guter Beschaffenheit war.
F. K. las sie von einem Taschentuch ab. Nie war ihr zum Bewußtsein gekommen, daß Buchstaben etwas Symbolhaftes sind. Jetzt grinste sie das Zeichen an: ich bin der, dem du die Schwester und den Fahrstuhl anvertraut hast, der, mit dem ihr Komödie spielen wollt, der Landsmann von Großvater. – –
Plötzlich lachte sie. Ihr war eingefallen, daß F. K. nichts anderes bedeuten könne als »Frischer Kerl«.
Sie brachte den Rucksack notdürftig in Ordnung und eilte dem Tor zu.
*